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Außen- und Sicherheitspolitik | Türkei | bpb.de

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Informationen zur politischen Bildung Nr. 356/2023

Außen- und Sicherheitspolitik

Rainer Hermann

/ 11 Minuten zu lesen

Auf internationaler Ebene funktioniert die Türkei als regionale Ordnungsmacht, aber auch als Vermittlerin zwischen Ost und West. Daraus entstehen nicht selten Interessenskonflikte.

Seit 1952 ist die Türkei NATO-Mitglied. Das Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten ist auch von Spannungen geprägt. NATO-Gipfel in Vilnius, Litauen, im Juli 2023 (© newscom | Turkish President Press Office)

Regionalmacht Türkei

In ihren ersten Jahrzehnten hatte die Republik Türkei nach innen geblickt. Um sich gegen die Gebietsansprüche der Sowjetunion zu schützen, trat sie 1952 der NATO bei. Zuvor hatte das Osmanische Reich in vier Jahrhunderten nur einen von mehr als zwölf Kriegen gegen Russland gewonnen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vergrößerte sich 1990 zunächst das Hinterland, von 2003 an richtete die AKP die Außenpolitik der Türkei neu aus. Ahmet Davutoğlu, der Architekt der neuen Außenpolitik, forderte, dass die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs eine historische Verantwortung für die Region übernehmen solle. Die Türkei sei keine Brücke zwischen Ost und West. Vielmehr solle sie eine Regionalmacht mit eigenen Interessen sein. Als regionale Ordnungsmacht solle sie die Destabilisierung, die der Westen mit seinen Interventionen ausgelöst habe, wieder unter Kontrolle bringen.

In vielen arabischen Ländern stieg die Wertschätzung für die Türkei. Preiswerte türkische Waren in guter Qualität trugen dazu ebenso bei wie türkische soap operas, in denen Frauen häufig selbstbestimmt auftreten. Die wohlhabende und demokratische Türkei war ein Modell für Reformbewegungen in der islamischen Welt. Dies hob auch US-Präsident Barack Obama im April 2009 in seiner Rede vor dem türkischen Parlament hervor.

Die soft power stieß an ihre Grenzen, als in der arabischen Welt 2011 Massenproteste ausbrachen. Vergeblich versuchte die Türkei, den syrischen Machthaber Baschar al-Assad zum Einlenken gegenüber den Demonstrierenden zu bewegen. Erdoğan ergriff Partei für die sunnitisch-muslimische Opposition und rief zu Assads Sturz auf. Als die Unterstützung der USA für die Opposition ausblieb, öffnete Erdoğan militanten Islamisten die Türkei als Transitland nach Syrien. Der türkische Staat unterschätzte allerdings die Gefahr und verlor die Kontrolle über die Dschihadisten. Nicht wenige schlossen sich der Terrororganisation Islamischer Staat und anderen dschihadistischen Gruppen an.

Ankaras Kalkül ging auch in anderen arabischen Staaten nicht auf. Zunächst war Erdoğan als moralischer Mahner der Muslime und Muslimas aufgetreten sowie als Fürsprecher der PalästinenserInnen und der Rohingya in Myanmar. Ab 2011 übernahm er auch eine politische Führung: Ein Netzwerk gleichgesinnter Parteien unter Führung der AKP sollte entstehen. Die Parteien der Muslimbruderschaft sollten nach dem Vorbild der AKP mit einer gemäßigten Politik Wahlen gewinnen.

Ein Rückschlag war der Militärputsch in Ägypten, bei dem am 3. Juli 2013 der Muslimbruder Muhammad Mursi, der erst ein Jahr als Staatspräsident im Amt war, gestürzt wurde. Unterstützt wurden die Putschisten um General Abd al-Fattah al-Sisi von den Herrscherhäusern in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien, die die Muslimbruderschaft als politische Konkurrenz fürchteten und die die regionalen Ambitionen der Türkei bekämpften. Zu dieser Achse gegen die Türkei gehörte wegen der Sympathien Ankaras für die Hamas auch Israel.

Jenseits der Grenzen von 1923

Auch die Beziehungen zu Russland verschlechterten sich. Im November 2015 schoss die türkische Luftabwehr ein russisches Flugzeug ab, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte Sanktionen gegen die Türkei. Da Ankara fürchtete, dass Russland, wie zuvor die Sowjetunion, die PKK unterstützen könnte, entschuldigte sich Erdoğan im Juni 2016 bei Putin. Die Beziehungen verbesserten sich weiter, als Putin als erster ausländischer Politiker Erdoğan zur Niederschlagung des Putschversuchs gratulierte.

Die Türkei bestellte das russische Luftabwehrsystem S-400, wiederaufgenommen wurde der Bau der Pipeline TurkStream, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt, und Russland gab grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens, sodass die türkischen Streitkräfte am 24. August 2016 dort die erste von vier Operationen begannen. Als Gegenleistung musste die Türkei zusehen, wie das Assad-Regime die Rebellenhochburg Aleppo eroberte, was den syrischen Bürgerkrieg zugunsten Assads entschied.

Damit fand sich die Türkei ab. Denn sie wollte verhindern, dass sich im Norden Syriens auf Dauer eine kurdische Selbstverwaltung durch die PYD, einer Schwesterorganisation der PKK, und deren militärischem Flügel YPG etabliert. Während die Türkei die YPG bekämpft, kooperieren die USA, aktuell auch aus Misstrauen gegenüber Ankara, im Kampf gegen den Islamischen Staat mit der Kurdenmiliz YPG, die sie als verlässlichen Partner einstufen.

Türkische Soldaten stehen auf einer Länge von mehr als 500 Kilometern in Syrien und kontrollieren fünf Prozent des Landes. Zudem hat die Türkei seit 2014 ihre militärische Präsenz im Irak ausgebaut. Neben dem großen Stützpunkt Baschiqa unterhalten die türkischen Streitkräfte dreißig kleinere Basen. Die Türkei begründet ihre Präsenz im Irak mit dem doppelten Kampf gegen die PKK, die in den Kandil-Bergen ihr Hauptquartier unterhält, und gegen den Islamischen Staat.

Die Türkei greift damit über die Grenzen des Vertrags von Lausanne hinaus. Erdoğan stellte diese Grenzen erstmals nach dem Putschversuch vom Juli 2016 infrage und behauptete, der Vertrag habe der Türkei Rechte vorenthalten. Im Oktober 2019 sagte er, die türkische Nation habe nie die Schande akzeptiert, dass ihr nach dem Ersten Weltkrieg in der internationalen Ordnung kein Platz zugewiesen worden sei. In der Türkei wurde die Unabhängigkeitsbewegung von 1919 wieder Thema. Diese hatte damals vergeblich Teile Nordsyriens und des Nordiraks sowie dem Festland vorgelagerte Inseln – die 1923 Italien zugeschlagen wurden, seit 1948 aber zu Griechenland gehören – gefordert. Neben ihrer Präsenz in Syrien und im Irak erhebt die Türkei daher auch maritime Ansprüche im Mittelmeer.

Der Auslöser dafür war, dass nach 2010 Gasvorkommen im östlichen Mittelmeer entdeckt worden sind, auf die die Türkei kaum Zugriff hat. Denn das Völkerrecht legt als Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) eines Landes 200 Seemeilen fest, gemessen ab der Küste. Das beanspruchen auch die dem türkischen Festland vorgelagerten kleinen griechischen Inseln. Zudem liegen bedeutende Gasvorkommen in der AWZ der Republik Zypern, die Ankara nicht anerkennt, sowie in den AWZ von Israel, Ägypten und Griechenland, zu denen damals die Beziehungen angespannt waren. Der Konflikt spitzte sich zu, als Erdoğan Griechenland mit militärischer Gewalt drohte. Die Türkei ließ von 2020 bis 2022 Explorationsschiffe in diese Gebiete auslaufen, die teilweise von Kriegsschiffen begleitet waren. Nach den Erdbeben vom Februar 2023 und der griechischen Hilfe ebbten die bilateralen Spannungen ab.

Um die Balance im östlichen Mittelmeer zu ihren Gunsten zu verändern, schloss die Türkei im Dezember 2019 mit der Regierung in Tripolis, einer der beiden konkurrierenden Machtzentren in Libyen, ein maritimes Abkommen. Es legt zwischen beiden Ländern eine Seegrenze fest, die die Rechte von Griechenland und Zypern verletzt. Mit einem weiteren, militärischen Abkommen ermöglichte die Türkei der bedrängten Regierung von Tripolis, sich gegenüber dem Rebellengeneral Khalifa Haftar zu behaupten. Dazu errichtete die Türkei in Libyen – nach Nordzypern, Syrien, Irak, Katar und Somalia – weitere militärische Stützpunkte außerhalb ihrer Grenzen.

Das Dreieck Türkei, Golfstaaten und Israel

Mit dem Beginn des Arabischen Frühlings brachen 2011 die guten Beziehungen der Türkei zu den großen Staaten der arabischen Welt ab. Die Türkei förderte die islamistische Muslimbruderschaft in der Erwartung, dass sie der Gewinner der (nicht eingetretenen) Veränderungen sein würde. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate stuften die Bruderschaft indes als terroristische Vereinigung ein. Am 3. Juli 2013 stürzte in Ägypten das Militär den ersten frei gewählten Präsidenten Muhammad Mursi, einen führenden Repräsentanten der Muslimbruderschaft. Die Türkei beschuldigte die Vereinigten Arabischen Emirate, den gescheiterten Putschversuch (siehe Beitrag "Interner Link: Von Atatürk bis Erdoğan" ) vom Juli 2016 finanziert zu haben. Die Beziehungen zu Saudi-Arabien erreichten einen Tiefpunkt, als am 2. Oktober 2018 in Istanbul der saudische Publizist Jamal Khashoggi im Generalkonsulat des Königreichs ermordet wurde.

Nach dem Ende des vier Jahre andauernden saudisch-emiratischen Boykotts gegen Katar, den wichtigsten Verbündeten Ankaras im Nahen Osten, setzte im Januar 2021 eine Entspannung ein. Mit der Wiederannäherung an die Golfstaaten ­wollte die Türkei ihre außenpolitische Isolation durchbrechen und Kapital aus den Golfstaaten anziehen. Als Vorleistung überwies die türkische Justiz den Fall Khashoggi im April 2022 an die sau­dische Justiz; ihre Ermittlungen gegen den saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman und den Prozess gegen 26 sau­dische Staatsbürger stellte sie ein. Der Kronprinz überwies fünf Milliarden US-Dollar an die türkische Zentralbank. Am 2. Juni 2023 besprach der Ölkonzern Saudi Aramco mit 80 türkischen Bauunternehmen Projekte im Wert von 50 Milliarden US-Dollar.

Die Vereinigten Arabischen Emirate stellten nach dem Ende der Katar-Boykotte einen Investmentfonds von 10 Milliarden US-Dollar für die Türkei bereit und sagten zusätzlich fünf Milliarden US-Dollar zu, um bei Bedarf der türkischen Zentralbank zur Stützung der Währung kurzfristig Devisen bereitzustellen. Am 31. Mai 2023, drei Tage nach Erdoğans Wiederwahl, ratifizierten die Emirate ein Abkommen, in dem sich beide Staaten verpflichten, den bilateralen Handel mit Nicht-Ölgütern auf 40 Milliarden US-Dollar zu verdoppeln. Am 10. Juni 2023 war Emir Muhammad Bin Zayed Al Nahyan der erste ausländische Gast, den Erdoğan nach seiner Wiederwahl bilateral empfing.

Mit den Hilfen Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate sowie den Kapitalzuflüssen aus Russland konnte die Türkei ihre Währung stützen und konnte Erdoğan seine Wahlgeschenke – Lohn- und Rentenerhöhungen, Frühverrentungen und billige Kredite – finanzieren. Zu Beginn seiner dritten Amtszeit setzt er auf die Golfmonarchien, um die türkische Wirtschaft wieder anzukurbeln und die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Westen zu verringern.

Als schwieriger erweist sich die Normalisierung mit Ägypten. Noch 2018 hatte Erdoğan gesagt, nie werde er sich mit dem ägyptischen Präsidenten al-Sisi treffen. Beim Eröffnungsspiel der Fußball-WM am 20. November 2022 in Katar sprachen beide erstmals 45 Minuten unter vier Augen. Den in Istanbul operierenden Fernsehsendern der Exil-Muslimbruderschaft hat die Türkei verboten, die ägyptische Regierung zu kritisieren. Zehn Jahre nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen besuchte im März 2023 erstmals wieder ein türkischer Außenminister Kairo.

Ägypten sieht die dauerhafte Präsenz der Türkei in Libyen als Gefahr für seine nationale Sicherheit und bremst daher. Einer Normalisierung steht auch die militärische Zusammenarbeit der Türkei mit der äthiopischen Regierung entgegen, während Ägypten aus Furcht vor den Folgen des äthiopischen Nilstaudamms, durch den Kairo die Wasserversorgung Ägyptens gefährdet sieht, die Rebellen in Äthiopien unterstützt. Zudem kritisiert Ägypten stärker als andere arabische Staaten die Einmischung der Türkei in Syrien und im Irak.

Die Eiszeit mit Israel endete 2021, als Erdoğan dem neu gewählten Präsidenten Jitzchak Herzog telefonisch zu dessen Wahl gratulierte. Die beiden Staaten nahmen wieder volle diplomatische Beziehungen auf, Erdoğan reagiert nun zurückhaltend auf Konflikte zwischen Israel und den PalästinenserInnen, und die Türkei schränkte den Aktionsradius der Hamas auf türkischem Boden ein. Beide Staaten arbeiten wieder eng in den Bereichen Wirtschaft, Technologie und Tourismus sowie bei den Geheimdiensten zusammen. Somit kooperieren die drei wichtigen regionalen Akteure Israel, Türkei und die Golfstaaten, die sich vor wenigen Jahren noch feindlich gegenüberstanden, nun erstmals konstruktiv. Ihre Zusammenarbeit ist auch eine Folge des schrittweisen Rückzugs der USA aus dem Nahen Osten, der sie zwingt, selbst eine Ordnung aufrechtzuerhalten.

Die Beziehungen mit Russland

Die Türkei und Russland stehen sich in Libyen, Syrien und im Kaukasus militärisch gegenüber. In Libyen unterhält Russland wie die Türkei militärische Stützpunkte; Russland unterstützt wie auch Ägypten die Gegenregierung in Tobruk. Einen Hebel gegen die Türkei hält Russland mit der syrischen Rebellenprovinz Idlib in der Hand. Dort leben an der Grenze zur Türkei drei Millionen GegnerInnen des Assad-Regimes. Sie würden versuchen, in die Türkei zu fliehen, sollten syrische Truppen die Provinz erobern. Die Türkei wägt daher ihre Schritte gegen Russland ab und hält am russischen Luftabwehrsystem S-400 fest, obwohl sie deswegen aus der Entwicklung des F-35-Tarnkappen-Mehrkampfflugzeugs der NATO ausgeschlossen wurde.

Das Veto, das die Türkei im Mai 2022 gegen den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands einlegte, kann auch als Geste an Russland verstanden werden. Mit dem Veto will die Türkei vor allem den Spielraum der PKK und der Gülen-Bewegung in den beiden Ländern einschränken. Im März 2023 stimmte Erdoğan dem Beitritt Finnlands zu, nicht aber dem Schwedens. Die russische Presse nannte Erdoğan „unseren Mann in der NATO.“ Erdoğan forderte von Schweden unerfüllbare Vorleistungen wie die Auslieferung schwedischer StaatsbürgerInnen an die Türkei. Um wieder auf seine Partner in der NATO zuzugehen, erklärte er am 10. Juli 2023 vor dem Beginn des Gipfeltreffens der NATO in Vilnius, er sei nun mit dem Beitritt Schwedens einverstanden. Allerdings könne das türkische Parlament den Beitritt Schwedens erst dann ratifizieren, wenn es nach der Sommerpause wieder zusammentrete. Sollte der US-Kongress seinen Widerstand gegen die Lieferung von F16-Kampfflugzeugen an die Türkei nicht aufgeben, kann die Türkei die Ratifizierung weiter aufschieben.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine zwingt Ankara zu einem Balanceakt. Die Türkei beliefert die Ukraine, der ihre Sympathie gilt, mit Kampfdrohnen. Russland kann der Türkei aber mit der Drosselung seiner Energielieferungen und mit Militäraktionen in der Provinz Idlib Schaden zufügen. Anerkennung erhielt Erdoğan für seine Rolle beim Zustandekommen des Getreidedeals zwischen Russland und der Ukraine, welcher die Belieferung der Weltmärkte mit Getreide aus der Ukraine sicherstellen sollte. Den Balanceakt vollführte die Türkei, indem sie sich nur teilweise an die westlichen Sanktionen gegen Russland hielt, die sie grundsätzlich ablehnt. Die türkische Regierung untersagte im März 2023 aber allen türkischen Unternehmen, sanktionierte Güter an Russland zu liefern.

Das Verhältnis zu Zentralasien und Afrika

Die Türkei nutzt den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, um ihre Beziehungen mit den Staaten Zentralasiens, die ihre Abhängigkeit von Russland reduzieren wollen, auszubauen. Die Organisation der Turkstaaten, die ihren Sitz in Istanbul hat, wurde aufgewertet. Priorität hat der Ausbau des Mittlerer Korridor genannten Verkehrswegs von China über Zentralasien nach Europa anstelle des bisherigen Nordkorridors von China über Russland.

Priorisiert wird auch der Ausbau der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit Afrika. Kein anderer nichtafrikanischer Politiker hat den Kontinent seit 2005 so ­häufig besucht wie Erdoğan. In Afrika wird sichtbar, dass die Ambitionen der Türkei weit über die Gebiete des Osmanischen Reichs hinausgehen. Nur drei Staaten – China, die USA und Frankreich – unterhalten in Afrika mehr Botschaften als die Türkei, die mit Russland auf 44 Staaten gleichzog, als sie im westafrikanischen Staat Guinea-Bissau, in dem die USA nicht vertreten sind, eine Botschaft eröffnete. Beim Regierungsantritt der AKP im Jahr 2002 war die Türkei erst in zwölf Staaten Afrikas mit Botschaften vertreten.

In Afrika stößt die Türkei auf gegenseitiges Interesse, ob im arabischen Norden, in der Sahelzone oder in der Subsahara: ­Viele Staaten sehen in der Türkei eine willkommene Option, um ihre Außen- und Sicherheitspolitik zu diversifizieren, damit sie weniger von Ländern wie China, Frankreich und Russland abhängig sind. Die Türkei schloss mit zahlreichen afrikanischen Staaten Abkommen zum Ausbau des Handels, mit 30 Staaten hat sie Abkommen für eine militärische Zusammenarbeit unterzeichnet, mit 25 Staaten für eine rüstungspolitische Kooperation, die mit dem Versprechen verbunden ist, Technologie weiterzugeben. Viele afrikanische Staaten sehen in der Türkei einen Partner mit einer langen Erfahrung in der Terrorbekämpfung. Türkische Offiziere und Sicherheitsfachleute des Innenministeriums bilden in zahlreichen Staaten das Sicherheitspersonal aus. In Afrika ist die türkische Armee zudem an zwei UN-Friedensmissionen beteiligt.

Am größten ist das türkische Engagement in Somalia, das Erdoğan zum ersten Mal 2011 besucht hat und wo die Türkei in Mogadischu eine ihrer größten Botschaften unterhält. Für 50 Millionen US-Dollar baute die Türkei ein Ausbildungszentrum für die somalische Armee, an dem seit 2017 mehr als 15.000 somalische Soldaten ausgebildet wurden. Das große, von der Türkei gebaute und finanzierte Krankenhaus in der Hauptstadt Mogadischu ist nach dem türkischen Präsidenten benannt. Türkische Firmen betreiben den Flughafen und den Hafen der Stadt. Mehr Projekte als die Baufirmen aus der Türkei wickeln in Afrika nur jene aus China ab. Turkish Airlines fliegt in 40 Ländern des Kontinents 61 Destinationen an und damit mehr als jede andere Fluggesellschaft.

QuellentextBeziehungen mit der EU

Die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei stehen still. Als Grund dafür nennt die EU-Kommission in ihrem Türkei-Bericht vom Oktober 2022, dass die „türkische Regierung trotz ihres wiederholten Bekenntnisses zum EU-Beitritt den negativen Trend in Bezug auf die Reformen nicht umgekehrt“ habe. Nicht ausgeräumt worden seien die ernsten Bedenken der EU hinsichtlich der anhaltenden Verschlechterung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Grundrechte und der Unabhängigkeit der Justiz. In vielen Bereichen sei es zu weiteren Rückschritten gekommen.

1999 hat die Türkei den Kandidatenstatus erhalten, 2005 begannen die Beitrittsverhandlungen. In denen hätte die Türkei in 33 Kapiteln die verbindlichen Rechtsvorschriften der EU zu übernehmen. Während Kroatien, mit dem die Verhandlungen ebenfalls 2005 begonnen haben, seit 2013 EU-Mitglied ist, gelangten die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht über ein abgeschlossenes Kapitel, das zu Wissenschaft und Forschung, hinaus.

Ein Grund für das frühe Stocken war, dass sich die Türkei weigert, ein Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen aus dem Jahr 1963, das der Türkei die Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in Aussicht gestellt hatte, auf Zypern anzuwenden. Das Zusatzprotokoll regelt die Ausdehnung der seit 1996 bestehenden Zollunion der EU mit der Türkei auf zehn neue EU-Mitglieder, unter ihnen die von der Türkei nicht anerkannte Republik Zypern.

Erdoğan hatte in seinen ersten Regierungsjahren den einzigen ernsthaften Versuch unterstützt, die Teilung Zyperns zu überwinden. Nachdrücklich setzte er sich 2004 für die Annahme des Wiedervereinigungsplans des damaligen UN-­Generalsekretärs Kofi Annan ein, der jedoch an der Ablehnung durch die griechischen ZyprerInnen scheiterte. Von da an verhärtete sich seine Zypernpolitik. Als die Republik Zypern im Herbst 2021 im östlichen Mittelmeer mit Probebohrungen begann, um Gasvorkommen zu erschließen, entsandte die Türkei eigene Forschungsschiffe, die von Kriegsschiffen begleitet wurden. Die Türkei beharrt darauf, dass an den Vorkommen im Mittelmeer die „Türkische Republik Nordzypern“, die nach dem Einmarsch türkischer Truppen 1974 zum Schutz der türkischen ZyprerInnen entstanden war, beteiligt werden soll.

Die EU hat die Türkei wiederholt dazu aufgefordert, gegen ihre Nachbarn keine Drohungen mehr auszusprechen und keine Maßnahmen zu ergreifen, die die Stabilität der Region gefährden. Damit reagierte sie auf die vielfachen Verletzungen des griechischen Luftraums durch türkische Kampfflugzeuge in der Ägäis sowie auf „bedrohliche türkische Äußerungen“ zu Zypern und zur Souveränität der griechischen Inseln. Dennoch setzen die EU und die Türkei ihre Zusammenarbeit in Bereichen wie Klima, Gesundheit, Migration und Sicherheit fort. Die Visaliberalisierung, die die EU der Türkei im Flüchtlingsabkommen vom März 2016 zugesagt hatte, stockt, da die Türkei die Kriterien dafür, zum Beispiel die Anpassung der Antiterrorgesetze, nicht erfüllt.

(© picture-alliance, dieKLEINERT | Markus Grolik)

Dr. Rainer Hermann schrieb von 1998 bis 2023 als Korrespondent und Redakteur für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Türkei, die arabische Welt und Iran. Von 1991 bis 2008 lebte er in Istanbul, wo er zunächst für die Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai), einer Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums, arbeitete. In Abu Dhabi beobachtete er ab 2008 den Aufstieg der Golfstaaten und die Massenproteste in der arabischen Welt. Von 2012 bis zum 31. März 2023 gehörte er zu den leitenden Redakteuren in der Frankfurter Zentralredaktion und bereiste regelmäßig die Türkei.

Das Studium führte ihn nach Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. 1984 schloss er das Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg mit dem Diplom ab, das Studium der Islamwissenschaft 1989 ebenfalls in Freiburg mit der Promotion. Thema seiner Dissertation war ein Aspekt der modernen syrischen Geistesgeschichte.

Neben einer Reihe wissenschaftlicher Artikel hat Rainer Hermann neun Bücher verfasst, die sich mit der Türkei, der arabischen Welt und Afghanistan beschäftigen. Zuletzt erschienen „Afghanistan verstehen. Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft“ (2022) und „Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten“ (2021).