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Informationen zur politischen Bildung Nr. 335/2023

Gesellschaftlicher Zusammenhalt und mediale Öffentlichkeit

Johannes Gemkow Sonja Ganguin

/ 10 Minuten zu lesen

Bedeutung der Medien verändert sich auch die Funktion der Öffentlichkeit. Welche Auswirkungen hat das auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft?

Diskussionen und Austausch tragen wesentlich zum Zusammenhalt einer Gesellschaft bei. In seinem Fresko „Die Schule von Athen“ zeigt der Maler Raffael Philosophen der Antike im Gespräch (Ausschnitt). (© picture-alliance, imageBROKER | Marc Rasmus)

Gesellschaftlicher Zusammenhalt ist eine wichtige Ressource für das Funktionieren einer liberalen Demokratie. Liberale Demokratien zeichnen sich durch freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschen- und Bürgerrechte sowie politische Freiheitsrechte aus, die durch eine Verfassung garantiert werden. Zusammenhalt wird dabei ganz unterschiedlich definiert und besteht aus einem Zusammenspiel von Einstellungen, Handlungen, Diskursen und Vertrauen in Beziehungen sowie Institutionen.

Sicher ist, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt auch immer medial konstruiert wird. Tiefgreifende Veränderungen der Medienlandschaft verändern nicht nur die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, sondern auch, unter welchen Umständen eine Gesellschaft zusammenhalten kann. Gerade mit sozialen Medien treten den nationalstaatlich eingespielten demokratischen Institutionen verstärkt neue Akteure mit partizipatorischen Ansprüchen entgegen. Diese Akteure können ökonomische Ansprüche haben (wie bspw. die Betreiber von digitalen Plattformen wie Twitter) oder auch politische Ansprüche (wie bspw. die niedrigschwellige Formierung politischer Protestbewegungen wie Fridays for Future).

Die Debatte um soziale Medien zeigt zudem, wie durch Desinformationen, einem vermehrten Hang zum Verschwörungserzählungen und damit verbundenen Radikalisierungstendenzen negative Effekte auf demokratische Repräsentation erzeugt werden können. Dadurch ist eine veränderte Kultur des Streits entstanden. Sie hat einerseits inklusive Effekte, insofern sie den Kreis derjenigen Personen bzw. Gruppen erweitert, die sich äußern und öffentlich in Erscheinung treten. Auf der anderen Seite leistet sie zusehends breitenwirksamen Praktiken der Ausgrenzung und Diskriminierung Vorschub.

Funktionen von Öffentlichkeit

Zusammenhalt und Öffentlichkeit hängen in Deutschland tra­ditionell zusammen. Öffentliche Kommunikation als ein „herrschaftsfreier Diskurs“, wie der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas einen idealen menschlichen Umgang nennt, ist eine der wirkmächtigsten Ideen der Menschheit. Sie zeigte sich ursprünglich in den griechischen Agoren (antiker griechischer Marktplatz, Gemeindezentrum) und römischen Foren (antiker römischer Versammlungsplatz für politische und religiöse Belange) und wird zu einem Kernelement der Aufklärung. Drei verschiedene Funktionen von Öffentlichkeit sind für unsere liberale Demokratie in Deutschland zu unterscheiden.

Forumsfunktion

Moderne Öffentlichkeit als Forum bildet in liberalen Demokratien drei wesentliche Merkmale aus. Auf einer Sachebene werden thematisch bedeutende Ereignisse verhandelt. Es entsteht eine massenmedial gerahmte Agenda gesellschaftlich wichtiger Themen. Diese Themenagenda dient als gemeinsamer Orientierungsrahmen für politische Entscheidungen und Entscheidungsprozesse. Dabei kommt ein zweites wesentliches und prozedurales Merkmal zum Tragen: Rationalisierung. Rationalisierung ist ein Prozess, bei dem sich ein Diskurs von einer emotionsgetriebenen Aushandlung hin zu einer Debatte um das bessere Argument wandelt. Als drittes Merkmal bildet die Forumsfunktion einen gesellschaftlichen Zugang zur Selbstbeobachtung.

Wenngleich im Forum Themen und Entscheidungen um Relevanz und Gültigkeit ringen, so bildet sich auf einer beobachtenden Ebene eine Sphäre der Selbstbeobachtung von Gesellschaft heraus, da moderne Öffentlichkeit ja gerade den Anspruch einer gesellschaftsrelevanten Themenagenda hegt. Die Öffentlichkeit bildet somit einen Spiegel für die Gesellschaft. Über diesen Spiegel wird die Gesellschaft für sich selbst sichtbar. Sie kann sich damit zu sich selbst in Beziehung setzen, womit die Möglichkeit entsteht, kulturelle Werte, moralische Normen und nationalstaatliche Gesetze aufzubauen.

Legitimationsfunktion

Die Legitimationsfunktion beschreibt, inwieweit politische Entscheidungen (de-)legitimiert werden können. Dazu sind zwei wesentliche Merkmale notwendig: Vermittlung und Transparenz. Mit Vermittlung ist gemeint, dass zwischen ausübenden Politiker:innen und Bürger:innen innerhalb moderner Öffentlichkeit Kommunikation ermöglicht wird. Dabei bildet das Forum moderner Öffentlichkeit mit seinen Themenagenden und miteinander konkurrierenden Meinungen eine Entscheidungsressource für Politiker:innen. Gleichzeitig eröffnen diese Ressourcen Kommunikationspoten­ziale zwischen Repräsentanten (Regierung, Politiker:innen) und Repräsentierten (Bevölkerung). Transparenz ist gewissermaßen eine Voraussetzung zur funktionalen Umsetzung von Legitimation. Für die Sicherstellung von Transparenz müssen regierende Repräsentant:innen, also Politiker:innen, ihre Entscheidungen und die dahinter liegenden Prozesse argumentativ vorstellen. Dazu bedarf es aus Perspektive der modernen Öffentlichkeit Massenmedien, die die Entscheidungen und Entscheidungsprozesse für Bürger:innen erst sichtbar machen.

Integrationsfunktion

Die Integrationsfunktion moderner Öf­fentlichkeit zielt auf die prinzipielle Teilnahme des Souveräns, also dem Volk, bei der Konstituierung von öffentlichen Themen und Entscheidungen ab. Dazu bedarf es insbesondere der Vielfalt im dreifachen Sinne.

Im ersten Sinne bezieht sich Vielfalt auf verschiedene Positionen. Allein die Integration verschiedener Positionen in den öffentlichen Entscheidungsprozess legitimiert diesen. Im zweiten Sinne bezieht sich Vielfalt auf die Teilnahme verschiedener gesellschaftlicher Milieus. Für liberale Demokratien ist es unabdingbar, dass der Zugang zur Öffentlichkeit keine milieuspezifischen Schranken aufweist, da andererseits politische Partizipationsrechte verletzt wären. Schließlich bedeutet Integration im dritten Sinne, dass publizistische Medien zur (Mit-)Konstituierung moderner Öffentlichkeit gezielt verschiedene Kommunikationsströme aus unterschiedlichen Arenen zusammenführen müssen. Damit sind verschiedene Quellen politischer Relevanz gemeint.

(© Thomas Plaßmann/Baaske Cartoons Müllheim)

Eine wichtige Quelle ist dabei die Ebene spontaner und alltäglicher Kommunikation, die zum Beispiel in Form von Bürger:innenbefragungen aufgenommen werden kann. Eine weitere Quelle ist die Themenöffentlichkeitsebene, also jene Ebene politischer Partizipation (wie z. B. Demonstrationen, Vereinstreffen oder Parteitage). Schließlich gibt es noch die Ebene der Medienöffentlichkeit, also eine Aufbereitung jour­nalistischer Leistungen, in Form von journalistischen Quellen oder Pressespiegeln. Die Integrationsfunktion erfüllt damit den Grundsatz für die Legitimität von Entscheidungen, die nicht von allen Akteur:innen geteilt werden müssen.

Schwächung des Zusammenhalts in klassischer Öffentlichkeit?

Die durch klassische Massenmedien hergestellte Öffentlichkeit kann aber auch zu einer Schwächung von Zusammenhalt füh­ren, nämlich dann, wenn die eben beschriebenen Funktionen in Mitleidenschaft gezogen werden. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn sich Journalist:innen an Inszenierungslogiken, Skandalisierungen oder Scheinargumenten bedienen und damit zu einer personalisierten und hoch emotionalisierten Debattenkultur beitragen. Mit der steigenden Bedeutung der ökonomischen Logik und dem Wettbewerb um Marktanteile erlangt Moralisierung – zu Lasten schwindender politischer Relevanz – eine besondere Bedeutung.

Wenn die Rationalisierung als Kriterium der Relevanz gesell­schaftlicher Themen und Entscheidungsfindung der Emotion weicht, ist eine Polarisierung möglich, die den Zusammenhalt als gesamtgesellschaftliches Konstrukt gefährdet. Beispiele dafür zeigen sich in Debatten um Klimaproteste, Migrationspolitik oder Geschlechtergleichheit. Weiterhin hat die Ausdifferenzierung des Mediensystems zu einer Zielgruppenspezifik geführt, die den Zusammenhalt schwächen kann.

Mit einer Individualisierung der Kommunikation geht die Gefahr einer möglichen Fragmentierung der Öffentlichkeit einher. Fragmentierung bedeutet jedoch nicht, dass es viele Teilöffentlichkeiten gibt, die alle einen Bezug zu einem gemeinsamen Forum haben. Fragmentierung bedeutet, dass es unterschiedliche Öffentlichkeiten gibt, in denen relevante Themen nicht mehr von einem breiten Publikum diskutiert werden.

Eine weitere Schwächung des Zusammenhalts kann sich aus einer fehlenden Repräsentation der Öffentlichkeit selbst ergeben. Wenn eine gesellschaftliche Vielfalt durch ein homogenes Milieu von professionalisierten Journalist:innen in den Massenmedien eingegrenzt wird, dann besteht die Gefahr, bestimmte Themen und Interessen nicht zu kommunizieren. Dieses Phänomen verstärkt sich durch die Kooperation vieler Medienunternehmen aus ökonomischen Gründen, womit inhaltlich die Konzentration auf wenige Angebote, die dieselben Inhalte publizieren, einhergeht.

Öffentlichkeit und soziale Medien

Die Digitalisierung verändert und konstruiert Öffentlichkeit, indem sie institutionelle Verankerungen von Öffentlichkeit infrage stellt. Mit den sozialen Medien entstehen neue Institutionen, die die gesellschaftliche Kommunikation in der Öffentlichkeit auf drei Ebenen rasant transformieren.

1.) Ebene der Partizipation

Auf der partizipativen Ebene weicht die Asymmetrie zwischen Kommunikations- und Rezeptionsseite, die charakteristisch für die massenmediale Öffentlichkeit war, einem dynamischeren Verhältnis. Mittlerweile können Politiker:innen, Akteure des öffentlichen Lebens oder Privatpersonen ihre Zielgruppen direkt über die sozialen Medien ansprechen. Dies führt zu einer Abschwächung journalistischen Gatekeepings. Gatekeeping bezeichnet die journalistische Leistung, Nachrichten auszuwählen, zu verarbeiten und zu verbreiten. Darüber hinaus verliert die Grenze zwischen Publikation und Konversation an Trennschärfe. Das bedeutet, dass mittlerweile die Anschlusskommunikation zu einer Nachricht bestimmte (fragmentierte) Bedeutungshorizonte annehmen kann. Es geht nun nicht mehr um nachvollziehbare und belegte Fakten, sondern um eine Verschiebung der Deutungshoheit auf bestimmte Teilgruppen der Gesellschaft.

Die Verschwörungsgruppe QAnon etwa benutzte und benutzt bewusst das Internet, um sich gegen einen etablierten gesellschaftlichen Realitätskonsens zu stellen. Die Theorie behauptet, dass es eine geheime Verschwörung innerhalb der US-Regierung und anderer mächtiger Organisationen gibt, die hinter den Kulissen arbeitet, um die USA zu kontrollieren. Die Theorie besagt auch, dass Präsident Donald Trump Teil eines Plans ist, um diese Verschwörung zu besiegen und die Kontrolle an das Volk zurückzugeben. QAnon-Anhänger glauben (und das fast im religiösen Sinn), dass es eine globale Elite gibt, die Kinder entführt und für satanische Rituale verwendet. Beweise für solche Behauptungen gibt es nicht. Sie lassen sich aber auch nicht widerlegen, da die Anhängerschaft der Bewegung rationale Argumente bewusst ablehnt. So konnte die Theorie eine beträchtliche Anhängerschaft, insbesondere in den USA, erringen und hat zu einer Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft beigetragen.

2.) Ebene der Sozio-Ökonomie

Auf einer zweiten, der sozio-ökonomischen Ebene zeichnet sich infolge der Entwicklung auf der partizipativen Ebene ein Bedeutungsgewinn von Intermediären und ihrer algorithmischen Auswahl, Verarbeitung und Verbreitung ab. Intermediäre meint die Betreiber von Plattformen wie Instagram, Twitter, Tiktok oder auch Google. Deren Bündelung und personalisierte Zusammenstellung von Informationen konstruieren den theatralen Ausspielraum. Über ständiges quantitatives Feedback (Likes, Kommentare, Shares) verfügen soziale Medien über Belohnungsstrategien. Diejenigen, die mit einer breiteren Öffentlichkeit kommunizieren und deren Nachrichten besonders häufig in Anschlusskonversation eine Rolle spielen, bleiben länger sichtbar. Von diesem Prinzip profitieren auch populistische Strömungen, deren Kommunikation auf Krisenrhetorik, Provokation und Konflikt ausgerichtet ist.

3.) Ebene der Kognition

Auf der kognitiven Ebene können durch einseitige Informationsumgebungen verzerrte Wahrnehmungen und Interpretationen von Wirklichkeiten eintreten, wie es die Diskussion um Filterblasen oder Echokammern zeigt. Der Begriff der Filterblase wurde bereits 2011 von dem politischen Aktivisten und Unternehmer Eli Pariser für die Beschreibung von Informationsökonomien des Internets genutzt. Er greift die kommunikationspsychologische Theorie des Selective Exposure auf, die die These vertritt, dass kognitive Dissonanzen als unangenehm wahrgenommen werden und daher Rezipient:innen Informationen vermeiden, die nicht mit den eigenen Überzeugungen im Einklang stehen. Die Filterblase greift den Aspekt auf, dass soziale Medien durch Algorithmen bestimmten Nutzer:innen bestimmte Inhalte anzeigen, während bei anderen Nutzer:innen ganz andere Inhalte ausgespielt werden.

Aufbauend auf solchen Filterblasen gewinnen Echokammern an Bedeutung. In personalisierten und homogenen Netzwerken können individuelle Meinungen informativ einseitig von diesen Netzwerken als Echo zurückschallen. Damit geht die Gefahr eines scheuklappenartigen Meinungsbildungsprozesses einher, der sich ideologisch verhärten kann. Im Unterschied zur Filterblase betrifft die Echokammer also immer ein Kollektiv mit einem milieuspezifischen Informationsrepertoire. Die Filterblase kann sich somit in ganz individualisierten Suchergebnissen von Google ausdrücken, während sich die Echokammer in rechtsextremen und verschwörungsideologischen Foren auf Telegram zeigt.

Jedoch sind die Konzepte von Echokammer und Filterblase in der Wissenschaft stark umstritten. Die Nutzung von sozialen Medien scheint im Gegenteil eher dazu zu führen, dass Nutzer:innen viel stärker mit gegensätzlichen Meinungen konfrontiert werden. Damit einher geht nun aber gerade kein argumentativer Aushandlungsprozess, sondern eine Verzerrung des Meinungsklimas in polarisierte Fronten, die wiederum eine Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei gleichzeitiger Stärkung von „Binnen-Zusammenhalt“ (also innerhalb einer Gruppe) mit sich bringt. An Themen mit einer scheinbar starken bipolaren Kodierung („gut/richtig“ und „schlecht/falsch“), wie beispielsweise Geschlechtergleichheit, Impfpflicht oder Waffenlieferungen, lässt sich ablesen, dass Personen einer bestimmten Einstellung dazu tendieren, die Berichterstattung pauschal als unfair zu bewerten und sich benachteiligt fühlen.

QuellentextEin Leben ohne Internet

Es gibt in der Technologiedebatte ein paar neue Ausdrücke, die so etwas wie die Steigerung des „Techlash“ sind, also jener Gegenbewegung zur digitalen Euphorie der Nullerjahre. Der eine ist der „Digital Burnout“ und erklärt sich von selbst. Dann ist da die „Outrage Fatigue“, die „Empörungserschöpfung“, die vor allem die sozialen Medien betrifft. Und dann gibt es noch die „News Fatigue“, die den Nachrichtenfluss zu Weltlage insgesamt betrifft, inklusive traditioneller Medien wie Fernsehen, Radio und Zeitungen. Im Gegensatz zum eher symptomatischen Techlash sind die Ermüdungen Pathologien. Glaubt man einer neuen Untersuchung, lassen sie sich bei mehr als der Hälfte der deutschen Internetnutzer diagnostizieren. Und immer mehr steigen aus. Das deckt sich mit den Erkenntnissen des Reuters Institute an der Oxford University, die das Phänomen weltweit abbilden.

Man versteht es ja. Oder auch, weil jedem Burn-out mindestens ein Wutanfall vorausgeht: ES REICHT! Twitter zum Beispiel: was für ein Theater. Ständig Aufregung, Panik, Wut, ab und zu mal hemmungslose Begeisterung, dazu noch die dauernden Hinweise, dass man sich falsch verhält, die falschen Platten hört, die falschen Bücher liest und Gedanken denkt.

Nun ist Twitter nicht das einzige soziale Netzwerk. Nur – wohin? Bei Facebook ist keiner mehr. Instagram war bis vor Kurzem noch das hübscheste und deswegen zivilisierteste der Netzwerke, aber irgendwas lief schief beim Mutterkonzern Meta, jedenfalls spült der Algorithmus seit einiger Zeit so viele Haha-Witze, Influencer- und Hundevideos durch die Timeline, dass man die abonnierten Kanäle nicht mehr findet. Youtube ist seit der Anime-Phase der Kinder unbrauchbar, Tiktok und Snapchat etwas für die Jüngeren. Bleiben Linkedin und Xing – Businessnetzwerke mit dem Charme von Ersatzteilkatalogen. Und ein Ordner auf dem Smartphone, in den sich all die Apps zum Sterben verkriechen, die versucht haben, den Großen die Stirn zu bieten. Clubhouse, tumblr, WT Social, MeWe, Mastodon. Selbst Google+ ist dort versiecht.

Die neuen Begriffe in der Technologiedebatte sind übrigens keine Jargonfloskeln. […] Der Digital Burnout wurde schon wissenschaftlich fundiert erforscht.

[…] Leif Kramp, Medienforscher an der Universität Bremen, und der Kommunikationsforscher Stephan Weichert vom Vocer Institut für digitale Resilienz […] haben ihre Erkenntnisse gerade in einem 80-seitigen Bericht mit dem Titel „Digitale Resilienz in der Mediennutzung“ veröffentlicht. […]

Der Untersuchungsbericht liest sich […] wie eine Krankenakte. Die Aufschlüsselung in Patientengruppen ist so de­tailliert, wie sich das für eine Studie zur Volksgesundheit gehört. Allgemeine Internet- und Social-Media-Nutzende werden genauso einzeln betrachtet wie diejenigen, die eher textbasierte Plattformen wie Facebook und visuelle Social Media wie Instagram nutzen. Altersgruppen werden aufgeschlüsselt.

Die allgemeine Diagnose aber deckt sich mit den psychologisierenden Schlagworten. Burn-out und Fatigue haben sich chronisch in den Befindlichkeiten der Digitalisierten manifestiert. Je jünger die Nutzer, desto höher der Stress, haben Kramp und Weichert herausgefunden. Es sind aber nicht nur die bekannten Suchtmechanismen der digitalen Medien und Geräte. Einer der Hauptgründe ist die Überforderung durch die dramatische Nachrichtenlage der Polykrisenzeit, in der wir leben. Klima, Corona, Krieg, Inflation und Energiekrise überfordern die Menschen auf Dauer. […]

Das Reuters Institute hat die angegebenen Ursachen für die globale „News Fatigue“ thematisch aufgeschlüsselt. Als Begründung für ihr Desinteresse nennen 43 Prozent „zu viel Politik und Covid“, 36 Prozent, dass sich die Nachrichten negativ auf ihre Laune auswirken. Immerhin 29 Prozent geben Erschöpfungserscheinungen nach dem Nachrichtenkonsum an und 17 Prozent, dass Nachrichten zu Streitigkeiten im sozialen Umfeld führen, die sie lieber vermeiden. Wobei alle diese Gründe in den USA und Großbritannien die meisten Nennungen bekommen.

Liest man den Vocer-Report, ähneln die Strategien der Nachrichtenvermeidung den Versuchen der Selbsttherapie bei Depressionskranken. Das beginnt mit dem Vorsatz von mehr als der Hälfte der Internet-Nutzenden, „die digitale Medienzeit insgesamt verringern“ zu wollen, führt über den Versuch, „sich mehr auf eine kleinere feste Auswahl von digitalen Medienangeboten konzentrieren“ zu wollen, bis zum Wunsch, mehr Zeit mit Freunden und in der Natur zu verbringen.

Das alles ist übrigens weniger ein Massenphänomen als ein sich ausbreitendes Krankheitsbild. Natürlich sind weltweit immer noch Milliarden auf Facebook und Hundert Millionen auf all den anderen Plattformen. Tendenz weiter steigend, auch in Deutschland. Mit mehr als 78 Millionen Nutzern sind laut der deutschen Filiale der globalen Marketing-Agentur We Are Social derzeit 93 Prozent aller Deutschen im Internet und immerhin 86,5 Prozent aller Deutschen in sozialen Medien unterwegs. Letzteres bedeutet eine Steigerung von zehn Prozent im Vergleich zu 2021. Doch was Kramp und Weichert Sorgen macht, sind weniger die Gesamtzahlen. „Wir haben fast sechzig ausgewählte Leute intensiv interviewt, die an unserer Umfrage teilgenommen haben“, sagt Weichert. „Was sich da in der qualitativen Erhebung ergeben hat, war eine tiefe Frustration mit digitalen Medien.“

Der Weg von der Symptomatik des „Techlash“ zu den Pathologien des „Digital Burnout“ und der „Outrage Fatigue“ war gar nicht so lang. 2017 hielt der ehemalige Design-Ethiker bei Google Tristan Harris seinen Ted Talk, der zu so etwas wie der Grundsatzerklärung des „Techlash“ wurde. Bald danach warnten Experten […], dass die negativen Auswirkungen auf die Psyche der Nutzenden den Digitalkonzernen schaden wird. Erste Mittel zur Gegensteuerung liefern die Firmen schon. Apps, mit denen man die Bildschirmzeit besser verwalten oder sogar blockieren kann. Soziale Netzwerke heuern Zehntausende an, die Inhalte überwachen. Sie kalibrieren an den Algorithmen herum, damit sie bei den Nutzenden keine schlechte Laune erzeugen.

So wie es ausschaut, kamen die Gegenmaßnahmen zu spät. Der Stress wird weiter zunehmen. Zum einen ist kein Ende der Krisen absehbar – und zu allem Überfluss stellen die sozialen Medien ihre Ausspielungsmethoden um, weil sie den Konkurrenten Tiktok fürchten. Instagram war eine der ersten Plattformen, die nicht mehr die soziale Vernetzung und Vorlieben ihrer Nutzer bediente, sondern seine Algorithmen eine Art Greatest Hits der Inhalte ausspielen lässt. Facebook kündigte an, ebenso zu verfahren. „Discovery Machines“ nennen sich die Plattformen nun, Entdeckungsmaschinen. Wenn die Inhalte aber den Erfolgskriterien einer globalen Mehrheit folgen, wird die Konsequenz gerade im Nachrichten- und Politikbereich sein, dass die Lautstärken noch höher werden. […]

Für die Nachrichtenlage können die Digitalkonzerne nichts. Dafür, wie sie durch die Timelines gejagt wird, sehr wohl. Und was raten Ärzte den vielen Menschen, die mit Burnout, Fatigue und wie Depressionen sonst noch genannt werden, in ihre Praxis kommen? Ausgleich, Auszeit – die Entsprechung in der digitalen Welt wäre der Ausknopf. Gibt es bei jedem Elektrogerät.

Andrian Kreye, „Diesen Nutzer abmelden“, in: Süddeutsche Zeitung vom 29. Juli 2022.

QuellentextOhne Internet geht es nicht – oder?

Fast drei Milliarden Menschen auf der Welt haben noch nie das Internet genutzt, schätzt die Internationale Fernmeldeunion der Vereinten Nationen. Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung ist also dauerhaft offline. Hierzulande scheint das undenkbar. Oder?

Die ZEIT hat in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Infas nachgefragt: „Können Sie sich ein Leben ohne Internet vorstellen?“ 37 Prozent antworteten mit „Ja“, Frauen wie Männer gleichermaßen. Unter den 18- bis 30-Jährigen dagegen kann sich nur jeder Zehnte ein Leben ohne Netz vorstellen. Auch das Gros der Menschen mit Abitur käme offline schlecht klar. Bestens gewappnet für einen möglichen Blackout scheinen dagegen diejenigen mit Hauptschul- oder ganz ohne Abschluss zu sein: Mehr als die Hälfte von ihnen hält das Netz für verzichtbar, Gleiches gilt für die Generation 65 plus, ging ja früher auch ohne.

Hanna Grabbe, „Ein Leben ohne Internet – geht das?“, in: DIE ZEIT Nr. 46 vom 10. November 2022

Quelle: Infas; Erhebungszeitraum April 2022, 996 Befragte; telefonische Befragung auf Basis einer Zufallsstichprobe (© ZEIT-Grafik / Quelle: Infas; Hanna Grabbe, „Gute Frage: Ein Leben ohne Internet – geht das?“, in: DIE ZEIT Nr. 46 vom 10. November 2022)

Medienkompetenz für den gesellschaftlichen Zusammenhalt

Die Bedeutungszunahme von sozialen Medien bei der Herstellung von Öffentlichkeit stellt deren klassische institutionelle Verankerung infrage. Jedoch ist zu bedenken, dass auch eine klassisch massenmediale Öffentlichkeit nicht zwangsläufig Zusammenhalt herstellt.

Wird gesellschaftlicher Zusammenhalt als ein Zusammenspiel aus Einstellungen, Handlungen, Beziehungen, Institutio­nen und Diskursen verstanden, dann muss Medienkompetenz diese Ebenen aufnehmen. Über soziale Medien kommunizieren Menschen auf all diesen Ebenen. Sie können politische Einstel­lungen posten und liken; sie können sich politisch in Netz­werken formieren. Soziale Medien können vielerorts ein wichtiges Forum für die Entwicklung einer politischen Identität sein.

Ein Vorteil dabei ist, dass die virtuelle Identität immer auch sichtbar ist, beispielsweise in Form von Browserchroniken, die Benutzer:innen eine schnelle und einfache Möglichkeit bieten, besuchte Webseiten zu finden und aufzurufen, ohne die URL jedes Mal erneut eingeben zu müssen. Dies kann Zeit sparen und die Navigation erleichtern, führt aber auch dazu, dass das WWW für die Nutzer:innen nicht mehr weltweite Zugangsmöglichkeiten bietet, sondern zu einem begrenzten Ausschnitt der bevorzugten Webseiten reduziert wird. Ähn­li­che Effekte unterstützen Suchmaschinen wie Google, die sich den Vorlieben ihrer Nutzer:innen anpassen. Wenn beispielsweise jemand oft nach einem bestimmten Thema sucht, werden ihm häufig bei weiteren Suchen ähnliche Ergebnisse angezeigt.

Und schließlich sind noch soziale Medien (wie z. B. Insta­gram) zu nennen, die mit ihren Einträgen und Profilen eine wichtige Rolle bei der Darstellung von Personen im Internet spielen. Sie erlauben Benutzer:innen, ihre Identität zu definieren, Kontakte zu knüpfen und sich für andere zu präsentieren. Getreu dem Instagram-Motto: „Näher an den Menschen und Dingen, die du liebst – Instagram from Facebook“. Über soziale Medien können demnach Menschen handelnd in Beziehung gesetzt werden. Hier müssen Umgangsformen des Miteinanders, auch des nicht präsenten, teils anonymen Miteinanders mit dem politischen Gegenüber eingeübt werden.

Die starke Verankerung sozialer Medien in der Lebenswelt vieler Menschen ist immer noch ein relativ junges Phänomen. Bestimmte Rahmensetzungen für ein konstruktives Miteinander müssen teilweise noch erlernt werden. Die institutionelle Ebene des Zusammenhalts ist mit Blick auf die sozialen Medien besonders zu reflektieren.

Das betrifft Fragen, inwieweit sich die ökonomische und technologisch-infrastrukturelle Logik von solchen Plattformen durchschauen lässt. Dazu gehört nicht nur informatisches und ökonomisches Wissen, sondern auch psychologisches, denn die Art und Weise, wie Algorithmen arbeiten, ist auf den menschlichen Aufmerksamkeitstrieb abgestimmt. Die Verlagerung der Informationsnutzung zu Online-Medien bedeutet auf einer diskursiven Ebene auch einen Wandel öffentlicher Kommunikation. Konsumorientierte Kommunikation verschiebt das Themenangebot öffentlicher Kommunikation zu Lasten des politisch Relevanten.

Darüber hinaus findet eine Dezentralisierung von Öffent­lichkeiten statt, die zunehmend vom Modus der algorithmisch belohnten Skandalisierung und Emotionalisierung zu einer Polarisierung führen kann. Dieser Entwicklung kann mit Wissen über die Funktionsweise sozialer Medien entgegengetreten werden.

Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nicht das mediale Problem eines zu starken Filters und einseitigen In­formationsverhaltens zentral, sondern die fehlende Distanz zur eigenen Meinung, die fehlende Empathie und kommunikative Zugänglichkeit zu anderen Positionen. Alle Aspekte kann die Medienpädagogik unter dem Konzept der Medienkompetenz aufnehmen und praktisch an Schulen, Hochschulen, in Weiterbildungen und in freier Medienarbeit einüben.

Dr. Johannes Gemkow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), Teilstandort Leipzig. Am FGZ forscht Johannes Gemkow über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Zusammenhalt und (teil-)öffentlicher Kommunikation populistischer Gruppierungen und Jugendlicher auf sozialen Medien.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: johannes.gemkow@uni-leipzig.de

Prof.‘in Dr. Sonja Ganguin ist Professorin für Medienkompetenz- und Aneignungsforschung am Institut für Kommunikation- und Medienwissenschaft und Direktorin des Zentrums für Medienproduktion an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medienkompetenz, Medienkritik, digitale Spiele und digitales Lernen.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: sonja.ganguin@uni-leipzig.de