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Editorial | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial Von Atatürk bis Erdoğan Politik Außen- und Sicherheitspolitik Gesellschaft Wirtschaft Beziehungen mit Deutschland Eine Bilanz Zeittafel Literatur- und Onlineverzeichnis Impressum
Informationen zur politischen Bildung Nr. 356/2023

Editorial

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Am 29. Oktober 2023 jährt sich die Gründung der Republik Türkei zum 100. Mal. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem anschließenden Befrei­ungskrieg rief Mustafa Kemal Pascha – heute besser bekannt als Atatürk, „Vater der Türken“ – die junge Republik aus. Atatürk prägt die Türkei bis heute, doch auch der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat seit Jahrzehnten großen Einfluss auf die Entwicklung seines Landes.

85 Millionen Menschen leben in dem 783 562 km2 großen Land, das aus einem europäischen und einem asiatischen Teil besteht. Die Hälfte von ihnen ist jünger als 33 Jahre, und die Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist laut einer Studie von 2022 unzufrieden mit den aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Sie kritisieren die hohe Arbeitslosigkeit sowie die abnehmende soziale Sicherheit. Die mangelnde individuelle Freiheit und der Abbau der Demokratie bereiten ihnen ebenso Sorgen wie das unbefriedigende Bildungswesen.

Als Erdoğan mit seiner Partei AKP im Jahr 2002 zum ersten Mal die Parlamentswahl gewann, galt er als großer Hoffnungsträger für eine moderne Türkei und die seit Jahrzehnten unterdrückte kurdische Bevölkerung. Doch es entwickelte sich anders: Die parlamentarische Demokratie wurde zu einem Präsidialsystem umgebaut. Die Macht konzentriert sich zunehmend auf den Präsidenten, und die Gewaltenteilung ist eingeschränkt. Die Lage der Menschenrechte und der Minderheitenschutz haben sich verschlechtert. 2021 trat die Türkei aus der Istanbul-Konvention aus, die Frauen vor (häuslicher) Gewalt schützt.

Immer wieder gehen oppositionelle Strömungen gegen diese Entwicklungen auf die Straße. Der autoritär agierende Staatsapparat reagiert darauf mit Härte. Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – verbinden viele Türkinnen und Türken mit Erdoğan Stabilität. Insbesondere für die Landbevölkerung ist er ein Vorbild, da er ihnen eine Stimme gibt.

Durch ihre besondere Lage agiert die Türkei in der internationalen Politik als Vermittlerin zwischen Ost und West, zuletzt im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der Bosporus, der Istanbul im Kleinen und die Türkei im Großen teilt, verbindet das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer und dient so der Ukraine und Russland als zentrale Hafenstraße. In der NATO macht die Türkei häufig von ihrem Vetorecht Gebrauch, etwa beim vielfach diskutierten Beitritt Schwedens. In Nahost sieht sich die Türkei als wichtige regionale Akteurin und bemüht sich, ihren Einfluss in Afrika auszuweiten. Die intensiven deutsch-türkischen Beziehungen sind durch die hohe Attraktivität der Türkei als Urlaubsland und die große Zahl von Türkeistämmigen in Deutschland geprägt.

Zuletzt versuchte Erdoğan durch prestigeträchtige Großprojekte, wie etwa den neuen Großflughafen in Istanbul, ein positives Bild von der Türkei zu vermitteln – mit mäßigem Erfolg, denn gerade im europäischen Ausland werden die politischen Entwicklungen mit Sorge betrachtet. Dennoch benötigt die EU die Türkei als Partnerin in der Flüchtlingspolitik. Wie sich die Türkei weiter entwickeln wird, ob sie zur Rechtsstaatlichkeit zurückfinden, Menschenrechte wieder schützen und die Gewaltenteilung stärken wird, werden die nächsten Jahre zeigen.

Laura Gerken