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Soziale Sicherheit in Entwicklungsländern | APuZ 50/1992 | bpb.de

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APuZ 50/1992 Ethische Probleme einer Weltwirtschaftsordnung Die Dritte Welt in ihrem fünften Jahrzehnt Zur langfristigen Wirtschaftsentwicklung der Dritten Welt Drogenwirtschaft und Drogenpolitik in Entwicklungsländern Agrarentwicklungspolitik vor dem Offenbarungseid? Soziale Sicherheit in Entwicklungsländern

Soziale Sicherheit in Entwicklungsländern

Ludgera Klemp

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Weltweit nimmt die Zahl der Erwachsenen und Kinder zu, die unterhalb der Armutsgrenze und ohne ausreichenden sozialen Schutz leben. Unter welchen würdelosen Umständen Kranke, Alte, Witwen und Waisen in den Ländern der Dritten Welt überleben müssen, beschäftigt selten das öffentliche Interesse. Mit Auflösung der Mehrgenerationen-und Mehrfamilienverbände werden traditionelle Formen sozialer Sicherung zurückgedrängt. Nirgends hat sich ein modernes System sozialer Sicherung herausgebildet, welches die Versorgungsfunktionen der traditionellen Großfamilie übernehmen könnte. Die Zunahme überlebensgefährdeter Menschen hat dazu geführt, daß sozialpolitische Konzepte und Maßnahmen in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit an Bedeutung gewinnen. Erfolg und Nachhaltigkeit aller sozialpolitischen Maßnahmen hängen davon ab, ob politische, wirtschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen zugunsten der Armutsbevölkerung verändert werden können.

I. Entwicklung zwischen Solidarität und existentieller Unsicherheit

Weltweit nimmt die Zahl der Erwachsenen und Kinder zu, die unterhalb der Armutsgrenze ohne ausreichenden sozialen Schutz überleben. Ungefähr 1, 4 Mrd. Menschen leben in absoluter Armut; hiervon gelten über 300 Mio. als überlebensgefährdet. Sie leben in existentieller Unsicherheit und ohne ein Minimum an sozialem Schutz. Die rapide Zunahme überlebensgefährdeter Menschen hat dazu geführt, daß sozialpolitische Instrumente in der internationalen Zusammenarbeit an Bedeutung gewinnen. So wird im Armutsbericht der Weltbank das Problem der sozialen Sicherung aufgegriffen und für zielgerichtete Einkommensübertragungen (Kaufkrafttransfers) an die von „Entwicklungshilfe Übergangenen“ plädiert, um den Menschen in existenzbedrohenden Versorgungsschwierigkeiten und ohne Selbsthilfe-potential ein Mindesteinkommen zu sichern. Auch das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen appelliert an die Weltgemeinschaft, „den armen Nationen und Menschen ein Netz der sozialen Sicherung zur Verfügung zu stellen“ Finanziert werden soll dieses soziale Netz durch einen Teil der weltweiten Wertschöpfung im Rahmen eines globalen Nord-Süd-Vertrages.

Von mangelnder sozialer Sicherheit ist zwar primär die arme Bevölkerung betroffen, doch zeigen die aktuellen Entwicklungen, daß selbst Menschen in ungesicherte Lebensverhältnisse geraten, die Zugang zu Sozialversicherungssystemen haben. In Brasilien machten zu Beginn dieses Jahres Rentner und Rentnerinnen mit spektakulären Straßenblokkaden auf ihre Lage aufmerksam. Hunderte von ihnen sperrten die Autobahn zwischen Sao Paulo und Rio de Janeiro. Sie demonstrierten gegen den Mißbrauch ihrer Pensionsgelder und forderten einen wegen der hohen Inflationsrate längst fälligen Teuerungsausgleich. In Argentinien erhalten über 3, 5 Mio. Rentner eine Monatsrente, die in­ zwischen weniger als ein Viertel des Existenzminimums deckt. Die argentinische Rentnerorganisation Centro de Jubilados y Pensionados San Martin bittet in einem offenen Brief deutsche Rentner um finanzielle Unterstützung ihrer Selbsthilfe-projekte. In Eigeninitiative haben sie zur Verbesserung ihrer Versorgung einen Gemüsegarten angelegt; einen Fonds für besonders Bedürftige eingerichtet, der aus den Verkaufserlösen einer Gemeinschaftswerkstatt gespeist wird; zur Verbesserung ihrer Gesundheitsversorgung eine selbst-verwaltete Apotheke aufgebaut und einen Ambulanzwagen erworben Im Unterschied zum klassischen Repertoire sozialpolitischer Instrumente (Sozialhilfe, armutsorientierte Subventionsprogramme) sieht das Versicherungsprinzip vor, daß Leistungen aus Beiträgen der Mitglieder finanziert werden. Hinsichtlich der konzeptionellen Ausgestaltung von Sozialversicherungssystemen sind von der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) wichtige Impulse ausgegangen. Als Grund-katalog sozialer Sicherheit gilt der Inhalt der ILO-Konvention 102, die auf der 35. Internationalen Arbeitskonferenz 1952 verabschiedet wurde. Das Abkommen bezieht neun Bereiche in den Katalog versicherbarer Risiken ein: Krankenversorgung; Einkommenssicherung im Krankheitsfall, Alter, bei Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfall und Berufskrankheit; Familien-und Mutterschaftshilfen; Hilfen für Invalide und Hinterbliebene. Auf die Länder des Südens sind die von der ILO-Konvention geprägten Konzepte nur in eingeschänktem Maße übertragbar, weil a) Kategorien unselbständiger Arbeit zugrunde gelegt werden und b) der Risikoschutz auf Beschäftigte des formellen Wirtschaftssektors begrenzt ist.

Auf Menschen im ländlichen und städtisch-informellen Sektor der meisten Länder des Südens treffen diese Merkmale nicht zu. Viele von ihnen sind erheblichen sozialen und wirtschaftlichen Risiken ausgesetzt. Sie müssen ohne Sozialversicherungssysteme auskommen und sind auf traditio-nelle oder selbstorganisierte Formen der sozialen Sicherung angewiesen, womit alle Maßnahmen angesprochen sind, die einzelne Personen oder Gruppen vor Verschlechterung ihrer Lebenslage schützen, die durch Notlagen verursacht werden und deren Bewältigung aus eigener Kraft nicht mehr möglich ist. Soziale und wirtschaftliche Not-situationen entstehen vor allem in Verbindung mit folgenden Ereignissen und Situationen:

Personengebundene Risiken: Krankheit, Unfall, Invalidität, Schwangerschaft, Geburt und postnatale Periode sowie dadurch bedingter Einkommensausfall; ärztliche Behandlungskosten; altersbedingte Versorgungsnot.

Unglück, Katastrophen und Kriege: Verlust wichtiger Produktions-und Überlebensressourcen, Ernteverlust, umweltbedingte Katastrophen (Dürre, Überschwemmung, Erosion), Unruhen und Krieg.

Sonderausgaben anläßlich bestimmter sozialer Ereignisse: Brautpreis, Mitgift, Hochzeits-und Beerdigungszeremonien, religiöse Feste etc.

In vielen Gesellschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten die Probleme sozialer Sicherheit verschärft, weil traditionell gewachsene Sicherungssysteme ihre Bedeutung verlieren, ohne durch neue Formen ersetzt zu werden. Im folgenden werden Gründe und Entwicklungen aufgezeigt, die dazu führen, daß Millionen Frauen, Männer und Kinder in ungeschützten Lebensverhältnissen leben.

1. Traditionelle Sicherungssysteme verlieren ihre Schutzfunktionen

In allen traditionellen Gesellschaften wird innerhalb der Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Berufsgruppe oder Glaubensgemeinschaft für den Schutz von Alten, Kranken, Waisen, Witwen und Notleidenden gesorgt. Entsprechende Unterstützungsleistungen werden in Form von Geld und Naturalien bereitgestellt oder umfassen Dienste zur Betreuung der Bedürftigen. In kleineren Gemeinschaften haben sich bis heute Reziprozitätsbeziehungen als zentrales Prinzip des Gemeinschaftslebens erhalten. Traditionelle Solidargemeinschaften kommen in der Regel ohne formalisierte Rechte und Pflichten aus, und jeder Beitrag, den ein Mitglied zur Wohlfahrt der Gemeinschaft leistet, wird über kurz oder lang (intertemporal) von reziproken Beiträgen anderer (interpersonal) entgolten, ohne daß es hierzu einer förmlichen Regelung bedarf Die Weltreligionen verpflichten ihre Mitglieder, den Armen und Bedürftigen der Glaubensgemeinschaft zu helfen. Das am besten dokumentierte und noch bestehende Almosenwesen ist das Zakat-System in islamischen Gesellschaften. Es ist eines der ältesten traditionellen Sicherungssysteme und sieht die regelmäßige Umverteilung eines festen Anteils der landwirtschaftlichen Erträge oder privaten Ersparnisse zugunsten der Ärmsten vor. Inzwischen wurde das Zakat-System modernisiert, da „Almosen“ steuerähnlich erhoben, über Verteilungskomitees an die einzelnen Distrikte zurückgeleitet und auf Dorfebene an Bedürftige verteilt werden.

Traditionelle Mehrgenerationen-und Mehrfamilienverbände verfügen grundsätzlich über günstige Voraussetzungen, um für die wirtschaftliche und soziale Sicherheit von Mitgliedern zu sorgen und den Ausfall der Arbeitskraft einzelner Haushalts-mitglieder auszugleichen. Mit der Auflösung traditioneller Gesellschaften und dem Übergang der Groß-zur Kleinfamilie werden diese Formen sozialer Sicherung immer weiter zurückgedrängt. Mit Abwanderung der jungen Menschen in die Städte und Änderung sozialer Normen im Verlauf von Urbanisierungs-und Modemisierungsprozessen wird immer ungewisser, ob die Kindergeneration als Garant für die soziale Sicherung älterer Menschen auch in Zukunft zur Verfügung steht. Nirgends hat sich ein modernes System sozialer Sicherung herausgebildet, welches die ehemaligen Versorgungsfunktionen der traditionellen Großfamilien als „mutual-insurance arrangement“ übernehmen könnte.

In verschiedenen afrikanischen Regionalsprachen bedeutet „arm“ keine Verwandte und Freunde haben -ein Hinweis auf die Bedeutung unterstützender sozialer Netze im unmittelbaren sozialen Umfeld. In den Städten, in denen die Probleme der sozialen Sicherung am deutlichsten sichtbar werden, reagieren die Menschen, mehr oder weniger spontan, mit neuen informellen Formen der sozialen Sicherung. Im Vergleich zu traditionellen Sicherungssystemen kennen informelle Sicherungsformen keine „einklagbaren“ Hilfeleistungen. Sie verfügen über keinen gewohnheitsrechtlichen Status und entstehen im Zwischenbereich öffentlicher und privater Träger auf der Grundlage gemeinschaftlicher Selbsthilfe. Informelle Solidargemeinschaften entstehen innerhalb von Nachbarschaften, Berufsgruppen oder Selbsthilfeinitiativen, wie z. B.den Volksküchen in den städtischen Elendsvierteln von Peru. Das aus anderen Bereichen be-kannte Prinzip der Selbsthilfe stößt jedoch an Grenzen, wo anhaltende Verelendung, täglicher Existenzkampf und die Unbeständigkeit sozialer Beziehungen Menschen in ungeschützte Lebensverhältnisse treiben. Ein grausames Beispiel wurde in jüngster Zeit aus Brasilien bekannt. Straßenkinder müssen den höchsten Preis für ungeschützte Lebensverhältnisse zahlen -sie zahlen mit ihrem Leben. In den großen urbanen Zentren des Landes werden sie von angeheuerten Todesschwadronen verfolgt und brutal ermordet. Eine parlamentarische Untersuchungskommission machte 92 Kindermorde auf den Straßen Rio de Janeiros von Mitte April bis Ende September 1991 aus. Nach Schätzungen des Weltkinderhilfswerkes der Vereinten Nationen (UNICEF) leben über 100 Mio. Kinder als Waisen oder Straßenkinder, die von zu Hause weggelaufen sind oder verlassen wurden. Außerstande ihre Kinder zu ernähren, überlassen immer mehr Familien ihre Kinder der Straße. Während Straßenkinder früher nur aus Lateinamerika und Asien bekannt waren, geht ihre Zahl in den afrikanischen Städten Nairobi, Khartum und Kampala inzwischen in die Tausende.

2. Moderne Sozialversicherungssysteme erreichen die Armen nicht

In fast allen Ländern bestehen seit Jahrzehnten Sozialversicherungssysteme auf der Basis staatlich organisierten Pflichtsparens, beitragsfinanzierter Rentenversicherungen oder steuerfinanzierter Volksrenten. Mit wenigen Ausnahmen gilt ein „urban-labour-force bias“ für diese Sozialversicherungssysteme, weil sie ausschließlich auf Lohn-und Gehaltsempfänger des modernen Sektors ausgerichtet sind. Der Zugang zu Sozialversicherungssystemen wurde vor allem für strategisch wichtige Berufsgruppen wie Regierungsbeamte, Militärs, Lehrer, Angestellte des Banken-, Transport-und Energiesektors vorgesehen. Im wesentlichen umfassen die Versicherungsleistungen die Kranken-und Unfallversorgung einschließlich der Einkommenssicherung und die Altersversorgung. Angesichts struktureller Arbeitsmarktprobleme ist der Versicherungsschutz bei Erwerbslosigkeit bis heute am wenigsten entwickelt. Dort, wo der Bedarf an sozialpolitischen Maßnahmen am größten ist, nämlich bei der ländlichen und städtischen Armutsbevölkerung, sind Sozialversicherungssysteme zur materiellen Daseinsvorsorge in Notlagen irrelevant geblieben. Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gibt es im formalen Sinne keine Sicherheit mit verbürgten individuellen Rechtsansprüchen. Für diesen ungleichen Zugang zu sozialer Sicherheit hat Carlos Mesa-Lago den Begriff „stratification of social security“ geprägt. Wie die Gesellschaft selbst ist auch der Zugang zu sozialer Sicherheit von sozialen Unterschieden geprägt.

Der im internationalen Vergleich höchste Dekkungsgrad wird mit bis zu 80 Prozent der Gesamtbevölkerung in Lateinamerika erreicht, wo es die ältesten und vollständigsten Sozialversicherungssysteme gibt. In einigen Ländern wurden die Sozialversicherungssysteme sogar auf die Landbevölkerung ausgeweitet. In asiatischen Ländern begannen die Bemühungen etwas später. Die Schwellenländer Asiens weisen mit ihrem erheblichen Anteil an Lohn-und Gehaltsempfängern einen höheren Geltungsbereich auf als die übrigen Länder der Region. Weit verbreitet sind Alterssicherungen in Form der Vorsorgekassen (provident fund), die eine Vorform von Versicherungen darstellen und ein Vermächtnis der Kolonialzeit sind und nach Erlangung der politischen Unabhängigkeit weitergeführt wurden. Insgesamt verfügen die afrikanischen Entwicklungsländer über den niedrigsten Versicherungsschutz. In Subsahara-Afrika werden selten mehr als zehn Prozent der Bevölkerung von Sozialversicherungssystemen erfaßt; dies entspricht ungefähr dem im formellen Sektor beschäftigten Anteil der Erwerbsbevölkerung.

In vielen Ländern stehen die Sozialversicherungen wachsenden Problemen gegenüber: wirtschaftliche Rezession, hohe Inflationsraten, Staatsverschuldung und Mißwirtschaft gefährden die finanzielle Balance bestehender Systeme und führen zu nahezu unüberwindbaren Krisen. In Südamerika haben sich Rentenempfänger aufgrund der dramatischen Verschlechterung ihrer Situation zusammengeschlossen, um für ihre Rechte zu kämpfen. Für die Erfüllung ihrer berechtigten Ansprüche fehlen die Mittel, so daß der Staat ihnen Gelder in Millionenhöhe schuldet. In Argentinien und Uruguay erhält die Mehrheit der Anspruchsberechtigten monatlich gerade 50 DM Rente, weil hohe Inflationsraten die Kaufkraft der Ruhegehälter drastisch senken. Rentnerorganisationen fordern deshalb die Koppelung ihrer Ruhegehälter an die allgemeine Preisentwicklung. Zur Überwindung der Finanzierungskrise wird, wie auch in anderen wirtschaftlichen Bereichen, auf die Privatisierung der Rentensysteme gesetzt und damit die Verfügung über die Arbeitnehmerbeiträge auf Bank-und Versicherungsinstitutionen übertragen. Ob die Privatisierung der Sozialversicherung aus der Krise führt, hängt in entscheidendem Maße von der weiteren Entwicklung der in-und externen Kapital-und Finanzmärkte ab (z. B. Kapitalisierung und Streuung der Anlagen) und davon, ob die Voraussetzungen für den Zugang von weiteren Personengruppen zu Sozialversicherungsleistungen geschaffen werden können.

3. Ältere Menschen in der „Modemisierungsfalle“

Höhere Lebenserwartung und Bevölkerungswachstum haben bereits in einigen Ländern der Dritten Welt zu einem demographischen Struktur-wandel geführt. In den nächsten Jahren wird sich in einigen Regionen Afrikas und Südasiens die Altenbevölkerung mehr als verdoppeln. Von den rund 400 Mio. über 65jährigen werden im Jahr 2000 ca. 230 Mio. Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel leben. Der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung bleibt zwar insgesamt niedrig, ihre Gesamtzahl nimmt jedoch genauso zu wie der Anteil jener, die alleine leben und ohne familiäre Unterstützung auskommen müssen. In den Armutsvierteln von Bogota leben bereits 20 Prozent der über 65jährigen ohne Angehörige, auf Jamaika sind 25 Prozent der älteren Menschen ohne familiäre Unterstützung und in Kenia hat über die Hälfte der alten Menschen kein geregeltes Einkommen. Ähnliche Tendenzen wurden in den indischen Metropolen Neu Delhi, Madras und Bombay festgestellt. In diesen großen Städten sind alte Menschen immer häufiger obdachlos und auf Almosen angewiesen. In den Städten verschärfen Raumnot, niedrige Einkommen und fehlende soziale Dienste die Situation und das „Negativ-image“ der älteren Menschen. In den dichtbesiedelten Armutsvierteln sind sie oft unwillkommen und gelten als zusätzliche Belastung für die Familien. Obwohl das Alter als „verordneter“ Ruhestand weitgehend unbekannt ist und ältere Menschen leichtere Arbeiten übernehmen oder Kleinkinder betreuen, bewirkt die wachsende Abhängigkeit vom Einkommen, daß ihr materieller Beitrag eher gering eingeschätzt wird

Immer noch erhöhen mehrere Kinder die Chance, daß später zumindest ein Kind in der Lage und bereit ist, die Eltern zu unterstützen. Immer noch trägt die erwachsene Kindergeneration wesentlich zum Lebensunterhalt der Eltern bei und ist oft die einzige soziale Sicherheit im Alter und bei Krankheit. Die Hoffnung auf Unterstützung im Alter wirkt noch immer als Anreiz für größere Familien. Zu dieser Form der Alters-und Krankensicherung gibt es bis heute keine Alternative. Mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und ökologischen Lebensbedingungen nimmt die Bedeutung der Kindergeneration wieder zu. Die Ungewißheit, ob Kinder überleben, später über ausreichendes Einkommen verfügen oder abwandern werden, führt insbesondere in wirtschaftlichen und ökologischen Krisengebieten zum Anstieg der Kinderzahl.

Nur dort, wo ausreichende Einkommen vorhanden sind, kann das Fehlen von Kindern durch höhere Spareinlagen oder durch Altersvorsorgesysteme kompensiert werden. Eine bekannte Form informeller Daseinsvorsorge ist das Sparen. Selbst innerhalb ärmerer Bevölkerungsschichten sind informelle Spargemeinschaften stark verbreitet, und mobilisierbares Sparpotential sichert soziale Risiken ab. Erfahrungen mit traditionellen Spar-und Kreditringen zeigen, daß das Hauptmotiv der Erspamisbildung die Vorsorge für Notfälle und kostenverursachende Ereignisse ist. Gespart wird nicht nur Geld, sondern auch in Form von Land, Nutzungsrechten, Tieren, Mobiliar, Fahrzeugen, Werkzeugen, Schmuck und Kleidung, die ebenfalls die Funktion von Sparguthaben übernehmen. In Benin, Costa Rica und Ecuador wird z. B. „social forestry“ betrieben und Bäume gepflanzt, die wegen des hohen Verkaufswertes als Alterssicherung dienen Keine Familie, die über Ressourcen verfügt, kann es sich erlauben, auf eine Zukunftssicherung zu verzichten.

4. Armutskrankheiten sind nicht versicherbar

Armutskrankheiten, Unter-und Mangelernährung gelten als nicht versicherbare Krankheitsrisiken. Ernährungssicherheit, menschenwürdige Wohnungen, sauberes Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, Beschäftigung, ausreichende medizinische Versorgung und Erziehung sind Faktoren, die maßgeblich zur sozialen Sicherheit beitragen. Noch immer haben 1, 5 Mrd. Menschen keinen Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung und 1, 7 Mrd. keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Pandemien wie Cholera, Malaria und Durchfallerkrankungen sind in zahlreichen Ländern erneut auf dem Vormarsch. Bekannt ist, daß 90 Prozent aller infektiösen und parasitären Krankheiten heilbar sind und bei geeigneten Präventivmaßnahmen als verhütbar gelten. Die meisten Todesfälle bei Kindern sind auf Krankheiten zurückzuführen, die durch konsequente Impfpoli-tik, hygienische Minimalstandards und ausgewogene Ernährung verhindert werden könnten. Nach Angaben von UNICEF wird der Tod von vier Mio. Kindern jährlich allein durch Durchfall verursacht; 1, 5 Mio. sterben an Masern und eine Mio. an Malaria; insgesamt sterben jährlich 14 Mio. Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr.

Maßnahmen zur Vermeidung von Infektionskrankheiten sind in der Regel „billiger“ als die Behandlungskosten von erkrankten Personen. Im Hinblick auf die Ausbreitung der Immunschwächekrankheit AIDS gehen Schätzungen davon aus, daß in den nächsten Jahren über ein Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Subsahara-Afrika an AIDS erkranken wird. Bereits heute sind die sozialen Folgen dieser Krankheit sichtbar: Tausende von AIDS-Waisen in Afrika leben auf sich allein-gestellt, und in einigen Dörfern Ugandas und Tansanias leben sie bereits ohne Erwachsene, weil diese gestorben sind. Experten gehen davon aus, daß zum Ende dieses Jahrzehntes bereits 250000 Kinder in Subsahara-Afrika AIDS-Waisen sein können. Zunächst müssen Investitionen in die Basisgesundheitsversorgung, Ernährungssicherungsstrategien etc. im Mittelpunkt stehen, da formale Versicherungssysteme erst zu einem späteren Zeitpunkt ihre Funktion erfüllen können. Es ist sicherlich kein Zufall, daß es wiederum die ILO war, die sich Mitte der siebziger Jahre auf internationaler Ebene für grundbedürfnisorientierte Entwicklungsstrategien einsetzte.

5. Frauen sind höheren Risiken ausgesetzt

Frauen und Kinder hängen in sehr viel stärkerem Maß als Männer vom Zugang zur Gesundheitsversorgung ab. Durch häufige Schwangerschaften und Geburten sind sie erhöhten Risiken ausgesetzt. In den Ländern des Südens sterben bei 100000 Geburten 530 Frauen während der Geburt gegenüber 24 in den Industrieländern. Jährlich sterben an Komplikationen während der Schwangerschaft oder bei der Geburt insgesamt über 500000 Frauen 1989 starben in den ärmsten Ländern 120 Säuglinge bei 1000 Geburten gegenüber statistisch gesehen keinem Kind in den Industrieländern. Überdies sind Frauen durch geltende Erb-, Scheidungs-und Hinterbliebenengesetze vielfach benachteiligt. Für Frauen bedeuten frühes Heiratsalter und längere Lebenserwartung oft, daß sie als Witwen ihr Leben in wirtschaftlicher Not und sozialer Isolierung verbringen müssen. In vielen tra-ditionellen Gesellschaften Afrikas und Asiens sind Frauen aufgrund gewohnheitsrechtlicher Regelungen von Erbe und Landrechten praktisch ausgeschlossen. Eine Witwe verliert den gesamten ehelichen Zugewinn an die Familie des verstorbenen Ehemannes oder an ihre Söhne oder kann nach islamischem Erbrecht nur ein Achtel erben. In islamischen und hinduistischen Gesellschaften ist es fast unmöglich, daß Witwen ein zweites Mal heiraten. Angesichts ihrer trostlosen Situation begehen immer wieder junge Witwen Suizid. Während Witwern keine Beschränkungen hinsichtlich der Wiederverheiratung auferlegt sind, „erfüllt“ sich mit dem Tod des Mannes der Lebenszweck einer Frau. Als unreines und wertloses Wesen wird sie mißachtet, symbolisiert Unglück und manchmal wird ihr sogar vorgeworfen, für den Tod des Mannes verantwortlich zu sein.

Auf Gewohnheitsrechten beruhende kompensatorische Versorgungssysteme (z. B. für entgangenes Erbrecht) werden von immer mehr Frauen in Frage gestellt, wie die Verbreitung von Witwenorganisationen in Westafrika zeigt, die gegen die Praxis der Witwenvererbung, das sogenannte Levirat, kämpfen. In zahlreichen westafrikanischen Ländern, in denen das Levirat verbreitet ist, sind Witwen als „Hexen“ folgenschweren Diskriminierungen ausgesetzt Bei der Scheidung hat die Frau in islamischen Gesellschaften oftmals keinen Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem früheren Mann. Erst kürzlich wurde in Indien ein „Gesetz zum Schutz geschiedener Moslemfrauen“ verabschiedet, wonach diese nur in den ersten drei Monaten Anspruch auf Unterhalt durch ihren Ehemann haben. Mit der Verstoßung beginnt eine Wartezeit von drei Monatszyklen, um eine Schwangerschaft auszuschließen. Danach bleibt es den Familien der Frauen überlassen, sie zu versorgen oder auch nicht.

Aus verschiedenen Gründen nehmen die von Frauen geführten Haushalte weltweit zu. Frauen sind durch Erwerbstätigkeit, Haushalt, Kinder und Betreuung von Alten und Kranken vielfach belastet. Das durchschnittliche Einkommen dieser Haushalte liegt deutlich unter dem anderer Haushalte, und die Arbeitsbedingungen von Frauen sind häufig schlechter als die der männlichen Kollegen. Erst in wenigen Fällen wurden Bestrebungen nach Risikominderung aufgegriffen und Frauen durch geeignete Maßnahmen entlastet, z. B. durch Versicherungsprogramme für Mütter, Hilfen zum Schutz von verstoßenen und alleinerziehenden Frauen und (Kinder-) Witwen.

II. Neue Aufgaben der Entwicklungspolitik

Bis auf wenige Ausnahmen ist der Staat in der Dritten Welt für Menschen im städtisch-informellen und ländlichen Sektor als Instrument der Daseinsvorsorge irrelevant geblieben. Es wird jetzt darauf ankommen, sowohl interne als auch externe Rahmenbedingungen zugunsten der Armutsbevölkerung zu verändern. Zunächst müssen wirtschaftliche und rechtliche Reformen zur Verbesserung der sozialen Sicherung der Armutsbevölkerung durchgeführt werden. Die gerechte Verteilung von Ressourcen, umfassende Boden-und Pachtreformen, die Hinwendung öffentlicher Ausgabenpolitik zu grundbedürfnisorientierten Programmen, rechtspolitische Reformen zur Verbesserung der Situation von Frauen und Kindern u. a. m. sind für sozial geschützte Lebensverhältnisse ebenso notwendig, wie die Förderung von verschiedenen Trägem, die in der Lage sind, Sicherungsfunktionen zu übernehmen. Risikominderung durch Vorsorge-und Versicherungsfonds sollte ein lohnendes Ziel entwicklungspolitischer Zusammenarbeit sein, selbst wenn zugunsten des Risikoschutzes auf kurzfristige Einkommenssteigerungen verzichtet wird. Überlagert werden die wachsenden Probleme sozialer Sicherung durch sich verschlechternde weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Schuldendienstzahlungen, hohe Einnahmeverluste durch den Preisverfall für Rohstoffe auf den Weltmärkten, tarifäre und nichttarifäre Handelshemmnisse zu Lasten von Exportmöglichkeiten des Südens schränken nationalstaatliche Handlungsspielräume erheblich ein. Zugleich haben sozialstaatliche Vorstellungen und Strukturen mit den Strukturanpassungsprogrammen der Weltbank große Rückschläge erlitten.

Neoliberale Sozialpolitik bürdet der Armutsbevölkerung zusätzliche Lasten auf, weil öffentliche Sozial-und Gesundheitsausgaben massiv gekürzt werden, wobei Frauen aufgrund ihrer Zuständigkeit für Alte und Kranke besonders stark betroffen sind. Zuerst sind Gesundheits-, Sozial-und Bildungsbudgets von den Kürzungsvorhaben der Strukturanpassungsprogramme herauszunehmen.

Für die ärmeren Länder ist ein substantieller Schuldenerlaß notwendig, der an sozial ausgerichtete Auflagen zu binden ist. Erst dann können Projekte im Bereich sozialer Sicherung mehr sein als nur Nothilfemaßnahmen.

1. Kaufkrafttransfers an die Armen in Netsituationen

Nothilfeprogramme sind in bestimmten Situationen humanitäres Gebot, doch ersetzen sie langfristig keine auf Eigeninitiative und dem Sparpotential der Betroffenen basierenden Problemlösungsstrategien. Weil der Kaufkrafttransfer zumindest konzeptionell nicht auf die Stärkung sozialer Strukturen gerichtet ist, liegt seine instrumenteile Bedeutung primär in der Not-und Katastrophen-hilfe. Die unter den Stichworten „heißes“ und „kaltes“ Geld und „disincentives“ geführte Diskussion hat darauf aufmerksam gemacht, daß Sozial-transfers das Selbsthilfepotential schwächen. Erst ein Minimum an Eigenleistungen garantiert den Zusammenhalt in Gruppen und die Identifikation mit Entwicklungsmaßnahmen und schafft so die Vorstufe zu Solidargemeinschaften. Ebenso unterschätzen Transferansätze die zentrale Bedeutung von funktionierenden familiären, verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen oder anderen sozialen Beziehungen als Voraussetzung nicht nur für eine wirksame Verwendung der Kaufkraftübertragung, sondern auch, um soziale Bedürfnisse nach primärer Nähe erfüllen zu können. Paul Streeten, bekannter Protagonist der Grundbedürfnisstrategie, hat hierauf hingewiesen: „Nonmaterial needs are important not only because of they are valued in their own right, but also because they are important conditions for meeting material needs.“ Kaufkrafttransfers können zwar punktuell Situationen verbessern helfen, aber keine strukturelle Wirkung erlangen. Während Überlebenschancen auf niedrigem Niveau stabilisiert werden, bleiben die tiefer liegenden Ursachen der Überlebensgefährdung unberücksichtigt.

2. Hilfe zur Selbsthilfe durch Versicherungsgemeinschaften

Beispiele aus verschiedenen Ländern zeigen, daß alle wesentlichen Bereiche der sozialen Sicherung das Prinzip der Selbsthilfe kennen. Die geleistete Hilfe entspricht faktisch einer Versicherungsleistung. Zu den erfolgreichen Beispielen gegenseitiger Hilfe zählen die inzwischen unzähligen Volksküchen in Lateinamerika. In den Armutsvierteln der Städte schließen sich Frauen in Gemeinschaftsküchen zusammen, um die Ernährung ihrer Familien zu sichern. Trotz schwieriger materieller Bedingungen gelingt es den Volksküchen, einzelne und Familien in Notzeiten zu versorgen, wenn diese den Preis der Mahlzeiten nicht zahlen können. In der Entwicklungszusammenarbeit werden armutsorientierte Spar-und Kreditprogramme weiterentwickelt, die auf mitgliederorientierte und -kontrollierte Finanzsysteme gerichtet sind, wie beispielsweise die Konzepte „banking with the poor“ oder „linking banks and self-help groups“. Hier gilt es, Sicherungskomponenten bei der Weiterentwicklung zu berücksichtigen und verschiedene Maßnahmen miteinander zu verknüpfen. Die These, daß nur bestimmte soziale Gruppen als Versicherungsnehmer in Frage kommen, ist nicht aufrechtzuerhalten. Dort, wo Menschen ausreichende monetäre Einkünfte beziehen, richten sie oft gemeinsam einen Sicherungsfonds mit einem Katalog von versicherten Risiken ein. Vorsorge-aspekte und Risikoschutz sind oftmals Bestandteil rotierender Spar-und Kreditvereine.

Selbsthilfeorganisationen, Bewohnervereine, Genossenschaften und Frauenorganisationen haben beispielhafte informelle Sicherungsformen für ihre jeweiligen Mitglieder entwickelt und übernehmen wichtige Funktionen sozialer Sicherung. Private Ressourcen werden in Eigeninitiative für soziale Sicherungsmaßnahmen mobilisiert. Erfolgreiches Beispiel für den Aufbau von Versicherungsgemeinschaften im informellen Sektor ist SEWA (Seif Employed Women’s Association) in Indien, ein Zusammenschluß von Frauen des städtisch-informellen oder ländlichen Sektors. Mitte der siebziger Jahre begann SEWA mit dem Aufbau von Lebensversicherungen und einem Mutterschaftsprogramm für Mitglieder. Entsprechend dem „Maternity Protection Scheine“ erhält jede versicherte Frau ab dem fünften Schwangerschaftsmonat Schwangerenfürsorge, Mutterschaftsgeld in Höhe eines Monatslohnes und Säuglingsfürsorge. Seit 1980 wird das Programm auch in ländlichen Gebieten für Frauen aus Familien ohne Landbesitz angeboten. Die Eigeninitiative der SEWA wurde zur Grundlage für ein Gesetz zum Mutterschutz für diese landlosen Frauen, das vom Regionalparlament im Bundesstaat Gujarat verabschiedet wurde. SEWA hat sich hiermit ausdrücklich gegen Sozialfürsorgekonzepte und für Sozialversicherungssysteme entschieden.

In Bangladesh hat die Grameen-Bank, die Bank der Landlosen, einen Weg aufgezeigt, wie Menschen aus dem Zustand existentieller Unsicherheit herauswachsen können. Sie hat inzwischen über 800000 Menschen Zugang zu Kredit und Vermögensbildung verschafft, wobei über 90 Prozent der Kunden Frauen sind. Der Ansatz kombiniert Sparaktivitäten mit Kredit und Risikovorsorge. Für den Vorsorgefonds zahlt jedes Mitglied einen Zinszuschlag, der Mitgliedern in Notfällen zur Verfügung steht. Darüber hinaus wurde ein Emergency Fund und ein Children Welfare Fund eingerichtet. Die Beispiele SEWA und GRAMEEN-Bank zeigen, daß durch Versicherungsgemeinschaften personenbezogene Risiken und Notsituationen auf bescheidenem Niveau abzusichern sind.

Allzuoft kommt es jedoch mit der Einführung armutsorientierter Kreditsysteme zur Verlagerung der Ressourcenverwendung von unmittelbarer Existenzvorsorge zu produktiven Verwendungszwecken. Darüber hinaus darf nicht übersehen werden, daß Kreditgewährung kein Allheilmittel gegen Armut ist und nicht allen Armen automatisch durch die Vergabe eines Kredites geholfen werden kann.

3. Selbsthilfe subsidiär stärken

Die mit dem Subsidiaritätsprinzip verbundene Aufwertung der primären Nähe bedeutet zunächst die Förderung gemeinschaftlicher Selbsthilfe. Hinsichtlich der Verteilung öffentlicher Mittel markiert das Subsidiaritätsprinzip den Anspruch informeller und selbstorganisierter Träger auf öffentliche Unterstützung. Eine wichtige Aufgabe liegt in der komplementären Vernetzung der verschiedenen Träger zu einem wirksamen Gesamtsystem sozialer Sicherung. Künftig wird es darauf ankommen, kollektive Selbstverantwortung dort zu stärken, wo die Beständigkeit familiärer sozialer Netze nicht mehr vorauszusetzen ist. Obwohl informellen Netzwerken eine bedeutende Rolle bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen zukommt, gibt es eindeutige Leistungsgrenzen, so daß sie sich keineswegs dazu eignen, professionelle Hilfen völlig zu ersetzen. Zum Beispiel stellen soziale Dienste eine notwendige Ergänzung der gemeinschaftlich organisierten oder familiären Selbsthilfe dar. Dies ist auch unter geschlechtsspezifischen Aspekten notwendig, weil anfallende Pflegeleistungen in der Familie und Gemeinschaft ganz oder überwiegend von Frauen erbracht werden. Hier gilt es, durch gemeindebezogene Maßnahmen der Sozialentwicklung, Beratungs-und Dienstleistungszentren, Angebote zur Unterstützung von Kranken und Pflegebedürftigen zu schaffen, die die eigenständige Problemlösungskompetenz der Betroffenen mit professioneller Hilfe und Beratung verbinden.

III. Ausblick

In der Diskussion über entwicklungspolitische Neuorientierungen hat sich „Hilfe zur Selbsthilfe“ inzwischen als grundlegendes Handlungsprinzip der Entwicklungszusammenarbeit durchgesetzt. Die Entfaltung des Selbsthilfepotentials ist jedoch an vitale Voraussetzungen gebunden: Ohne den gerechten Zugang zu Ressourcen stößt das Selbsthilfeprinzip schnell an seine Grenzen und offenbart sich als Bankrotterklärung gegenüber den strukturellen Ursachen von Massenarmut und Massenelend. Ebenso wie die Selbsthilfefähigkeit in bestimmten Lebens-oder Notsituationen erheblich eingeschränkt ist, kann die schlichte Überlastung sozialer Netze die Anwendung dieses Prinzips in Frage stellen. Ohne die Berücksichtigung dieser Faktoren wird der Selbsthilfegedanke nicht nur ad absurdum geführt, sondern auch dazu mißbraucht, den Rückzug staatlicher Institutionen aus deren gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu rechtfertigen.

Nur die Weiterentwicklung des Subsidiaritätsprinzips verhindert seine einseitige Verkürzung auf den „Nachrang-Aspekt“ und ermöglicht die Formulierung subsidiärer Organisationsprinzipien mit dem Ziel, der Selbstbestimmung von Lebenszusammenhängen dadurch Perspektiven zu eröffnen, daß jede Bevormundung und Entmündigung oder jedes Herausreißen aus sozialen Bezügen durch Institutionen und professionelle Systeme bewußt zurückgenommen wird. Aus den Leistungsgrenzen der informellen Netzwerke und selbstorganisierten Versicherungsgemeinschaften ergeben sich abgestufte Verantwortungs-und Handlungsbereiche, die im Rahmen einer subsidiären Sozialpolitik sinnvoll aufeinander zu beziehen sind. Perspektivisch geht es darum, informelle und formelle Leistungen zu einem Gesamtsystem sozialer Sicherheit zusammenzufügen und entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen zu schaffen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. UNDP, Human Development Report, New York 1992, S. 7; Weltbank, Weltentwicklungsbericht 1990 -Die Armut, Washington 1990, S. 109-124.

  2. Vgl. Lateinamerika Nachrichten, An Rentnerinnen in Deutschland, Nr. 213, Berlin, März 1992, S. 65.

  3. Vgl. Georg Eiwert, Die Elemente der traditionellen Solidarität. Eine Fallstudie in Westafrika, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 32 (1980).

  4. Vgl. Syed Ahsan, Agricultural Insurance: A new Policy

  5. Vgl. Carlos Mesa-Lago, Social security and extrem poverty in Latin America, in: CEPAL Review, Nr. 28, Santiago de Chile 1986.

  6. Vgl. Ken Tout, Ageing in Developing Countries, Oxford 1989.

  7. Vgl. Robert Chambers/Melissa Leach, Trees to meet Contingencies: Savings and Security for the rural Poor, Brighton 1987.

  8. Vgl. UNDP, Human Development Report, New York 1991, 8. 24.

  9. Vgl. Eva-Maria Bruchhaus u. a., Witwen in Westafrika. Ein Gespräch mit Lucie Kabore, in: Carola Donner-Reichle/Ludgera Klemp (Hrsg.), Frauenwort für Menschenrechte, Saarbrücken 1990.

  10. Paul Streeten, First Things First. Meeting Basic Human Needs in Developing Countries, New York 1981, S. 34.

  11. Martin Bellermann, Subsidiarität und Selbsthilfe -Entwicklungslinien in der Sozialstaatsdiskussion und heutige Aktualität, in: Rolf G. Heinze (Hrsg.), Neue Subsidiarität: Leitidee für eine zukünftige Sozialpolitik?, Opladen 1986, S. 105.

Weitere Inhalte

Ludgera Klemp, Dr. rer. pol., geb. 1952; Studium der Soziologie in Bielefeld; Referentin der Abteilung Internationale Entwicklungszusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Entwicklungspolitik.