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Artikel 3 | APuZ 47/1964 | bpb.de

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APuZ 47/1964 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Der Streit um die Europapolitik Europa ohne Großbritannien?

Artikel 3

mögliche alliierte Zusammenarbeit zerstört waren — zu versuchen, das europäische Gleichgewicht durch heroische Anstrengungen wie den Marshallplan und die NATO wenigstens bis zu einem gewissen Grade wiederherzustellen. Man befürchtete ernsthaft, die Länder des westeuropäischen Kontinents könnten sonst, ebenso wie die osteuropäischen Staaten, in den kommunistischen Machtbereich hinein-gezwungen werden. Deshalb machten wir gewaltige und erfolgreiche Anstrengungen, diese Gefahr abzuwenden und ein vernünftiges Kräftegleichgewicht wiederherzustellen. Wir konnten nicht hoffen zu erreichen, daß Westeuropa der Sowjetunion gewachsen sein werde, waren aber, wie schon einmal, überzeugt, daß die Herrschaft einer einzelnen Macht in Westeuropa den Interessen unserer eigenen Sicherheit zuwiderlaufen würde.

Um dieses Ziel zu erreichen, mußten wir einsehen, daß wir in der so neuen und andersartigen Nachkriegssituation nur dann Erfolg haben könnten, wenn wir einen wesentlichen Grundsatz unserer zweiten außenpolitischen Periode — die Intervention von Fall zu Fall — aufgäben und auf die Dauer angelegte diplomatische und militärische Verpflichtungen auf uns nähmen. Das bedeutete eine so grundsätzliche Änderung in der Außenpolitik, daß man etwa vom Ende des Zweiten Weltkrieges an wohl mit Recht von einer dritten Periode der amerikanischen Außenpolitik sprechen darf. Außerdem — und auch hier besteht ein Unterschied zur zweiten Periode — erstrecken sich unsere Verpflichtungen weit über Westeuropa hinaus. Die Erkenntnis, daß die Sowjetunion der große Gegenspieler für uns sei, zusammen mit der militärischen Schwäche aller Staaten im Vorfeld des sowjetischen Macht-bereiches, zwangen uns, die Politik der Eindämmung im Weltmaßstab anzuwenden. Unser neues weltumspannendes technisches, finanzielles und militärisches Auslandshilfeprogramm war im Grunde nur ein Nebenprodukt unserer Bemühungen, zur Erhaltung eines starken und unabhängigen Europas beizutragen. Da ein solches Programm nicht auf die sowjetischen Randstaaten beschränkt werden konnte, wurde es im Endeffekt zum weltweiten Verteidigungsprogramm gegen die sowjetische Infiltration. Es hat ungeheuer viel gekostet, und da es damit beginnen mußte, die demokratischen Kräfte und Institutionen in Ländern zu stärken, in denen häutig nur sehr wenig vorhanden war, worauf aufgebaut werden konnte, hat das amerikanische Volk, das stets geneigt ist, rasche und auffallende Erfolge zu verlangen, die Ergebnisse dieser umfassenden und kostspieligen Anstrengung mit wachsender Unruhe und Kritik betrachtet.

Inzwischen wurden wir während dieser dritten Periode durch die atemberaubende Entwicklung der militärischen Technik gezwungen, bisher unvorstellbar hohe Summen für die Verteidigung des eigenen Landes in Friedenszeiten auszugeben. Als es sich zeigte, daß die Sowjets in der Lage waren, den amerikanischen Kontinent unmittelbar anzugreifen, stellten wir ein Sofortprogramm sowohl für die Verteidigung als auch für die Vergeltung auf, das an unser Budget und an unsere Reserven an wissenschaftlichen Kräften hohe Anforderungen gestellt hat. Diese Last ist vom Steuerzahler ohne ernsthaftes Murren getragen worden, weil unser Volk eingesehen hat, daß alle unsere politischen, diplomatischen und militärischen Bemühungen in anderen Ländern sinnlos sind, wenn man dort nicht sähe, daß wir auch in der neuen Situation sowohl sowjetische Angriffe abwehren als auch, wenn nötig, einen massiven Vergeltungsschlag gegen die sowjetischen Machtzentren führen können.

Dies also sind einige der Leitlinien der Außenpolitik der dritten Periode gewesen: massive Stärke in der Heimat für Angriff und Verteidigung gegen einen unmittelbaren sowjetischen Angriff; Hilfe in irgendeiner Form für alle Länder, die man mittelbar oder unmittelbar kommunistisch bedroht glaubt; Förderung regional begrenzter internationaler Organisationen von antikommunistischer Haltung und Beteiligung Amerikas daran; allgemeiner Widerstand gegen alle politischen Maßnahmen einer nicht-kommunistischen Regierung, die der Sowjetunion in irgendeiner Form zugute kommen könnten. Diese Politik haben wir durch eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen ergänzt, wo immer sich hier Möglichkeiten zeigten, den Kalten Krieg zu mildern; die allgemeine antisowjetische Stimmung des amerikanischen Volkes, die immer wieder von Provokationen aus Moskau genährt wird, ist nach wie vor eine grundsätzliche nationale Haltung, an der die Politik nicht vorbeisehen darf.

II Der Verfasser möchte folgende These vertreten: Zwar hat uns die amerikanische Außenpolitik der dritten oder Nachkriegsperiode gute Dienste geleistet und viele ihrer wichtigsten Ziele erreicht, dennoch mag die Zeit nicht mehr fern sein, daß wir den Wunsch haben werden, sie grundsätzlich zu überprüfen. Eine solche Überprüfung muß nicht unbedingt große Veränderungen zur Folge haben; sie könnte lediglich zur erneuten Feststellung führen, daß die ursprüngliche Politik und die Basis, von der sie ausging, trotz inzwischen eingetretener neuer Situationen nach wie vor richtig sei. Der Vorteil aber jeder gründlichen und regelmäßigen Überprüfung liegt darin, daß sie Regierung und Öffentlichkeit veranlassen könnte, neue, durch veränderte Umstände entstandene Möglichkeiten ins Auge zu fassen — zum Nutzen der außenpolitischen Beziehungen des Landes.

Eine solche Überprüfung ist in diesen wirren Zeiten selbst für Staatsmänner nicht leicht, geschweige denn für den einfachen Bürger, aber man sollte nicht davor zurückschrecken, nur weil die Aufgabe schwierig ist und verschiedenartige Reaktionen hervorrufen wird; letzteres trifft besonders bei denen zu, die auf eine bestimmte Politik so eingeschworen sind, daß sie allen, die auch nur eine Überprüfung vorschlagen, vielleicht zweifelhafte Motive unterschieben werden.

Als ich vor einigen Jahren zu einem persönlichen Gespräch mit dem Regierungschef eines größeren europäischen Landes eingeladen wurde, verblüffte mich seine erste Frage: „Was halten Sie von der weltpolitischen Lage?“ Im Laufe der Unterhaltung wurde mir klar, daß es sich hier nicht um einen „Eröffnungszug" handelte oder um einen Versuch, höfliche Konversation zu machen. Die Frage spiegelte eher ein tiefes persönliches Bedürfnis wider, Situationen und Trends, die sich auf die Grundzüge seiner eigenen Außenpolitik auswirken könnten, im Weltmaßstab zu sehen. In diesem Geiste und in der Überzeugung, daß die weltpolitische Lage sich in mancher Hinsicht vielleicht zu wandeln beginnt, mag der Versuch nützlich sein, gewisse Schlußfolgerungen, Tatsachen, Situationen und Trends aufzuführen, die bei jeder grundsätzlichen Überprüfung berücksichtigt werden müßten. Dabei kann es sich natürlich nur um eine höchst persönliche „Gedankenübung" handeln, die auch nur dann sinnvoll wird, wenn sie Meinungsverschiedenheiten darüber hervorruft, was ausgenommen und ausgeschlossen wurde. Auch ist eine solche Übung für den einfachen Bürger nützlicher als für den Staatsmann; aber der Staatsmann muß ja, wenn er etwas mehr tun will als im eingefahrenen Geleise zu bleiben, den Bürger mit sich ziehen. Es ist in der Tat so, daß die meisten Regierungsbeamten sich jeder Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit entziehen, wenn sie nur irgend zu vermeiden ist. Bis jetzt ist Senator Fulbright einer der wenigen Männer im amerikanischen öffentlichen Leben, die zu erkennen gegeben haben, daß ihnen der Wert einer unbefangenen Über-prüfung unserer Außenpolitik bewußt geworden ist.

Der erste Punkt auf der Liste der zu beachtenden Gesichtspunkte ist die einfache Tatsache, daß die Sowjetunion als eine kraftvolle politische und wirtschaftliche Einheit angesehen werden muß, mit der die Vereinigten Staaten auf unbestimmte Zeit Zusammenleben müssen. Da die UdSSR sich so häufig zum offenen Gegenspieler Amerikas erklärt und sich bei vielen Gelegenheiten auch entsprechend verhalten hat, klammern sich manche Amerikaner angesichts der in der amerikanischen Presse hervorgehobenen sowjetischen Fehlschläge und Mißerfolge immer noch an die Hoffnung, daß die Sowjetunion eines Tages unter der Last der inneren Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten zusammenbrechen und sich als politische, wirtschaftliche und soziale Einheit auflösen werde.

Solche Katastrophen sind natürlich immer möglich, besonders in einem System, das das dornige Problem der geordneten Übertragung der politischen Macht noch nicht gelöst hat. Tatsache bleibt jedoch, daß die Sowjetunion trotz großer innerer und äußerer Prüfungen fast ein halbes Jahrhundert am Leben geblieben ist. Soweit ein Ausländer das beurteilen kann, ist die innenpolitische Stärke, die Stabilität und Beliebtheit des Sowjetregimes heute größer als je zuvor in seiner Geschichte. Vielleicht werden die Sowjets eines Tages den Kreml verlassen müssen; aber es wäre der Gipfel der Torheit, wenn Amerika diese Erwartung in sein außenpolitisches Kalkül einbeziehen wollte.

Ferner: wenn das jetzige Regime durch irgendeinen Umsturz von innen oder außen aus der Macht verdrängt werden sollte, würde uns das nicht zu der Annahme berechtigen, daß das nachfolgende Regime sich in Lehre und politischer Praxis sehr von dem jetzigen unterscheiden würde oder daß es für uns leichter wäre, mit ihm fertig zu werden. Hier lasse ich mich von der Überzeugung leiten, daß die Grundlinien der sowjetischen Außenpolitik — anders, als man aus vielen ermüdenden Reden und außenpolitischen Erklärungen entnehmen könnte — im Grunde sehr viel stärker von den nationalen Interessen, wie die Russen sie verstehen, bestimmt werden als von dem Wunsch, die Lehre des Weltkommunismus zu verbreiten. Zwar lehnen viele Amerikaner diese Schlußfolgerung ab, die sowjetisch-chinesische Spaltung scheint jedoch zu bestätigen, daß sie für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten von Bedeutung sein könnte.

Eine zweite Möglichkeit, die mit der ersten zusammenhängt, ist, daß die zur Zeit in der sowjetischen Politik sichtbare Neigung zum Konservatismus und zur Vorsicht ein Zeichen für eine Entwicklung auf lange Sicht und nicht nur ein einmaliger Schachzug ist, der unser Mißtrauen einlullen und uns aus unserem Schneckenhaus hervorlocken soll.

Gemeinschaften sind im allgemeinen weniger geneigt, Experimente zu machen, wenn dadurch mühsam erworbene Vorteile verloren gehen könnten, wie das Beispiel der taktischen und weltanschaulichen Meinungsverschiedenheiten zeigt, die heute zwischen China und der Sowjetunion so deutlich geworden sind.

Dennoch, da die Menschen so sind, wie sie sind, ist nicht zu erwarten, daß die sowjetischen Führer ihre bisherigen Überzeugungen und Praktiken jemals öffentlich widerrufen werden. Wenn also gelegentlich in Amerika gesagt wird, wir dürften überhaupt keiner sowjetischen Aktion trauen, solange die sowjetischen Führer sich nicht in aller Öffentlichkeit von ihrer Vergangenheit distanzierten und erklärten, nunmehr normale, zur Zusammenarbeit bereite Mitglieder der Weltgemeinschaft werden zu wollen, weil die Russen für Ihre Doppelzüngigkeit bei internationalen Verhandlungen bekannt seien, so kann man dieses kindliche Gerede nicht ernst nehmen. Dagegen ist folgender Schluß nicht unvernünftig: Da die Lebensverhältnisse in Rußland sich fortschreitend bessern und die marxistischen Illusionen über die Außenwelt sich als unrealistisch erweisen, liegt es nahe, daß die sowjetischen Führer immer mehr davon sprechen, ihr System werde schließlich dadurch siegen, daß es im friedlichen Wettbewerb seinen Wert beweise, und immer weniger davon, die letzten Zuckungen eines dekadenten Kapitalismus würden einen Weltumsturz hervorrufen. Wenn wir uns also mehr auf die Taten der Sowjets und weniger auf ihre Reden verlassen, wohl wir zu der Schlußfolgerung kommen, daß es sich bei der gegenwärtigen sowjetischen Außenpolitik nicht um ein taktisches Manöver, um die Auswirkungen einer wachsenden Stabilität im Inland und einer uneingestandenen Neueinschätzung der Aussichten für die nicht-kommunistische Welt handelt.

Eine solche Beurteilung beruht auf einer dritten Tatsache unserer heutigen Welt: der zunehmenden Stärke und Lebenskraft der bedeutenderen nicht-kommunistischen Länder des Westens. Die sowjetischen Massen mögen vielleicht noch der Propaganda über die Dekadenz, Schwäche und innere Uneinigkeit des Westens glauben, ihre Führer aber können keine derartigen Illusionen mehr haben, denn die Tatsachen sind ihnen bekannt. Ebenso wie die Politik des Westens von der weiterhin vorhandenen Lebensfähigkeit und Stärke der UdSSR auszugehen hat, muß die sowjetische Politik von einer ähnlichen Einsicht über den Westen ausgehen. So ist zum Beispiel das Wiederaufblühen Westeuropas nach dem Kriege eine Tatsache, die von keinem intelligenten sowjetischen Politiker übersehen oder als unwesentlich abgetan werden kann.

Eine weitere Tatsache unseres heutigen Lebens ist das atomare Patt, als dessen Folge weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion dem anderen ihren Willen aufzwingen kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, selbst völlig vernichtet zu werden. Senator Fulbright sagte vor kurzem: „Durch den Besitz von Atomwaffen sind die beiden Großmächte der Vorteile verlustig gegangen, über die sie dank ihrer Größe und ihrer Hilfsmittel früher verfügten. Ihre Sicherheit ist zu einem gebrechlichen Gebilde geworden, das ausschließlich von ihrer Fähigkeit, Angriffe abzuschrecken, und letztlich von dem reinen Glauben daran abhängt, daß jeder auf die Abschreckungsmacht des anderen mit Vernunft und Zurückhaltung reagieren wird."

Die Kubakrise, bei der sich die beiden Groß-mächte gegenüberstanden, hat beredtes Zeugnis abgelegt für die volle Richtigkeit der These, daß Atomwaffen, wenn beide Seiten sie in genügender Menge und in gleicher Stärke besitzen, eher ein Hindernis für die freie Durchführung einer Politik sind als ein Mittel, erwünschte Ziele zu erreichen. Chruschtschow mußte eine unhaltbar gewordene Position aufgeben, und die Vereinigten Staaten mußten sich ihrerseits der unangenehmen Einsicht beugen, daß sie es nicht riskieren durften, auf der vollständigen Liquidierung des Castro-Regimes zu bestehen. Es ist eine einfache, wenn auch in der Geschichte neue Tatsache, daß Atommächte Gewalt große Anwendung von gegeneinander heute nicht mehr als betrachten außenpolitisches Mittel dürfen. In einer solchen Situation ist eine amerikanische oder sowjetische Politik des " brinkmanship”, der „Politik am Rande des Abgrunds", ganz unverantwortlich, weil sie in Wirklichkeit nicht die konkrete Drohung enthält, die ihr dazu verhelfen könnte, sich erfolgreich gegen einen Gegner durchzusetzen. Sie ist eine Gefahr für den Frieden, weil sie im Volke Leidenschaften entfesseln könnte, die politisch so mächtig werden könnten, daß sie in einer Krisensituation größeren Ausmaßes die politische Willensbildung in verhängnisvollerWeise bestimmen würden.

Noch ein weiterer Faktor, der zum Teil auf dem atomaren „Gleichgewicht der Ohnmacht“ beruht, muß bei der Betrachtung der amerikanischen Außenpolitik berücksichtigt werden, die Tatsache, daß trotz der beachtlichen militärischen, finanziellen und industriellen Kapazität unseres Landes unser relatives Gewicht in der Welt sich vermindert hat. Das Wiederaufblühen Europas hat neue Konkurrenten im Welthandel entstehen lassen und manche Länder aus ihrer finanziellen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten befreit. Als Folge dieser Entwicklung sowie unserer umfangreichen Auslandsausgaben haben wir unter einer ständig ungünstigen Zahlungsbilanz gelitten, die unsere Goldbestände so geschwächt hat, daß sie zum Gegenstand ernster Sorge für die Nation geworden ist.

Solche Entwicklungen in Westeuropa waren die unvermeidliche Folge der nach dem Kriege erfolgreich durchgeführten Hilfsprogramme. Jetzt, da dieser Erfolg erzielt worden ist, müssen sich die Vereinigten Staaten daran gewöhnen, daß diese Länder als gleiche Partner auftreten können; das hat natürlich politische Folgen auf jeder Ebene. Das Problem wird sichtbar, wenn man zum Beispiel die Haltung Amerikas zur Frage der Handelsbeziehungen und Beziehungen anderer Art zur kommunistischen Welt ins Auge faßt. Wenn es, wie manche Beobachter meinen, wahr ist, daß die Amerikaner sich von dem Kalten Krieg nicht trennen können, so kann das jedenfalls nicht von unseren europäischen Verbündeten gesagt werden, die mehr oder weniger deutlich ihre Meinung zum Ausdruck gebracht haben, daß engere diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zur kommunistischen Welt auf die Dauer gesehen eher eine Quelle der Sicherheit als der Gefahr sein würden.

Das Sinken des amerikanischen Ansehens in der Welt zeigt sich nicht nur in unseren Beziehungen zu dem erstarkenden Westeuropa. Die Auswirkungen des sogenannten „Polyzentrismus“, des Nachfolgers der „Bipolarität“, lassen sich ablesen an der bedeutenden Zunahme einer entweder ausgesprochen antiamerikanischen Stimmung oder doch an einer in deutliche Worte gekleideten Kritik an den Vereinigten Staaten, wie sie fast überall in der Welt laut geworden ist. Im Leitartikel einer Londoner Zeitung hieß es vor kurzem, eine Erklärung für die Ergebnisse des republikanischen Parteikonvents sei die verständliche Reaktion Amerikas auf die Flut von Kritik und Vorwürfen, der das Land von so vielen Seiten ausgesetzt sei. Das mag übertrieben sein, läßt aber doch deutlich werden, daß die Stellung Amerikas als der Führungsmacht der Welt heute nicht mehr so fraglos akzeptiert wird wie in den Jahren unmittelbar nach dem letzten Krieg. Die Amerikaner, die es lieben, geliebt zu werden, haben sich oft durch die wachsende Kritik verletzt gefühlt, besonders dann, wenn sie aus Ländern kommt, die ihren jetzigen Zustand unserer Meinung nach weitgehend unserer Auslandshilfe verdanken. Es zeigt sich deutlich, daß wir uns zu stark auf die „Dankbarkeit" als weltpolitischen Faktor verlassen haben, weil wir unser Hilfsprogramm als Akt reiner Großmut betrachtet haben, während viele Ausländer es für ein politisches Mittel zur Ausdehnung des amerikanischen Einflußbereichs, zur Beseitigung der landwirtschaftlichen Überschüsse und zur Förderung unserer weltumspannenden Politik der „Eindämmung" hielten.

Kritik und Abwertung durch das Ausland sind den amerikanischen Staatsmännern nur insofern wichtig, als sie Ausdruck der weltweiten Erscheinung eines wiedererwachenden Nationalismus sind. Daß viele der erst seit kurzem selbständigen Staaten Asiens und Afrikas ohne Rücksicht auf ihre bisherige Geschichte (oder ihren Mangel an Geschichte), ihre Schwächen und zweifelhafte Lebensfähigkeit im ersten Aufbrausen überschwenglicher Freude über die neu gewonnene Freiheit stark nationalistisch sein würden, stand zu erwarten. Darauf hätte uns unsere eigene Geschichte vorbereiten müssen. Daß allerdings auch in Westeuropa die Forderung nach Befreiung von der amerikanischen Herrschaft — so empfand man es offenbar — ebenso deutlich zum Ausdruck kommen würde, darauf waren wir nicht ganz gefaßt. Auch das war eine natürliche und wahrscheinlich unvermeidliche Erscheinung, aber sie hat das amerikanische Volk überrascht und scheint im Augenblick eine politische Reaktion hervorgerufen zu haben, die wichtige Folgen für die Außenpolitik haben könnte.

Von vielleicht noch größerer Bedeutung ist die Tatsache, daß sich die gleiche Entwicklung im sowjetischen Block anbahnt. Einige der osteuropäischen Satellitenstaaten haben die Gelegenheit, die sich ihnen durch die chinesisch-sowjetische Spaltung bot, genutzt, um — in verschiedenem Maße und mit großer Vorsicht — eine selbständigere Außenpolitik zu befolgen als bisher. Man sollte nicht unterschätzen, welche Bedeutung die Förderung des Handels und seit kurzem auch des Reiseverkehrs mit der nicht-kommunistischer Welt auf lange Sicht haben könnte. Die düstere und dramatische Wirklichkeit der Berliner Mauer hat uns vielleicht übersehen lassen, wie anderwärts in Europa die Völker geneigt sind, über den Eisernen Vorhang hinweg zu reisen und Handel zu treiben. Wenn Wohlstand und politische Entspannung in den nächsten Jahren eine erhebliche Zunahme dieses Verkehrs bewirken könnten, so könnte diese Entwicklung wohltätige Folgen haben.

Das Wiederaufleben des Nationalismus ist ein weiteres Anzeichen dafür, daß der letzte Krieg für immer mehr Menschen überall in der Welt nur noch Geschichte ist. Diejenigen Amerikaner, die die Außenwelt immer noch so sehen, wie man sie vor zehn Jahren mit einigem Recht sehen konnte, sollten sich vor Augen halten, daß die heute wahlberechtigten jungen Europäer erst 1943 und in manchen Ländern, in denen das Mindestalter unter 21 liegt, noch später geboren wurden. Diese jungen Leute wissen nichts mehr vom Krieg und haben nur eine sehr dunkle Erinnerung an die Jahre unmittelbar danach. Es ist verständlich, daß gerade diese heranwachsende Generation mit dazu hilft, daß eine unabhängige und sehr scharf kritische Haltung gegenüber den Vereinigten Staaten und ihrer bisherigen Vormachtstellung aufkommt. Man kann nicht erwarten, daß diese jungen Leute von unserer Rolle im Kampf gegen den Nationalsozialismus oder von unserer Hilfe beim Wiederaufbau Europas beeindruckt sind. Sie wachsen heran in einem Europa, das wieder wirtschaftlich aufgeblüht ist, und man kann nicht davon ausgehen, daß sie ewig dankbar sein werden für Dinge, die sie nicht selbst erfahren haben.

Ihre Welt ist eine neue Welt, eine Nachkriegs-welt, und sie blicken, wie es junge Menschen von jeher tun, nur auf die Gegenwart und auf die Zukunft. Die neue Mentalität der Nachkriegszeit, die sich in Europa in den letzten fünf Jahren herausgebildet hat, ist eine Erscheinung, an der kein aufmerksamer Beobachter vorübergehen kann. Sie erklärt auch zum Teil die außergewöhnliche Volkstümlichkeit des Präsidenten Kennedy in Europa und ist von tiefer Bedeutung für die gegenwärtigen und künftigen Gestalter unserer Außenpolitik. Der Liste der Faktoren, die unser außenpolitisches Denken beeinflussen sollten, ließen sich noch viele Punkte hinzufügen. Dazu gehören zum Beispiel: 1) ein über die ganze Welt verbreitetes Element der Unsicherheit, das daher rührt, daß eine Unzahl kleiner und schwacher Staaten entstanden ist, die kaum Aussicht haben, sich als lebenskräftige und unabhängige politische Gebilde durchzusetzen; 2) die Auswirkung dieser Fülle von neuen Staaten auf die Aktionsfähigkeit der Vereinten Nationen; 3) die steigenden Lebens-ansprüche der Bevölkerung in den unterentwickelten Ländern und die daraus für die Welt entstehenden Probleme; 4) die hohe Wahrscheinlichkeit, daß — ob mit oder ohne Castros Einfluß — in einigen latein-amerikanischen Ländern explosive soziale Umwand-lungen stattfinden, und 5) die Bedrohung, die das kommunistische China für seine asiatischen Nachbarn, möglicherweise für die ganze Welt, bedeutet.

Diese Fragen jedoch beiseite zu lassen und die Aufmerksamkeit in erster Linie auf Europa und die Sowjetunion zu lenken, war ein bewußter Entschluß des Verfassers. In den unmittelbar vor uns liegenden Jahren wird, wie schon in der Vergangenheit, das Klima unserer Beziehungen zu diesem Teil der Welt unsere Außenpolitik entscheidend beeinflussen. Unsere Europa-und Rußlandpolitik wird auf jedem Schritt, den wir irgendwo in der Welt unternehmen, eine tiefgehende, vielleicht entscheidende Wirkung haben.

III Was soll man aus den hier kurz zur Erörterung gestellten Punkten schließen: 1) Stärke und Lebensfähigkeit der Sowjetunion; 2)

Stärke und Lebensfähigkeit der westlichen Demokratien; 3) atomares Gleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR;

4) Möglichkeit, daß die sowjetische Außenpolitik auf die Dauer gesehen allmählich, aber immer deutlicher zu einem gewissen Konservatismus und zum Ausgleich mit dem Westen neigen wird; und 5) Auswirkungen des immer stärker auftretenden Nationalismus in der ganzen Welt?

Zunächst muß betont werden, daß wir trotz der deutlichen Entspannung in den Beziehungen zwischen dem Westen und der Sowjetunion keine umfassende oder rasche Klärung der politischen Atmosphäre erwarten dürfen. Die Vereinigten Staaten werden zweifellos noch auf lange hinaus versuchen, den Bemühungen der Sowjets um Erweiterung ihres Einflusses iri Ausland entgegenzutreten und sie einzudämmen, und der Kreml wird sich bemühen, das gleiche hinsichtlich unserer außenpolitischen Tätigkeit zu tun. Jeder wird weiterhin gegen den anderen manövrieren, solange jeder in der Existenz des anderen eine Gefahr für seine eigene Zukunft zu sehen glaubt. Aber diese allen Historikern der Diplomatie bekannte Form des Kampfes um politischen Einfluß im Ausland, der allen Zusammenstößen zwischen scharf rivalisierenden Großmächten innewohnt, kann nun, so darf man hoffen, verhältnismäßig frei von der Angst ausgefochten werden, daß er nur ein Vorspiel zum Endkampf sei. Bekleidet ein nicht von der Vernunft gelenkter Mann eine Stellung von höchster Verantwortung in dem einen oder dem anderen Staat, so könnte eine Weltkatastrophe entstehen; denn heute hält das Oberhaupt eines mit Atomwaffen gerüsteten Staates in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber aller Verteidigungskräfte seines Landes ungehindert durch parlamentarische Kontrolle ganz buchstäblich die Macht in Händen, die Menschheit in einen unvorstellbaren Abgrund zu stürzen. Ein solches Ausmaß an Macht gab es in den alten Zeiten der herkömmlichen Waffen nicht. Ihre bloße Existenz ist beängstigend und muß bei der Wahl eines Regierungschefs notwendigerweise zu größter Vorsicht mahnen. Wir müssen davon ausgehen, daß Staatsmänner, denen eine so unheimliche Macht in die Hand gegeben ist, besonnene, vernünftige Männer sein werden. Dann wird der politische Wettstreit der Großmächte, so weit wir es voraussehen können, kaum die Gefahr in sich bergen, daß die eine oder andere Macht als letztes außenpolitisches Mittel bewußt die Gewalt anwendet.

Hinsichtlich der Atomwaffenpolitik besteht Aussicht, daß der Status quo in der unmittelbaren Zukunft stillschweigend aufrecht erhalten bleiben wird. Die Sowjetunion wird wohl kaum jenes Maß an internationaler Aufsicht zulassen, das es uns ermöglichen würde, einer erheblichen Minderung der atomaren Rüstung zuzustimmen. Solange Zusicherungen dieser Art fehlen, können und dürfen die Vereinigten Staaten keine Schritte unternehmen, die ihre eigene bestehende atomare Stärke herabsetzen würde. Wer die Abrüstung als Weg zum Frieden fordert, sollte daran denken, daß Rüstungen eher eine Folge als eine Ursache des Mißtrauens sind. Wir sollten uns mit dem jetzigen Gleichgewicht der Macht zufriedengeben und es in der jeweils notwendigen Höhe aufrechterhalten. Wie schon oben angedeutet, das Unangenehme eines „nuklearen Patts" hat für uns auch seine guten Seiten, auch wenn es weder den Pazifisten noch den Hurra-Patrioten gefällt.

Diese beiden allgemeinen Beobachtungen führen zu vier außenpolitischen Schlußfolgerungen für die nächste Zukunft. Erstens sollten wir bereit sein, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich aus dem wachsenden Zug zum Nationalismus ergibt, um die einzelnen osteuropäischen Staaten im kommunistischen Machtbereich zu größerer Selbständigkeit gegenüber Moskau zu ermutigen. Das wird ein langsamer Prozeß sein, weil jedes übertriebene oder voreilige Vorgehen dieser Länder mit Sicherheit Unterdrückungsmaßnahmen hervorrufen würde, wie sie in Ungarn angewendet wurden. Andererseits würde es verheerende Folgen haben, wenn wir glaubten, der ganze kommunistische Block sei nichts als eine einzige, überdimensionale, zentral gelenkte Verschwörung gegen den Westen. Die Männer im Kreml machen in ihren Verhandlungen mit der westlichen Allianz keinen solchen Fehler.

Wenn die Führer des Westens klug und von fixen Ideen frei sind, wird es ihnen vielleicht allmählich gelingen, den Geist des Nationalismus zu stärken, der in jedem osteuropäischen Staat ein unbehagliches Dasein neben dem kommunistischen Internationalismus führt. Wenn das in solcher Form und mit solchem Bedacht geschehen kann, daß bei den Sowjets nicht das Gefühl entsteht, es werde ein tödlicher Schlag gegen sie vorbereitet, könnten für den Westen gute und positive Ergebnisse daraus entstehen. Jedenfalls würde sich der Versuch lohnen.

Zweitens müssen wir uns damit abfinden, daß die künftige wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung eines großen Teiles der Welt nicht unserem Vorbild folgen und uns möglicherweise nicht besonders gefallen wird. Viele der aufstrebenden Länder empfinden es als politisch dringend notwendig, ihre nationale Entwicklung rascher voranzutreiben, als es möglich ist, wenn man sich in erster Linie auf die private Initiative verläßt. Die daraus sich ergebende Vermischung privaten und staatlichen Kapitals wird diese Länder wahrscheinlich vielfach weiter zum „Sozialismus“ hintühren, als uns lieb ist. Aber das ist eine Tatsache unseres heutigen Lebens, und wir würden unsere Position in der Welt schwächen, wenn wir behaupteten, in allen diesen Trends und Entwicklungen lediglich die geschickte Hand des kommunistischen Agitators zu sehen.

Auch politisch sieht es ebenso aus. Wir werden in der ganzen Welt viel mehr autoritäre Regierungen sehen, als uns zusagt. Widerstrebend beginnen wir einzusehen, daß manche unserer früheren Vorstellungen von den politischen Strömungen in der Welt und dem unaufhaltsamen Fortschreiten des demokratischen Gedankens — um es geradeheraus zu sagen — naiv waren. Wenn demokratische Institutionen, wie wir sie haben, erfolgreich arbeiten sollen, müssen, das wissen wir heute, eine ganze Reihe von Bedingungen — politische Erfahrung, ein gewisser Bildungsstand, allgemeine Übereinstimmung über die Grundstruktur und den Zweck des Staates und so weiter — erfüllt sein, die in großen Teilen der Welt völlig fehlen. In vielen Fällen mögen die Zeit und eine kluge Führung Bedingungen schaffen, unter denen die Freiheit des einzelnen erweitert und vertieft werden kann, aber selbst dann kann das Endergebnis ganz anders aussehen als unsere Institutionen und Vorstellungen. Drittens werden wir noch lange Zeit in einer unsicheren und sogar gefährlichen Welt leben.

Unsere Außenpolitik muß daher von Klugheit und äußerster Besonnenheit geleitet sein, auch wenn sie zugleich durch eine in vollem Umfang aufrechterhaltene militärische Stärke untermauert wird. Forsches Auftreten und eine „Politik am Rande des Abgrunds" werden zwar stets das Volk ansprechen, aber die Staatskunst zeigt sich eher in der Geduld als im Säbelrasseln. Einem zornigen Aufwallen nachzugeben und dem Gegner mit schrecklichen Strafen zu drohen, mag für den einzelnen wie für eine Gemeinschaft eine gewisse reinigende Wirkung haben, aber ein solches Verhalten ist stets ein Luxus, den sich allenfalls Einzelpersonen aber keine Großmacht leisten kann.

Und als letztes: Unsere Politik muß weiterhin alles in ihrer Macht stehende tun, um den ganzen verfügbaren Apparat der internationalen Zusammenarbeit und der friedlichen Regelung von Meinungsverschiedenheiten zu nutzen und zu stärken. Es wäre töricht zu glauben, daß die Vereinten Nationen oder irgendeine andere internationale Organisation in einer Welt von selbständigen Nationalstaaten ein vollwertiger Ersatz für die Diplomatie sein könnte. Sie können aber kleine Probleme lösen, die sonst gefährliche Ausmaße annehmen könnten, einem Verlierer die beste Möglichkeit bieten, das Gesicht zu wahren, und für die Welt ein Forum sein, in dem, wie man hoffen darf, sich eine wachsende Übereinstimmung über Maßstäbe und Verfahrensweisen in internationalen Fragen allmählich ergibt.

Fassen wir zusammen: Unsere neue außen-politische Periode muß, wo immer es nötig ist, durch entschlossene Festigkeit gekennzeichnet sein, die jedoch durch größere Beweglichkeit, durch Erfindungsreichtum und eine realistische Einschätzung der Welt gemäßigt werden muß. Die größte nationale Gefahr, die uns auf diesem Wege droht, liegt in der immer breiter werdenden Kluft zwischen dem Denken unserer Politiker und Staatsmänner, die gelernt haben, die Welt kühl, vorsichtig und realistisch zu betrachten, und der Haltung großer Teile der Oifentlichkeit, die sich häufig nur von unkontrollierten Gefühlen leiten lassen. Diese Kluft gibt es immer, aber sie bedeutet eine wachsende Gefahr. Nur wenn unsere Führer mutig und ohne Umschweife ihre Meinung in der Oifentlichkeit vertreten, kann diese Kluft überbrückt werden. Die Demagogen werden stets unter uns sein, aber das Feld der öffentlichen Diskussion darf ihnen nicht überlassen bleiben, nur weil ältere und klügere Männer den rauhen Ton der öffentlichen Auseinandersetzung scheuen. Es geht hier um lebenswichtige Fragen, und das amerikanische Volk verdient es, daß seine Führer nicht nur Aufrichtigkeit und Mut, sondern auch Besonnenheit und Zurückhaltung zeigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. J. W. Fulbright, Old Myths and New Realities, New York 1964, S. 54.

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