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Informationen zur politischen Bildung Nr. 356/2023

Politik

Rainer Hermann

/ 11 Minuten zu lesen

Präsident Erdoğan verkörpert für viele Türkinnen und Türken Stabilität, andere im Inland und Ausland sehen die zunehmende Machtkonzentration und Menschenrechtsverletzungen durch den Staat kritisch.

Blick in die Große Nationalversammlung, das türkische Parlament, bei der Vereidigung der gewählten Abgeordneten am 2. Juni 2023: Durch ein Verfassungsreferendum von 2017 ist der Einfluss des Parlaments geschwunden. (© IMAGO/Xinhua)

Erdoğan und der Traum vom sozialen Aufstieg

Recep Tayyip Erdoğan hat die Türkei geprägt wie kein anderer Politiker seit Atatürk. Die Jahrzehnte vor seiner Herrschaft wa­ren von kurzlebigen Koalitionsregierungen und Militär­putschen gezeichnet. Viele TürkInnen verknüpfen mit Erdoğan daher eine lange Phase der politischen Stabilität, die ihnen Wohlstand beschert hat. Für viele TürkInnen verkörpert Erdoğan zudem den Traum vom sozialen Aufstieg. Als erster führender Politiker der Türkei stammt er aus einfachen Verhältnissen. Seine Eltern waren mittellos aus der Schwarzmeerstadt Rize nach Istanbul gezogen, wo Erdoğan 1954 in einem rauen Hafenviertel geboren wurde und aufwuchs. Er besuchte wie andere Kinder aus frommen Familien eine religiöse Imam-Hatip-Schule.

Den kämpferischen Straßenreflex aus seiner Kindheit und Jugend hat er nie ganz abgelegt. Seine AnhängerInnen bewundern an ihm, dass er keine Auseinandersetzung scheut – und dabei stets zu gewinnen scheint. Er blüht auf, wenn er in eine Ecke gedrängt wird, er polarisiert und weiß zu mobilisieren. Als charismatischer Volkstribun, der die Sprache der Menschen spricht, mit denen er sich einig weiß, erreicht er die Menschen besser als jeder andere Politiker in der Türkei. Zum Geheimnis seines anhaltenden Erfolgs zählt auch, dass er mit einem politischen Überlebensinstinkt selbst in bedrohlichen Situationen Wendungen findet, seine Macht zu stabilisieren – was sich wieder bei den Wahlen im Mai 2023 gezeigt hat.

Seine WählerInnen halten zu ihm, vor allem jene, die aus Anatolien in die großen Städte gezogen oder in der ländlichen Türkei zu Hause sind, da er ihnen eine Stimme gibt. Sie verehren ihn, weil die Türkei unter seiner Herrschaft zur Industrienation wurde und Anatolien nicht länger mit Armut identifiziert wird.

Ein Jahrzehnt lang stand Erdoğan für Wandel, und er gewann WählerInnen, die nicht zu seiner KernwählerInnenschaft gehörten. Er stieg in den Kreis der Großen der Welt auf und verschaffte der Türkei eine Bedeutung, die sie zuvor nicht hatte. Zurückweisungen, wie er sie aus Europa erfahren hat, kränken ihn. Immer mehr trieb ihn die Überzeugung an, dass er wie Sultan Mehmet Fatih, der Eroberer Istanbuls, und Atatürk eine historische Mission zu erfüllen habe. Davon legt der prunkvolle Präsidentenpalast Zeugnis ab, den er in Ankara mit vielen historischen Bezügen bauen ließ.

Die Annehmlichkeiten der Macht, die großen materiellen Ressourcen, die ihm zur Verfügung stehen, und das Fehlen wirksamer Kontrollinstanzen haben ihn über die Jahre verändert. Seiner zunehmend autoritären Politik verschafft er Akzeptanz, indem er sie mit islamischen Symbolen verknüpft und mit einem Gewand türkisch-islamischer Traditionen versieht. Sein identitärer Populismus stellt konservative sunnitische Muslime und Muslimas über andere Menschen und gesellschaftliche Gruppen. Das ist kein Alleinstellungsmerkmal. Wie Erdoğan gehen auch andere Populisten vor, etwa der hindu-nationalistische ­Premierminister Indiens Narendra Modi. Je länger Erdoğan regiert, desto öfter spricht er von seiner „Neuen Türkei“. Er beansprucht, den „Willen der Nation“ zu verkörpern. Wer ihn kritisiert, so die Botschaft, sei weder ein guter Muslim noch eine gute Türkin, sondern ein Feind der Nation und damit zu demokratischer Teilhabe nicht berechtigt. Die breiten Massen hat er damit nicht verloren.

Umstritten ist, ob Erdoğan, der in einer islamistischen ­Partei groß geworden war, mit einer versteckten Agenda, hidden agenda, angetreten ist und erst allmählich sein wahres Gesicht zeigte. Dagegen spricht, dass er in seinen ersten Regierungsjahren teilweise schwierige Reformen durchgesetzt und viel dafür getan hat, damit die EU mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufnimmt. Ein Wendepunkt war 2004 die Aufnahme der Republik Zypern in die EU. Erdoğan unterstützte, in Abkehr von der bisherigen türkischen Politik, den UN-Friedensplan für Zypern, der eine Vereinigung der beiden Inselteile vorsah, und verband damit die Hoffnung auf eine EU-Mitgliedschaft des geeinten Zyperns. Als die EU die Republik Zypern als Mitglied aufnahm, obwohl diese den UN-Friedensplan abgelehnt hatte, und die international nicht anerkannte „Türkische Republik ­Nordzypern“ isoliert blieb, fühlte er sich verraten. Eine weitere Enttäuschung war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2005, dass das damalige Kopftuchverbot an türkischen Universitäten nicht das Recht auf freie ­Religionsausübung und das Recht auf Bildung verletzte.

Das Präsidialsystem

Erdoğan hat seit seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahr 2014 darauf gedrängt, die parlamentarische Demokratie durch ein System mit starken exekutiven Vollmachten des Präsidenten zu ersetzen. Möglich wurde der Umbau durch das Verfassungsreferendum vom 16. April 2017, das in einem Klima der Einschüchterung stattfand und von Manipulationsvorwürfen überschattet war. Der Hohe Wahlausschuss, die höchste Wahlbehörde der Türkei, hatte während der Auszählung entschieden, dass auch nicht abgestempelte Wahlzettel gültig sind. Für das Präsidialsystem sprach sich eine – für die Tragweite dieses Schritts lediglich knappe – Mehrheit von 51,4 Prozent aus.

Der zentrale Satz der neuen Verfassung steht in Artikel 104: „Die Exekutivgewalt obliegt dem Präsidenten der Republik.“ Aufgelöst wird das Amt des Ministerpräsidenten, abgewertet der Status des Ministerrats. Der Präsident ernennt und entlässt die Minister, ohne dass dies der Zustimmung der Großen Nationalversammlung bedarf. Die Minister werden politische Beamte, die direkt dem Präsidenten unterstehen. Das Parlament kann einem Minister nicht mehr das Misstrauen aussprechen, es kann die Regierung nicht entlassen, ein Minister muss den Volksvertretern nicht mehr Rede und Antwort stehen.

Die Befugnisse des Präsidenten werden zu Lasten anderer Institutionen ausgebaut. So erlässt der Präsident Verordnungen mit Gesetzeskraft. Nur noch eine der beiden größten Fraktionen im Parlament kann gegen sie Klage beim Verfassungsgericht einreichen. Erweitert wird sein Vetorecht gegenüber Gesetzen, die das Parlament verabschiedet. Nun ruft der Präsident den Notstand aus, nicht mehr der Ministerrat. Gestrichen wurde der Satz, dass der Präsident keiner politischen Partei angehören darf. So konnte Erdoğan im Juni 2018, als die Änderungen der Verfassung mit der Präsidentenwahl in Kraft traten, wieder den AKP-Vorsitz und die Kontrolle über die größte Parlamentsfraktion übernehmen.

Mit seinen Befugnissen und seinem Einfluss im Parlament entscheidet der Präsident über die Zusammensetzung der höchsten Institutionen der Justiz. Er ernennt 12 der 15 Mitglieder des Verfassungsgerichts; das Parlament ­ernennt die restlichen drei, wozu eine einfache Mehrheit genügt. Der Kontrolle durch die Exekutive wird auch der Rat der RichterInnen und StaatsanwältInnen unterstellt. Dieser Rat ernennt die RichterInnen und StaatsanwältInnen der Gerichte der ersten und zweiten Instanz. Der Präsident ernennt vier der 13 Mitglieder direkt; ihm gehören zudem der Justizminister und dessen Staatssekretär an; das Parlament wählt die restlichen sieben Mitglieder, wozu ebenfalls eine einfache Mehrheit reicht.

In der politischen Theorie begrenzt die Gewaltenteilung durch die Verteilung der Staatsgewalt die Macht und sichert so die Freiheiten. Im türkischen Präsidialsystem kontrollieren sich die drei Gewalten Exekutive, Legislative und Judikative jedoch nicht mehr gegenseitig, es findet keine Machtbegrenzung mehr statt. Mit der Abwertung der Minister geht der Bedeutungsverlusts der Ministerien einher, die auf die Bedeutung einer ausführenden Behörde reduziert werden. Es sind die Berater des Präsidenten, die die Politik gestalten. Sie stehen Räten (kurul) vor, etwa dem Rat für Wirtschaftspolitik oder dem Rat für Außen- und Sicherheitspolitik.

Um Querschnittsthemen wie Technologie und Investitionen kümmern sich vier Büros (ofis), die mit Fachleuten besetzt sind. Den Kranz der Institutionen um den Präsidenten erweitern Institutionen, die ihm direkt unterstehen und weite Teile des Staates und der Gesellschaft kontrollieren. Dazu gehören die Religionsbehörde (Diyanet), der Türkische Staatsfonds (TVF), der Nationale Sicherheitsrat, die Rüstungsindustrie sowie der Staatliche Kontrollrat (DDK), der Ermittlungen in der Bürokratie und im Militär einleitet, ferner der Geheimdienst (MİT), dessen Kompetenzen ausgeweitet wurden und dessen Chef der Präsident beruft. Zudem ernennt und entlässt allein der Präsident die obersten Beamten.

Die neue Verfassung schwächt die Legislative und die Judi­kative. Umstrittene Praktiken höhlen deren Handlungsspiel­raum weiter aus. Wichtige Posten im Staatshaushalt sind intransparent, etwa die großen Bauvorhaben, deren Kosten nicht mehr einzeln aufgelistet werden, und nachgeordnete Gerichte ignorieren folgenlos Urteile des Verfassungsgerichts. Verschlechtert hat sich die Qualität des Staatsdiensts. Nach dem Putschversuch von 2016 wurden 130.000 Personen entlassen. ­Neueinstellungen erfolgten nicht nach Eignung und Qualifi­kation, Kriterium war die Zugehörigkeit zu einem konservativen religiösen Orden oder zu einer Partei. Die Säuberungen waren für die MHP ein wichtiger Anreiz, eine Allianz mit Erdoğan und der AKP einzugehen. Ihre Kader konnten nun die freien Posten in der Polizei, der Justiz und im Geheimdienst besetzen. In der Justiz wurden 4.200 der 8.000 Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte entlassen; ihre Stellen übernahmen oft BerufsanfängerInnen.

Verfassungsorgane, Aufgaben, Organisation (bpb, Redaktion: Gereon Schloßmacher | Grafik: Peter Neuhaus) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Mit den Verfassungsänderungen und der Rekrutierung von loyalem Personal entstand ein auf Erdoğan zugeschnittener Staat. Die Konstruktion sollte verhindern, dass die Herrschaft der AKP – die für sich beansprucht, die durch den Islam definierte türkische Nation und deren Werte zu verkörpern – nicht abermals durch die „Vormundschaft“ feindlich gesinnter elitärer Institutionen wie das Militär, die Justiz und die Bürokratie gefährdet würde. Für Erdoğan, der sich mit dem Volkswillen identifiziert, bedeutet Demokratisierung, die Herrschaft der frommen islamischen Nation gegen alle Widerstände zu sichern.

Die Parteien

In ihrem ersten Jahrzehnt war die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) eine Reformpartei, im zweiten wurde sie ein Instrument, um Erdoğans Macht zu sichern. Er allein entschied nun über ihren Kurs. Auch wenn die AKP seit 2015 kontinuierlich Stimmen verloren hat und 2023 nur noch 35,6 Prozent erreichte, ist sie weiter eine Volkspartei mit einer KernwählerInnenschaft von einem Drittel der WählerInnen. Kaum mehr sichtbar sind der liberale und der konservative Flügel. Liberale Politiker wie der langjährige Wirtschaftsminister Ali Babacan, der frühere Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und Abdullah Gül, Präsident von 2007 bis 2014, wurden aus der Partei gedrängt. Das gilt auch für kurdische Politiker wie Orhan Miroğlu und Mehmet Metiner.

Nutznießer ist die rechtsextreme Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, Nationalistische Bewegungspartei). Ihre WählerInnen sehen die Türkei bedroht, von außen durch feindliche Mächte und von innen durch die kurdische Frage. Als Erdoğan 2014 auf eine politische Lösung des kurdischen Konflikts drängte, verlor die AKP bei der Wahl vom Juni 2015 ein Fünftel der Stimmen, überwiegend an die MHP. Erdoğan beendete daraufhin den Dialog mit den KurdInnen, sodass die AKP bei der Neuwahl im November 2015 die verlorenen Stimmen zurückgewann.

Die MHP und ihr Vorsitzender Devlet Bahçeli hatten zunächst das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem abgelehnt. Das änderte sich 2016, als nach dem Putschversuch eine Säuberungswelle einsetzte und die MHP davon profitierte. Seit 2018 bilden AKP und MHP das Wahlbündnis Cumhur İttifakı (Volksallianz), das der AKP seit der Wahl von 2018 im Parlament eine Mehrheit sichert. An der Regierung ist die MHP nicht beteiligt, der Politik Erdoğans drückt sie aber ihren Stempel auf. Über die AKP-Liste wurden bei der Wahl von 2023 erstmals vier Abgeordnete von Huda Par (Die Partei der freien Sache), eine Abspaltung von der kurdischen Hizbullah, ins Parlament gewählt; sie fordert das Ende der koedukativen Bildung von Mädchen und Jungen sowie die Beendigung von Rentenzahlungen an geschiedene Frauen.

Ebenfalls 2018 schlossen sich Oppositionsparteien zum Bündnis Millet İttifakı (Allianz der Nation) zusammen. Ihr gehören die Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, Republikanische Volkspartei), die İyi Parti (Gute Partei) sowie zwei kleine Parteien an: die islamistische Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) und die liberale Demokrat Parti (DP, Demokratische Partei). Gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung des Präsidialsystems. Aus diesem Grund hatte Meral Akşener die MHP verlassen und mit anderen MHP-Dissidenten am 25. Oktober 2017 die İyi Parti gegründet. Später traten zwei ehemalige AKP-Politiker dem Wahlbündnis bei. Im Dezember 2019 gründete Ahmet Davutoğlu die Gelecek Partisi (Partei der Zukunft), im März 2020 folgte Ali Babacan mit der Demokrasi ve Atılım Partisi (Deva, Partei für Demokratie und Fortschritt). Diese sechs Parteien trafen sich seit Februar 2022 mit dem Ziel, die AKP-Regierung abzulösen.

Das dritte Bündnis Emek ve Özgürlük İttifakı (Allianz für Arbeit und Freiheit) bilden seit August 2022 die prokurdische Halkların Demokratik Partisi (HDP, Demokratische Partei der Völker), die Türkiye İşçi Partisi (TİP, Türkische Arbeiterpartei) und andere Kleinstparteien, unter ihnen die 2012 gegründete Yeşil Sol Parti (YSP, Grüne Linkspartei). Das Bündnis hat ein WählerInnenpotenzial von gut zehn Prozent. Um einem Parteiverbot zuvorzukommen, trat die HDP bei den Wahlen vom 14. Mai 2023 unter dem Dach der Grünen Linkspartei an. Die HDP ist die achte prokurdische Partei, gegen die seit 1993 ein Verbotsverfahren eingeleitet wurde.

Die Lage der Menschenrechte

In ihrem jüngsten Jahresbericht zur Türkei vom 12. Oktober 2022 hat die EU-Kommission eine fortgesetzte Verschlechterung der Menschen- und Grundrechte festgestellt. Anlass zu ernster ­Sorge, so heißt es, sei die Weigerung der Türkei, die sich als Mitglied des Europarats zu Rechtsstaatlichkeit und zur Achtung der Grundrechte verpflichtet habe, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu befolgen.

Am 22. Dezember 2020 forderte der EGMR die ­umgehende Freilassung von Selahattin Demirtaş, da er aus politischen Gründen inhaftiert sei. Der frühere Ko-Vorsitzende der HDP war am 4. November 2016 festgenommen worden. Er ist mit mehr als hundert anderen HDP-Mitgliedern angeklagt, vom 6. bis 8. Oktober 2014 zu gewaltsamen Protesten aufgerufen zu haben, bei denen 37 Menschen starben. Die Demonstrierenden hatten die Türkei aufgefordert, zugunsten der von KurdInnen bewohnten und vom Islamischen Staat bedrohten syrischen Grenzstadt Kobane einzugreifen. Ihnen wird vorgeworfen, die Integrität des Staates untergraben zu haben.

Ein Jahr zuvor, am 10. Dezember 2019, hatte der EGMR die Türkei aufgefordert, den Kulturmäzen Osman Kavala wegen fehlender Beweise freizulassen. Kavala war am 1. November 2017 festgenommen worden. Zwar wurde die erste Anklage, er habe die Gezi-Proteste finanziert, fallengelassen. Noch am selben Tag wurde er aber angeklagt, 2016 am „Versuch des gewaltsamen Umsturzes der verfassungsmäßigen Ordnung“ beteiligt gewesen zu sein. Kavala wurde am 27. April 2022 zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt. Amnesty International bezeichnete den Prozess als „politisch motivierte Farce“.

Ein weiteres prominentes Opfer der Justiz ist Ekrem İma­moğlu, der 2019 zum Oberbürgermeister Istanbuls gewählt worden war. Am 16. Dezember 2022 wurde er wegen „Beleidigung der Wahlkommission“ zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt und mit einem Politikverbot belegt. Human Rights Watch wertete das Urteil als „politisch motiviert“.

„Entsetzt“ äußerte sich das Europäische Parlament über den groben Missbrauch des Artikels 299 des Strafgesetzbuches über die Beleidigung des Präsidenten, was mit Haft bis zu vier Jahren bestraft werden kann. Seit Erdoğans Amtsantritt als Präsident 2014 wurden mehr als 160.000 Ermittlungen wegen dieses Straftatbestands eingeleitet. Gefällt wurden mehr als 12.800 Urteile.

Die Europäische Kommission stellte in ihrem Bericht vom Oktober 2022 gravierende Rückschritte beim Recht auf freie Meinungsäußerung fest. Gegen friedliche Demonstrierende werde unverhältnismäßige Gewalt angewandt. Die Umsetzung von Strafgesetzen zur nationalen Sicherheit und zur Terrorismusbekämpfung verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen internationale Standards. Anlass zu „ernster Sorge“ gäben geschlechtsspezifische Gewalt, Diskriminierung und Hassreden gegen Minderheiten, etwa lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Personen.

Als „besonders besorgniserregend“ bezeichnet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ein Gesetz vom ­Oktober 2022, das die Kontrolle über Online-Nachrichtenseiten und soziale Medienunternehmen verschärft. Es führt den vagen und weit gefassten Straftatbestand der „Verbreitung falscher Informationen“ ein. Auf Aufforderung der Regierung haben ­Medienunternehmen Inhalte zu entfernen. Zudem erlaubt es, das Internet zu drosseln. Mehr als 100.000 Webseiten sind blockiert, vorübergehend traf es Wikipedia, Twitter und Youtube.

Human Rights Watch kritisiert die „zu langen und willkürlichen Haftstrafen“, zu denen Personen wegen ihrer angeblichen Verbindung zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen in „unfairen Verfahren“ verurteilt worden seien. Innenminister Soylu sagte am 5. Juli 2022, von den festgenommenen 334.378 Mitgliedern oder Sympathisierenden der Gülen-Bewegung befänden sich noch 19.252 Personen in Haft.

Die Einschränkungen der Freiheit schlagen sich in internationalen Bewertungen nieder. So führt die Nichtregierungsorganisation Freedom House die Türkei auch 2023 als „unfreies“ Land. Im Index der Pressefreiheit der Reporter ohne Grenzen für 2023 rangiert die Türkei unter 180 Ländern auf Rang 165, nach Russland und vor Ägypten. Im Index des World Justice Project, der den Grad der Rechtsstaatlichkeit misst, liegt die Türkei bei 140 Staaten auf Rang 112. Im Korruptionsindex von Transparency International nimmt die Türkei im Jahr 2022 von 180 Ländern Rang 101 ein.

Dr. Rainer Hermann schrieb von 1998 bis 2023 als Korrespondent und Redakteur für die Frankfurter Allgemeine Zeitung über die Türkei, die arabische Welt und Iran. Von 1991 bis 2008 lebte er in Istanbul, wo er zunächst für die Bundesagentur für Außenwirtschaft (bfai), einer Behörde des Bundeswirtschaftsministeriums, arbeitete. In Abu Dhabi beobachtete er ab 2008 den Aufstieg der Golfstaaten und die Massenproteste in der arabischen Welt. Von 2012 bis zum 31. März 2023 gehörte er zu den leitenden Redakteuren in der Frankfurter Zentralredaktion und bereiste regelmäßig die Türkei.

Das Studium führte ihn nach Freiburg, Rennes, Basel und Damaskus. 1984 schloss er das Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg mit dem Diplom ab, das Studium der Islamwissenschaft 1989 ebenfalls in Freiburg mit der Promotion. Thema seiner Dissertation war ein Aspekt der modernen syrischen Geistesgeschichte.

Neben einer Reihe wissenschaftlicher Artikel hat Rainer Hermann neun Bücher verfasst, die sich mit der Türkei, der arabischen Welt und Afghanistan beschäftigen. Zuletzt erschienen „Afghanistan verstehen. Geografie, Geschichte, Glaube, Gesellschaft“ (2022) und „Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten“ (2021).