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Eine Bilanz | Türkei | bpb.de

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Informationen zur politischen Bildung Nr. 356/2023

Eine Bilanz

Rainer Hermann

/ 4 Minuten zu lesen

Ein Rückblick auf die ersten 100 Jahre der türkischen Republik zeigt, wie sich das Land entwickelt hat, vor welchen Herausforderungen es steht und mit welchen Zielen die Türkei in die Zukunft blickt.

Viele junge Menschen in der Türkei sind laut einer Studie von 2022 unzufrieden. Sorgen bereiten vor allem Arbeitslosigkeit und Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung. Spaziergang auf einer Uferpromenade am Bosporus 2013 (© IMAGO / Hoch Zwei Stock/Angerer)

Die Republik Türkei ist eine Erfolgsgeschichte. Nach dem Untergang des Osmanischen Reichs hatten die Sieger des Ersten Weltkriegs 1920 im Friedensvertrag von Sèvres Anatolien weitgehend unter sich aufgeteilt. Wenige rechneten damit, dass sich gegen den Willen der Siegermächte ein neuer türkischer Staat behaupten würde. Anatolien war nach zehn Jahren Krieg verwüstet und teilweise entvölkert.

In ihrem ersten Jahrhundert hat die Türkei als Republik einen gewaltigen Entwicklungssprung gemacht. Die frühe Republik war ländlich geprägt, arm und blickte nach innen. Aus der Agrarnation wurde ein Industrieland mit einer diversifizierten Wirtschaft. Heute ist die Türkei eine regionale Ordnungsmacht und ein Global Player mit imperialen Ambitionen. Mit ihrem Gewicht und in ihrer strategischen Lage kann sie die Balance zwischen West und Ost verändern.

Die hundert Jahre sind eine Geschichte von Kontinuitäten und Brüchen. Atatürk, ohne den es die heutige Republik so nicht gäbe, hatte das rückständige Land mit einer Erziehungsdiktatur modernisiert. Trotz Wahlen und demokratischen Intervallen wurde die Türkei über weite Strecken autoritär regiert. Nicht verändert haben sich die Säulen der Macht. Atatürk und seine Nachfolger konnten sich darauf verlassen, dass die Bürokratie in ihrem Sinne handelt und dass die Justiz nicht die BürgerInnen schützt, sondern den Staat. Das Militär war der Garant dafür, dass es keine dauerhaften Abweichungen von Atatürks Kulturrevolution geben würde.

An diese Tradition knüpft Erdoğan an. Anders als Atatürk, der seine Legitimation aus seiner Rolle im Unabhängigkeitskrieg bezogen hat, benötigt Erdoğan für seine autoritäre Politik eine Legitimation durch ein demokratisches Mandat. Wie die Kemalisten vor ihm kann auch er sich auf die Justiz und die Bürokratie als Instrumente der Macht verlassen. Das Militär hat jedoch eine neue Funktion. Es soll nicht mehr die Macht nach innen sichern, sondern nach außen, jenseits der Grenzen, Macht demonstrieren.

Die Institutionen, die den Machterhalt sichern, haben sich von Atatürk bis Erdoğan nicht verändert. Verändert hat sich hingegen das Selbstverständnis des türkischen Nationalstaats. Für den säkularen und religionsskeptischen Atatürk war der Westen das Zivilisationsmodell, an dem sich die Republik zu orientieren hatte. Von diesem Ziel wendet sich der fromme Muslim Erdoğan ab. Er lässt sich von islamischen Traditionen inspirieren, auch wenn er der materiellen Moderne verpflichtet bleibt.

Parallel dazu vollzog sich ein gesellschaftlicher Wandel. Der Republik Atatürks war (und ist) die alte urbane Elite verpflichtet. Sie ist gebildet, pflegt einen westlichen Lebensstil und ist an Religion wenig interessiert. Die Vorherrschaft dieser Beyaz Türkler (Weißen Türken) wurde durch die Landflucht herausgefordert, die nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt hat. Der gesellschaftliche Aufstieg der lange marginalisierten, frommen und konservativen Siyah Türkler (Schwarzen Türken) Anatoliens setzte ein. Mit dem Wahlsieg der AKP 2002 kamen sie in der Regierung an.

Nun sitzen sie an den Schalthebeln der Macht, haben Zugang zu Bildung und Wohlstand. Der Konflikt zwischen der alten urbanen Elite und der neuen anatolischen Gegenelite spaltet aber weiter das Land. Ein zweiter innerer Konflikt ist die ungelöste Kurdenfrage. Sie wird erst dann beigelegt, wenn der türkische Nationalismus aus seinem Korsett befreit und die Fiktion eines homogenen Staatsvolkes aufgegeben wird.

Außenpolitisch löst sich die Türkei unter Erdoğan von der früheren Fixierung auf den Westen. Eine Annäherung an die EU ist ausgeschlossen, solange sich die demokratischen Normen und die Rechtsstaatlichkeit nicht verbessern und solange die Kontrollmechanismen der checks and balances, also der Gewal­tenteilung, ausgeschaltet bleiben.

Je größer die Distanz zu Europa und den USA wird, desto mehr nutzt Erdoğan Chancen und Freiräume, die sich im Nahen Osten, bei den Turkstaaten Zentralasiens und in Afrika bieten. Die NATO ist zwar weiterhin der Garant für die Sicherheit. Um unabhängiger zu werden und über mehr strategische Autonomie zu verfügen, diversifiziert und erweitert die Türkei jedoch ihre Außen- und Sicherheitspolitik.

Mit Blick auf den 100. Jahrestag der Gründung der Republik wurden prestigeträchtige Großprojekte lanciert. Sie sollen der Welt und der eigenen Bevölkerung die Leistungsfähigkeit der Türkei zeigen. Dazu zählen der neue Istanbuler Großflughafen und große Brücken, die Entwicklung eines E-Autos und der Fortschritt in der Rüstungsindustrie, mit dem die Türkei ein gefragter Waffenlieferant wurde.

Erdoğan hat bereits 2011 das Ziel ausgegeben, die Türkei unter die zehn größten Volkswirtschaften der Welt zu führen. Seither ist sie jedoch um einen Platz auf Rang 19 zurückge­fallen. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Türkei und Südkorea gleichauf. Heute rangiert der ostasiatische Staat auf Platz 12, weit vor der Türkei. Der Erfolg der Republik wird zu Beginn ihres zweiten Jahrhunderts davon abhängen, ob sie zu Rechtsstaatlichkeit zurückfindet, wieder individuelle Freiheiten gewährt und die demokratischen Defizite beseitigt.

Dr. Rainer Hermann schrieb von 1998 bis 2023 als Korrespondent und Redakteur für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Türkei, die arabische Welt und Iran. Von 1991 bis 2008 lebte er in Istanbul, wo er zunächst für die Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai), einer Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums, arbeitete. In Abu Dhabi beobachtete er ab 2008 den Aufstieg der Golfstaaten und die Massenproteste in der arabischen Welt. Von 2012 bis zum 31. März 2023 gehörte er zu den leitenden Redakteuren in der Frankfurter Zentralredaktion und bereiste regelmäßig die Türkei.

Das Studium führte ihn nach Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. 1984 schloss er das Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg mit dem Diplom ab, das Studium der Islamwissenschaft 1989 ebenfalls in Freiburg mit der Promotion. Thema seiner Dissertation war ein Aspekt der modernen syrischen Geistesgeschichte.

Neben einer Reihe wissenschaftlicher Artikel hat Rainer Hermann neun Bücher verfasst, die sich mit der Türkei, der arabischen Welt und Afghanistan beschäftigen. Zuletzt erschienen „Afghanistan verstehen. Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft“ (2022) und „Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten“ (2021).