Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das „asiatische Wunder“ in der Krise Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im asiatisch-pazifischen Raum | APuZ 48/1998 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 48/1998 Artikel 1 Das „asiatische Wunder“ in der Krise Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im asiatisch-pazifischen Raum Japan und die Zukunft der ASEAN-Staaten Demokratisierung und die Rolle der Zivilgesellschaft in Südkorea, Taiwan und auf den Philippinen Religiöse Erneuerung in Südostasien Ihre Auswirkungen auf Säkularisierung und Demokratie Andere Werte und Handlungsrahmen in Ostasien Konsequenzen für Deutschland

Das „asiatische Wunder“ in der Krise Die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung im asiatisch-pazifischen Raum

Heinrich Kreft

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die meisten Länder Ostasiens haben in den vergangenen drei Jahrzehnten eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung erlebt, die in der Geschichte der Weltwirtschaft einmalig ist. Dieser Erfolg führte zu einer Diskussion über einen eigenständigen asiatischen Entwicklungsweg auf der Basis „asiatischer Werte“ und einer „asiatischen Demokratie“ -eine Diskussion, die im Juli 1997 ein jähes Ende fand, als Thailand von einer Währungskrise erfaßt wurde, die sich rasch zu einer Finanz-und Wirtschaftskrise ausweitete und nahezu ganz Ostasien erfaßte. Die wirtschaftlichen, innen-und außenpolitischen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen der Krise sind gewaltig. Sie führt nicht nur zum Aufbrechen bisher durch das Wirtschaftswachstum überdeckter ethnischer Konflikte, sondern auch zur Erhöhung zwischenstaatlicher Spannungen. Die Zukunft Ostasiens wird im wesentlichen von drei Akteuren bestimmt: den USA, Japan und China. Nur die USA und die maßgeblich von ihnen beeinflußten internationalen Finanzinstitutionen konnten das notwendige Krisenmanagement leisten. Die ostasiatische Wirtschaftssupermacht Japan hingegen steckt selbst in einer tiefen Krise. China ist durch seinen (bisherigen) Verzicht auf eine Währungsabwertung zum wichtigen Stabilitätsanker der Region geworden. Allerdings steht es selbst vor großen Reformproblemen, so daß es möglicherweise auch noch von der Krise erfaßt wird. Die ostasiatische Krise ist vor allem eine Krise der politischen Ökonomie des asiatischen Entwicklungswegs. Gelingt ihre Reformierung, vor allem durch eine grundlegende Demokratisierung, dürfte eine Fortsetzung der hohen Wirtschaftsdynamik langfristig gesichert sein. Die Erholung Ostasiens ist notwendig für die wirtschaftliche und politische Stabilität in der Region, was von globaler Bedeutung ist.

Obwohl das 21. Jahrhundert noch nicht einmal begonnen hat, war in den vergangenen Jahren immer wieder die Rede vom kommenden asiatisch-pazifischen Jahrhundert. Auch die große Mehrheit der Asienexperten ging davon aus, daß sich das beeindruckende ostasiatische Wirtschaftswachstum in einigen Ländern zwar abschwächen, aber prinzipiell fortsetzen würde Am Juli 1997 platzte mit dem Beginn der Währungskrise in Bangkok dieser Traum vom pazifischen Zeitalter. Ostasien ist seither der Schauplatz der größten Krise seit dem Ende des Kalten Krieges, die für einige die größte Bedrohung des Wohlstandes weltweit seit den Erdölpreiskrisen der siebziger Jahre oder gar seit der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren darstellt 2.

I. Das ostasiatische Wirtschaftswunder

Schaubild: Ostasien in Kennzahlen. Quellen: World Bank, World Development Report 1997; World Bank, World Development Indicators 1997; Asia Pacific Economics Group, Asia Pacific Profiles 1998 (Financial Times Finance Asia Pacific, Singapur 1998), Far Eastern Economic Review, 14. Mai 1998, S. 41.

Die meisten Länder im pazifischen Teil Asiens (Ostasien) mit den beiden Subregionen Nordostasien („Ferner Osten“) und Südostasien haben in den vergangenen Jahrzehnten eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung erlebt, die in der Geschichte der Weltwirtschaft einmalig ist. Hoffnungslos zurückgebliebene Entwicklungsländer entwickelten sich in kurzer Zeit dank hohen Wachstums auf der Basis fortlaufenden Struktur-wandels zu industriellen Schwellenländern, die zu ernsthaften Konkurrenten der etablierten Industrie-und Handelsstaaten wurden. Den Anfang machten die sogenannten „kleinen Tiger“ Nord-ostasiens(Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur), gefolgt von den „neuen Tigern“ Südostasiens (Thailand, Indonesien, Malaysia). Diese Länder sind seit Mitte der siebziger Jahre mit durchschnittlich jährlich sieben und seit Beginn der neunziger mit neun Prozent Wirtschaftswachstum deutlich schneller gewachsen als jede andere Ländergruppe der Welt. Ihnen gelang eine Vervielfachung ihres realen Pro-Kopf-Einkommens in Rekordtempo: Südkorea und Singapur um 700 Prozent zwischen 1965 und 1995, Taiwan und Hongkong im selben Zeitraum um 400 Prozent sowie Indonesien, Malaysia und Thailand um über 300 Prozent. In den achtziger Jahren wurden auch die südlichen Küstenregionen Chinas mit einer Bevölkerung von mehr als 250 Millionen Menschen von der Wirtschaftsdynamik Ostasiens erfaßt.

Angesichts dieser beeindruckenden Entwicklung wurde intensive Ursachenforschung betrieben, um aus dieser erfolgreichen nachholenden Entwicklung Lehren für andere Weltregionen zu ziehen. In ihrem 1993 vorgestellten Untersuchungsbericht „The East Asian Miracle“ kommt die Weltbank zu dem Ergebnis, daß die Menschen Ostasiens das Wunder bewirkt hätten einfach durch intensiveres Lernen, härteres Arbeiten und konsequenteres Sparen als die Menschen in anderen Weltregionen. Das Wirtschaftsmodell bestehe aus der simplen Anwendung orthodoxer westlicher Wirtschaftsprinzipien: außenwirtschaftliche Öffnung für Handel und Direktinvestitionen verbunden mit „good governance“ mit kleinen, ausgeglichenen staatlichen Haushalten und einer konservativen Geldpolitik als Grundlage für geringe Inflation und hohe Sparraten

Das Wachstum hat zu einem starken Urbanisierungsprozeß der einstigen Agrargesellschaften geführt. In Malaysia ist die landwirtschaftliche Beschäftigung auf 21 Prozent (1960: 63 Prozent), auf den Philippinen auf 46 Prozent (64 Prozent), in Indonesien auf 51 (75 Prozent) und in Thailand auf 57 Prozent (84 Prozent) zurückgegangen. Parallel dazu ist es zu einer starken „Durchkapitalisierung“ der Gesellschaften (Steigerung des Anteils der Lohnempfänger an der Gesamtbevölkerung) gekommen.

Die wirtschaftliche Entwicklung hat zu einem gewaltigen Rückgang der Armut geführt, der seinesgleichen in der Weltgeschichte sucht. Lebten Mitte der sechziger Jahre in Indonesien 60 Prozent der Bevölkerung (d. h. 60 der 100 Millionen) unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, sank der Anteil bis 1997 auf etwa 10 Prozent, d. h. auf etwa 20 der auf über 200 Millionen angewachsenen Bevölkerung. Ähnlich eindrucksvoll ist die Entwicklung in der VR China, wo die Zahl der Armen binnen 15 Jahren von knapp 300 auf unter 100 Millionen Menschen gesenkt werden konnte. Lediglich auf den Philippinen, in Myanmar (Birma) sowie in Indochina (Vietnam, Laos, Kambodscha) lag der Anteil der Armen an der Gesamtbevölkerung bei über 20 Prozent. Auch das Einkommensgefälle zwischen dem einkommensstärksten und dem einkommensschwächsten Fünftel der einzelnen ostasiatischen Gesellschaften ist -mit Ausnahme Malaysias und der Philippinen -deutlich geringer aus als in anderen Teilen der Welt, insbesondere Lateinamerika. Das relativ geringere Einkommensgefälle und die Einkommensstabilität dank sicherer Beschäftigungsverhältnisse und niedriger Inflation haben eine „städtische“ Mittelschicht entstehen lassen, die zur treibenden Kraft der Wirtschaftsdynamik und auch der gesellschaftlichen Transformation in Richtung Demokratisierung geworden ist.

II. Die ostasiatische Herausforderung

1. Dynamo der Weltwirtschaft Entfielen 1950 lediglich 17 Prozent des weltweit erwirtschafteten Sozialprodukts auf Asien, stieg dieser Anteil bis 1997 auf 40 Prozent. Ähnlich dramatisch entwickelte sich der Anteil der Region am Welthandel. Von 1990 bis 1994 flossen 50 Prozent des in Entwicklungsländer investierten Kapitals in Höhe von 104, 9 Milliarden Dollar allein in die Hochwachstumsländer Ostasiens.

Spätestens seit Mitte der achtziger Jahre sind im ostasiatisch-pazifischen Raum deutliche Integrationstendenzen zu einer neuen Weltwirtschaftsregion mit eigenständigen Konturen zu erkennen bei gleichzeitigen Regionalisierungs-und Globalisierungstendenzen, die sich gegenseitig verstärken. Für die meisten ostasiatischen Länder wurde der innerregionale Wirtschaftsaustausch zur stärksten einzelnen Wachstumsquelle, die überragende Bedeutung Nordamerikas als Absatzmarkt nahm seit Beginn der neunziger Jahre deutlich ab. Insbesondere die japanische Wirtschaft expandierte stark in den ostasiatischen Nachbarstaaten, so daß vielfach von einem Wiederaufleben einer von Japan geführten ostasiatischen Wohlstandssphäre mit friedlichen Mitteln die Rede war Es wurde zum Allgemeingut, daß Unternehmen, die sich weltweit behaupten wollten, in der Triade -in den drei großen Teilmärkten der Weltwirtschaft: Nordamerika, Europa und Ostasien -präsent sein müßten Die Bundesregierung reagierte auf die schwache Stellung der deutschen Wirtschaft in der Region 1993 durch die Verabschiedung eines „Asienkonzepts“, die führenden Verbände der deutschen Wirtschaft riefen im gleichen Jahr einen Asien-Pazifik-Ausschuß ins Leben. Die EU folgte 1994 mit einer eigenen Asicnstrategie, um diesen Rückstand aufzuholen. 2. „Asiatische Werte“ und „asiatische Demokratie“

Begründet durch diesen wirtschaftlichen Erfolg verbreitete sich in der Region die Überzeugung, daß sich die Zukunftszentren der Welt nach mehreren Jahrhunderten des westlichen Zwischen-spiels wieder nach Ostasien verlagern würden. Ausdruck dieses neuen Selbstbewußtseins wurde die Diskussion um „asiatische Werte“ und die Überlegenheit des asiatischen Wirtschafts-und Gesellschaftsmodells. Die Exponenten auf asiatischer Seite, der malaysische Premierminister Mohamad Mahathir und Singapurs früherer Regierungschef und jetzige „Senior Minister“ Lee Kuan Yew, reklamierten seit den achtziger Jahren ein durch wirtschaftliche Prosperität und Dynamik sowie politische Stabilität gekennzeichnetes alternatives asiatisches Zivilisationsmodell, das den bis dahin wirtschaftlich und politisch einzig erfolgreichen westlichen Demokratien nicht nur ebenbürtig, sondern -aufgrund abhanden gekommener wirtschaftlicher Dynamik und „dekadenter“ sozialer Auswüchse in den USA und Westeuropa -überlegen sei. Das Ensemble von Wertvorstellungen wie Zusammenhalt der Familie, Fleiß, hohes Bildungsethos, Sparsamkeit und vor allem Vorrang der Gemeinschaft vor der Freiheit des Individuums wurde als genuin asiatisch in Anspruch genommen und als ursächlich für hohes Wirtschaftswachstum und politische Stabilität in den zumeist autoritär regierten „Tigerstaaten“ angesehen. Das gelegentlich auftrumpfende Auftreten Lees und Mahathirs entsprang aber nicht nur diesem neuen Selbstbewußtsein, sondern mindestens in gleichem Maße einer defensiven ideologischen Abwehrhaltung gegenüber Forderungen nach mehr Demokratie und Pluralismus von Seiten des Westens, aber auch in Ostasien (Südkorea, Thailand) selbst.

Nach dem US-Politologen Clark D. Neher lassen sich für Ostasien fünf Spezifika diagnostizieren, die bis heute -je nach Land in unterschiedlicher Stärke -prägenden Einfluß auf Politik und Gesellschaft ausüben: wechselseitige Loyalitätsverhältnisse; eine stark personalisierte Herrschaft aufgrund eines Bedürfnisses nach charismatischer Führung; eine enge Verknüpfung von Macht und moralisch legitimierter Herrschaftsausübung; ein starker, keine autonomen Interessenorganisationen duldender Staat mit ausgeprägter Interventionsneigung und die Herrschaft einer dominanten Partei Klientelistische bzw. personalisierte Beziehungen prägen die japanische Demokratie ebenso wie die südkoreanische und taiwanesische. Korporatistische Strukturen lassen sich in allen Staaten finden. Fast überall scheint eine bestimmte Partei mehr oder weniger deutlich alle anderen zu dominieren. Allerdings stehen die ostasiatischen Gesellschaften unter einem enormen Modernisierungsdruck, von dem insbesondere diese „asiatischen Spezifika“ betroffen sind. In Japan mußte die Liberaldemokratische Partei (LDP) 1993 nach drei Jahrzehnten praktischer Alleinherrschaft der vereinigten Opposition weichen Sie konnte die Macht und ihre Vorherrschaft zwar inzwischen zurückgewinnen, dennoch hat die japanische Demokratie seit Beginn der neunziger Jahre einen Modernisierungsschub erlebt, der sich insbesondere durch höhere Anforderungen an Transparenz und Rechenschaftspflichtigkeit der Parteipolitik auszeichnet. Auch Taiwan und Südkorea haben sich inzwischen zu funktionierenden Demokratien entwickelt. Mit Kim Dae Jung, einem von den Militärdiktatoren seines Landes jahrzehntelang verfolgten Dissidenten, hat im Februar 1998 zum ersten Mal in der südkoreanischen Geschichte ein Kandidat der Opposition nach einem Wahlsieg das Amt des Präsidenten übernommen. Der Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie ist in Südkorea bemerkenswerterweise ohne größere Verwerfungen gelungen.

Trotz der nicht zu leugnenden Demokratisierung insbesondere in den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern läßt sich auch nicht bestreiten, daß politische Machtausübung in Asien nach wie vor einem hohen normativen Anspruch unterliegt. Die Modernisierung der letzten Jahre hat jedoch dazu geführt, daß in zunehmendem Maße öffentliche Kontrollinstanzen entstehen, die das traditionelle Asien nicht kannte und die das gesamte Verständnis von Macht dem Konkurrenzprinzip der Demokratie angleichen. Die sogenannte „asiatische Demokratie“ funktioniert nicht wesentlich anders als die westliche. Die aus westlicher Sicht als undemokratisch geltenden Seiten der asiatischen Kultur (u. a.der fehlende Respekt vor den individuellen Menschenrechten) stehen unter erheblichem Modernisierungsdruck

III. Die ostasiatische Krise

Die Krise in Ostasien, die Anfang Juli 1997 als Währungskrise in Thailand begann, sich zur Finanz-und Wirtschaftskrise ausweitete und dann nahezu ganz Ostasien erfaßte, hinterläßt tiefe Spuren in der Region. Die wirtschaftlichen, innen-und außenpolitischen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen sind gewaltig Die Krise ist sowohl eine fundamentale Krise des „asiatischen Systems“ angesichts der Herausforderungen der Globalisierung und Liberalisierung als auch die Folge gravierender mikroökonomischer Fehlentwicklungen mit makroökonomischen Konsequenzen. Die Krise ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Sie hat erhebliche ordnungspolitische Defizite aufgedeckt: mangelnde Rechtsstaatlichkeit, Korruption und Vetternwirtschaft, staatliche Eingriffe in die Märkte, Abschottung der Politik von der Gesellschaft, aber auch wachsende Umweltzerstörung und Wohlstandsgefälle. Zu den strukturellen Schwächen gehören auch schwach ausgeprägte „Corporate-governance“ -Strukturen (z. B. weitgehend fehlendes Rechnungs-und Prüfungswesen), mangelnde Transparenz hinsichtlich der Finanzlage der Unternehmen und in deren Beziehungen zu staatlichen Stellen, mangelnde Ordnungs-und Aufsichtsstrukturen im Finanzsektor, eine Tendenz zur Überschuldung und der viel zu hohe Fremdmittelanteil im Unternehmenssektor sowie die Tatsache, daß auch Finanzinstitute mit einem hohen Anteil an Problemkrediten ihre Geschäftstätigkeit fortsetzen konnten. Diese Strukturdefizite haben einerseits wesentlich zur Verschärfung der Krise beigetragen, und ihre Beseitigung ist wichtig für deren Lösung, andererseits existieren diese Probleme seit vielen Jahren, ohne dabei das Hochwachstum und den starken Anstieg des Lebensstandards der vergangenen dreißig Jahre beeinträchtigt oder gar verhindert zu haben.

Ausgelöst wurde die Krise durch eine Reihe von Ungleichgewichten, die in jüngerer Zeit entstanden sind, sowie durch zu stark am Dollar orientierte Wechselkurspolitiken. Die Ursachen für diese Ungleichgewichte gehen bis in das Jahr 1994 zurück, als China seine Währung um 40 Prozent abwertete und der japanische Yen zwischen Anfang 1995 und Ende 1996 25 Prozent seines Wertes gegenüber dem Dollar verlor. Südkorea und die Länder Südostasiens, deren Währungen durch die Beibehaltung der Kopplung an den Dollar aufgewertet wurden (auch gegenüber der DM und den mit ihr verbundenen Währungen), verloren ihre Wettbewerbsfähigkeit, was zu hohen Leistungsbilanzdefiziten führte. In Thailand betrug das Defizit 1996 fast acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dort kam es im Sommer 1997 zur Krise, als Zweifel an der Fortsetzung des Wirtschaftsbooms aufkamen. Was als Auslöser die Abwärtsspirale in Gang setzte, die nacheinander Indonesien, Malaysia und die Philippinen erfaßte, ist nicht eindeutig zu klären. Im Oktober 1997 griff die Finanzkrise auf Nordostasien über und erfaßte Hongkong, Südkorea und vorübergehend Taiwan.

Die rasche Ausdehnung der Krise in Ostasien ist auch eine Folge der in den vergangenen zwei Dekaden rapide gewachsenen Verflechtung der regionalen Volkswirtschaften vor allem durch japanisches Kapital (Japan ist Ostasiens größter Handelspartner und Investor) und auslandschinesische Netzwerke. 1. Wirtschaftliche Auswirkungen Die Auswirkungen der Krise auf die betroffenen Länder sind beträchtlich. Bis Ende 1997 verloren die Börsen der fünf am stärksten betroffenen Staaten drei Fünftel ihres Dollarwertes. Binnen sechs Monaten wurde Kapital in einer Größenordnung von 600 Milliarden Dollar vernichtet. Seitdem steckt das Bankensystem überall in Ostasien in einer tiefen Krise, die Immobilienmärkte kollabieren und überall schrumpft die Wirtschaft.

Lag das durchschnittliche Wachstum der ostasiatischen Volkswirtschaften außerhalb Chinas 1997 noch zwischen sechs und neun Prozent, so wurde in Prognosen für 1998 nur noch von null bis fünf Prozent ausgegangen. Südkoreas Wirtschaft ist im ersten Halbjahr 1998 um knapp vier Prozent geschrumpft -das schlechteste Wirtschaftsergebnis seit der Erfassung der ökonomischen Entwicklung des Landes im Jahre 1960. Indonesiens Bruttoinlandsprodukt ist im selben Zeitraum um über 12 Prozent zurückgegangen, weltweit der dramatischste Wirtschaftskollaps seit 50 Jahren. Für das gesamte Jahr wird ein Rückgang von 13 Prozent erwartet, der erste Rückgang überhaupt in Indonesien seit 1963. In der Auto-und Elektronikindustrie ist die Produktion in der ersten Hälfte des Jahres um 55 Prozent zurückgegangen, die der Bauindustrie um etwa 37 Prozent. Für Thailand erwartet der Internationale Währungsfonds (IWF) für 1998 eine Kontraktion der Wirtschaft von acht bis zehn Prozent (Rückgang des BIP). War Malaysias Wirtschaft im Jahr 1997 noch um stolze 7, 6 Prozent gewachsen, gerät das Land in diesem Jahr in die Rezession. Nach einem Rückgang des BIP im ersten Halbjahr um 4, 8 Prozent wird für 1998 ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um 2, 5 bis 6 Prozent befürchtet. Die Finanzturbulenzen schlagen inzwischen massiv auf die reale Wirtschaft durch. Zinsen und Importpreise sind explodiert. Der Absturz der Wechselkurse -80 Prozent bei Indonesiens Rupiah, 36 Prozent beim thailändischen Baht und 40 Prozent beim koreanischen Won -hat die bereits hohe Auslandsverschuldung in lokaler Währung dramatisch steigen lassen und Tausende von Firmen in die Zahlungsunfähigkeit getrieben. Ein Rekord an Firmenpleiten und ein wachsendes Heer von Arbeitslosen sind die Folge.

In den Krisenstaaten beträgt die im Boom aufgetürmte Verschuldung 230 Prozent des BIP. Faule Kredite, Kapitalflucht und abstürzende Börsenkurse haben das Fundament der Banken erodiert, die sich immer mehr als Brennpunkt der Krise erweisen. Thailand hat die Aufräumarbeiten in diesem Bereich bisher am weitesten vorangetrie7 ben. Über 50 Finanzierungsgesellschaften wurden liquidiert, mehrere Privatbanken in staatliche Obhut genommen. Die Beteiligungsgrenze für ausländische Investoren wurde von 25 auf 100 Prozent angehoben, allerdings zunächst nur für zehn Jahre. Solche Entwicklungen lassen Malaysias Premierminister Mahathir vor einer neuen Welle der Kolonisierung warnen

Die Exporte der Krisenländer sind trotz der starken Abwertungen vor allem wegen des vielfach hohen Importanteils an den Exportgütern nicht in erwartetem Umfang angewachsen. Aufgrund der andauernden Krise des Finanzsektors ist zudem die Möglichkeit der Aufnahme von Krediten erheblich erschwert worden („credit crunch“). Die Binnenwirtschaft leidet nachhaltig unter dem Kaufkraftmangel der Konsumenten.

Der IWF hat seit Beginn der Krise mit rund 21 Milliarden Dollar erhebliche Finanzmittel für die Krisenländer bereitgestellt, die sich noch deutlich erhöhen, wenn alle zur Unterstützung der IWF-Programme eingegangenen Verpflichtungen eingelöst werden (rd. 115 Milliarden US-Dollar). Gleichwohl reichen diese Beträge bei weitem nicht an die Höhe der Kapitalströme heran, die die Krise ausgelöst haben. Verordnete der IWF zu Beginn der Krise noch seine klassischen Anpassungsprogramme -strikte Ausgabendisziplin des Staates und hohe Zinsen zeigt er sich angesichts verheerender Konjunkturzahlen und zunehmender sozialer Auswirkungen inzwischen erheblich flexibler. Thailand und Indonesien konnten inzwischen größere Ausgabenprogramme auflegen, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und die sozialen Folgen der Krise abzufedern. 2. Politische Auswirkungen Die innenpolitischen Folgen in den Krisenstaaten und der gesamten südost-und ostasiatischen Region sind bereits gravierend. In Indonesien mußte Präsident Suharto nach 32 Jahren aufgrund massiven öffentlichen Drucks zurücktreten. Er hatte anfangs den Ernst der Lage verkannt und durch seine defensive und auf Verschleppung von wirtschaftlichen und politischen Reformen ausgerichtete Politik wesentlich zu seinem eigenen Rücktritt bzw. Sturz beigetragen. Sein Nachfolger Jusuf Habibie hat zwar unmittelbar nach Amtsantritt insbesondere im politischen Bereich mutig Reformen eingeleitet, die innenpolitische Lage bleibt aber schon aufgrund der katastrophalen Wirtschaftslage sehr instabil. In den noch jungen Demokratien Thailand, wo die Krise bereits im November 1997 zu einem Regierungswechsel führte, und Südkorea, wo der Oppositionskandidat Kim Dae Jung seinen Wahlsieg u. a. auch der Krise zu verdanken hat, ist die verfassungsmäßige Ordnung vorerst nicht in Gefahr. Allerdings schlagen die Währungsturbulenzen und die Finanzkrise erst jetzt voll auf die Realwirtschaft durch, so daß sich die Stabilität der demokratischen Institutionen erst noch erweisen muß. 3. Gesellschaftliche Auswirkungen In Ost-und Südostasien werden jedoch neben den unmittelbaren innenpolitischen Verwerfungen die mittel-bis langfristigen gesellschaftlichen Veränderungen noch folgenschwerer sein. Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Konvulsionen sind auch Zeiten tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Im gesamten asiatisch-pazifischen Raum gibt es zur Zeit Anzeichen von Xenophobie und übersteigertem Nationalismus, zumeist in der Form von Antiamerikanismus, da die USA als treibende Kraft hinter dem Internationalen Währungsfonds und seinen harten wirtschaftlichen und sozialen Auflagen gesehen werden. Die innenpolitischen Entwicklungen in der Region seit der Jahresmitte 1997 lassen den Ruf nach mehr Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit lauter werden In Thailand, Indonesien, Korea und anderen Staaten werden die alten Oligarchien für den allgemeinen Niedergang verantwortlich gemacht. Der jahrzehntelang bestehende stillschweigende Gesellschaftsvertrag -Korruption und Nepotismus hinzunehmen, solange die politischen Eliten für ein hohes Wirtschaftswachstum sorgen -existiert nicht mehr. In Thailand wurde bereits vor Ausbruch der Krise ein Verfassungsreformprozeß eingeleitet. Treibende Kraft waren dabei die in den letzten Jahrzehnten im Zuge der Industrialisierung neu entstandenen Mittelschichten, die die gesellschaftliche Dominanz der traditionellen Eliten, das heißt Bürokratie und Militär, zunehmend in Frage stellen. Die neue Verfassung wurde im September 1997 dank erheblichem öffentlichem Druck angenommen. In Indonesien war der durch die Krise verursachte vehemente wirtschaftliche und soziale Niedergang der Auslöser für den Ausbruch der seit längerem angestauten Unzufriedenheit mit der „Neuen Ordnung“ Suhartos. Ob sich Präsident Habibie als Mitglied des alten Establishments und die ihn stützenden Militärs lange werden halten können, dürfte nicht nur von ihren politischen Reformanstrengungen und der wirtschaftlichen Lage, sondern auch davon abhängen, wie schnell sich politische und personelle Alternativen herausbilden, die in der indonesischen Innenpolitik noch bis vor kurzem gänzlich undenkbar waren.

Die sozialen Folgen der Krise sind überall sichtbar. Zuerst hat sie jene Bevölkerungsgruppen erfaßt, deren Existenz am wenigsten gesichert war: Frauen, ausländische Arbeitnehmer aus den ärmeren Ländern und Beschäftigte in kleinen und mittleren Unternehmen ohne soziale Absicherung oder Arbeitsplatzgarantien. Auch Asiens Mittel-schicht, eine der Triebfedern des von der Krise abrupt beendeten Booms, steht vor ihrer rasanten Dezimierung. Rekordhohe Zinsen, steigende Preise, zunehmende Verschuldung und vor allem Arbeitslosigkeit sind die Ursachen. Die Kaufkraft der ehemaligen Aufsteiger ist drastisch gesunken. Viele sind wieder dort gelandet, wo sie zu Beginn des langen Booms angefangen hatten, oder fallen sogar in die Armut zurück. In Hongkong und Thailand sind die Immobilienpreise innerhalb kürzester Zeit so stark eingebrochen, daß für Hunderttausende von Menschen die verbleibende Kreditschuld nun größer ist als der Marktwert der erworbenen Wohnungen und Häuser.

Lag die durchschnittliche offizielle Arbeitslosigkeit in den betroffenen Ländern 1997 bei 4, 3 Prozent, dürfte sie sich bis 1999 verdoppeln. Durchschnittlich über neunzig Firmenpleiten täglich haben die Arbeitslosenzahl in Südkorea auf das Dreifache seit Ausbruch der Krise explodieren lassen. In Thailand, wo es bis zum vergangenen Jahr kaum Arbeitslosigkeit gab, werden bis Jahresende drei bis vier Millionen Arbeitslose erwartet In Indonesien stieg die Arbeitslosenzahl auf über 40 Millionen. Mittlerweile lebt wieder etwa die Hälfte von Indonesiens über 200 Millionen Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Zwanzig Millionen Kinder laufen Gefahr, von der Schule genommen zu werden. Ihren Eltern fehlt das Geld für die Bücher und die Schuluniform, die Kinder werden als Mitverdiener gebraucht. In Thailand sollen 300000 Kinder aus dem Schulsystem „verschwunden“ sein und verbotenerweise auf Reisfeldern oder in kleinen Fabriken arbeiten. Damit gerät mit der erfolgreichen Alphabetisierung eine wesentliche Errungenschaft der letzten Jahrzehnte in Gefahr, was sich zudem als schwere Hypothek für die Zukunft erweisen könnte, wenn für den nächsten Wirtschaftsaufschwung gut ausgebildete Facharbeiter benötigt werden

Bisher durch das Wirtschaftswachstum überdeckte ethnische (Indonesien, Malaysia) und religiöse Spannungen (Indonesien) brechen wieder auf. In Indonesien haben während der Unruhen im vergangenen Mai, die zum Sturz Suhartos führten, Tausende ethnischer Chinesen ihr Hab und Gut verloren, einige gar ihr Leben. 4. Außen-und sicherheitspolitische Auswirkungen Auch die außen-und sicherheitspolitischen Auswirkungen der Krise sind beachtlich, insbesondere die Folgen für die Beziehungen der nationalen Akteure untereinander und das geopolitische Gleichgewicht in Ost-und Südostasien insgesamt. Grundsätzlich führt das Ansteigen des wirtschaftlichen und sozialen Konfliktpotentials in nahezu allen Staaten der Region auch zu einer Zunahme der Gefahr zwischenstaatlicher Konflikte. Bedrohliche Szenarien, die nicht nur für Befürchtungen in der Region selbst, sondern auch in den USA und Europa stehen, werden allenthalben entworfen. Vom Südchinesischen Meer über Taiwan bis zur koreanischen Halbinsel gibt es eine ganze Reihe von Spannungsgebieten. Während sich die meisten Krisenstaaten gezwungen sehen, ihre Verteidigungsausgaben drastisch zu kürzen, wird die Großmacht China die Modernisierung der Volksbefreiungsarmee vorerst fortsetzen können. Die Sicherung der Rohstoffversorgung (u. a. Erdöl, Nahrungsmittel) wird mit wachsender Industrieproduktion und größerem Wohlstand für China immer wichtiger. In Korea ist der Zusammenbruch des Nordens mittelfristig unausweichlich. Ein durch die Finanz-und Wirtschaftskrise erheblich geschwächtes Südkorea ist jedoch heute noch weniger als zuvor in der Lage, den Kollaps des Nordens und die sich daran voraussichtlich anschließende Vereinigung finanziell zu bewältigen.

Die Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten -ASEAN -ist durch die Krise deutlich geschwächt Mit Indonesien steht ihr Schwergewicht und Föderator vor einer ungewissen politischen und wirtschaftlichen Zukunft. Vietnam und Laos verlassen den wirtschaftlichen Reformkurs, der sie stärker in die Gemeinschaft integriert hätte. Die Solidarität innerhalb der ASEAN hat bereits für alle Welt sichtbar ihre Grenzen erreicht. Das Projekt zur Schaffung einer Freihandelszone (AFTA) bis 2003 erscheint gefährdet. Die Rückkehr von Millionen Gastarbeitern und die Flucht von Zehntausenden von Indonesiern nach Malaysia (und Singapur) könnten sehr schnell zu zwischenstaatlichen Spannungen führen. Bestehende Territorialkonflikte zwischen den ASEAN-Staaten könnten wieder virulent werden.

Andererseits könnte mittelfristig ein Machtzuwachs und verstärkter Druck Chinas im Südchinesischen Meer (und auf dem südostasiatischen Festland) zu einer stärkeren Zusammenarbeit der ASEAN-Staaten führen. Thailand und die Philippinen haben inzwischen den Vorschlag einer aktiveren ASEAN eingebracht, die -wenn nötig -auch zu inneren Angelegenheiten einzelner Mitglieder Stellung nimmt -eine völlige Abkehr vom bisherigen Prinzip der Nichteinmischung.

IV. Die Schlüsselakteure für die Entwicklung Ostasiens

Die Zukunft Ostasiens wird im wesentlichen von drei Akteuren und deren Beziehungen untereinander bestimmt: den USA, Japan und China. 1. USA Die USA sind der wichtigste Faktor für die Entwicklung in Ostasien. Die Vereinigten Staaten unterschätzten die Krise anfänglich als lokales Ereignis. Folgerichtig beteiligten sie sich im Gegensatz zu Japan und China nicht mit einem bilateralen Beitrag am 17, 2 Milliarden Dollar IWF-Strukturanpassungsprogramm für Thailand. Dies änderte sich erst, als auch In 2 Milliarden Dollar IWF-Strukturanpassungsprogramm für Thailand. Dies änderte sich erst, als auch Indonesien und Südkorea nicht mehr ohne die Hilfe des IWF auskamen und die regionale Krise bedrohliche Folgen für die gesamte Weltwirtschaft annahm. In Thailand reagierte die öffentliche Meinung enttäuscht auf die anfängliche Zurückhaltung des alten Verbündeten USA. In Südkorea setzte die öffentliche Meinung die USA mit dem IWF und seinen harten und unpopulären wirtschaftlichen und sozialen Anpassungsmaßnahmen gleich. In Indonesien verfolgte Präsident Suharto durch seinen hinhaltenden Widerstand gegen die Auflagen des IWF unter anderem auch das Ziel, antiwestliche Ressentiments und Unterstützung für sein Regime zu mobilisieren. In ganz Ost-und Südostasien hatten Verschwörungstheo-rien Konjunktur, denen zu Folge die USA die neu heranwachsenden wirtschaftlichen Konkurrenten im westlichen Pazifik mit Hilfe von Devisenspekulanten wie George Soros ruinieren wollten.

Trotz des noch nicht absehbaren Endes der Krise, des kurzfristigen Prestigeverlusts und nationalistischer Gegenreaktionen in der Region werden die USA voraussichtlich mittelfristig zu den Gewinnern gehören. Sie profitieren von der gewachsenen Ungewißheit in der Region und der wieder zunehmenden Bedeutung des amerikanischen Marktes für die ostasiatischen Volkswirtschaften. Die konsequente Implementierung der IWF-Programme dürfte zu der von den USA seit langem angestrebten wirtschaftlichen Liberalisierung und politischen Öffnung beitragen. Darüber hinaus werden auch die dargelegten mittelfristigen Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in den Krisenländern tendenziell zu einer „Verwestlichung“ führen. Durch die maßgeblich von Washington mitbestimmte Politik des IWF -und das, wenn auch späte, direkte Engagement der Supermacht -wurde erneut die Unverzichtbarkeit der USA als Krisenmanager sowie politische und ökonomische Führungsmacht unter Beweis gestellt. Die Vorstellung, die Wirtschaftsmacht Japan oder gar andere aufstrebende Staaten in Ost-und Südostasien könnten allein oder gemeinsam das Krisenmanagement übernehmen, hat sich als unhaltbar erwiesen. 2. Japan Japans politische Stellung in der Region beruht vornehmlich auf seiner Wirtschaftskraft und der damit verbundenen -allerdings zumeist unausgesprochenen -Vorbildfunktion für die alten und neuen „Tigerstaaten“ 16. Japan hat jahrzehntelang vor allem durch seine massiven Direktinvestitionen, seine Entwicklungshilfe und durch seine Funktion als Exportmarkt zu der beeindruckenden wirtschaftlichen Entwicklung der „Tigerstaaten“ beigetragen. Wirtschaftlich seit langem eine Super-macht, fällt Japans politischer Status unter anderem aufgrund seiner unbereinigten Kriegsvergangenheit dagegen deutlich ab. Versuche, dem Land ein sichtbareres politisches Profil in der Region zu geben, wären sowohl in Japan selbst als auch in den von ihm im Zweiten Weltkrieg okkupierten Ländern auf große Widerstände gestoß*en . Aus diesem Grund wurden auch mögliche Emanzipationsbemühungen gegenüber den USA stets zugunsten einer Verstärkung der bilateralen Allianz hintangestellt.

Japan wurde im Laufe der Krise aufgrund seiner eigenen konjunkturellen und strukturellen Probleme selbst immer mehr Teil der wirtschaftlichen Turbulenzen als Teil ihrer Lösung. Der Glanz des „Modells Japan“ mit seiner charakteristischen engen Verbindung zwischen Politik, Bürokratie und Großunternehmen ist nicht nur im Land der aufgehenden Sonne selbst verblaßt, sondern vor allem auch in Korea definitiv gescheitert. Südostasien, das sich in seiner Wirtschaftspolitik ebenfalls an dem großen Nachbarn orientierte, sieht sich gezwungen, die eigenen Volkswirtschaften nach Rezepten des IWF zu liberalisieren und zu öffnen. Aufgrund seines wirtschaftlichen Gewichts und des hohen Verflechtungsgrads mit den Volkswirtschaften der Region kommt der Überwindung der Strukturprobleme Japans weltwirtschaftliche Bedeutung zu. Japans Anteil am Außenhandel mit den Krisenländern ist doppelt so hoch wie der der USA oder der EU. Es gibt allerdings erst seit Juni d. J. -aufgrund massiven Drucks der USA -Anzeichen dafür, daß die politische Führung des Landes bereit ist, die notwendigen tiefgreifenden Reformen zügig einzuleiten. Der Rücktritt Premierminister Hashimotos nach der Niederlage seiner Partei bei den Oberhauswahlen am 12. Juli könnte allerdings zu einer erneuten Verzögerung der Reformen führen. Seinem Nachfolger Obuchi bleibt nicht viel Zeit, das Abrutschen der japanischen Wirtschaft in die Rezession abzuwenden. Bleiben die dringend gebotenen Reformen aus, könnte Japan für lange Zeit der zwar wohlhabende, aber kränkelnde alte Mann Ostasiens bleiben und an wirtschaftlichem und politischem Einfluß gegenüber den USA und auch China verlieren. Andererseits verfügt das Land als reiches Industrie-und größtes Gläubigerland der Welt (über 200 Mrd. Dollar Devisenreserven;

eine Billion Dollar Nettoauslandsvermögen) über potentiell große Selbstheilungskräfte, so daß es politisch und erst recht als Wirtschaftsfaktor nicht vorschnell abgeschrieben werden sollte. 3. China Die Großmacht China hat durch den bisherigen Verzicht auf eine Abwertung seiner Währung die Rolle eines Stabilitätsankers übernommen und damit in der Region, aber auch international an Statur und Einfluß gewonnen. Die Abwertung des Yuan/Renminbi würde die Währungen der Krisen-länder erneut unter erheblichen Druck bringen und vermutlich eine weitere wirtschaftlich ruinöse Abwertungsspirale in weiten Teilen Ost-und Süd-ostasiens zur Folge haben. Darüber hinaus hat sich China auch bilateral an der IWF-Hilfe für Thailand beteiligt. Diese Leistungen werden sowohl in der Region als auch von den USA honoriert, zumal die Volksrepublik mit ihrer verantwortungsvollen Währungspolitik eine deutliche Schwächung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit in Kauf genommen hat. In Südkorea, Indonesien, Thailand und anderen südostasiatischen Staaten wird die chinesische Währungspolitik als wertvolle Hilfe bei der Bewältigung der Krise angesehen, durch die sich das Reich der Mitte zukünftig noch mehr Gehör für seine Anliegen in anderen Fragen der internationalen Politik verschaffen wird Für die USA ist der chinesische Verzicht auf eine Abwertung hochwillkommen, da diese zu einem weiteren Anwachsen des amerikanischen Handelsdefizits mit China führen würde, was insbesondere vor den bevorstehenden Kongreßwahlen im November innenpolitisch brisant wäre. Allerdings muß auch aus ökonomischer Sicht bezweifelt werden, daß China durch eine Abwertung und die sich daran anschließende Abwertung anderer Währungen viel zu gewinnen hätte.

Aus Sicht des Westens ist die Einbeziehung Chinas als verantwortungsbewußter Akteur in das internationale System zu begrüßen Angesichts der wirtschaftlichen und politischen Schwäche Indonesiens, Südkoreas und Japans wird Chinas Rolle als wichtiger Partner und zugleich Widerpart der USA in Ostasien immer deutlicher. Ob China diese Positionsgewinne festigen oder weiter ausbauen kann, hängt im wesentlichen davon ab, ob es der Führung in Peking gelingt, die gewaltigen internen Probleme zu lösen. China ist trotz des beeindruckenden Wirtschaftswachstums bis heute ein armes Entwicklungsland. Es leidet -neben seinen durch eine ineffiziente sozialistische Verwaltungswirtschaft verursachten Problemen, wie unrentable und personell überbesetzte Staatsbetriebe und Behörden -im Prinzip an den gleichen Defiziten wie die Krisenländer, das heißt vor allem an einem überschuldeten, institutionell schwachen Finanzsystem und wachsender Korruption. Noch ist nicht auszuschließen, daß die Asienkrise China ebenso hart treffen wird wie Thailand, Indonesien und Südkorea Ein Erfolg der Wirtschaftsreformen ist in hohem Maße wünschenswert, denn ihr Mißerfolg hätte voraussichtlich noch erheblich gravierendere Folgen für die wirtschaftliche und politische Stabilität der Region und damit für die Weltwirtschaft und die internationale Sicherheit als die derzeitige Krise.

V. Fazit und Perspektiven

Die ostasiatische Krise ist vor allem eine Krise der politischen Ökonomie des asiatischen Entwicklungswegs. Gelingt deren grundlegende Reformierung, dürfte eine Fortsetzung der hohen Wirtschaftsdynamik langfristig gesichert sein. Die Ingredienzien des bisherigen Erfolgs -hohe Sparraten, hohe Bildungsinvestitionen, relativ egalitäre Einkommensverteilung, niedrige Steuern und Exportorientierung -sind nach wie vor vorhanden Die Krise hat deutlich gemacht, daß vor dem Hintergrund der Globalisierung der Weltwirtschaft eine tiefere Marktintegration, eine rigorose Markttransparenz und effizientes Management nicht nur auf der staatlichen, sondern vor allem auch auf der Unternehmensebene nötig sind.

Das Wirtschaftswunder der vergangenen drei Dekaden war kein Mythos, sondern Realität. Zerstört wurde durch die aktuelle Krise aber der Mythos der Überlegenheit autoritärer Entwicklungsstaaten gegenüber Demokratien. Das Hoch-wachstum der Vergangenheit ist nicht wegen, sondern trotz der autoritären politischen und gesellschaftlichen Strukturen erzielt worden. Der Zusammenhang zwischen stabiler Demokratie und nachhaltiger Entwicklung gilt auch für Ostasien. Der steigende Bildungsgrad und die zunehmende Ausdifferenzierung seiner Gesellschaften machen die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und politischer Partizipation immer dringlicher. Die Reformerfolge von Chuan Leekpai in Thailand und Kim Dae Jung in Südkorea machen deutlich, daß demokratische und verantwortliche Regierungen auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit eine wichtige Vorbedingung für die nachhaltige Erholung Ostasiens sind Diese Erholung ist notwendig, um die politische und wirtschaftliche Stabilität der Region zu sichern, was aufgrund des inzwischen erreichten Gewichts Ostasiens in der Welt von globaler Bedeutung ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Werner Draguhn (Hrsg.), Das Asiatisch-Pazifische Jahrhundert. Mythos -Bedrohung -Chance? Mitteilungen des Instituts für Asienkunde 292, Hamburg 1998. Der Sammelband enthält die Mitte 1997 überarbeiteten Beiträge einer Tagung mit der deutschen Wirtschaft vom November 1996.

  2. Vgl. u. a. What to do about Asia (cover story), in: Business Week vom 26. Januar 1998, S. 14-23.

  3. So die Diagnose des renommierten Nationalökonomen Gunnar Myrdal in seinem weltbekannten Werk „Asian Drama“.

  4. Vgl. World Bank, The East Asian Miracle. Economic Growth and Public Policy, Oxford 1993. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt die Asiatische Entwicklungsbank in ihrer Studie „Emerging Asia: Changes and Challenges", Manila 1997.

  5. Vgl. Heinrich Kreft, Japans Verflechtung mit Ost-und Südostasien, in: Außenpolitik. (1996) 1, S. 71-81.

  6. Vgl. Kenichi Omae, Triad Power, New York 1985.

  7. Vgl. Clark D. Neher, Asian Style Democracy, in: Asian Survey, 34 (1994) 11. S. 940-961.

  8. Vgl. Heinrich Kreft. Der innenpolitische Reformprozeß in Japan, in: Verfassung und Recht in Übersee, (1996) 4, S. 453-464.

  9. Vgl. Gunter Schubert, Das ostasiatische Wirtschaftswunder und die Frage der Demokratie: Modernisierung ohne Verwestlichung?, in: Werner Draguhn/Günter Schucher (Hrsg.), Das neue Selbstbewußtsein in Asien: eine Herausforderung?, Mitteilungen des Instituts für Asienkunde 257, Hamburg 1995, S. 28-42.

  10. Zunächst wurde von vielen Beobachtern nur ein „Stottern des Wachstumsmotors“ konstatiert, so z. B. in: Capital. „Kleine Tiger mit Schluckauf“ vom August 1997, S. 87-97.

  11. Vgl. Premier Mahathir auf der Suche nach Sündenbökken, in: Handelsblatt vom 28. /29. August 1998, S. 11.

  12. Diesbezüglich eher pessimistisch sind Paul Dibb/David D. Hale/Peter Prince, The Strategie Implications of Asia’s Economic Crisis, in: Survival, 40 (1998) 2, S. 17.

  13. Vgl. Markus Gärtner, Der Reichtum der Rolex-Klasse schmilzt. Die Wirtschaftskrise bringt auch das Ende der Mittelschicht, in: Handelsblatt vom 12. August 1998, S. 10.

  14. Vgl. Erhard Haubold, Arme in Asien zahlen schrecklichen Preis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juli 1998, S. 9.

  15. Dieses ist auch die Einschätzung ostasiatischer Führungskräfte in einer Umfrage der Far Eastern Economic Review (27. August 1998, S. 32). 95 Prozent waren der Meinung, daß ASEAN in der Krise nicht aktiv genug gewesen ist.

  16. Im Januar 1997 sondierte Premierminister Ryutaro Hashimoto die Möglichkeit regelmäßiger bilateraler politischer Konsultationen mit den ASEAN-Staaten, ohne die Einbeziehung anderer Dialogpartner wie beim ASEAN Regional Forum (ARF). Die Reaktionen waren eher zurückhaltend.

  17. „China has now credit, which it never had in this part of the world“, so Tharnthong Thongsanad, stellvertretende Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im thailändischen Parlament.

  18. Vgl. Heinrich Kreft, China im Konzert der Großmächte, in: Internationale Politik, (1997) 6, S. 35-40.

  19. Vgl. Nicholas R. Lardy, China and the Asian Contagion, in: Foreign Affairs, (Juli/Aug. 1998), S. 78-88.

  20. Auch Steven Radelet, Jeffrey Sachs, Asia’s Remergence, in: Foreign Affairs, (Nov. /Dez. 1997), S. 44-59, äußern sich optimistisch über die eigentlich heilsamen Wirkungen der Krise, haben aber offensichtlich die Schwere der Auswirkungen unterschätzt.

  21. Vgl. Shalendra D. Sharmna, Asia’s Economic Crisis and the IMF, in: Survival, 40 (1998) 2, S. 27-52.

Weitere Inhalte

Heinrich Kreft, Dr. phil.. M. A., B. A. (USA), geb. 1958; Studium der Politologie, Geschichte, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie am Juniata College, Huntingdon, Pa. (USA), an der Universität Münster und am Institut d'Etudes Politiques, Sorbonne Nouvelle (Paris); seit 1985 im diplomatischen Dienst; seit 1996 im Planungsstab des Auswärtigen Amts; Lehrbeauftragter für internationale Politik an der Universität GH Siegen. Zahlreiche Veröffentlichungen über außen-und entwicklungspolitische Themen, Lateinamerika und Asien; zuletzt: Deregulierung der japanischen Wirtschaft -mehr als ein Schlagwort? Der schwierige Reformprozeß in Japan, in: Manfred Pohl (Hrsg.), Japan 1996/97. Politik und Wirtschaft, Hamburg 1997; Lösung der offenen koreanischen Frage nach deutschem Vorbild?, in: Außenpolitik, (. 1998) 1; Japan und die ostasiatische Wirtschaftskrise, in: Manfred Pohl (Hrsg.), Japan 1997/98. Politik und Wirtschaft, Hamburg 1998.