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Türkei Editorial Von Atatürk bis Erdoğan Politik Außen- und Sicherheitspolitik Gesellschaft Wirtschaft Beziehungen mit Deutschland Eine Bilanz Zeittafel Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 356/2023

Gesellschaft

Rainer Hermann

/ 9 Minuten zu lesen

Die Türkei hat eine recht junge Bevölkerung, die neue Anforderungen an Bildung und Geschlechtergerechtigkeit stellt. Darauf müssen Gesellschaft und Politik reagieren.

In der Türkei ist die Hälfte der Bevölkerung jünger als 33 Jahre. 77 Prozent der Türkinnen und Türken leben in Städten. Blick in den Gewürzbasar, einem der ältesten Basare in Istanbul, im August 2023 (© picture-alliance, ZUMAPRESS.com | Serkan Senturk)

Urbanisierung und Demografie

1950, als die Türkei noch ein traditionelles Agrarland war, setzte eine Landflucht ein, die das Land grundlegend verändern sollte. Anatolische BinnenmigrantInnen kamen in den Städten an. Konservative, vor allem islamisch gefärbte Parteien wurden ihre Fürsprecher. Der Prozess der Verstädterung, der unter der AKP schließlich zu einem Elitenwechsel geführt hat, ist heute weitgehend abgeschlossen.

Die Bevölkerung hat sich von 1950 bis 2021 auf 84,5 Millionen EinwohnerInnen fast vervierfacht. In dem Zeitraum wuchs sie in den ländlichen Gebieten um 23 Prozent auf 19,8 Millionen, in den Städten mit mindestens 10.000 EinwohnerInnen jedoch von 5,3 Millionen auf 64,7 Millionen. Heute leben 77 Prozent der TürkInnen in Städten. Die Urbanisierungsrate entspricht der Deutschlands.

Als Folge der raschen Urbanisierung ging das Bevölkerungswachstum stark zurück. 1960 brachte eine Frau im Durchschnitt 6,4 Kinder zur Welt, heute sind es knapp zwei Kinder. Die Türkei ist eine junge Gesellschaft, denn die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 33 Jahre. In Deutschland liegt das Medianalter hingegen bei 46 Jahren, d.h. die eine Hälfte der deutschen Bevölkerung ist unter und die andere über 46 Jahre alt.

Vor enorme Herausforderungen stellt das Land, dass die Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten rasch altern wird. Eine wichtige Kennzahl ist, wie viele Jahre ein Land benötigt, bis sich der Anteil derer, die 65 Jahre und älter sind, von 7 Prozent an der Gesamtbevölkerung auf 14 Prozent verdoppelt. In den Industrieländern Europas dauerte dieser Prozess zwischen 45 und 115 Jahren. In der Türkei hat er 2008 eingesetzt und wird bereits 2035 abgeschlossen sein. Er dauert demnach nur 27 Jahre.

Damit hat die Türkei weniger Zeit als die reichen Industriestaaten, sich auf eine alternde Gesellschaft vorzubereiten, um etwa Altersheime zu bauen und die Rentenversicherung auf eine nachhaltige Basis zu stellen. Das demografische Fenster dafür ist kurz. Es öffnet sich 2023, wenn die Zahl der Erwerbstätigen den höchsten Stand erreicht, und es schließt sich 2040, wenn die Gruppe der über 65-Jährigen größer sein wird als die der Kinder und Jugendlichen im Alter bis zu 14 Jahren. Um die Kosten der Alterung zu tragen, muss die Produktivität gesteigert werden, was Reformen im Bildungswesen voraussetzt.

Bildung und Hochschulen

Das türkische Bildungswesen schneidet im internationalen Vergleich schlecht ab. In den internationalen Schulleistungsuntersuchungen, den PISA-Studien der OECD, liegt die Türkei deutlich unter dem Durchschnitt. In der Untersuchung von 2018 belegte sie bei der Lesekompetenz von 37 erfassten Ländern Platz 29, bei der mathematischen Kompetenz Platz 33 und bei der naturwissenschaftlichen Kompetenz Platz 30. Seit der ersten Teilnahme im Jahr 2003 ist ein leichter Aufwärtstrend zu erkennen. Die PISA-Studien weisen jedoch unverändert auf einen erheblichen Reformbedarf hin.

Ein Schritt dazu sollte die Schulreform von 2012 sein. Sie hat die Schulpflicht um vier auf zwölf Jahre erhöht und das Schuleintrittsalter um ein Jahr auf das fünfte Lebensjahr reduziert. Zudem hat sie in der letzten der drei jeweils vierjährigen Stufen ein duales Ausbildungssystem eingeführt. Dem Schulsystem wird unverändert vorgeworfen, dass es nicht das eigenständige Denken, sondern vielmehr Auswendiglernen fördert und belohnt.

Mit der Wiedereinführung der Mittelschule hat die Schulreform von 2012 die religiösen Imam-Hatip-Schulen wieder ­attraktiv gemacht. Damit revidiert sie die Reform von 1997. In der hatten die Generäle nach dem „postmodernen Putsch“ die Erhöhung der für alle verpflichtenden Grundschulzeit auf acht Jahre durchgesetzt, was den Besuch einer religiösen Imam-­Hatip-Schule erheblich erschwerte. Diese war 1951 als Mittelschule (5. bis 8. Klasse) und staatliche Berufsfachschule für Prediger und Koranlehrer eingeführt worden.

2004 war der Anteil der SchülerInnen an Imam-Hatip-Schulen landesweit auf nur noch 2,4 Prozent gesunken. Nach Angaben des Verbands der Imam-Hatip-Schulen besuchten 2022 wieder 10,3 Prozent aller SchülerInnen im Alter von 9 bis 17 Jahren eine solche Schule. In absoluten Zahlen waren es 514 000 SchülerInnen. In der Regierungszeit der AKP verzehnfachte sich die Zahl der Imam-Hatip-Schulen von 450 auf 4424, das ist ein Anteil von 13,5 Prozent an allen Schulen. Seit 2012 dürfen ihre AbsolventInnen an der zentralen Prüfung zur Erlangung einer Studienberechtigung (ÖSS) teilnehmen.

Die AKP hat das Hochschulwesen massiv ausgebaut. Von 2002 bis 2022 stieg die Bevölkerung von 65 Millionen auf knapp 85 Millionen Menschen, die Zahl der Studierenden, von Kurzstudiengängen bis zur Promotion, hingegen stieg von 1,9 Millionen auf 8,3 Millionen. Der Anteil der Frauen an den Studierenden ist von 42 Prozent (2002) auf 49,7 Prozent (2022) gestiegen. Die Anzahl der staatlichen Universitäten stieg seit 2002 von 68 auf 129, die Anzahl der Stiftungsuniversitäten, die mindestens zu 50 Prozent privat finanziert werden, von 25 auf 75. Die staatlichen Universitäten sind für türkische Studierende im Bachelor- und Masterstudium gebührenfrei. Stiftungsuniversitäten verlangen hingegen teilweise hohe Studiengebühren.

Universitäten wurden in strukturschwachen Gebieten gegründet, wo sie Arbeitsplätze geschaffen haben. Kritisiert wird die teilweise mangelhafte Forschungs- und Lehrqualität der neuen Universitäten, umstritten sind die Berufungspraktiken. Nur wenige Universitäten genießen internationales Renommee. In die Rangliste der 600 weltweit besten Universitäten schaffen es lediglich vier türkische Hochschulen. Vertreten sind die Koç University (Rang 477), die Middle East Technical University (501), die Sabancı University (531) und die Bilkent ­University (561). Von ihnen sind alle bis auf die Middle East Technical University private Hochschulen. Ein Indiz für die geringe Innovationskraft der Türkei sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung. In Deutschland werden dafür 3,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgegeben, in der Türkei 1,1 Prozent.

Die fehlende Autonomie gilt als wesentlicher Grund für die mangelhafte Qualität der Universitäten. Die Verfassung von 1961 hatte den Universitäten Autonomie gewährt, 1971 wurde sie wieder eingeschränkt. Seit 1982 bestimmt der neu gegründete Hochschulrat (YÖK) Lehrinhalte. Er führte die Regelung ein, dass von den Universitäten gewählte Rektoren und Dekane von ihm bestätigt werden müssen. Eine Notverordnung des Präsidenten entzog den Universitäten nach dem Putschversuch von 2016, als 4000 HochschuldozentInnen entlassen wurden, dieses Vorschlagsrecht. 2018 ging das Recht, einen Rektor zu ernennen, vollständig auf den Präsidenten über.

Erdoğan ernannte am 2. Januar 2021 Melih Bulu zum Rektor der Istanbuler Bosporus-Universität, obwohl ihm die akademische Qualifikation für dieses Amt fehlte. Die Polizei löste den daraufhin entbrannten friedlichen Protest der Lehrenden und ­Studierenden auf dem Campus der Universität mit Gewalt auf und nahm 17 Studierende fest. Erdoğan zog zwar Bulu zurück, ­ersetzte ihn am 21. August 2021 aber durch den ebenfalls umstrittenen Mehmet Naci Inci. Lehrende und Studierende setzen jeden Werktag um 12:15 Uhr ihren stillen Protest gegen dessen Ernennung fort, indem sie sich vor dem Rektoratsgebäude aufstellen und diesem den Rücken zukehren.

Jugend und Frauen

Bei den Wahlen vom Mai 2023 waren von den 62 Millionen WählerInnen fünf Millionen junge TürkInnen zum ersten Mal wahlberechtigt. Wie unzufrieden sie sind, dokumentiert die im April 2022 veröffentlichte Jugendstudie des Politikwissenschaftlers Ali Çağlar im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. 73 Prozent der 3243 befragten Jugendlichen im Alter von 18 bis 25 Jahren gaben an, dass sie sich eine Zukunft im Ausland wünschten. 63 Prozent sahen die Zukunft der Türkei nicht positiv, 35 Prozent waren sogar „völlig hoffnungslos“. Diese Unzufriedenheit schlägt sich in den Parteipräferenzen nieder. Bei Umfragen gab nur ein Fünftel der JungwählerInnen an, für die AKP zu stimmen. Bei den älteren WählerInnen liegt der Anteil bei gut einem Drittel.

Zu den größten Problemen in ihrem Land zählten die Jugendlichen die Arbeitslosigkeit (87 Prozent) und die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen (83 Prozent). Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 19 Prozent, vierfach höher als in Deutschland. Als weitere drängende Probleme nannten sie mangelnde Freiheit und Gerechtigkeit sowie ein schlechtes Bildungswesen. 66 Prozent gaben an, in der Türkei würden die Menschenrechte nicht respektiert. Der Justiz vertrauten lediglich 12 Prozent. In der Türkei haben für die befragten Jugendlichen die Themen Gerechtigkeit, Freiheit und soziale Sicherheit Priorität. Als die dringlichsten globalen Probleme nannten sie den Klimawandel (29 Prozent) und kriegerische Konflikte (26 Prozent).

Die heutige Jugend ist moderner, liberaler und gebildeter als die älteren Generationen. 93 Prozent haben einen Sekundarschulabschluss. Mit steigendem Bildungsgrad nimmt die Bedeutung der Religion in ihrem Leben ab. Nur noch 30 Prozent bezeichneten sich als fromm. Auch das Verhalten zwischen den Geschlechtern verändert sich. 80 Prozent gaben an, Frauen und Männer seien in allen Aspekten des Lebens gleich. Der Rest teilt sich zu gleichen Teilen in jene auf, die Männer beziehungsweise die Frauen für überlegen halten.

Diesen Einstellungen steht eine Lage der Frauen gegenüber, die zu den schlechtesten in den Industrie- und Schwellenländern zählt. Im Bericht des World Economic Forum von 2022 zum Global Gender Gap belegt die Türkei unter 146 Ländern nur Platz 124. Bei den Bildungsabschlüssen liegt sie auf Platz 101, bei der politischen Teilhabe der Frauen auf Platz 112 und bei der wirtschaftlichen Teilhabe nur auf Platz 134. In der 2023 gewählten Großen Nationalversammlung sind 20 Prozent der 600 Abgeordneten Frauen. Im 2021 gewählten Bundestag stellen Frauen 35 Prozent der 735 Abgeordneten. In Schweden und Finnland liegt der Anteil der Frauen sogar bei jeweils 46 Prozent. Nur 29 Prozent aller türkischen Frauen im erwerbsfähigen Alter sind erwerbstätig; im Durchschnitt der Industriestaaten der OECD sind es 59 Prozent.

Dabei hat die AKP das Kopftuchverbot schrittweise in allen Institutionen aufgehoben und so für fromme Muslimas neue Arbeitschancen geschaffen. 2021 wurde an einer Militärakademie erstmals einer Offizierin mit Kopftuch ein Diplom überreicht. Die AKP hat den Kampf um das Kopftuch, das zum Symbol für die Macht im Staat geworden war, gewonnen. Wichtiger als der Erfolg einer Frau war in der öffentlichen Diskussion ­zeitweise die Frage geworden, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht.

In ihren Reformjahren hatte die AKP zunächst die Position der Frauen gestärkt, beispielsweise mit dem 2004 verabschiedeten neuen Strafgesetzbuch. Am 11. Mai 2011 unterzeichnete die AKP-Regierung als eine der ersten die Konvention des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Istanbul-Konvention. In einer Schwächephase seiner AKP kündigte Erdoğan aber am 20. März 2021 als Geste gegenüber islamistischen WählerInnen per Dekret den Austritt aus der Konvention an. Er wurde am 1. Juli 2021 vollzogen.

Erdoğan und seine Regierung begründeten den Schritt damit, dass das Abkommen zu erhöhten Scheidungsraten geführt habe, dass es der Einheit der Familie schade und zur „Normalisierung von Homosexualität“ beitrage, die mit den sozialen und familiären Werten der Türkei unvereinbar sei. Eine Woche nach dem Austritt verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Verfolgung von Gewalt gegen Frauen erschwert. Im Jahr 2021 hat die Plattform Anıt Sayaç 497 Femizide dokumentiert, also Fälle, bei denen eine Frau getötet wurde, weil sie eine Frau ist. Das türkische Gesetz sieht für jede Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnenden ein Frauenhaus vor. Von den 242 Städten dieser Größe haben nur 32 eine solche Einrichtung.

Zivilgesellschaft

Die Frauenrechtsgruppe Mor Çatı hat 1990 das erste Frauenhaus in Istanbul gegründet. Frauenrechtsgruppen gehören seit Jahrzehnten zu den aktivsten AkteurInnen der türkischen Zivilgesellschaft. Als die Türkei 2002 im Rahmen der Annäherung an die EU mit der Reform ihrer Gesetze begann, schlossen sich mehr als hundert Frauenrechtsgruppen aus dem ganzen Land zur Kadınlar Koalisyonu, der Frauenkoalition, zusammen. Sie beriet die Politik bei den großen Reformprojekten und ist bis heute eine der wichtigsten Stimmen der Frauen.

Als Reaktion auf ihre verschlechterte Situation gründeten Frauen im April 2020 die Eşitlik İçin Kadın Platformu, die Frauenplattform für Gleichheit. Begründet wurde der Schritt mit den „sehr ernsten Gefahren und der Bedrohung“, dass den Frauen die angestammten Rechte genommen würden. Die Plattform organisiert sich klassen- und bildungsübergreifend und schließt religiöse Frauen ein, die ebenfalls um ihre Rechte besorgt sind. Mit Hilfe von Whatsapp hat die aktive Frauenplattform auch die Coronavirus-Pandemie gut überstanden.

In einem politischen Umfeld, in dem es kaum mehr gegenseitige Gewaltenkontrolle gibt, ist die Zivilgesellschaft eine der letzten Kontrollmechanismen, selbst wenn ihr Einfluss auf die Politik und in der Bevölkerung begrenzt ist. Junge Menschen beteiligen sich stärker in der Zivilgesellschaft als in politischen Parteien. Nur ein kleiner Teil der Zivilgesellschaft beschäftigt sich jedoch mit politisch relevanten Themen wie den Menschenrechten, der Umwelt, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit, dem Kurdenkonflikt und benachteiligten Gruppen wie Geflüchteten. Zur Zivilgesellschaft gehören auch Berufs- und Wirtschaftsverbände, Sportvereine und Gewerkschaften. Nach dem Putschversuch von 2016 wurden mehr als 1500 zivilgesellschaftliche Gruppen verboten.

Es sind vor allem zivilgesellschaftliche Organisationen, die ökologische Anliegen verfolgen. Eine Partei, die sich vorrangig mit Umweltfragen beschäftigt, wurde erstmals 1988 gegründet, sie hielt sich nicht lange. In der täglichen Politik haben Umweltfragen nach wie vor keine große Bedeutung. Vielmehr engagieren sich in der Zivilgesellschaft, insbesondere in Istanbul, junge TürkInnen für die Umwelt, beispielsweise in Organisationen wie Mekanda Adalet Derneği (Zentrum für räumliche Gerechtigkeit).

Die türkische Regierung unterstützt zwar die Kulturschaffenden. Doch seine Vitalität erhält das Kulturleben von einem breiten zivilgesellschaftlichen Engagement. Die bekannteste Einrichtung ist die 1973 gegründete Istanbul Stiftung für Kultur und Kunst (İKSV) mit einer Vielzahl von Projekten und Programmen, etwa der seit 1987 ausgerichteten Istanbul Biennale. Die großen Industriellenfamilien haben bedeutende Museen gegründet. Das Museum Istanbul Modern, eine Initiative der Familie Eczacıbaşı, gibt einen nahezu kompletten Überblick über die Kunst der Türkei seit 1945. Die Familie Koç hat in Istanbul und Ankara jeweils ein Museum zur industriellen ­Entwicklung der Türkei eingerichtet. Das Sakıp Sabancı Museum bringt ­große internationale Kunstausstellungen nach Istanbul.­

QuellentextMigration

Gemessen an der einheimischen Bevölkerung hat die Türkei mehr Geflüchtete als jedes andere Land aufgenommen. Registriert sind 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge, hinzu kommen mehr als 900.000 in der Türkei geborene syrische Kinder. Ferner leben in der Türkei mehr als 300.000 irreguläre Flüchtlinge und MigrantInnen. Sie stammen überwiegend aus Afghanistan, dem Irak und aus afrikanischen Ländern.

Während die syrischen Flüchtlinge vorübergehenden Schutzstatus genießen, geht die türkische Polizei robust gegen irreguläre Migration vor. 2022 wurden mehr als 200.000 irreguläre MigrantInnen, überwiegend aus Afgha­nistan, festgenommen, in Abschiebezentren gebracht und größtenteils abgeschoben. AfghanInnen wurden mit Charterflügen in ihr Heimatland gebracht. Um einer Abschiebung zu entgehen, reisen die afghanischen Flüchtlinge möglichst rasch durch die Türkei Richtung Westen.

Seitdem die Türkei entlang der Grenze zu Syrien eine Mauer gebaut hat, gelangen aus Syrien kaum mehr Flüchtlinge in die Türkei. Um im Osten den Zustrom von Flüchtlingen aus Afghanistan, Pakistan und Bangladesch zu stoppen, hat die türkische Regierung zusätzliche Grenzschützer an die Grenze zu Iran geschickt. Zudem baut sie entlang der Grenze zu Iran eine Mauer. In Iran sind etwa 800.000 AfghanInnen offiziell als Flüchtlinge registriert, mutmaßlich mehr als zwei Millionen sind nicht registriert.

Die Türkei hat zwar die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet, machte dabei aber vom Vorbehaltsartikel zur „geografischen Beschränkung“ Gebrauch. Daher erkennt sie nur diejenigen als Flüchtlinge an, die aus Ländern des Europarates kommen. Flüchtlinge aus Syrien genießen lediglich vorübergehenden Schutzstatus, was eine langfristige Integration in die türkische Gesellschaft erschwert. Die Flüchtlinge sind nicht bereit, freiwillig nach Syrien zurückzukehren, und eine Umsiedlung in Drittländer ist aufgrund der dort fehlenden Bereitschaft unrealistisch.

Nachdem eine Mehrheit die syrischen Flüchtlinge zunächst positiv aufgenommen hatte, kippte die Stimmung allmählich, nicht zuletzt befeuert durch die Oppositionsparteien. Infolge der Wirtschaftskrise wurde die Stimmung feindlich, das Erdbeben vom Februar 2023 verstärkte dies noch mehr. In einer Umfrage vor den Wahlen vom Mai 2023 plädierten 89 Prozent dafür, die Flüchtlinge nach Syrien zurückzusenden. Zweifelhaft ist daher, ob ein Nachfolgeabkommen zwischen der EU und der Türkei zustande kommt.

Denn um den Zustrom von Flüchtlingen durch die Türkei nach Europa zu reduzieren, hatte die EU am 18. März 2016 mit der Türkei ein Abkommen unterzeichnet. In der Türkei herrscht die Überzeugung vor, dass die EU mit dem Abkommen ihr Migrationsproblem auslagert. In dem Abkommen sicherte die EU der Türkei finanzielle Unterstützung in Höhe von sechs Milliarden Euro zu, um die durch die Geflüchteten entstandenen Kosten aufzufangen. Mit Stand Sommer 2023 sind sie ausgegeben oder für konkrete Projekte eingeplant.

Die Gelder dienen der Finanzierung von Projekten in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Infrastruktur und Lebensmittelversorgung. In der ersten Phase erhielten im größten humanitären Hilfsprogramm in der Geschichte der EU 1,7 Millionen syrische Flüchtlinge Barhilfen für ihren täg­lichen Grundbedarf. Im Gegenzug verpflichtet sich die Türkei, Mi­grantInnen zurückzunehmen, die in Europa keinen Schutzanspruch haben. Die Türkei setzte diesen Teil im Jahr 2020 de facto aus. Die türkische Küstenwache verhindert jedoch weiterhin, dass eine große Zahl von Geflüchteten auf einer der griechischen Inseln ankommt, wozu auch griechische Pushbacks beitragen.

Die EU kündigte an, die Türkei über die sechs Milliarden Euro hinaus zu unterstützen. Im Gespräch sind Integrationsmaßnahmen. Je länger die Flüchtlinge in der ­Türkei leben, desto wichtiger wären Formen der Unterstützung, die ihnen wirtschaftliche Perspektiven eröffnen, die sie für den Arbeitsmarkt qualifizieren und in die türkische Gesellschaft integrieren würden. Die Bereitschaft der türkischen Bevölkerung, die syrischen Flüchtlinge zu integrieren, ist indessen nur noch gering. Zudem ist die EU nicht bereit, Gelder für die Gebiete in Syrien bereitzustellen, die die Türkei kontrolliert und in die sie Flüchtlinge zurückschicken will.

Dr. Rainer Hermann schrieb von 1998 bis 2023 als Korrespondent und Redakteur für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Türkei, die arabische Welt und Iran. Von 1991 bis 2008 lebte er in Istanbul, wo er zunächst für die Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai), einer Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums, arbeitete. In Abu Dhabi beobachtete er ab 2008 den Aufstieg der Golfstaaten und die Massenproteste in der arabischen Welt. Von 2012 bis zum 31. März 2023 gehörte er zu den leitenden Redakteuren in der Frankfurter Zentralredaktion und bereiste regelmäßig die Türkei.

Das Studium führte ihn nach Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. 1984 schloss er das Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg mit dem Diplom ab, das Studium der Islamwissenschaft 1989 ebenfalls in Freiburg mit der Promotion. Thema seiner Dissertation war ein Aspekt der modernen syrischen Geistesgeschichte.

Neben einer Reihe wissenschaftlicher Artikel hat Rainer Hermann neun Bücher verfasst, die sich mit der Türkei, der arabischen Welt und Afghanistan beschäftigen. Zuletzt erschienen „Afghanistan verstehen. Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft“ (2022) und „Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten“ (2021).