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Von Versailles nach Potsdam Deutsche Frage und internationales System | APuZ 28/1995 | bpb.de

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APuZ 28/1995 Von Versailles nach Potsdam Deutsche Frage und internationales System Zwischen Krieg und Frieden Die Potsdamer Konferenz 1945 Die Besatzungspolitik der Alliierten in Deutschland 1945-1949 „Preußen im Westen“. Großbritannien, die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen 1946 und die Wiedergeburt der Demokratie in Deutschland

Von Versailles nach Potsdam Deutsche Frage und internationales System

Hans-Jürgen Schröder

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten geschaffene Versailler Friedensordnung hatte zahlreiche Strukturdefekte: Das bolschewistische Rußland blieb von vornherein ausgegrenzt, den weltwirtschaftlichen Zusammenhängen wurde nicht Rechnung getragen und die neue Weltmacht USA hatte sich aus den sicherheitspolitischen Bindungen zu Europa zurückgezogen. Die Deutschland betreffenden Bestimmungen hatten überdies einen permanenten Antagonismus zwischen den Siegermächten und den Deutschen geschaffen. Das deutsche Revisionsbegehren richtete sich allerdings nicht ausschließlich gegen den Versailler Vertrag, sondern auch gegen die demokratische Ordnung in Deutschland. Die strukturell angelegte Labilität des internationalen Systems wurde durch die Weltwirtschaftskrise noch verschärft. Dies hat die aggressive Politik Hitlers wesentlich erleichtert. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die Deutschen ungeachtet der Bedingungen des Potsdamer Abkommens die Möglichkeit zu einem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg. Allerdings war aus der historischen Rückschau die Ausgangslage trotz sehr viel größerer Verluste ungleich günstiger als nach 1918/19: Die Akzeptanz der Demokratie, die amerikanische Stabilisierungspolitik und die Westintegration des westdeutschen Teilstaates haben schließlich sogar die Überwindung der deutschen Teilung und die Etablierung der Bundesrepublik als „Zentralmacht Europas im europäischen Staatenverbund“ ermöglicht.

Versailles und Potsdam sind für viele Deutsche bis heute Synonyme für deutsche Niederlagen, Demütigungen, wirtschaftliche und territoriale Verluste sowie internationale Bevormundung durch die Siegermächte. Diese Urteile sind aus der Perspektive der Zeitgenossen verständlich. Allerdings haben die negativen Elemente der in Versailles und Potsdam getroffenen Vereinbarungen ein derart großes Eigengewicht erhalten, daß sie den Blick für die Entwicklungsmöglichkeiten deutscher Politik zumindest partiell verstellt haben. Sowohl der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 als auch das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 haben Deutschland erstaunliche wirtschaftliche und politische Zukunftsperspektiven offengehalten.

Nach beiden Weltkriegen erhielt Deutschland die Chancen eines Wiederaufstiegs zur europäischen Großmacht. Die sich wandelnden Konstellationen internationaler Politik, die konjunkturellen und strukturellen Veränderungen der Weltwirtschaft sowie die innenpolitischen Veränderungen innerhalb Deutschlands sind in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Warum hat die Weimarer Republik diese Zukunftschancen nicht genutzt oder nicht nutzen können? Welches sind die Gründe dafür, daß es nach der bedingungslosen Kapitulation vom 8. Mai 1945 dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter ungleich schwierigeren Startbedingungen zu einem deutschen Wiederaufstieg und zu einer Integration der Bundesrepublik in das Konzert der westlichen Demokratien kam?

Die Versailler Friedensordnung

Bei der Interpretation der zwischenstaatlichen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg sind vor allem drei Faktoren zu berücksichtigen, die dem internationalen System eine neue Qualität verliehen haben: 1.der Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Welt-macht, 2.der Ost-West-Gegensatz und 3. die wachsende Bedeutung ökonomischer Faktoren für die Außenpolitik der Staaten.

Als die Siegermächte des Ersten Weltkrieges in Versailles über eine Friedensordnung entschieden, wurden diese politischen und wirtschaftlichen Tatsachen allerdings nur unzureichend berücksichtigt. So wurde das bolschewistische Rußland von vornherein ausgegrenzt. Die Vertreter der Haupt-siegermächte waren überdies mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen nach Paris gekommen, wie ein europäischer Frieden zu bewerkstelligen sei.

Der Kriegseintritt der USA im April 1917 hat den Weltkrieg zugunsten der Westmächte entschieden. Es war zu erwarten, daß sich damit auch die amerikanischen Kriegs-und Friedensziele durchsetzen würden. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte es bereits vor dem Kriegseintritt der USA als selbstverständlich bezeichnet, daß Washington an der Gestaltung der Nachkriegsordnung maßgeblich beteiligt werden müsse. Die Washingtoner Ordnungsvorstellungen hat er wiederholt öffentlich verkündet, am prägnantesten in seinen sogenannten 14 Punkten vom Januar 1918. Dieser Entwurf einer neuen Weltordnung machte amerikanische Grundsätze zur Grundlage der künftigen Organisation des Staatensystems: Freiheit des Handels, Freiheit der Meere, Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Gründung eines Völkerbundes waren Kernpunkte der anvisierten liberalen Weltordnung. Um das französische Sicherheitsbedürfnis wenigstens teilweise zu befriedigen, hat Wilson dann in Versailles von seinem Programm Abstriche gemacht.

Die Versailler Friedensordnung verfolgte aus der Perspektive der Siegermächte insbesondere das Ziel, jede wirtschaftliche und politische Expansion Deutschlands so weit einzudämmen, daß eine deutsche Hegemonialstellung in Zentraleuropa dauerhaft verhindert werden konnte. Eine Kombination von politischen, militärischen, wirtschaftlichen und insbesondere auch territorialen Maßnahmen sollte diese Eindämmung Deutschlands verwirklichen. Dazu gehörte auch die Gründung neuer Staaten in Zentral-und Südosteuropa, die als Barriere, als „Cordon Sanitaire“, gleichermaßen gegen deutsche Ambitionen und bolschewistische Revolutionierungsbemühungen dienen sollte. Der Friedensvertrag enthielt in seinen 440 Artikeln für Deutschland schwerwiegende Bestimmungen. So mußte das Reich umfangreiche Gebiets-verluste hinnehmen: Nordschleswig, Eupen-Malmedy, Elsaß-Lothringen, Posen, Westpreußen, Teile Ostpreußens, Hinterpommern und Oberschlesien, Danzig, das Memelgebiet und die Kolonien. Überdies sah der Friedensvertrag eine zeitweise Besetzung eines Teiles des Reichsgebietes vor. Außerdem wurde Deutschland eine weitgehende Entwaffnung und eine Begrenzung der Streitkräfte auferlegt. Schließlich wurden Deutschland Reparationsleistungen in zunächst unbestimmter Höhe aufgezwungen. Gerechtfertigt wurden diese Reparationen unter anderem dadurch, daß Deutschland in Artikel 231 die Alleinschuld für den Krieg angelastet wurde.

Die materielle Basis des Reiches hatte sich dramatisch verschlechtert. Deutschland verlor 13 Prozent seines Vorkriegsterritoriums, 10 Prozent seiner Bevölkerung, 15 Prozent der landwirtschaftlichen Anbaufläche, 75 Prozent seiner Eisenerzvorkommen, 68 Prozent der Zinkerze, 26 Prozent der Kohleförderung; hinzu kam eine Verminderung der Produktionskapazitäten von Roheisen um 44 Prozent und von Stahl um 38 Prozent.

Die Revision des Versailler Vertrages als Axiom deutscher Politik

Die Wirkungen der Versailler Vertragsbestimmungen in Deutschland waren verheerend. Die genannten, objektiv meßbaren Faktoren wurden durch die subjektiven Einschätzungen und Empfindlichkeiten enorm verstärkt. Diese hatten auch deshalb ein so großes Gewicht, weil die Mehrheit der Bevölkerung auf den Ausgang des Krieges nicht hinreichend vorbereitet war. Teile der Führungsschichten waren nicht bereit, die Niederlage zu akzeptieren. Die Legende, die deutschen Truppen seien „im Felde unbesiegt“ geblieben, nur ein „Dolchstoß“ aus der Heimat habe den Waffenstillstand provoziert, tat ein übriges. Hinzu kam die in Deutschland verbreitete Hoffnung, das liberale Friedensprogramm des amerikanischen Präsidenten garantiere einen milden Frieden. Auch hier klafften Erwartungen und Realitäten weit auseinander.

Am 28. Juni 1919 wurde der Friedensvertrag von Außenminister Hermann Müller und seinem Kabinettskollegen Johannes Bell in Paris unterzeichnet. Das Kabinett Bauer hatte sich damit dem Druck der Siegermächte gebeugt. Den zuvor unternommenen Versuch, die Unterzeichnung mit dem Vorbehalt zu verknüpfen, daß damit keine Anerkennung der deutschen Kriegsschuld verbunden sei, hatten die Siegermächte mit der Androhung militärischer Zwangsmaßnahmen zurückgewiesen. Kurz zuvor war das Kabinett Scheidemann an der Frage der Vertragsunterzeichnung auseinandergebrochen. Am 12. Mai 1919 hatte der Sozialdemokrat Scheidemann unter dem Beifall der Nationalversammlung erklärt: „Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?“

Damit war der Tenor vorgegeben, der in den zwanziger und dreißiger Jahren die politischen Diskussionen in Deutschland prägte. Das verdeutlichen bereits die unmittelbaren Reaktionen der deutschen Presse, als sie sich im Sommer mit der Frage auseinandersetzte, ob es zur Unterzeichnung eine Alternative gebe. Hierzu fielen die Antworten unterschiedlich aus, die Verurteilung des „Gewaltfriedens“ war allerdings einhellig. Der Berliner Lokal-Anzeiger sprach vom „Mordvertrag von Versailles“, der zu einem „schweigsamen, heiligen Haß nach außen“ verpflichte Die Münchner Neuesten Nachrichten räumten zwar ein, daß es „zwecklos und überaus gefährlich“ gewesen wäre, „die deutschen Unterschriften noch länger zu verweigern“. Man könne zwar „unsere Hand nötigen, das Dokument zu unterschreiben“, aber man könne „unser Gehirn“ nicht zwingen, „das Unerfüllbare für erfüllbar zu halten“. Daher müsse die Unterzeichnung des Friedensvertrages „der erste Schritt zu seiner Revision sein“ Das Zentrumsorgan Germania machte deutlich, daß man „angesichts der schweren Friedensbedingungen keine Werbeartikel für die Unterzeichnung“ habe schreiben können. Deutschland habe lediglich die Möglichkeit gehabt, „zwischen zwei Übeln das geringere zu wählen“. In „nationalistischen“ Kreisen werde man dies „nicht begreifen können oder nicht begreifen wollen“. Die Zeitung prophezeite, es werde künftig noch häufiger als bisher von „Feigheit“ und „Verrat“ die Rede sein’ .

Auch die linksliberale Frankfurter Zeitung vertrat die Auffassung, daß es zunächst zur Unterzeichnung „des uns gewaltsam aufgezwungenen Frie-dens“ keine Alternative gebe, denn nur auf diese Weise könne man „Deutschland vor dem völligen Untergange“ retten. Aber die Revision wurde als unumgänglich angesehen. „Wären wir nicht so felsenfest davon überzeugt, daß dieser Friedensvertrag in nicht allzu ferner Zukunft wieder abgeändert werden wird, so würde uns der Entschluß, die Unterzeichnung trotz aller schwerwiegenden moralischen und überaus ernsten wirtschaftlichen Bedenken mit schärfsten Worten von der Regierung zu fordern, noch viel schwerer fallen, ja unmöglich sein.“

Auch der sozialdemokratische. Vorwärts strich die Zwangslage Deutschlands heraus: „Wir unterzeichnen wie ein Mann, dem ein Erpresser mit vorgehaltenem Revolver einen Wechsel zur Unterschrift vorlegt. Es hat gar keinen Sinn für diesen Mann, sich erst davon zu überzeugen, ob dieser Wechsel über Millionen, Milliarden oder Trillionen lautet, wenn er weiß, daß er für die bescheidenste Einwendung gegen die Höhe der Erpressung über den Haufen geschossen wird.“ Der „erpresserische Zwang“ mache die deutsche Unterschrift von vornherein für die Entente wertlos. Nur so lange habe sie Bedeutung, „als die Alliierten ungeschwächt die Macht ausüben können, die notwendig ist, um diese Mißgeburt der Friedensidee lebendig zu erhalten“. Der „sogenannte Friedensvertrag“ sei nicht mehr als ein „Fetzen Papier“. „Wir werden es stets ablehnen, in diesem Frieden ein unbedingtes Gesetz, eine unerschütterliche Grundlage einer neuen Völkergemeinschaft zu sehen. Im Gegenteil, in der Sekunde der Unterzeichnung beginnt für uns der Kampf gegen diesen Frieden, der Kampf mit allen Mitteln.“

Diese publizistischen Stellungnahmen verdeutlichen das breite Spektrum der deutschen Ablehnungsfront gegen den Versailler Vertrag. Ganz abgesehen davon, daß keine Regierung eine derartige gemeinsame Grundorientierung der deutschen Innenpolitik hätte ignorieren können, herrschte auch innerhalb der Führungseliten von Politik und Wirtschaft Einigkeit darüber, daß der Versailler Vertrag für Deutschland nicht akzeptabel war und daher so schnell wie möglich verändert werden mußte. Die politische Aufklärungsarbeit der Regierung unterstreicht dies „Revision von Versailles“ wurde zum Axiom deutscher Politik. Formen, Intensität und Prioritäten in den Teilzielen zur Revision waren einem Wandel unterworfen -die Grundtendenz der Revision blieb davon unberührt

Für die Weimarer Republik hat es sich als fatal erwiesen, daß sie die formale Verantwortung für den Waffenstillstand und die mit dem Versailler Vertrag dem Deutschen Reich auferlegten Lasten übernehmen mußte. Von der republikfeindlichen Agitation von rechts und der extremen Linken wurde ihr daher in einer vergröberten Propaganda die Gesamtverantwortung angelastet. Weimar sollte mit Versailles vermengt werden. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt zu einer umfassenden Deutung des Revisionsbegriffs. Vor allem die Rechte suchte den Eindruck zu erwecken, daß sich die Revision nicht nur auf den Bereich der Außenpolitik und vor allem auf die Bestimmungen des Versailler Vertrages beschränken dürfe, sondern sich auch gegen die Republik selbst richten müsse als jenes „System“, das Versailles angeblich erst ermöglicht hätte. Kampf gegen Versailles und Kampf gegen die Weimarer Republik wurden in dieser grobschlächtigen Agitation gleichgesetzt. Weimarer Republik und Versailler Vertrag wurden gleichsam nur als vorübergehende Erscheinungen gesehen. Mit der Verwirklichung der Revision von Versailles wäre dann auch die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik überflüssig. Die faktische Entwicklung hat diesen umfassenden, auch gegen die innere demokratische Ordnung gerichteten Revisionsbegriff in dramatischer Weise bestätigt.

Das Ende der französischen Vorherrschaft in Europa

In den ersten Jahren der Republik standen nicht nur die deutschen Revisionsforderungen gegen Versailles im Vordergrund; es ging zunächst vor allem darum, französische Revisionsbegehren abzuwenden. Die französische Politik versuchte Anfang der zwanziger Jahre, das in Versailles nicht erreichte Maß an Sicherheit nachzuholen. Da sich die alliierten Regierungen für den Fall der Nichterfüllung ihrer Reparationsforderungen Sanktionsmaßnahmen vorbehalten hatten, glaubte Paris, hier den Hebel ansetzen zu können. DieseZwangspolitik hat in der Ruhrbesetzung des Jahres 1923 dann ihren sichtbaren Höhepunkt gefunden. Die Demonstration französischer Machtpolitik erwies sich für die Regierung in Paris mittel-und langfristig jedoch als kontraproduktiv Passiver Widerstand, verschärfte wirtschaftliche Schwierigkeiten, Beschleunigung der Inflation und politisches Chaos waren die Folgen.

Die von der Ruhrbesetzung ausgehenden internationalen Erschütterungen haben das Engagement der angelsächsischen Mächte und vor allem der USA beschleunigt und schließlich zu einer Stabilisierungspolitik verdichtet London und Washington waren nicht bereit, die Etablierung einer französischen Hegemonie in und über Deutschland zu akzeptieren, wenn sie über das im Versailler Vertrag konzedierte Maß hinausging. Ergebnis war der Dawes-Plan, der eine Regelung der Reparationsfrage brachte. Damit war den Deutschen, den Siegermächten und insbesondere ausländischen Investoren eine international abgesicherte Kalkulationsgrundlage gegeben, die im Deutschen Reich wirtschaftliche und finanzielle Konsolidierungsmaßnahmen ermöglichte. Das Ende der Hyperinflation und die Stabilisierung der Mark sind hierfür eindrucksvolle Belege.

Mit dem finanzpolitischen Engagement der USA wurden die Möglichkeiten französischer Zwangs-politik mittels militärischer Intervention auf absehbare Zeit obsolet. Der amerikanische Historiker Stephen Schuker hat daher die internationalen Implikationen des Dawes-Plans treffend als „The End of French Predominance in Europe“ bewertet Für Paris waren die Chancen zu einer Revision des Versailler Vertrages im französischen Sinne mithin ausgereizt. Damit waren für Frankreich die Verteidigung des Status quo und der Zwang zu internationaler Kooperation zu alternativlosen Eckpfeilern seiner Sicherheitspolitik geworden. Für die deutsche Politik hatten sich die Möglichkeiten zur Revision dann entscheidend verbessert, wenn die Reichsregierung bereit war, durch Verständigung mit Paris dem französischen Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen. Diese Strategie kennzeichnet die deutsche Politik in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre; sie ist eng mit dem Namen Stresemann verknüpft.

Revision durch Kooperation?

Gustav Stresemann, der von 1924 bis zu seinem Tod im Jahre 1929 als Chef des Auswärtigen Amtes die deutsche Außen-und Revisionspolitik geprägt hat, ist aus der Perspektive nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder als großer Europäer und als Verständigungspolitiker gefeiert worden. Das ist richtig und falsch zugleich Stresemann hat in erster Linie deutsche Interessen verfolgt. Aber er hat zugleich versucht, diese in europäischer bzw. westeuropäischer Kooperation durchzusetzen. Sein Kooperationsansatz ist also nicht als Bekenntnis zum Status quo zu verstehen. Internationale Entspannung und wirtschaftliche Stabilisierung wurden vielmehr zur Grundlage deutscher Revisionspolitik.

Die Stresemannsche Verständigungspolitik manifestierte sich zunächst im Vertragswerk von Locarno vom Oktober 1925, in dem Deutschland durch eine Garantie der deutsch-französischen und deutsch-belgischen Grenzen dem französischen Sicherheitsbedürfnis entgegenkam. Locarno hatte aber auch revisionspolitische Implikationen. So wurden die Grenzen des Deutschen Reiches mit der Tschechoslowakei und mit Polen faktisch zu Grenzen zweiter Klasse herabgestuft. Ermöglicht wurde dies durch einen von Berlin ausgesprochenen Gewaltverzicht. Wichtiger noch war die Tatsache, daß mit den Verträgen einhergehende Vertrauensbildungen zwischen Deutschland und den Westmächten erreicht werden konnten. Der soge-nannte „Geist von Locarno“ war eine wichtige Voraussetzung für das von Stresemann verfolgte Konzept, „politische Fragen auf wirtschaftlichem Wege zu lösen“ „Ich glaube, die Benutzung weltwirtschaftlicher Zusammenhänge, um mit dem einzigen, womit wir noch Großmacht sind, mit unserer Wirtschaftsmacht, Außenpolitik zu machen, ist die Aufgabe, die heute jeder Außenminister zu lösen hätte“, rechtfertigte Stresemann seine Locarnopolitik Im Einsatz der Wirtschaft als Instrument der Außenpolitik fiel der Handelspolitik zentrale Bedeutung zu. Aus binnenwirtschaftlichen Gründen war Deutschland auf eine expansive Außenwirtschaftspolitik angewiesen. Dieser strukturelle Zusammenhang wurde durch die Reparationsverpflichtungen noch verstärkt. Die deutschen Führungseliten haben hierin aber nicht primär ein Element der Schwäche gesehen. Vielmehr sollte und konnte die Handelspolitik als Vehikel der Außenpolitik eingesetzt werden. Die Reichsregierung könne schon deshalb unter keinen Umständen auf eine aktive Handelspolitik verzichten, so lautete die interne Argumentation, weil nach dem „Verlust unserer militärischen Macht in der Handelspolitik wegen der Größe des deutschen Marktes das einzige wirksame Machtmittel liegt, das uns für die politische Gestaltung zur Verfügung steht“ Die große Bedeutung der deutschen Handelspolitik manifestierte sich nicht zuletzt in den Handelsverträgen mit den ehemaligen Kriegsgegnern USA (1923), Großbritannien (1924) und Frankreich (1927). Diese Verträge markierten wichtige Etappen auf dem Wege zur Wiedererlangung außen-politischer Gleichberechtigung. Von deutscher Seite wurde deren „große allgemeinpolitische Bedeutung“ unterstrichen

Unter politischen Aspekten war für Berlin ein wirtschaftlicher Ausgleich auch deshalb von Vorteil, weil sich hier die Möglichkeit bot, Verständigungspolitik und Revisionspolitik geschickt miteinander zu verknüpfen. Während die Regierung in Berlin mit Paris zu einer bilateralen Übereinkunft kam, benutzte sie die Handelspolitik, die ost-und südosteuropäischen Staaten schrittweise wirtschaftlich an Deutschland zu binden, um das französische, gegen Deutschland gerichtete Sicherheitssystem in Ost-und Südosteuropa aufzulockern.

Stresemann sah sich in bezug auf die innenpolitische Verankerung seiner Außenpolitik jedoch einem Dilemma gegenüber. Seine Revisionsstrategie war so subtil angelegt, daß sie sich für eine Erläuterung vor einer breiten Öffentlichkeit kaum eignete. Vor allem der Einsatz des Wirtschaftspotentials als Instrument der Außenpolitik vermochte die beabsichtigten Effekte nur dann voll zu nutzen, wenn man jegliche politische Absicht leugnete. Das gleiche gilt für die subtile Verknüpfung von Verständigungs-und Revisionspolitik. Eine _______________ e derartige Kombination konnte nur dann erfolgreich sein, wenn man sie nicht lautstark kommentierte. Bei einer öffentlichen Erläuterung bestand die Gefahr, daß diese Strategie unterminiert werden würde.

Stresemanns Konzept, das sich auf eine enge Anlehnung an die USA und auf das deutsche Wirtschaftspotential stützte, hat unbestreitbare Erfolge aufzuweisen: Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund als ständiges Ratsmitglied, vorzeitige Räumung des Rheinlands bis spätestens Ende Juni 1930, Ablösung des Dawes-Plans durch die im Young-Plan modifizierte Reparationsregelung. Hier wird deutlich, daß Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg „aktuell seine Großmachtstellung verloren, sie potentiell aber behalten“ hatte. „In längerfristiger Perspektive besaß das Deutsche Reich in Europa nach 1919 nicht weniger, sondern erheblich mehr Chancen zum Aufbau einer , Mitteleuropa‘-Stellung, um die es im Weltkrieg gekämpft hatte, ja zur Gewinnung einer vollen Hegemonie in Europa, und zwar anders als 1914 auch ohne Krieg.“ Ungeachtet der in der Ära Stresemann erzielten Erfolge geriet die deutsche Außenpolitik allerdings seit Ende der zwanziger Jahre unter verstärkten innenpolitischen Druck nationalistischer Kreise, die auf eine beschleunigte Revision drängten und bereit waren, auch außenpolitische Konfrontationen zu riskieren. Insofern markierte Stresemanns Tod im September 1929 auch das Ende der Locarno-Ära

Die Agitation gegen die „Kriegsschuldlüge“ bildete einen Kristallisationspunkt der gegen eine Verständigungspolitik gerichteten Opposition. Die Reparationsregelungen wurden überdies als Belege für die angebliche „Versklavung“ Deutschlands herangezogen Das Volksbegehren gegen den Young-Plan fand zwar keine Mehrheit, kennzeichnete aber die innenpolitische Stimmungslage Wichtige Bestimmungen des Versailler Vertrages erwiesen sich somit noch nach einem Jahrzehnt vor allem in ihren psychologischen Wirkungen als schwere Belastungen der deutschen Demokratie.

Reichskanzler Heinrich Brüning hat dann zu Beginn der dreißiger Jahre die Revisionspolitik intensiviert und dabei eine Konfrontation mit Frankreich riskiert. Er hat im übrigen mit der Verschärfung der Deflationspolitik die Unfähigkeit Deutschlands demonstriert, den Reparationsverpflichtungen nachkommen zu können. Die Konferenz von Lausanne brachte schließlich im Juli 1932 die faktische Ablösung der Reparationen. Dieser revisionspolitische Erfolg, der sich erst nach Brünings Sturz einstellte, hatte allerdings einen hohen Preis: Verelendung der Bevölkerung und politische Radikalisierung wurden zu Wegbereitern der „Machtergreifung“ Hitlers.

Kriegsvorbereitung unter dem Deckmantel der Revision

Die internationalen Rahmenbedingungen, die weltweiten ökonomischen Erschütterungen und die mangelnde Entschlossenheit der Regierungen in London und Paris, der seit 1930 beschleunigten revisionspolitischen Dynamik angemessen zu begegnen, haben den außenpolitischen Handlungsspielraum Hitlers fraglos begünstigt. Er hat die Entwicklung vor 1933 für seine aggressiven Ziele in mehrfacher Weise brutal ausgenutzt. Hitler hat seine Kriegsvorbereitungen zunächst vor allem dadurch verschleiert, daß er Kontinuität vortäuschte: Der Kampf gegen Versailles wurde benutzt zur Vorbereitung eines neuen Krieges. Innenpolitisch konnte der Diktator an das in der Bevölkerung weit verbreitete Versailles-Trauma anknüpfen. Die grobschlächtige nationalsozialistische Propaganda zielte dabei gleichermaßen auf die Revision des Versailler Vertrages wie auf das sogenannte „System“ von Weimar, das für den Versailler Vertrag und dessen angebliche „Erfüllung“ verantwortlich gemacht wurde.

Es ist unbestritten, daß die 1918/19 von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges maßgeblich gestalteten internationalen Konstellationen der Hitler-Diktatur ihre wirtschaftliche, ideologische und militärische Aggressivität wesentlich erleichtert haben. Die Auflösung der in Versailles geschaffenen Friedensordnung hatte allerdings bereits vor der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ eingesetzt. Insofern stellt sich die Frage nach dem Zäsurcharakter des Jahres 1933 für die internationale Politik.

Die Auflösung der internationalen Kooperation ist im Versailler Vertrag strukturell angelegt. Der Vertrag war, vereinfacht formuliert, zu streng und zu milde zugleich. Er war insofern zu milde, als er die Durchsetzung der Versailler Vertragsbestimmungen nicht auf Dauer erzwingen konnte und insgesamt die deutsche Politik in die Lage versetzte, den Wiederaufstieg zur Großmacht ohne Einbindung in eine europäische Friedensordnung zu realisieren und den Zweiten Weltkrieg zu entfesseln. Er war insofern zu streng, als er zwischen den Trägern des Versailler Vertrages und den meisten Deutschen einen dauerhaften Antagonismus schuf und damit die innenpolitische Verankerung einer Ausgleichspolitik nahezu unmöglich machte. Die Vertragsunterzeichnung durch die politisch Verantwortlichen der jungen Republik wurde für die Weimarer Republik zu einer schweren innenpolitischen Hypothek.

Diese strukturellen Defizite wurden verstärkt durch die Appeasementpolitik Großbritanniens und auch Frankreichs, die ökonomischen und politischen Erschütterungen der Weltwirtschaftskrise sowie die unterschiedlichen konjunkturellen Entwicklungen der Volkswirtschaften. Die amerikanische Regierung unter Franklin D. Roosevelt hat zwar im Unterschied zu Großbritannien und Frankreich keine Appeasementpolitik betrieben. Der Versuch der USA, der nationalsozialistischen Expansion durch eine Strategie der ökonomischen Eindämmung entgegenzutreten, hat sich jedoch als wirkungslos erwiesen.

Die Hinweise auf die Fragilität der internationalen Rahmenbedingungen in den zwanziger und dreißiger Jahren und auf das Fehlen einer wirksamen Gegenpolitik dürfen allerdings nicht dazu verleiten, von der deutschen Verantwortung für die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges abzulenken. So ist es bedenklich, unter Hinweis auf die Entwicklung der zwanziger und dreißiger Jahre, von einer „Hauptverantwortung“ Hitler-Deutschlands für den Krieg zu sprechen Dadurch könnte der falsche Eindruck von einer wie auch immer zu bewer-tenden Mitverantwortung anderer Mächte entstehen. Gerade angesichts wiederholt unternommener Versuche einer Relativierung der deutschen Verantwortung für die Entfesselung des Krieges im September 1939 muß eine terminologische Klarheit immer wieder eingefordert werden. Die Erfahrungen mit dem Versailler Vertrag und seinen Folgen sollten überdies dazu anregen, Fehlentwicklungen im internationalen System frühzeitig ausfindig zu machen.

Von Casablanca nach Potsdam

Die Erfahrungen mit dem Versailler Vertragssystem haben die Nachkriegsplanungen der Mächte der Anti-Hitler-Koalition mitgeprägt Am deutlichsten manifestierte sich dies in der von Roosevelt und Churchill auf der Konferenz von Casablanca verkündeten Formel der „bedingungslosen Kapitulation“ Deutschlands, Italiens und Japans. Zum einen sollte dieses Kriegsziel das Mißtrauen Stalins vor einem Separatfrieden der Westmächte mit Deutschland zerstreuen. Insbesondere aber sollte den Deutschen ihre totale Niederlage demonstriert werden, um einer Neuauflage der „Dolchstoßlegende“ entgegenzuwirken. Überdies schien die bedingungslose Kapitulation Deutschlands die besten Voraussetzungen zur Realisierung einer vom amerikanischen Präsidenten anvisierten liberal-kapitalistischen Weltordnung zu bieten, deren Schwerpunkte Roosevelt und Churchill in der Atlantik-Charta vom August 1941 verkündet hatten. Je näher der militärische Sieg über Hitler-Deutschland kam, desto intensiver beschäftigten sich vor allem die amerikanischen Planungsstäbe mit der Frage, wie das besiegte Deutschland in die anvisierte liberale Nachkriegsordnung eingebunden werden könnte. Daher rückte der Erhalt von Teilen des deutschen Wirtschaftspotentials als wichtiges Element der Weltwirtschaft in den Vordergrund. Der von Finanzminister Henry Morgenthau im September 1944 ventilierte Plan einer drastischen Verminderung des deutschen Industriepotentials als Mittel zur Verhinderung eines dritten Weltkrieges stand völlig außerhalb der langfristigen Überlegungen vor allem des State Departments. Der Morgenthau-Plan ist daher auch Episode geblieben. Wenn die Morgenthau-Legendein Deutschland noch immer Beachtung findet, dann ist dies sicher auch mit dem Versailles-Trauma zu erklären. Die Bedeutungslosigkeit des Morgenthau-Plans für die realhistorische Entwicklung ist in den amerikanischen Akten klar belegt und manifestiert sich nicht zuletzt in den Überlegungen der angelsächsischen Mächte zur Reparationsfrage.

Wie in Versailles war auch in Potsdam die Reparationsfrage von zentraler Bedeutung. Zwar wurde im Potsdamer Abkommen die Fiktion der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands im Prinzip aufrechterhalten. Der mühsam erreichte Reparationskompromiß erwies sich jedoch als Sprengsatz der deutschen Einheit. Im Prinzip sollte jede Besatzungsmacht ihre Reparationsforderungen aus der eigenen Besatzungszone befriedigen. Die Reparationspolitik der beiden angelsächsischen Mächte war im wesentlichen durch drei Motive bestimmt: die negativen Erfahrungen mit den Reparationsbestimmungen des Versailler Vertrages, die nicht unbegründete Furcht vor allem Washingtons, übermäßige Reparationsbelastungen müßten in letzter Konsequenz vom amerikanischen Steuerzahler ausgeglichen werden, sowie die Abwehr sowjetischer Mitsprache über die Wirtschaft der Westzonen. Insbesondere wurde auch jede Form einer Beteiligung Stalins am Schicksal des Ruhrgebiets abgeblockt.

Damit verblieb den Westdeutschen ein ökonomisches Potential, das ihnen den wirtschaftlichen Wiederaufbau ermöglichte, der später zum Vehikel auch des politischen Aufstiegs und der außen-politischen Gleichberechtigung wurde. Überspitzt formuliert: Die Abwehr sowjetischer Mitsprache-postulate über ganz Deutschland hat zwar die Teilung Deutschlands provoziert, zugleich aber auch die Voraussetzungen für die Errichtung eines an westlichen Ordnungsmustern orientierten demokratischen Teilstaates mit ermöglicht. In der Stunde Null, in der die „Großen Drei“ in Potsdam über das deutsche Schicksal entschieden, war dies natürlich noch nicht zu erkennen.

Westdeutscher Wiederaufstieg und Potsdam-Trauma

Potsdam ist von den Deutschen ähnlich wie Versailles als nationale Katastrophe empfunden worden. Die Vereinbarungen von Potsdam gingen in ihren unmittelbaren Auswirkungen auf die Deut-sehen über die Bestimmungen des Versailler Vertrages weit hinaus: Besetzung und Teilung des Landes, Verlust staatlicher Souveränität. In dieser vergleichenden Perspektive könnte man zu dem Schluß gelangen, die Chancen eines deutschen Wiederaufstiegs wären nach dem Ersten Weltkrieg ungleich größer gewesen als nach der totalen Kapitulation im Jahre 1945: Der Versailler Vertrag sei „kein karthagischer Friede“ gewesen, „der nur Leichen und rauchende Trümmer übrigließ“, so Michael Stürmer Mitte der achtziger Jahre. „ 1918/19 geschah Bitteres für die Deutschen. Aber verglichen mit den Alpträumen Bismarcks und gemessen an der Drohung der Weltrevolution, vollends aber im Maßstab der Zerstörung des Reiches 1944/45, war das Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz ein Kinderspiel.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Startbedingungen für einen deutschen Wiederaufstieg in der Tat zunächst wesentlich ungünstiger -aus der Perspektive des Jahres 1945 hoffnungslos. Mit der Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die vier Hauptsiegermächte am 5. Juni war die staatliche Kontinuität zerstört. „Was ist Deutschland?“, fragte der Hamburger Senator Otto Borgner noch im Juni 1947 auf der Münchner Ministerpräsidentenkonferenz. Die Antwort war deprimierend: „Deutschland ist heute nicht mehr als ein historisch geographischer Begriff, nichts anderes als ein einziges grausiges Trümmerfeld, dem nichts mehr gemeinsam ist als die Not.“

Aus der Perspektive am Ende des 20. Jahrhunderts bleibt gleichwohl festzuhalten, daß sowohl der Versailler Vertrag als auch das Potsdamer Abkommen der deutschen Politik mittel-und langfristig erstaunliche Entfaltungsmöglichkeiten belassen haben. Nach beiden Weltkriegen hat die deutsche Politik die Möglichkeiten eines deutschen Wieder-aufstiegs konsequent genutzt. Dabei standen die enge Anlehnung an die USA und der Einsatz des Wirtschaftspotentials als Instrument der Außenpolitik jeweils im Vordergrund.

Allerdings haben sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland diejenigen Kräfte durchgesetzt, die auf eine Zerstörung der parlamentarischen Demokratie zielten, den internationalen Status quo einseitig und radikal zugunsten Deutschlands verändern wollten und sich damit außerhalb der westlichen Demokratien stellten, die den Krieg durch friedlichen Interessenausgleich der Staaten zu verhindern suchten. Die Ergebnisse sind bekannt.

Nach 1945 ist der deutsche Wiederaufstieg dann von einigen derjenigen Faktoren befreit worden, die die Entwicklung der ersten Republik innen-und außenpolitisch in dramatischer Weise belastet hatten. Die westdeutsche Politik und die westlichen Alliierten haben hierzu wichtige Beiträge geleistet. An vorderster Stelle ist die Akzeptanz der Demokratie in Deutschland zu nennen. Die Mehrzahl der Deutschen hat die durch die westlichen Alliierten zunächst verordneten demokratischen Rahmenbedingungen schnell zu ihrer eigenen Sache gemacht. Diese Entwicklung ist durch die bereits im Jahre 1945 einsetzende pragmatische amerikanische Rekonstruktionspolitik wesentlich begünstigt worden Der seit 1947 kontinuierliche wirtschaftliche Wiederaufstieg Westdeutschlands hat der westdeutschen Demokratie eine beeindruckende Stabilität verliehen. Das als Marshallplan bekanntgewordene European Recovery Program hat hier modellhafte Starthilfe gegeben.

Hinzu kommt das Einfühlungsvermögen der beiden angelsächsischen Mächte, was die direkte Kontrolle in und über Deutschland anbelangte. Mit der Westintegration Westdeutschlands wurde ein Konzept entwickelt, das in subtiler Weise die innen-und außenpolitische Emanzipation der Bundesrepublik miteinander zu verknüpfen verstand. Die Deutschen erhielten mit dem schrittweisen Abbau sichtbarer Kontrollen das Gefühl zunehmender Souveränität, ohne daß sie von den westlichen Alliierten in die völlige außenpolitische Unabhängigkeit entlassen wurden. Vielen Deutschen wurde das erst bewußt, als Deutschland im Zuge der deutschen Vereinigung 1990 wirklich souverän wurde. Dieses Konzept der doppelten Eindämmung durch Westintegration, das die Sicherheit vor der Sowjetunion mit der Sicherheit vor Deutschland verknüpfte, ist von den Amerikanern auch als Gegenmodell gegen die Versailler Kontrollmechanismen definiert und gegenüber französischen Einwänden gegen einen westdeutschen Wiederaufstieg auch als dem Versailler Vertrag überlegen bezeichnet worden Selbstverständlich ist die Westintegration der Bundesrepublik durch die internationalen Rahmenbedingungen beschleunigt worden. Der Kalte Krieg hat die Solidarität der Westdeutschen mit den Westmächten enorm verstärkt und umgekehrt auch in Washington die Einbeziehung Westdeutschlands in die Containmentpolitik gegenüber der Sowjetunion als alternativlos erscheinen lassen. Für die Regierung in Washington war klar, daß dies auch für ein wiedervereintes Deutschland gelten müsse. Washington wollte Deutschland nicht in die Bindungslosigkeit entlassen. Es gelte, die Deutschen daran zu hindern, ein drittes Mal das zu tun, was sie 1914 und 1939 getan hätten, 'erklärte Außenminister John Foster Dulles noch im Februar 1958 vor dem National Security Council. Hier hätten die USA und die UdSSR etwas gemeinsam

Die mögliche Gefahr eines Wiederauflebens des Direktoriums der Siegermächte, das über das Schicksal der Deutschen ohne die Deutschen entscheiden könnte, hatte Adenauer wiederholt beunruhigt: „Bismarck hat von seinem Alptraum der Koalitionen gegen Deutschland gesprochen. Ich habe auch meinen Alptraum. Er heißt Potsdam“, erklärte der Kanzler 1953 in einem Interview. „Die Gefahr einer gemeinsamen Politik der Groß-mächte zu Lasten Deutschlands besteht seit 1945 und hat auch nach Gründung der Bundesrepublik weiterbestanden. Die Außenpolitik der Bundesregierung war von jeher darauf gerichtet, aus dieser Gefahrenzone herauszukommen. Denn Deutschland darf nicht zwischen die Mühlsteine geraten. Dann ist es verloren.“

Die Abwehr einer solchen Potsdam-Gefahr hatte für Adenauer große Priorität. Die Teilung Deutschlands und die territorialen Verluste waren demgegenüber zunächst nachrangig. Mit der politischen Formel „Wiedervereinigung durch Westintegration“ war Adenauer ein geschickter politischer Schachzug gelungen. Er selbst und die Westdeutschen konnten sich zum Ziel der Wiedervereinigung bekennen, ohne sich zeitlich festlegen zu müssen und ohne mit den Kosten der Einheit belastet zu sein. Hinzu kam, daß Adenauers Bekenntnis zur Westintegration sich nicht als geographisches Phänomen erschöpfte, sondern auch mit dem Bekenntnis zur westlichen Demokratie verbunden war.

Adenauer als Garant der Westorientierung

Der westdeutsche Wiederaufstieg ist auch von persönlichen Faktoren geprägt. Konrad Adenauer steht für eine Politik, die den deutschen Handlungsspielraum durch enge Kooperation mit den Westmächten zu realisieren suchte und auch verwirklicht hat. Zugleich galt er in London und vor allem in Washington als Garant für Westbindung und Demokratie. Adenauers Bereitschaft zur Selbstbeschränkung deutscher Großmachtambitionen hatte sich bewährt. Wiederholt hat der erste Bundeskanzler unter Hinweis auf die jüngste deutsche Geschichte auch die eigenen Parteifreunde davor gewarnt, sich angesichts des westdeutschen Wiederaufstiegs zu machtpolitischer Rhetorik verleiten zu lassen. So wünschte er nach dem spektakulären Wahlsieg von 1957 „dem deutschen Volke und unserer Partei“ eine „respektable Bescheidenheit“, daß „wir nicht immer den , dicken Willi 4 spielen“. Dies sei „schädlich“. Der Zusammenbruch liege erst zwölf Jahre zurück. „Die Leute haben noch nichts vergessen.“

Adenauers Warnung vor nationalistischem Gehabe war berechtigt und schon deshalb nicht aus der Luft gegriffen, weil die nicht gelöste Deutsche Frage von nationalistischen Demagogen politisch mißbraucht werden konnte. Eugen Gerstenmaier hat auf diese Gefahr unter Bezug auf die deutsche Reaktion auf Versailles hingewiesen. Es sei eine Frage, „ob Adolf Hitler an die Macht gekommen wäre ohne die Kriegsschuldlüge“. Sicher sei, „daß die Kriegsschuldlüge von Versailles Adolf Hitler den Start erleichtert hat; denn damit ist ein moralischer Stachel hineingekommen in die rasante Entwicklung des deutschen Nationalismus, der dann zum 30. Januar 1933 geführt“ habe. „Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß dieser Stachel Wiedervereinigung.“ Der Tatbestand der Teilung Deutschlands werde „jetzt genauso wie damals die Kriegsschuldlüge zur Entfesselung des Nationalismus benutzt“. Dieser „Mißbrauch der Wiedervereinigung in Form eines falschen Nationalismus mit dem Schicksal eines großen Teiles des deutschen Volkes, diese Schweinerei muß endlich ein Ende haben!“ Die hier artikulierte Furcht vor einer nationalistischen Instrumentalisierung der Wiedervereinigungsfrage, die sich auch in den amerikanischen und britischen Dokumenten niedergeschlagen hat, erwies sich als unbegründet. Wenn derartige nationalistische Töne in der Bundesrepublik keine wirksame innenpolitische Resonanz fanden, dann war dies vor allem ein Verdienst Konrad Adenauers. Der erste Bundeskanzler hat es meisterhaft verstanden, den Wunsch der Deutschen nach Wiedervereinigung und die von ihm als alternativlos gesehene Westintegration auf einen innenpolitisch gemeinsamen Nenner zu bringen.

Prinzipiell hat auch Adenauer die Gefährdung der Demokratie in der Bundesrepublik durch nationalistische Rückfälle durchaus gesehen. Sicherheit vor außenpolitischer Bedrohung und Stabilität im Innern waren mithin untrennbar miteinander verbunden. In Adenauers Westintegrationspolitik, so Andreas Hillgruber Ende der achtziger Jahre, „spiegelt sich in zweifachem Sinne ein Primat der Sicherheit: Sicherheit der Bundesrepublik vor einer Expansion der Sowjetunion nach Westen und Sicherheit der Deutschen gleichsam vor sich selbst, vor einem von ihm trotz aller gegenteiligen Zeit-stimmen in Deutschland früher oder später doch befürchteten Rückfall der Deutschen in den Nationalismus“

Unlängst hat Rainer Barzel daran erinnert, daß „Adenauers Sicherheitspolitik zuerst eine Politik war, die dem deutschen Volk Sicherheit vor sich selbst“ geben sollte: „Adenauer war zutiefst von all dem betroffen, was er erlebt hatte. Es war sein erstes Ziel, irgendeine Form von Totalitarismus in Deutschland nie wieder entstehen zu lassen. Deshalb war für ihn Innen-und Außenpolitik eine Einheit. Wenn er jetzt hier gehört hätte, Westbindung sei zuerst eine außenpolitische Tatsache, dann hätte er darüber gelacht. Für ihn war Westbindung der Ausdruck, daß wir zu dieser Ordnung der Freiheit gehören.“

Der Versailler Vertrag sollte als so deklarierter Friedensvertrag den Frieden auf Dauer sichern. Spätestens nach zwei Jahrzehnten war diese Friedensordnung obsolet. Das als Potsdamer Abkommen bezeichnete Potsdamer Protokoll begriff sich als Provisorium, in dem wiederholt auf einen abzuschließenden Friedensvertrag Bezug genommen wurde, zu dem es niemals kam. Dieses Provisorium hat für nahezu ein halbes Jahrhundert in Europa den Frieden bewahrt. Auf dem Hintergrund dieser Friedenserfahrung und unter veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen erhielten die Deutschen durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag die Chance zur Überwindung der in Potsdam bestätigten deutschen Teilung und schließlich sogar zur Etablierung der Bundesrepublik als „Zentralmacht Europas im europäischen Staatenverbund“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eduard Heilfron (Hrsg.), Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, Bd. 4, Berlin o. J. (1919), S. 2646.

  2. Vossische Zeitung, 24. Juni 1919, Morgen-Ausgabe.

  3. Zitiert nach Burkhard Asmuss, Republik ohne Chance? Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923, Berlin 1994, S. 165.

  4. Zitiert ebd., S. 154ff.

  5. Zitiert ebd., S. 174ff.

  6. Zitiert ebd., S. 182ff.

  7. Zitiert ebd., S. 190ff.

  8. Vgl. Klaus W. Wippermann, Politische Propaganda und staatsbürgerliche Bildung. Die Reichszentrale für Heimat-dienst in der Weimarer Republik, Bonn 1976, bes. S. 111 ff.

  9. Zu den im folgenden nicht belegten Details der Weimarer Außenpolitik vgl. Peter Krüger, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985.

  10. Vgl. ausführlicher Michael Salewski, Das Weimarer Revisionismussyndrom, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2/80, S. 14-25.

  11. Vgl. Klaus Schwabe (Hrsg.), Die Ruhrkrise 1923. Wendepunkt der internationalen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, Paderborn 19862.

  12. Grundlegend Werner Link, Die amerikanische Stabilisierungspolitik in Deutschland 1921-32, Düsseldorf 1970.

  13. Stephen A. Schuker, The End of French Predominance in Europe. The Financial Crisis of 1924 and the Adoption of the Dawes Plan, Chapel Hill, NC 1976.

  14. Einen guten Überblick über die Forschungsentwicklung geben Wolfgang Michalka/Marshall M. Lee (Hrsg.), Gustav Stresemann, Darmstadt 1982; vgl. außerdem Manfred Berg, Gustav Stresemann und die Vereinigten Staaten von Amerika. Weltwirtschaftliche Verflechtung und Revisionspolitik 1907-1929, Baden-Baden 1990.

  15. Rede Stresemanns vor der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Landsmannschaften in Groß-Berlin“, 14. Dezember 1925, in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik (künftig zitiert ADAP), Serie B, Bd. 1, 1, Göttingen 1966, S. 730.

  16. Rede Stresemanns vom 22. November 1925 vor dem DVP-Zentralvorstand, abgedruckt bei Henry Ashby Turner, Eine Rede Stresemanns über seine Locarnopolitik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 15 (1967), S. 434.

  17. Auswärtiges Amt (Ritter) an Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 24. November 1930 (Entwurf), in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, Sonder-referat Wirtschaft, Zollwesen 4, Bd. 10.

  18. Schreiben des Auswärtigen Amtes vom 17. August 1927, in: ADAP/B, Bd. VI, Göttingen 1974, S. 251.

  19. Andreas Hillgruber, „Revisionismus“ -Kontinuität und Wandel in der Außenpolitik der Weimarer Republik, in: Historische Zeitschrift, (1983) 237, S. 600f.

  20. Vgl. Franz Knipping, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ara 1928-1931. Studien zur internationalen Politik in der Anfangsphase der Weltwirtschaftskrise, München 1987.

  21. In einer Polemik erklärte Joseph Goebbels am 10. Juli 1928 im Reichstag: „Am 29. August 1924 wurden in diesem Hause die Dawes-Gesetze angenommen, und die Dawes-Gesetze bilden die eigentliche Verfassung des deutschen Volkes. ... Das, was Sie Weimarer Verfassung nennen, ist ja nur Firnis, nur Anstrich. Kratzen Sie diesen Anstrich herunter, dann erscheint das System (des Reparationsagenten, d. Verf.) Parker Gilbert. Sie geben vor, die Monarchie gestürzt zu haben, meine Herren Sozialdemokraten, und haben in Wirklichkeit doch nur die dynastische Monarchie ersetzt durch die Mammonarchie. Sie haben Wilhelm II. davongejagt und ihn ersetzt durch Parker Gilbert I.“ Verhandlungen des Reichstags, Bd. 423, Berlin 1929, S. 150.

  22. Vgl. die Belege bei Kurt A. Holz, Die Diskussion um den Dawes-und den Young-Plan in der deutschen Presse, 2 Bde., Frankfurt/Main 1977.

  23. Klaus Hildebrand, Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das Internationale System, in: Historische Zeitschrift, (1990) 251, S. 607: „Anders als im Gefolge des Ersten Weltkrieges fand nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keine vergleichbare Kriegsschulddiskussion statt. Denn daß Hitler-Deutschland für seinen Beginn die Hauptverantwortung trägt, steht außer Zweifel. Nach wie vor intensiv erörtert werden dagegen die Fragen nach der Ermöglichung und dem Charakter der militärischen Auseinandersetzung...“

  24. Vgl. als neueren Beitrag Heinrich Bodensieck, Rahmenbedingungen und Weichenstellungen für das besiegte Deutschland, in: Die Deutschlandfrage von der staatlichen Teilung Deutschlands bis zum Tode Stalins, Berlin 1994, S. 7-36.

  25. Vgl. im einzelnen den Beitrag von Manfred Görtemaker in diesem Heft.

  26. Michael Stürmer, 1918 und 1945: Früchte des Zorns, in: ders., Dissonanzen des Fortschritts. Essays über Geschichte und Politik in Deutschland, München-Zürich 1986, S. 193.

  27. Ministerpräsidentenkonferenz in München, 6. /7. Juni 1947, Protokoll des ersten Sitzungstages, in: Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949, Bd. 2: Januar-Juni 1947, bearb. von Wolfram Werner, München-Wien 1979, S. 540.

  28. Die frühe amerikanische Stabilisierungspolitik betont Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995.

  29. Vgl. Murphy an State Department, 13. Dezember 1948, in: Foreign Relations of the United States (künftig zitiert FRUS) 1948, Bd. II, Washington (D. C.) 1973, S. 1339f.

  30. Vgl. Memorandum of Discussipn at the 354th Meeting of the National Security Council, in: FRUS 1958-1960, Bd. IX, Washington (D. C.) 1993, S. 628.

  31. Adenauer gegenüber Ernst Friedländer am 11. Juni 1953, in: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, 13. Juni 1953.

  32. Protokoll der Sitzung des Bundesvorstandes der CDU vom 19. September 1957, in: Günter Buchstab (Bearb.), Adenauer: „... um den Frieden zu gewinnen“. Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1957-1961, Düsseldorf 1994, S. 15.

  33. Protokoll der Sitzung des Bundesvorstandes der CDU vom 10. März 1956, in: Günter Buchstab (Bearb.), Ade-nauer: „Wir haben wirklich etwas geschaffen.“ Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1953-1957, Düsseldorf 1990, S. 862.

  34. Andreas Hillgruber, Alliierte Pläne für eine „Neutralisierung“ Deutschlands 1945-1955, Opladen 1987, S. 30.

  35. Diskussionsbeitrag Rainer Barzel vom 22. April 1994, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Adenauer und die USA, Bonn 1994, S. 60f.

  36. Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994, S. 27.

Weitere Inhalte

Hans-Jürgen Schröder, Dr. phil., geb. 1938; Professor für Zeitgeschichte an der Universität Gießen. Veröffentlichungen zur amerikanischen und deutschen Außenpolitik im 20. Jahrhundert sowie: (zus. mit Matthias Peter) Einführung in das Studium der Zeitgeschichte, Paderborn 1994.