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Informationen zur politischen Bildung Nr. 335/2023

Jugend und soziale Medien

Johannes Gemkow

/ 11 Minuten zu lesen

Soziale Medien und deren intensive Nutzung durch Jugendliche stellen eine neue Herausforderung an die Medienkompetenz und deren Förderung dar. Dies wird am Beispiel der Mutprobe erläutert.

Quelle: JIM 2022, Angaben in Prozent, Basis: alle Befragten, n=1.200. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM 2022. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, Stuttgart November 2022, S. 9; http://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2022/JIM_2022_Web_final.pdf

Soziale Medien haben in der Lebenswelt Jugendlicher einen durchgehend hohen Stellenwert und stellen an die Medienpädagogik neue Herausforderungen für das Konzept der Medienkompetenz. Soziale Medien sind digitale Netzwerkplattformen, die es ihren Nutzer:innen ermöglichen, Informationen aller Art zu veröffentlichen und sich mit anderen Nutzenden zu vernetzen. Um Nutzer:in zu werden, muss man sich anmelden, das heißt ein Profil einrichten, mit dem verschiedene Informationen über die eigene Person verbunden sind. Diese Informationen sollen für andere angemeldete Personen sichtbar sein, damit die Nutzenden sich untereinander vernetzen können.

Quelle: JIM 2022, Angaben in Prozent, Basis: alle Befragten, n=1.200. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM 2022. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, Stuttgart November 2022, S. 31; http://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2022/JIM_2022_Web_final.pdf

Soziale Medien werden insbesondere von Jugendlichen stark genutzt. Gemäß der aktuellen JIM-Studie, die als Langzeitpro­jekt des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (mpfs) jährlich und repräsentativ die Entwicklung des Medienhandelns Jugendlicher erfasst, besitzen schon 94 Prozent der 12- bis 13-Jährigen ein Smartphone bzw. Handy, während es bei den 14- bis 15-Jährigen 95 und bei den 16- bis 17-Jährigen 97 Prozent sowie bei den 18- bis 19-Jährigen 99 Prozent sind. 95 Prozent der Befragten nutzen das Internet dabei täglich. Bei den zehn beliebtesten Internetangeboten stehen mit Instagram (31 %), Tiktok (24 %), Youtube (23 %), Snapchat (19 %) und Facebook (10 %) fünf soziale Medien hoch im Kurs.

Warum nutzen Jugendliche soziale Medien so stark? Diese Frage ist vor allem mit der Identitätskonstruktion durch soziale Medien sowie der Eigenlogik von sozialen Medien zu beantworten.

Soziale Medien und Identität

Soziale Medien bieten Jugendlichen Orientierung für ihre personale Identität. Dies geschieht beispielsweise über die Suche nach sozialen Vergleichsinformationen wie Körperbild, Erfolg oder Selbstwert. Ebenfalls spielt Selective Exposure (selektive Suche nach Informationen, die mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen) eine wichtige Rolle. Diese Art der Informationsauswahl wurde und wird aktuell unter den Stichpunkten Echokammer oder Filterblase diskutiert. Das Merkmal des Selective Exposure-Ansatzes ist, dass kognitive Dissonanzen (Unvereinbarkeiten von Wahrnehmungen, Einstellungen und anderem) als unangenehm wahrgenommen werden und daher vermieden werden sollen. In der Folge könnten soziale Medien über das gezielte Filtern, Auswählen und/oder Erstellen von Informationen genutzt werden, um vor allem Informationen zu nutzen, die mit den eigenen Überzeugungen im Einklang stehen. Weiterhin bieten soziale Medien auch Orientierung für die soziale Identität Jugendlicher, indem das Streben nach sozialer Bindung und geteilten Identitäten vorangetrieben werden kann. Ebenso sind soziale Medien für Jugendliche ein wichtiger Treiber beim Umbau der sozialen Beziehungen, also der verstärkten Hinwendung zu Gleichaltrigen bei gleichzeitiger Ablösung vom Elternhaus.

Soziale Medien können somit von Bedeutung für die Bear­beitung von Entwicklungsaufgaben Jugendlicher hinsichtlich der Identitätsbildung und der Beziehungsgestaltung sein und gefühlte Einsamkeit durch deren dynamische, sozialinteraktive Dimension reduzieren. Nicht zuletzt haben sich soziale Medien unter Jugendlichen längst kultiviert. Sie durchdringen ihre Lebenswelten, sodass eine Nichtnutzung zu Bedeutungsverlust auf den Plattformen, aber auch zum Anschlussverlust bei alltäglichen Gesprächen führen kann.

Logik sozialer Medien

Diese beiden Argumente gewinnen schlussendlich auch an Bedeutung, wenn die Logik sozialer Medien beleuchtet wird. Soziale Medien verfestigen sich gezielt im Alltag der Jugendlichen durch deren ständigen Neuigkeitscharakter bei gleichzeitiger Aufmerksamkeitsknappheit. Permanent sind neue Inhalte inklusive der Reaktionen auf diese Inhalte verfügbar. Diese werden oft über Push-Nachrichten direkt an die Medienhandelnden weitergeleitet. Darüber hinaus arbeiten die Betreiber der Plattformen mit Mechanismen der Anerkennung. Dabei handelt es sich um numerisch lesbare Daten, die Auskunft über Beliebtheit bzw. Grad der Aufmerksamkeit von Inhalten auf sozialen Medien geben. Dazu zählen Likes, Klicks, Shares, Kommentare, Anzahl der Freund:innen oder Abonnent:innen für den eigenen Kanal. Diese Mechanismen fungieren als Belohnungsstrategien und führen zu einem Wettbewerb nach Aufmerksamkeit.

Unterstützt wird dieser Wettbewerbscharakter durch die „theatralische Bühne“ von sozialen Medien. Der Begriff „Bühne“ stammt von dem US-amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1922–1992) und meint Denkmuster, die wie Regieanweisungen im Theater die Wahrnehmung und Widerspiegelung unserer Vorstellungen von Realität lenken. Das bedeutet, auch soziale Medien zwingen ihre Teilnehmer:innen, wie es Goffman sagt, ihr Leben ständig als „Theater zu spielen“. Die Jugendlichen befinden sich auf den sozialen Medien vor dem Hintergrund dieses „Theaterbildes“ in einem Zustand stän­diger „Performance“. Sie bedienen ihr Netzwerk, ein (teil-)öffentliches Publikum aus Freund:innen, Familien, Bekannten und Unbekannten. Soziale Medien werden somit zum showartigen Medienrahmen, in dem Nutzer:innen zum Star ihrer selbst geschaffenen digitalen Räume werden. Hierbei fallen verschiedene Aspekte zusammen: Erstens wird die Erstellung und Verbreitung von Informationen kostengünstig an die Interessen von Medienhandelnden delegiert. Zweitens wird Medienhandeln nach dem Modus von „Celebrefication“ durchgeführt. Damit ist eine Verselbstständigung von Rollenspiel gemeint, in der die egozentrierten Netzwerke eine Bühne darstellen, auf der die Medienhandelnden als Protagonisten ihrer eigenen Lebenswelt eben diese medial inszenieren.

Soziale Medien und Medienkompetenz

Die Medienpädagogik im Allgemeinen und das Konzept der Medienkompetenz im Speziellen beinhalten ein Verständnis vom Menschen, das dessen Autonomie, Vernunft und Refle­xionskraft betont. Mit der Erweiterung individueller Hand­lungsfähigkeit durch kommunikative Medientechnologien wie soziale Medien sind neue mediengestützte Handlungsräume entstanden. Diese Räume eignen sich Menschen durch Wahrnehmung (Was sehe ich?), Nutzung (Was kann ich machen?), Bewertung (Wie finde ich das?) und Verarbeitung (Wie kann ich das für mein Leben nutzen?) an. Aneignung beschränkt sich aber nicht auf die Einzelnen, sondern ist stets geprägt von medialen und sozialen Kontexten. Soziale Medien bietet eine sozio-mediale Orientierung. Die Orientierung ermöglicht (teilweise instabile) Konstruktion sozialer Kollektive (wie ein Netzwerk aus Freund:innen oder politisch Interessierten). Gleichwohl vollzieht sich dieses Kollektiv bloß im Rahmen einer technisch-infrastrukturellen Plattform. Der Anspruch an Medienkompetenz lässt sich am besten an einem Beispiel illustrieren.

Beispiel Mutproben

Mutproben werden in den sozialen Medien wie Tiktok, Instagram, Facebook oder Youtube häufig unter dem englischen Begriff „Challenges“ verbreitet. Bei Challenges geht es darum, sich einer Aufgabe zu stellen und die Bewältigung der Aufgabe (audio-)visuell festzuhalten. Nach Beendigung der Challenge werden zumeist weitere Personen aufgefordert, sich der Aufgabe zu stellen, sodass sie sich nach dem Schneeballprinzip verbreitet.

QuellentextMutproben auf Tiktok

[…] Dieser Text handelt von einer Mutprobe. Sie spielt an einem Ort, an dem Millionen Teenager sich jeden Tag treffen. Morgens, sobald sie wach sind. Nachmittags, wenn sie aus der Schule kommen. Ein Ort, von dem viele Erwachsene nicht wissen, wie er aussieht. Manche wissen nicht einmal, dass er existiert.

107 Minuten verbringen Kinder und Jugendliche im Alter von vier bis achtzehn Jahren im Durchschnitt täglich auf TikTok, der erfolgreichsten Social-Media-Plattform der Gegenwart. Mehr als eine Milliarde Menschen haben die App des chinesischen Konzerns ByteDance auf ihrem Handy installiert. Kein anderes Medium ist bei Kindern und Jugendlichen beliebter. In den USA haben laut Bloomberg mehr als zwei Drittel aller Teenager einen Account auf der Plattform. Mehr als bei Facebook, Snapchat, Instagram.

TikTok ist groß geworden durch Kurzvideos, in denen Nutzer singen und tanzen, aus ihrem Alltag erzählen und andere zu sogenannten Challenges anspornen – einer Herausforderung, einer Art Mutprobe.

Schafft ihr es auch, synchron zu tanzen? Eine Minute einen Liegestütz zu halten? Gefrorenen Honig zu essen? Macht ein Video davon!

Harmlose Dinge, so fing es an. Mittlerweile verbreiten sich auf TikTok Mutproben, die tödlich enden können. Eine vor allem. […]

Die Blackout-Challenge, auch unter dem Namen „Choking Game“ oder „Space Monkey“ bekannt, sieht vor, dass sich Menschen selbst die Luft abschnüren. Mit Gürteln, Schnürsenkeln, Hundeleinen. Mit den eigenen Händen, falls es nicht anders geht. Nach mehreren Sekunden filmen sie ihren rush, den euphorischen Moment, wenn sie nach ihrer Ohnmacht wieder zu Bewusstsein kommen.

Würge-Spiele unter Jugendlichen gibt es schon lange. Nur finden sie heute nicht mehr auf dem Schulhof statt, sondern in den sozialen Medien, wo sie Millionen junge Menschen erreichen. Anstiften. Auch Kinder, die nicht wissen, was sie tun. Die ZEIT hat öffentliche Mitteilungen, Meldungen und Klagen gesichtet. Weltweit stehen demnach über 15 Todesfälle von Kindern und Jugendlichen im Zusammenhang mit der Blackout-Challenge auf TikTok. Mehrere Fälle lassen sich aus den Klageschriften nachzeichnen, einige stützen sich auch auf die öffentlichen Schilderungen der Eltern.

Die jüngsten Opfer sind gerade einmal acht, neun Jahre alt.

Wer ist für diese Tode verantwortlich? […]

Im ersten Jahr der Corona-Pandemie stieg die Zahl der Downloads von TikTok in den USA innerhalb von neun Monaten um 75 Prozent an. Kinder und Jugendliche saßen zu Hause fest, verbrachten Zeit an ihren Handys. Auf TikTok nahm die Zahl der Challenges zu. […]

Eine Sprecherin von TikTok schreibt, man empfinde tiefes Mitgefühl für die tragischen Verluste der Familien, sei aber nicht dafür verantwortlich. Inhalte wie die Blackout-Challenge seien auf der Plattform verboten, wie jeder Inhalt, der zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen könne. Man entferne solche Videos, sobald man sie entdecke. Und: Neben einer Technologie, die automatisch nach illegalen Inhalten suche, seien weltweit mehr als 40.000 Mitarbeiter damit befasst, die Videos zu löschen. Allein zwischen Oktober und Dezember 2022 hat TikTok nach eigenen Angaben über 85 Millionen Videos gelöscht, die gegen die Regeln verstießen. […]

„Das Ziel von TikTok ist es, die Nutzer möglichst lang auf der App zu halten und die Interaktion mit der Plattform zu steigern“, sagt Christian Montag. Er ist Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm und hat ein Buch darüber geschrieben, wie Social-Media-Plattformen ihre Nutzer psychologisch manipulieren. Diese sollen liken, kommentieren, dranbleiben. Je mehr Zeit sie auf der Plattform verbringen, je mehr Daten sie dort hinterlassen, desto erfolgreicher kann TikTok Werbung verkaufen. „Der Algorithmus von TikTok empfiehlt deshalb personalisiert die Inhalte, die den Nutzer oder die Nutzerin interessieren.“ Montag zweifelt daran, dass Plattformen wie TikTok ihre Nutzer wirklich schützen wollen. Ihr eigenes Geschäftsmodell stehe dem entgegen.

Auch ein kurzer Versuch der ZEIT zeigt: Je länger man sich Videos einer bestimmten Challenge anschaut, desto öfter empfiehlt der Algorithmus einem ähnliche Videos. […]

Eigentlich dürften Kinder […] gar nicht auf TikTok sein. Die Geschäftsbedingungen der Plattform erlauben Jugendlichen erst ab 13 Jahren, sich auf TikTok zu registrieren. Doch bei der Anmeldung werden die Angaben der Nutzer nicht überprüft. Eine Achtjährige kann einfach angeben, dass sie 18 ist.

Eine Sprecherin von TikTok verteidigt den Vorgang, dies sei „eine neutrale, dem Industriestandard entsprechende Altersfreigabe“. Die Moderatoren würden zudem darin geschult, auf Hinweise zu achten. Könnte ein Konto einem Kind gehören? Steht vielleicht das Alter im Profil? Allein zwischen Oktober und Dezember 2022 hat TikTok weltweit über 17 Millionen Konten gesperrt, die vermutlich Personen unter 13 Jahren gehörten, schreibt die Sprecherin. Die Plattform ist bislang nicht gesetzlich verpflichtet, strengere Regeln zur Altersüberprüfung einzuführen.

Aber ist sie haftbar, wenn Nutzer infolge von Videos sterben, die auf ihr verbreitet werden? […]

„Das Geschäftsmodell dieser Plattformen kollidiert mit dem Grundbedürfnis von Kindern und Jugendlichen: den Spieltrieb auszuleben, die eigene Identität zu finden“, sagt Christian Montag, der Psychologie-Professor an der Uni Ulm. Solange sich die gesetzlichen Regeln für Plattformen wie TikTok und deren Geschäftsmodelle nicht veränderten, empfehlen Experten wie er vor allem eines: digitale Bildung. Für Eltern, die ihre Kinder in jungen Jahren an TikTok heranlassen. Für Lehrer, für die Kinder selbst. […]

Hannah Knuth, „TikTok und der Tod“, in: DIE ZEIT Nr. 17 vom 20. April 2023.

Mutproben können harmlos, aber auch gesundheits- oder gar lebensgefährdend sein. Eine der bekanntesten Mutproben war die „Ice Bucket Challenge“ 2014, die auf die Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aufmerksam machen und Spenden sammeln wollte. Bei dieser Challenge mussten sich die Teilnehmer:innen eiskaltes Wasser aus einem Eimer über den Kopf gießen. An dieser Challenge nahmen für den guten Zweck auch viele Prominente teil, was ebenfalls viele Jugendliche dazu animierte, mitzumachen.

Es zeigt sich eine flexible Anwendung der Mutproben. Viele Mutproben hinterlegen ihren Aufforderungscharakter mit einer zeitlichen Fixierung, also dem Erfüllen der Herausforderung in maximal 24 Stunden. Das trifft vor allem auf solche Mutproben zu, die ohne große Vorbereitung erfüllt werden können. Dagegen gibt es auch Formen der Mutproben, die eine langfristige Aufgabe an die Teilnehmer:innen stellt. Was die Mutproben besonders gefährlich macht, ist die Tatsache, dass sie unterschiedliche, aber immer thematisch wichtige Aspekte jugendlicher Peer-to-Peer-Lebenswelten (Peer = Gleichaltrige) wie Schönheitsideale, Drogenkonsum, Gefahrenbewältigung oder Selbstzweifel aufgreifen.

Mutproben unter Jugendlichen gab es natürlich auch schon vor den sozialen Medien. Bekannte Beispiele dafür sind Klingelstreiche, nachts über einen Friedhof zu laufen oder Straßenlaternen auszutreten. Die Mutproben bieten für Jugendliche einige altersspezifische Gratifikationen. Dazu zählt die Anerkennung durch Gleichaltrige, die durch den auffordernden Charakter der Challenges noch verstärkt wird. Entwicklungspsychologisch ist die Zeit der Jugend gekennzeichnet durch eine Abspaltung von tradierten Orientierungsrahmen wie dem Elternhaus bei gleichzeitiger Hinwendung zu den Gleichaltrigen. Mutproben nehmen dafür eine Stellvertreterrolle ein. Das Nichterfüllen der Mutproben kann mit der Angst vor sozialer Isolation einhergehen. Der Konformitätsdruck der Jugendlichen, einer bestimmten Gruppennorm zu entsprechen, ist im Alter von 12 bis 19 Jahren deutlich erhöht.

Hinzu kommt, dass die Phase der Jugend mit einem psychosozialen Moratorium, also dem Ausprobieren verschiedener Identitäten und Grenzerfahrungen, verbunden ist. Der Drang nach Selbsterfahrung, Selbstwirksamkeit und schließlich auch Selbstdarstellung spielt bei der Erfüllung von Mutproben eine wesentliche Rolle. Verstärkend hinzu kommt die gestiegene Risikobereitschaft von Jugendlichen. Diese lässt sich zum einen mit einer Verharmlosung der Situation erklären und zum anderen durch eine altersspezifisch erhöhte Bereitschaft nach neuen, auch körperlich riskanten Aktivitäten, dem sogenannten „Sensation Seeking“.

In Deutschland sind die meisten der Mutproben nur kurz an­haltende Trends und gesundheitsgefährdende Herausfor­derungen eher die Ausnahme. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Mutproben auf sozialen Medien unter Jugendlichen wohlbekannt sind. Laut Jugendmedienschutzindex geben neun Prozent der 9- bis 16-Jährigen an, dass sie sich online zu riskantem Verhalten wie Mutproben, Drogen-, Alko­holkonsum oder Selbstverletzung anstiften ließen. Auch der Gefährdungsatlas der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz weist bei Mutproben auf „physische Gefährdungen“ hin.

Soziale Medien können die Bereitschaft erhöhen, gesundheitsgefährdende Inhalte zu produzieren und zu konsumieren. Dies liegt erstens an der Bedeutung von sozialen Medien als Orientierungskraft für das teilweise experimentelle Herausbilden einer Identität im Jugendalter. Zweitens verfügen soziale Medien über Mechanismen, die aufreizende und extreme Inhalte fördern und deren Reichweite stark erhöhen können. Drittens haben die Plattformen der sozialen Medien (noch) nicht die Kontrollmechanismen, die eine altersgerechte Nutzung verlangen würde. Darüber hinaus erhöhen soziale Medien die Sichtbarkeit und Reichweite durch ein prinzipiell beliebig großes Publikum und durch den Umstand, dass die Videos dauerhaft im Netz bleiben.

Akteure einer Medienkompetenz für soziale Medien

Die Ausbildung von Medienkompetenz für soziale Medien ist mit mehreren Ebenen konfrontiert. Medienkompetenz wird damit zu einer kollektiven Aufgabe, statt eine individuelle Fähigkeit zu sein, und betrifft beim Beispiel Mutproben mindestens vier verschiedene Akteure: Jugendliche, Eltern, Schule und diejenigen, die die Plattformen betreiben.

Jugend

Beim Umgang mit Medien im Generellen und beim Umgang mit Mutproben im Speziellen ist die Herausbildung von Medienkompetenz für Jugendliche essenziell. Für die Mutproben bedarf es dabei Strategien, um mit den Gruppennormen und deren Druck zurechtzukommen. Eine passive Bewältigungsstrategie wie die Übernahme der Gruppenmeinung, um negative Reaktionen und Gefühle der Ablehnung zu vermeiden, steht einer kritischen und schützenden Auseinandersetzung gegenüber. Hilfreicher sind aktive Bewältigungsstrategien wie das Gestalten einer Medienumgebung, in der Jugendliche sich wohlfühlen. Helfen kann auch eine ausgebildete Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen ertragen zu können. Jugendliche, die über eine Ambiguitätstoleranz verfügen, wiegen beispielsweise die eigenen Vorstellungen nicht gegen Gruppennormen auf. Weiterhin ist es in konkreten Fällen nützlich, sich Hilfe in der Peer-Gruppe suchen zu können.

Sehr wichtig ist ebenfalls, dass Jugendliche in der Lage sind, ihre Privatsphäre zu wahren. Der Druck, selbst Inhalte von sich preiszugeben, darf nicht höher sein als der Schutz der eigenen Privatsphäre.

Der sozialpsychologisch manipulative Charakter von Mutproben kann von einem großen Teil medienkompetenter Jugendlicher durchschaut werden. Studien zeigen aber auch, dass zum einen noch nicht genug für diese Form der gesundheitsgefährdenden Mediennutzung sensibilisiert wird und die Förderung von Medienkompetenz noch weiter vorangetrieben werden muss. Zum anderen bedarf es auch einer Unterstützung Jugendlicher, nicht nur bei der Herausbildung von Medienkompetenz, sondern auch bei der Rahmengebung eines entwicklungsfördernden Medienhandelns.

Der Unterschied zwischen Body Neutrality und Body Positivity (© Eigene Darstellung auf Basis einer Grafik von iStock/galuhsita)

Bei der Adaption peerbezogener Normen zeugen die Befunde von einer Reproduktion qua Praxis. Das bedeutet, dass Jugendliche sich vor allem praktisch, also über ihr Medienhandeln, zu Normen äußern; dies beispielsweise über die Orientierung an gängigen Schönheitsidealen oder über die bewusste und kritische Opposition zu solchen idealen Vorbildern. Beispiele für einen kritischen Umgang mit idealen Vorbildern sind etwa die auch durch soziale Medien gestützten Bewegungen Body Positivity und Body Neutrality. Sie machen Mut, den eigenen Körper anzuerkennen und zu schätzen, auch wenn er nicht den gängigen Modelmaßen entspricht.

Eltern

Das Elternhaus ist für die Herausbildung von Medienkompetenz über die Medienerziehung und für den Umgang mit entwicklungsbeeinträchtigenden Medieninhalten zentral. Zu wichtigen Kriterien einer kompetenzförderlichen Medienerziehung gehören:

  • Erstens, Verständnis für die Heranwachsenden und Gesprächsbereitschaft zu zeigen. Jugendliche, die sich von ihren Eltern nicht verstanden fühlen oder gar nicht oder kaum mit ihnen sprechen, sind für negative Inhalte empfänglicher und geben selbst an, keine bis wenig Unterstützung zu erfahren, wenn sie mit diesen Inhalten in Kontakt gekommen sind.

  • Zweitens ist eine Vielfältigkeit medienerzieherischer Tätigkeiten von großer Bedeutung. Damit ist gemeint, dass Eltern über ein flexibles Repertoire an medienerzieherischen Strategien verfügen sollten. Dazu gehört das gezielte Bewahren vor entwicklungsbeeinträchtigenden Medieninhalten durch Nutzungsregeln ebenso wie das Aufklären über negative Folgen, Gruppendruck und Interessen der Plattformen. Auch reparierende Medienerziehung ist in diesem Zusammenhang enorm wichtig. Dabei geht es darum, die Medienerfahrungen der Jugendlichen aufzugreifen und ihnen bei deren Verarbeitung zu helfen.

  • Schließlich ist drittens die gemeinsame Mediennutzung mit Tendenz zur Individualisierung des Medienhandelns der Jugendlichen für eine gelungene Medienerziehung enorm wichtig. Über eine gemeinsame Mediennutzung können Nutzungsregeln erprobt und mit gemeinsamen Erfahrungswerten untermauert werden. Wenn die gemeinsame Nutzung in ein sozio-emotionales Setting eingebunden ist, entsteht ein kollektives Gedächtnis meist positiver Erfahrungen, das für das Vertrauen in einer Eltern-Kind-Beziehung bedeutsam ist. Wenn ein solches Vertrauensverhältnis existiert, trauen sich die Kinder zu erzählen, wenn sie auf problematische Inhalte stoßen.

Zu beachten ist, dass sich das Risikoverständnis zwischen Eltern und Jugendlichen stark unterscheiden kann. Das bedeutet, dass bestimmte Aspekte von Jugendlichen weniger stark pro­blematisiert werden als von Eltern (bspw. sexuelle Inhalte oder Kontakte mit Fremden), und andersherum erkennen Eltern z. T. nicht die bedrückende Wirkung von Herabsetzung beispielsweise durch (Cyber-)Mobbing oder psychische Gewalt. Als wesentlicher Schutzfaktor für gesundheitsgefährdende Inhalte hat sich ein autoritativer Erziehungsstil in der Kindheit und Jugend erwiesen. Das ist eine Form der demokratischen Erziehung, die Regeln vorgibt, aber auch emotionale Wärme und wechselseitige Verständigung berücksichtigt. Dieser protektive (schützende) Faktor verlangt von den Eltern, dass sie Medienerziehung als ihren eigenen erzieherischen Bereich anerkennen, transparente Regeln schaffen, Konflikten nicht aus dem Weg gehen und ein positives Bild der Potenziale von Medien und den medialen Interessen der Jugendlichen haben. Jugendliche aus Elternhäusern, die diesen Schutzfaktor nicht bieten und in der sie soziale oder bildungsbezogene Benachteiligung und wenig Unterstützung und Orientierung beim Medienhandeln erfahren, sind für entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte besonders anfällig.

Schule

Ein weiterer wichtiger Akteur bei der Prävention und dem Umgang mit Mutproben ist die Schule. Mehr als zwei Drittel der Jugendlichen geben an, dass in der Schule restriktiv mit dem Internet umgegangen wird. Nur ein Viertel sind der Meinung, dass die Schule über bestimmte Inhalte und Verflechtungen aufklärt sowie Jugendliche ermuntert, selbst online zu handeln. Lehrer:innen sind nur bei sieben Prozent eine Anlaufstelle für Unterstützung. Die Vielfältigkeit des Auftrags der Schule im Leben der Jugendlichen und die Bandbreite der Unterstützung, die es bereits gibt, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Aber im Falle entwicklungsbeeinträch­ti­gender Inhalte hat die Schule noch Potenziale von einem Ort der Restriktionen zu einem Bildungsort zu werden.

Plattformen

Auch die Betreiber der Plattformen, auf denen Mutproben kursieren, sind in der Pflicht. Bei vielen Plattformen gibt es Beschwerdesysteme, mit denen auf unerwünschte Inhalte hingewiesen werden kann. Diese sind jedoch mitunter versteckt, umständlich zu handhaben und oft nur für angemeldete Nutzer:innen zugänglich. Viele der Plattformen weisen in ihren Geschäftsbedingungen darauf hin, dass Videos, die gefährliche Handlungen zeigen, gelöscht werden. Aber das kann nicht verhindern, dass solche Videos trotzdem angeboten werden. In Deutschland bietet die Beschwerdestelle von jugendschutz.net eine Möglichkeit, auf gesundheitsgefährdende Inhalte hinzuweisen. Jugenschutz.net leitet die Beschwerden dann an die entsprechenden Plattformen weiter.

Betreiber von Plattformen gehen Beschwerden zu gefährdenden Inhalten unzureichend nach. Hier warnt ein Nutzer selbst vor dem Inhalts seines Tweets. (© Laura Gerken)

In der Umsetzung schwanken die Reaktionen der Plattformen jedoch. Die Einrichtung von altersdifferenzierten Kinderversionen ist bei einigen Anbietern möglich, aber wird nur mäßig überprüft. Erfolgsversprechender können Filter sowohl im Upload als auch bei einschlägigen Suchanfragen sein. Ebenso kann die Moderation von bestimmten Inhalten mit dem Hinweis auf professionelle Beratungsstellen durch die Plattform eine Hilfestellung für Jugendliche bieten. Schließlich müssen auch die Plattformen ihre Kriterien für Jugendgefährdung dynamisch an veränderte Nutzungsformen anpassen. Im Falle der Mutproben geht es dabei um eine Sensibilisierung für die Schaffung von Drucksituationen (wie das Auffordern zu gesundheitsgefährdendem Handeln und die Androhung zum Ausschluss aus der Community).

Dr. Johannes Gemkow ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ), Teilstandort Leipzig. Am FGZ forscht Johannes Gemkow über den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Zusammenhalt und (teil-)öffentlicher Kommunikation populistischer Gruppierungen und Jugendlicher auf sozialen Medien.
E-Mail-Adresse: E-Mail Link: johannes.gemkow@uni-leipzig.de