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Europa ohne Großbritannien? | APuZ 47/1964 | bpb.de

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APuZ 47/1964 Artikel 1 Artikel 2 Artikel 3 Artikel 4 Artikel 5 Artikel 6 Artikel 7 Artikel 8 Artikel 9 Der Streit um die Europapolitik Europa ohne Großbritannien?

Europa ohne Großbritannien?

Pietro Quaroni

Es scheint für Großbritannien und Frankreich außerordentlich schwierig zu sein, ihre Europapolitik zeitlich aufeinander abzustimmen. Ich erwähne Frankreich und Großbritannien, weil das Problem Europa tatsächlich um diese beiden Länder kreist; es handelt sich aber zugleich auch um die Frage ihrer Beziehungen zu Europa und zueinander.

Warum nenne ich nur Großbritannien und Frankreich und nicht auch die anderen Länder? Die Integrierung Europas, der Gedanke der Vereinigung des Erdteils zu einem neuen Staat — nämlich Europa —, ist nur dann logisch, ja zwingend notwendig, wenn man zugibt, daß Länder wie Frankreich, Großbritannien, die Bundesrepublik Deutschland und Italien, Länder, die rund 50 Millionen Einwohner haben, heute trotz ihrer wirtschaftlichen, industriellen und wissenschaftlichen Entwicklung zu klein sind, um eine wesentliche Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Die Großmächte von heute haben Hunderte von Millionen Einwohner, denen natürlich auch eine entsprechende technische und industrielle Ausrüstung zur Verfügung steht. Hunderte von Millionen Menschen ohne große Fabriken und Laboratorien machen aber noch keine Großmacht. Große Fabriken und prachtvolle Forschungsinstitute ohne Hunderte von Millionen Menschen machen aber auch noch keine Großmacht. Ein vereinigtes Europa hätte sowohl die großen Fabriken als auch die Millionen von Einwohnern und könnte im Laufe der Zeit vielleicht doch eine Art Großmacht werden.

Ich möchte nicht mißverstanden werden: Es wird heute viel davon gesprochen, man müsse von den Vereinigten Staaten unabhängig sein und müsse auf der Basis der Gleichberechtigung mit ihnen verhandeln; Gleichberechtigung und Unabhängigkeit werden häulig mit der Vorstellung eines geeinten Europas verbunden. Dabei handelt es sich jedoch vielfach nur um leeres Gerede oder einfach um Unsinn oder um beides.

Die Kultur des Westens, wie wir sie verstehen, und besonders Westeuropa werden von der kommunistischen Welt bedroht. Diese Bedrohung durch den Kommunismus ist in erter Linie weltanschaulicher Natur: Wir müssen uns damit auseinandersetzen, indem wir zu beweisen versuchen, daß unsere freie und demokratische Konzeption von Staat und Gesellschaft die Probleme der modernen Welt besser zu lösen vermag als der Kommunismus. Das ist eine Form der Verteidigung, die jeder von uns in seinem eigenen Lande organisieren muß. Hier könnte auch das kleinste europäische Land eine Lösung für ein bestimmtes Problem finden, die auch den größten Ländern nützlich sein könnte. In diesem Sinne — aber auch nur in diesem Sinne — ist die Gleichberechtigung absolut.

Aber es gibt auch eine militärische Bedrohung. Die osteuropäischen Länder sind — Jugoslawien vielleicht ausgenommen — nicht deshalb kommunistisch geworden, weil sie eine innere Revolution erlebt oder sich zum Kommunismus entwickelt haben. Diese Länder sind kommunistisch geworden, weil die Rote Armee, die sie befreite, ihnen zugleich den Kommunismus aufgezwungen hat. Und wenn die Rote Armee heute London, Paris oder Rom eroberte, wären auch wir Kommunisten. Viele Leute sagen jetzt, der Kalte Krieg sei vorbei, heute gäbe es die Koexistenz. Damit bin ich einverstanden, vorausgesetzt, daß man das Wort Koexistenz so versteht, wie die Kommunisten es verstehen: nämlich als einen Kampf zwischen zwei entgegengesetzten Vorstellungen der Welt, der mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln — politischen, wirtschaftlichen, sozialen, aber nicht militärischen — ausgefochten wird. Selbstverständlich liegt darin ein großer Fortschritt gegenüber dem Kalten Krieg. Es werden viele Gründe für diese Veränderung in der sowjetischen Politik genannt: innenpolitische Schwierigkeiten, die Spaltung zwischen Moskau und Peking. Diese Gründe sind zweifellos alle richtig, und es gibt vielleicht auch noch viele andere. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß diese Veränderung hauptsächlich auf das Gleichgewicht der Kräfte zwischen Ost und West zurückgeht, besser gesagt, auf das Gleichgewicht in der Fähigkeit zur Zerstörung. Nun sollten wir auf dieser Seite des Atlantischen Ozeans nicht vergessen, daß das Gleichgewicht der Kräfte auf westlicher Seite vorwiegend auf der Stärke der Vereinigten Staaten beruht. Die westeuropäischen Mitglieder der NATO geben für die Rüstung zusammen weniger als ein Viertel dessen aus, was die Amerikaner ausgeben, die sechs Länder des Gemeinsamen Marktes zusammen weniger als ein Sechstel. Ich glaube nicht, daß auch nur eines der europäischen Länder seinen Militärhaushalt in naher Zukunft wesentlich erhöhen können wird und zwar aus innenpolitischen Gründen — und innenpolitische Gründe sind sehr wichtig. Natürlich können sie mehr ausgeben, wenn ihr Sozialprodukt steigt, aber das wäre zweifellos ein langwieriger Prozeß.

Wenn ich aber 25 Prozent der Anteile einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung besitze, kann ich dann in Gegenwart eines Mannes, der 75 Prozent besitzt, von Gleichheit sprechen? Selbst wenn wir also Europa als eine Einheit ansehen — und es ist noch keine —, ist diese Ungleichheit zwischen dem militärischen Potential der Vereinigten Staaten und dem Europas, die man im offiziellen Sprachgebrauch mehr oder weniger korrekt mit dem Ausdruck „amerikanische Führungsmacht" umschreibt, eine Grundtatsache, die akzeptiert werden muß, auch wenn sie unangenehm ist. Denn alle großen außenpolitischen Fehler der Vergangenheit haben immer den gleichen Ursprung: die falsche Einschätzung der Grund-tatsachen. Während des Zweiten Weltkrieges waren Großbritannien wie auch die Niederlande Verbündete der Vereinigten Staaten, aber Gewicht und Einfluß Großbritanniens als Verbündeter waren größer als die de-Niederlande. Ein integriertes Europa könnte für die Vereinigten Staaten ein ebenso wichtiger Verbündeter werden, wie Großbritannien es damals war. Solange aber jedes Land allein zu stehen versucht, bezweifle ich, ob das Gewicht selbst der stärksten europäischen Mächte sehr viel größer sein könnte als das der Niederlande während des Krieges. Die Integration Europas würde viel ausmachen, aber selbst ein integriertes Europa wäre von der Gleichheit noch weit entfernt — jedenfalls solange die militärische Stärke eine entscheidende Rolle in der Weltpolitik spielt, und das wird höchstwahrscheinlich noch lange der Fall sein. Kehren wir an unseren Ausgangspunkt zurück: Die Idee eines geeinten Europas ist nur dann logisch und zwingend, wenn man zugibt, daß das eigene Land für sich allein genommen keine Möglichkeit mehr hat, eine entscheidende Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Akzeptiert man das nicht, ist der Gedanke einer europäischen Integration unlogisch. Deutschland und Italien genießen hier einen großen Vorteil. Beide haben den Krieg verloren — darüber können sie sich keinen Illusionen mehr hingeben. Für beide also gab es keine Möglichkeit mehr, in der Nachkriegszeit eine Rolle zu spielen. In Deutschland mag sich das allmählich ändern — wenn es dazu käme, wäre das sehr bedauerlich. Für Italien hat sich nichts geändert. Ich glaube, wir sind von jeder Sehnsucht nach Größe endgültig geheilt.

Aber für Länder wie Großbritannien und Frankreich war das alles nicht so eindeutig.

Beide Länder haben die Möglichkeit erwogen — und erwägen sie manchmal auch heute noch —, eine eigene Weltpolitik zu betreiben, und zwar auf rein nationaler Basis, wie sie jeder von uns vor dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich oder vermeintlich betrieb. Beide Länder sind innerlich gespalten. Auf der einen Seite sind jene, die sich damit abfanden, daß ihr Land keine Großmacht mehr war und deshalb für eine europäische Integration eintraten, auf der anderen Seite diejenigen, die sich weigerten, diese Tatsache anzuerkennen und sich deshalb dem Gedanken eines geeinten Europas gegenüber äußerst zurückhaltend verhielten. Diese Spaltung ist ganz verständlich, vielleicht sogar unvermeidlich und geht in beiden Ländern quer durch alle Parteien. Als das Für und Wider der Verteidigungsgemeinschaft in Frankreich erörtert wurde, hat Mendes France gesagt, nicht nur diese oder jene Partei, sondern jeder einzelne Franzose sei in dieser Frage geteilter Meinung. Damit hatte er recht. Auch von Großbritannien könnte man nach meiner Auffassung ungefähr das gleiche sagen.

In Frankreich und Großbritannien kann also eine echte Übereinstimmung in dieser Frage kaum erwartet werden; es wird wahrscheinlich noch lange Befürworter und Gegner einer Integrierung geben. Die Frage ist nur, ob diejenigen, die dafür sind, sich an der Macht befinden oder nicht.

Gerade hierin hat unglücklicherweise in Frankreich und Großbritannien keine zeitliche Übereinstimmung bestanden. Man sollte nicht vergessen, daß es eine Zeit gegeben hat, in der Frankreich — und das kontinentale Europa mit ihm — Großbritannien in Europa dabei haben wollte. Großbritannien wurde eindeutig die Führung in Europa angetragen, vorausgesetzt, daß es sich bereit erklärte, sich an der Integrierung Europas zu beteiligen. Ich fürchte, viele Leute haben schon vergessen, daß Sir Winston Churchill nach einer großartigen Rede in Straßburg einstimmig als erster Verteidigungsminister eines geeinten Europa gefeiert wurde — der einzige, der sich ausschloß, war der Vertreter der britischen Labour-Party. Aber damals glaubte Großbritannien — vielleicht wäre es richtiger zu sagen, die britische Regierung oder die Regierungen, da sich die Labour-Regierung in diesem Punkt von der Konservativen kaum unterschied — immer noch, es könnte gut alleine fertig werden, und lehnte daher ab. Die Europäische Verteidi-B gungsgemeinschaft scheiterte im französischen Parlament lediglich deshalb, weil Großbritannien sich weigerte, ihr beizutreten. Wäre Großbritannien ihr beigetreten, hätte sich eine mehr als ausreichende Mehrheit im französischen Parlament dafür gefunden. Damals wurde eine große Chance vertan; vieles wäre in Europa, vielleicht in der Welt anders gelaufen, wenn die EVG verwirklicht worden wäre. Das Hauptargument Frankreichs gegen die EVG war, daß eine enge militärische Verbindung mit den Deutschen ohne den ausgleichenden Einfluß und die Macht Großbritanniens zu fürchten sei.

Als sich die britische Regierung viele Jahre später entschied, sich Europa anzuschließen — der Anschluß an den Gemeinsamen Markt hätte tatsächlich den Anschluß an Europa bedeutet —, sagte nunmehr Frankreich nein. Vielleicht wurde auch damals eine große Chance vertan.

Warum sagte Frankreich nein?

Das Problem der Integrierung Europas ist mindestens bis zu einem gewissen Grade mit dem Problem der Führung in Europa gekoppelt gewesen; das mag ein Fehler sein, aber es ist so. Hätte Großbritannien in den späten vierziger Jahren, als es ihm angetragen wurde, sich Europa angeschlossen, so wäre ihm die Führung in Europa selbstverständlich ztgefallen. Alle europäischen Länder einschließlich Frankreich waren bereit, ja sogar willens, das hinzunehmen. Als Großbritannien die Führung ablehnte, begannen manche Kreise in Frankreich zu glauben, Frankreich müsse nun die Führung in Europa wieder übernehmen. Je mehr Frankreich sich von den Folgen des Krieges erholte, um so deutlicher trat sein Führungsanspruch hervor.

Die Vorstellung, Frankreich sei die geborene Führungsmacht in Europa, ist nicht erst mit de Gaulle ausgekommen; es hat sie schon lange vorher gegeben. Auch Schumann hat daran gedacht und in aller Öffentlichkeit davon gesprochen. Tat er das aus echter Über-zeugung oder weil er glaubte, die Vorstellung von Frankreich als Führungsmacht könne die Zurückhaltenderen unter seinen Landsleuten zur Integrierung Europas bekehren? Wir werden es nie erfahren. Ich erinnere mich, Schumann einmal eine Frage gestellt zu haben, die man vielleicht als etwas indiskret empfinden konnte. Mit seiner ruhigen gleichmäßigen Stimme antwortete er: „Herr Botschafter, es gibt entlegene Ecken meines Gehirns, in die auch ich lieber nicht allzu viel Licht werfen möchte." Vielleicht gehörte diese auch dazu. Aber auch in dieser Frage ist Frankreich gespalten. Die Führung in Europa zu übernehmen, erschien den Franzosen verständlicherweise reizvoll, bedeutete aber, daß Großbritannien aus Europa herausgehalten werden mußte. Denn wenn Großbritannien dabei gewesen wäre, wäre eine ausschließlich französische Führung nicht mehr in Frage gekommen. Andererseits fürchtete Frankreich die wachsende wirtschaftliche Stärke Deutschlands und erkannte, daß die europäischen Gewichtsverhältnisse ausgeglichener sein würden, wenn sich Großbritannien daran beteiligte. General de Gaulle hat keine Komplexe wegen Deutschland; deshalb gibt es für ihn keinen Grund, den Anschluß Großbritanniens besonders freudig zu begrüßen.

Es ging jedoch nicht nur um die französische oder britische oder um eine gemeinsame Führung. General de Gaulle ist sicherlich ein Nationalist, aber ein Nationalist mit weitem Horizont. Sein politischer Grundgedanke ist, die Unabhängigkeit seines Landes von den Vereinigten Staaten und von Rußland zu sichern. Er weigert sich, die Vorstellung zu akzeptieren, daß die Welt von zwei Supermächten beherrscht wird. Er weiß genau, daß ein unter Frankreichs Führung geeintes Kontinental-europa viel besser seine Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten bewahren könnte als Frankreich allein. (Dabei versteht er unter französischer Führung nicht so sehr die traditionelle Hegemonie. Vielmehr meint er, daß Frankreich, oder vielmehr sein Führer, besser und klarer erkennt, was zu geschehen habe und wie es ins Werk zu setzen sei.) Aber er ist auch überzeugt, daß Großbritannien sich in diesem Kampf um die Unabhängigkeit nicht anschließen und seinen, wie es allgemein heißt, besonderen Beziehungen zu Amerika stets den ersten Platz einräumen würde. Großbritannien wäre daher ein störendes Element in Europa gewesen, weil seine Politik und sein Einfluß die anderen kontinentaleuropäischen Partner leicht vom rechten Wege abbringen könnten. Das meinte er, glaube ich, als er sagte, Großbritannien wäre das trojanische Pferd der Vereinigten Staaten innerhalb der Gemeinschaft gewesen.

Es wäre jedoch falsch zu behaupten, Frankreich allein sei für das Scheitern der Brüsseler Verhandlungen verantwortlich.

Daß Frankreich Großbritanniens Anschluß an den Gemeinsamen Markt nicht besonders freudig begrüßte, ist allgemein bekannt. Großbritannien hätte Frankreichs Widerstand beseitigen können, indem es die römischen Verträge ohne Änderungen unterzeichnete. Es hätte dabei weder im Commonwealth noch in der EFTA Schaden gelitten. Der Gemeinsame Markt befindet sich noch immer weitgehend im Stadium des Aufbaus, und 1961 war das noch stärker der Fall. Wie er endgültig arbeiten wird, weiß niemand. Er entwickelt sich weiter — nicht ohne Schwierigkeiten — in einer Folge von Kompromissen zwischen den Bedürfnissen der verschiedenen Länder. Ein Weg wird ausprobiert, erweist er sich als unbefriedigend, geht man einen anderen. Gestaltung und Anpassung können am besten von innen heraus vorgenommen werden, und ein Land von der Größe, dem Einfluß und den Möglichkeiten Großbritanniens hätte, sowie es dem Gemeinsamen Markt einmal angehörte, ihn im großen und ganzen so gestalten können, wie es wollte. Anstatt diesen Sprung zu wagen, verhielt sich Großbritannien überperiektionistisch. In der Praxis lief das auf den Versuch hinaus, eine Zukunft zu planen, die niemand voraussehen konnte. Als man einmal begonnen hatte, die Zukunft zu planen, zeigte es sich, daß auch die andere Seite — nämlich die Sechs Länder — ihre eigenen Ideen, Hoffnungen und Befürchtungen hatten. Für die Engländer war es natürlich sehr schwer, von außen zu verstehen, wie der Apparat des Gemeinsamen Marktes wirklich arbeitete; als sie es begriffen, war es vielleicht schon zu spät. Außerdem war es wohl politisch unmöglich, das britische Parlament dazu zu bewegen, den britischen Bevollmächtigten bei der künftigen Organisation des Gemeinsamen Marktes in vollem Vertrauen eine Blanko-Vollmacht zu geben, um so mehr als die Hauptfrage — die des Commonwealth — gefühlsmäßig stark belastet war. Solche emotionalen Komponenten sind natürlich unvermeidlich, aber die Außenpolitik wäre sehr viel einfacher, wenn sie keine Bedeutung gewinnen könnten.

Die anderen fünf trifft natürlich auch eine gewisse Schuld. Die größten Schwierigkeiten, die die Unterhändler beider Seiten in Brüssel zu überwinden hatten, gingen nicht auf die Römischen Verträge zurück, sondern auf die Abkommen über eine gemeinsame Agrarpolitik, die Anfang Januar 1962 — also fünf Monate, nachdem Großbritannien den Antrag auf Aufnahme in den Gemeinsamen Markt gestellt hatte — in Brüssel unterzeichnet wurden. Damals scheint niemand begriffen zu haben, was sie in Wirklichkeit bedeuteten. Ferner: von den sechs Ländern war Holland zweifellos dasjenige, das Großbritanniens Anschluß an den Gemeinsamen Markt am stärksten befürwortet hatte. Das Abkommen über eine gemeinsame Agrarpolitik aber ist von einem Holländer entworfen und von der holländischen Regierung voll gebilligt worden, da die Agrarinteressen Hollands und Frankreichs im Grunde sehr ähnlich waren.

Ich beneide die Historiker der Zukunft nicht, die das Durcheinander der Brüsseler Verträge auflösen und versuchen müssen, unparteiisch zu beurteilen, wer für was verantwortlich war.

Aber es hat keinen Sinn, über das schon Geschehene zu klagen. Es war notwendig, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, weil wir noch immer mit ihr leben müssen. Aber wie steht es nun mit der Zukunft? Wie steht es um „Europa ohne Großbritannien"?

Mit Ausnahme von Frankreich sind alle Länder des Gemeinsamen Marktes eindeutig für den Anschluß Großbritanniens an Europa. Sie sind es aus wirtschaftlichen Gründen, weil ihnen allen ein Europa mit Großbritannien die größere Sicherheit zu bieten scheint, daß der Gemeinsame Markt nach außen und nicht nach innen gerichtet sein wird. Das ist ein weiterer Punkt, in dem die Länder des Gemeinsamen Marktes innerlich gespaltener sind, als sie gerne wahr haben wollen. Außerdem steht es keineswegs fest, daß Großbritannien im Falle des Anschlusses uneingeschränkt nach außen blicken würde. Aber die fünf Länder sind nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern mehr noch aus politischen Gründen für Englands Beitritt, denn sie teilen nicht alle französischen Vorstellungen über die sogenannte Unabhängigkeit Europas und sind überzeugte Anhänger der amerikanischen Allianz, der atlantischen Integration und vieler anderer Dinge, die sich mit Frankreichs Ideen nicht decken.

Das ist alles bekannt, aber was bedeutet es in der Praxis?

Auf jeden Fall heißt es, daß es nicht einfach sein wird, eine gemeinsame Außen-und Verteidigungspolitik für die Sechs aufzustellen. Wir, die fünf Länder, können die Franzosen nicht zwingen, unsere Ideen anzunehmen, aber auch die Franzosen können uns nicht zwingen, ihre Vorstellungen zu akzeptieren. Das kann bedeuten, daß die politische Integration Europas mindestens noch einige Zeit auf sich warten lassen wird.

Wirtschaftlich aber macht der Gemeinsame Markt Fortschritte, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten. Die ersten Schritte waren verhältnismäßig einfach, als es sich darum handelte, die Binnenzölle für industrielle Erzeugnisse herabzusetzen. Daß die Einigung über eine gemeinsame Agrarpolitik eine sehr viel schwierigere Aufgabe sein würde, war allen Beteiligten von vorneherein klar. Weitere Aufgaben stehen bevor, die nicht weniger schwierig sind: eine gemeinsame Finanz-und Wirtschaftspolitik, die Harmonisierung der Besteuerung und der Sozialversicherung, die Frage einer Planung in irgendeiner Form. Außerdem wird nach meiner Meinung — obwohl die Römischen Verträge nicht ausdrücklich davon sprechen — der Gemeinsame Markt auf die Dauer nicht ohne irgendeine Art gemeinsamer Währung auskommen können. Und das wird nicht gerade die einfachste Aufgabe sein.

Bisher ist die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes durch die wirtschaftliche Ausdehnung und die Prosperität in den verschiedenen Ländern begünstigt worden; wenn aber hier oder da ein Rückgang eintreten sollte, könnten Schwierigkeiten entstehen, was nicht heißt, daß sie unüberwindlich wären. Ich möchte damit nicht sagen, daß der Gemeinsame Markt schon so weit fortgeschritten ist, daß es kein Zurück mehr gibt — das ist theoretisch und politisch immer möglich. Es wäre sicher leicht, den Gemeinsamen Markt scheitern zu lassen, aber es wäre falsch zu sagen, diese Möglichkeit sei eine wirksame Waffe in den Händen der Franzosen. Die Franzosen würden genau so darunter leiden wie alle anderen, wenn sie ihn scheitern ließen. Außerdem wird es, je länger er besteht, immer schwieriger, ihn auseinanderfallen zu lassen.

Die Zusammenkünfte der Minister und der Ständigen Delegierten sind schwierig, mühsam und für den Laien weitgehend unverständlich. Die Presse hat eine gewisse Neigung, sie zu dramatisieren, aber wenn man die Protokolle sorgfältig liest, merkt man, daß alle Beteiligten den Willen haben, sich zu einigen, ja mehr noch, daß sie das bestimmte Gefühl haben, der Gemeinsame Markt müsse sich geradezu durchsetzen. Ich würde niemandem raten, darauf zu wetten, daß der Gemeinsame Markt an seinen momentanen oder späteren Schwierigkeiten scheitern werde. Es kann durchaus sein, daß manche Fristen verlängert werden müssen; noch wahrscheinlicher ist, daß wir zum Schluß Lösungen und Ergebnisse haben, die ganz anders sind als die, die wir am Anfang beabsichtigten oder jetzt erwarten.

Aber der Gemeinsame Markt entwickelt sich weiter, und je mehr er Gestalt annimmt, um so mehr werden Fragen, die bisher so oder anders hätten entschieden werden können, nunmehr auf eine ganz bestimmte Weise entschieden, und es wird immer schwieriger, sie erneut zu diskutieren. Der Raum für Veränderungen und Verhandlungen verengt sich immer mehr. Wenn Verhandlungen mit Großbritannien heute wiederaufgenommen werden sollten, so würden wir von etwa den gleichen Positionen ausgehen wie im Januar 1963, aber einige Monate später kann alles ganz anders sein.

Auch die EFTA entwickelt sich und nimmt festere Gestalt an, und zwar eine, die anders ist als die des Gemeinsamen Marktes. Die beiden wirtschaftlichen Gemeinschaften neigen dazu, sich auseinander zu entwickeln. Etwa Ende nächsten Jahres, jedenfalls aber Ende 1966, wenn der Gemeinsame Markt vielleicht schon kurz vor seiner vollen Verwirklichung steht und die EFTA vielleicht zu einem echten Freihandelsgebiet geworden ist, wird es schon sehr schwierig sein, beide miteinander zu verschmelzen. Ich bin nicht überzeugt, daß die politischen Hindernisse — die Politik General de Gaulles, um es deutlich zu sagen — unüberwindlich sind, so groß sie jetzt auch erscheinen mögen. Selbst wenn das Zustandekommen einer politischen Union noch verzögert wird, so stellt die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes an sich schon ein politisches Faktum dar, das sich bemerkbar machen wird. Im Augenblick kann de Gaulle seinen Partnern immer noch damit drohen, den Gemeinsamen Markt fallen zu lassen, und einige mögen es ihm sogar glauben. Aber ob er das in zwei Jahren immer noch sagen kann und ob man ihm dann immer noch Glauben schenken wird, ist eine andere Frage. Das und vielleicht auch der Druck der Ereignisse könnten es ihm sehr erschweren, in grundsätzlichen Fragen — zum Beispiel im Hinblick auf das amerikanische Bündnis oder die atlantische Integration — einen Standpunkt einzunehmen, der sich von dem seiner Partner auf dem europäischen Kontinent stark unterscheidet.

Die politischen Schwierigkeiten, die heute das Haupthindernis für den Anschluß Großbritanniens an Europa bilden, werden also eines vielleicht gar nicht so fern liegenden Tages überwunden werden; dann könnte es aber inzwischen schwer geworden sein, wirtschaftliche Schwierigkeiten zu überwinden. 1962 war der Umriß eines möglichen Kompromisses deutlich erkennbar, auch heute ist er noch klar zu sehen. In zwei oder drei Jahren aber kann sich das alles geändert haben.

Das würde jedoch bedeuten, daß Europa wirtschaftlich in zwei Lager gespalten wäre; dann besteht die Gefahr, daß die wirtschaftliche Spaltung auch zu einer politischen Spaltung wird. Europa ist jedoch zu klein, um sich eine Spaltung leisten zu können. Politisch ist es längst nicht mehr das, was es früher war, aber wir irren uns, wenn wir glauben, Europas Situation in der Welt könne nicht noch schlimmer — und zwar sehr viel schlimmer — werden, als sie heute schon ist. Schließlich haben wir, die europäischen Mächte allein, Europa von seinem Piedestal herabgeholt. Wenn wir die Feh23 ler, die wir in der Vergangenheit begangen haben, immer weiter betreiben — und es gibt viele Anzeichen dafür — werden wir das Zerstörungswerk., das unsere Väter und Großväter so glänzend begonnen haben, glorreich vollenden.

Was ist zu tun? Sicher könnte die Kennedy-Runde viel dazu beitragen, die Kluft zwischen dem Gemeinsamen Markt und der EFTA zu überbrücken, und sie könnte noch mehr dazu tun, die psychologischen Hindernisse zu beseitigen, die sich jeden Augenblick in politische Hindernisse verwandeln können. Ich glaube nicht, daß die Kennedy-Runde letztlich scheitern wird, aber ich bin auch nicht überzeugt, daß sie ein echter Erfolg sein wird. Es kann leicht sein, daß ein halber Erfolg daraus wird und daß der beste Geist, aus dem sie entstanden ist, rasch vergessen wird. Ich weiß nicht, ob ein halber Erfolg genügen würde, um eine Spaltung zwischen dem Gemeinsamen Markt und der EFTA zu verhindern.

Es besteht weitgehende Übereinstimmung — das wenigstens kann man sagen — zwischen fünf Ländern des Gemeinsamen Marktes über die Notwendigkeit des Anschlusses Großbritanniens; damit wäre jede Gefahr einer wirtschaftlichen und politischen Spaltung Europas beseitigt, denn der Anschluß Großbritanniens an den Gemeinsamen Markt würde bedeuten, daß auch die EFTA dazu gehörte. Die fünf Länder werden jedenfalls innerhalb des Gemeinsamen Marktes weiterhin um eine nach außen gerichtete Organisation kämpfen und sich bemühen, sie politisch mit dem atlantischen Bündnis, wie sie es verstehen, auf einer Linie zu halten. Man darf aber nicht vergessen, daß diese Bemühungen nicht notwendig mit dem Anschluß Großbritanniens gekoppelt sind. Es könnte sehr wohl einen Gemeinsamen Markt geben, der politisch und wirtschaftlich den Wünschen der fünf Länder entspricht, dem aber Großbritannien nicht angehört.

Was jetzt wünschenswert ist, wäre eine klarere britische Politik in bezug auf Europa. England ist nicht schuld daran, daß die Verhandlungen in Brüssel keinen Erfolg brachten. Was im Januar vergangenen Jahres in Brüssel geschehen ist, hat uns alle — damals und heute noch — mit größtem Bedauern erfüllt und uns tief verstimmt. Wir verstehen vollkommen, daß die britische Regierung sich unter diesen Umständen nicht in der Lage sieht, um eine Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bitten, wenn sie nicht darauf vertrauen kann, daß solche Verhandlungen verhältnismäßig rasch zu einem erfolgreichen Ende führen werden. Wir verstehen auch, daß eine Entscheidung für jede britische Regierung schwer ist. Aber wohin geht die öffentliche Meinung in Großbritannien? Hat es jemals eine Mehrheit für den Anschluß an Europa gegeben? Gibt es heute eine? Ist diese Vorstellung überhaupt noch lebendig oder ist sie längst vergessen?

Ich bin der Meinung, daß es in Großbritannien eine Mehrheit für Europa gegeben hat und daß der Gedanke an einen Anschluß an Europa durchaus noch lebendig ist. Aber viele Leute auf dem europäischen Festland — vor allem unter denen, die Englands Anschluß am stärksten wünschen — zweifeln noch immer daran. Vieles, was in der Vergangenheit geschehen ist, ist nicht vergessen worden; vieles wird in diesem Lande noch heute gesagt, was darauf hindeutet, daß die Vorstellung der " splendid isolation" noch nicht tot ist.

Wenn der europäische Gedanke bisher alle Schwierigkeiten zu überwinden vermocht hat, dann deshalb, weil in jedem europäischen Land eine geschlossene Gruppe von Männern den Kampf um ein geeintes Europa niemals aufgegeben hat. Jedem auf dem europäischen Kontinent muß inzwischen klar geworden sein, daß auch in Großbritannien eine ähnliche Gruppe existiert, daß es auch in Großbritannien Leute gibt — und zwar einflußreiche Leute —, die energisch um den Anschluß ihres Landes an Europa kämpfen.

Wenn auch der Weg zum Gemeinsamen Markt im Augenblick versperrt ist, so gibt es auf anderen Gebieten immer noch viel, was für ein geeintes Europa und für Großbritannien in Europa getan werden kann. Um nur ein Beispiel zu nennen: über die technische Seite der multilateralen Atomstreitmacht kann man so viel diskutieren, wie man Lust hat, nicht aber über die politische. Politisch wäre sie der Anfang einer europäischen Verteidigungspolitik, einer Politik, die gleichzeitig europäisch und mit den Vereinigten Staaten eng verbunden wäre. Es wäre ein guter Anfang für England in Europa, wenn es sich einer solchen Politik anschließen würde.

Wie schon gesagt: es ist vielleicht nicht mehr viel Zeit und es ist nicht sicher, daß das, was heute noch getan werden kann, morgen noch möglich ist. Wir — die Sechs Länder — irren uns, wenn wir behaupten, England werde sich uns ganz von alleine anschließen, wenn wir nur unseren Weg erfolgreich fortsetzen. Großbritannien irrt sich, wenn es meinen sollte, der Gemeinsame Markt werde sich doch nicht mehr weiter entwickeln. Und wir irren uns alle, wenn wir glauben, daß wir immer noch alleine stehen können oder daß es außer der Integrierung Europas noch eine andere echte Lösung gibt. Aber vielleicht werden wir alle immer weiter das Falsche glauben, bis wir eines Tages aufwachen und feststellen müssen, daß es zu spät ist.

Europa ohne Großbritannien — oder Klein-europa, wenn man es so nennen will — wäre meines Erachtens nicht das richtige. Es könnte sogar auf die Dauer gesehen zu unerwarteten und ungünstigen Ergebnissen führen. Das heißt aber nicht, daß es unmöglich ist und nicht eintreten wird. Im Gegenteil, wenn die Dinge sich in der gleichen Richtung weiter entwickeln, wie sie jetzt zu laufen scheinen, ist es sogar wahrscheinlich, daß diese Lösung eintritt. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir energisch etwas unternehmen, sowohl auf dem europäischen Kontinent wie in Großbritannien. Ich fürchte, das klingt nicht sehr optimistisch — ich fürchte, ich bin auch wirklich nicht sehr optimistisch. Ein geeintes Europa — das heißt ein wirklich geeintes Europa mit Großbritannien und mit seinen Freunden von der EFTA — wäre ein Akt der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes. Aber wenn man in die Geschichte zurückblickt, muß man zugeben, daß Akte der Vernunft außerordentlich selten sind. Vernunft und gesunder Menschenverstand haben nur selten gesiegt. Nach dem Kriege, als ganz Europa in Trümmern lag, habe ich wirklich geglaubt, daß wir klüger aus Chaos und Zerstörung hervorgehen würden. Ob ich das heute noch glaube, weiß ich nicht.

Fussnoten

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Pietro Q u a r o n i, Dr. jur., geb. 3. Oktober 1898 in Rom. Von 1920 bis 1964 im italienischen diplomatischen Dienst, u. a. in Istanbul, Moskau und Kabul, 1943 Botschafter in Moskau, 1947 in Paris, 1958 in Bonn, 1961 in London. Seit August 1964 Präsident des Italienischen Rundfunks und Fernsehens. Veröffentlichungen u. a.: Diplomaten unter sich. Erinnerungen eines Botschafters, Frankfurt 1954; Diplomatengepäck, Frankfurt 1956, Die Stunde Europas, Frankfurt 1959; Politische Probleme der Gegenwart, Bonn 1960.