Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Verpasste Chancen? | In guter Verfassung? | bpb.de

In guter Verfassung? Editorial Alt aber nicht veraltet. Das Grundgesetz im 75. Jahr Verfassungskultur statt Leitkultur. Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes Verpasste Chancen? Die gescheiterte DDR-Verfassung von 1989/90 Wehrhafte Demokratie. Vom Wesen und Wert eines schillernden Konzepts Grundrecht unter Druck. Das Recht auf Asyl in den Mühlen der Migrationspolitik Krise des globalen Konstitutionalismus

Verpasste Chancen? Die gescheiterte DDR-Verfassung von 1989/90

Bettina Tüffers

/ 15 Minuten zu lesen

Der Entwurf einer neuen DDR-Verfassung 1989/90 war vor allem ein Projekt der Bürgerrechtsbewegung. Mit ihr sollte der Bundesrepublik als gleichberechtigter Partner entgegengetreten werden, doch fand der Verfassungsentwurf zu keiner Zeit politische Mehrheiten.

Der in den revolutionären Ereignissen im Herbst 1989 nach polnischem Vorbild – und nach Forderungen der Bürgerrechtsgruppen und der neu gebildeten Parteien – ins Leben gerufene Zentrale Runde Tisch der DDR vereinte die Repräsentanten des im Zerfall befindlichen SED-Regimes mit Vertretern der Opposition. Seine Aufgabe bestand darin, die ersten demokratischen Wahlen in der DDR zu organisieren und eine neue Verfassung zu entwerfen; die alte von 1974 entsprach nicht mehr den geänderten politischen Verhältnissen.

Gleich in der ersten Sitzung am 7. Dezember 1989 einigten sich die 48 Mitglieder des Zentralen Runden Tisches deshalb darauf, „sofort“ mit der Erarbeitung eines Verfassungsentwurfs zu beginnen. Dafür wurde die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ mit ihren vier Untergruppen Politische Willensbildung, Menschenrechte, Staatsorganisation sowie Wirtschafts- und Eigentumsordnung gebildet. Ihre Mitglieder kamen paritätisch aus allen am Runden Tisch vertretenen Parteien, Gruppen und Organisationen.

Allerdings hatte drei Wochen zuvor, am 18. November, auch die 9. Volkskammer einstimmig beschlossen, eine „Kommission zur Änderung und Ergänzung der Verfassung der DDR“ einzusetzen. Denn auch dort hatte sich, wie der Kommissionsvorsitzende Manfred Mühlmann später erläuterte, inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass „zunehmend Widersprüche zwischen der geltenden Verfassung und der sich vollziehenden und anbahnenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklung entstanden waren oder sich abzeichneten“ und „mit einer bloßen Veränderung und Ergänzung (…) langfristig keine ausreichenden verfassungsrechtlichen Grundlagen geschaffen werden“ konnten. Allerdings wollte man keinesfalls nur „verfassungsrechtliche Reparaturbrigade“ sein, sondern selbst eine neue Verfassung vorlegen.

Konkurrenzen und Restriktionen

Beide, Volkskammer wie Zentraler Runder Tisch, verfolgten damit dieselben Ziele: zum einen, eine Verfassung für eine demokratische, souveräne DDR zu entwerfen, und zum anderen, kurzfristig arbeitsfähig zu sein und verfassungsändernde Gesetze zu beschließen, mit denen sich die damals drängenden Aufgaben, etwa die Verabschiedung eines Wahlgesetzes, bewerkstelligen ließen. Für beide Gruppierungen war eine neue Verfassung außerdem Grundvoraussetzung für eine mögliche Vereinigung mit Westdeutschland.

Mühlmann unterrichtete den Zentralen Runden Tisch am Tag von dessen Konstituierung über die Existenz der Kommission und forderte ihn auf, sich an deren Arbeit zu beteiligen. Der Runde Tisch nahm dieses Angebot zwar zur Kenntnis, bestand aber darauf, selbst zu entscheiden, wie und mit wem er zusammenarbeiten wollte. Das war Ausdruck der neuen Machtverhältnisse: Der Runde Tisch bestritt der nicht aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen 9. Volkskammer das Recht, solche Entscheidungen zu treffen. Die einzige Institution, die aus dieser Perspektive legitimiert war, einen solchen Entwurf vorzulegen, war der Runde Tisch selbst. Der Volkskammer war lediglich die Funktion zugedacht, die unter anderem für die Erarbeitung eines Wahlgesetzes nötigen Verfassungsänderungen zu beschließen. Allerdings sollte sie mit zwei Mitgliedern des Verfassungsausschusses an der AG „Neue Verfassung“ beteiligt sein. Damit war laut dem Bürgerrechtler Wolfgang Templin zumindest eine „Art Arbeitsteilung (…) angestrebt, die sich positiv jedoch kaum realisierte und zumeist ein Gegeneinander bedeutete“.

Weil es aufseiten der Oppositionsgruppen kaum Juristen oder Staatsrechtler gab – wenngleich sich durch die Erfahrungen mit der Staatsmacht und ihren Sicherheitsorganen durchaus ein eigenes Rechtsbewusstsein und Rechtsverständnis, auch im Hinblick auf Verfassungsfragen, entwickelt hatte –, wurden von der Arbeitsgruppe eine Reihe von Expertinnen und Experten aus Ost- wie Westdeutschland hinzugezogen. Für die DDR waren das die Professoren Bernhard Graefrath und Karl-Heinz Schöneburg, beide vom Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR, aus der Sektion Rechtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin Fritz Tech, Dozent für Staatsrecht und Spezialist für das Recht der Bundesrepublik, Tatjana Ansbach, Dozentin für Völkerrecht, sowie das Ehepaar Hans-Jürgen und Rosemarie Will, er Dozent, sie Professorin für Staatsrecht. Aus der Bundesrepublik kamen der ehemalige Bundesverfassungsrichter Helmut Simon sowie die Professoren Axel Azzola, Alexander von Brünneck, Bernhard Schlink und Ulrich K. Preuß dazu. Klaus Michael Rogner kommt in seiner Studie zum Verfassungsentwurf zu dem Schluss, dass „diese neue Verfassung für die DDR maßgeblich durch juristische Berater des alten SED-Regimes (…) gestaltet“ worden sei; den westdeutschen Einfluss stuft er als eher gering ein. Eine weitere „externe Beraterin“ war die Schriftstellerin Christa Wolf, die an der Formulierung der Präambel mitwirkte.

Neben der DDR-Verfassung von 1949 zog die Arbeitsgruppe eine ganze Reihe anderer Verfassungen zu Rate, das bundesdeutsche Grundgesetz war dabei nur eine unter vielen. Nicht zuletzt interessierte man sich für die neuen Verfassungen Spaniens und Nicaraguas, weil beide ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit den Übergang von der Diktatur zur Demokratie bewältigt hatten. Im Laufe der Arbeit wurde deutlich, dass sich innerhalb der AG die größten Gegensätze nicht zwischen den alten und neuen Parteien auftaten, sondern „zwischen konservativem und radikaldemokratischem Verfassungsverständnis und [den] weit auseinandergehenden Hoffnungen, was das Projekt einer neuen Verfassung für die DDR bedeuten könnte“. In der Tat fällt die eigentümliche Allianz zwischen Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung und der SED angehörenden oder nahestehenden Staatsrechtlern und Juristen ins Auge, hatten diese ansonsten doch nur wenig gemein.

Die AG „Neue Verfassung“ hatte geplant, bis zum April 1990 einen Entwurf vorzulegen, der nach einer breiten öffentlichen Debatte von der neugewählten Volkskammer beschlossen und dann in einem Volksentscheid noch einmal zur Bestätigung hätte vorgelegt werden sollen. Allerdings wiesen einige Teilnehmer am Runden Tisch schon zu Beginn darauf hin, dass für die Ausarbeitung einer komplett neuen Verfassung bis zu den Wahlen die Zeit zu knapp sei. Der Fahrplan war in der Tat nach kürzester Zeit Makulatur. Vor allem dadurch, dass die ursprünglich für den 6. Mai angesetzte Volkskammerwahl um zwei Monate auf den 18. März vorgezogen worden war, mussten die Planungen mehrfach angepasst werden. Im Februar 1990 ging man dann davon aus, nur Arbeitsmaterialien für die weitere Diskussion zur Verfügung stellen zu können. Nach den Wahlen sollte mit der Volkskammer gemeinsam ein Verfassungsrat aus Vertretern aller politischen Parteien und Vereinigungen der DDR sowie einigen Experten gebildet werden, um einen „für die Ausarbeitung einer Verfassung unbedingt erforderliche[n] breite[n] gesellschaftliche[n] Konsens“ sicherzustellen. Den Volksentscheid terminierte man auf Oktober 1990.

Die von den Untergruppen erarbeiteten Teilbereiche in einer finalen Version zusammenzufügen, oblag einer zehnköpfigen Redaktionsgruppe, die zwar fast täglich fieberhaft daran arbeitete, mit dem Entwurf aber bis zur Abschlusssitzung des Runden Tisches am 12. März 1990 nicht fertig wurde. Sie beantragte deshalb, weiter tagen zu dürfen, um das Ergebnis dann im April der Öffentlichkeit übergeben zu können. Zudem wollte sie an der Arbeit des Verfassungsausschusses der neu gewählten Volkskammer beteiligt werden und schlug schließlich den künftigen Abgeordneten vor, für den 17. Juni 1990 einen Volksentscheid über die neue Verfassung anzusetzen. Gerd Poppe, Sprecher und Vertreter der Initiative Frieden und Menschenrechte beim Runden Tisch, legte in dieser letzten Sitzung am 12. März noch einmal Selbstverständnis und Absichten der Gruppe dar: Der Runde Tisch sei der legitime Sachwalter des Volkes, das in der friedlichen Revolution seine Fesseln gesprengt habe und alleine berechtigt sei, eine Verfassung zu erlassen. Mit dem Entwurf wolle man Bestrebungen entgegentreten, „sich durch die Abgabe von Beitrittserklärungen einer anderen Verfassungsordnung, dem Grundgesetz der BRD, nach Artikel 23 zu unterwerfen“. Über Vorbilder wie das Grundgesetz oder die Verfassung der DDR von 1949 sei man „zum Teil deutlich hinaus[gegangen], (…) um dem Volk das Recht zu garantieren, unmittelbar an der Gesetzgebung mitzuwirken und die Verwaltung mit zu gestalten“. Mit Blick auf die weitere Entwicklung empfahl Poppe den Entwurf als „vorzügliche Grundlage“ für eine neue gesamtdeutsche Verfassung, die dann Aufgabe einer verfassunggebenden Versammlung sei.

Dem Antrag verweigerten allerdings die in der AG vertretenen Mitglieder von CDU, Demokratischem Aufbruch (DA) und SPD ihre Zustimmung, die Liberal-Demokratische Partei (LDP) enthielt sich. Richard Schröder (SPD) machte deutlich, warum: Die Redaktionsgruppe maße sich Kompetenzen an, die ihr nicht zustünden. Über eine neue Verfassung habe nicht sie, sondern hätten nur gewählte Abgeordnete zu entscheiden: „Ich bin dafür, daß die Arbeit des Runden Tisches, mühsame Arbeit, Anfangsarbeit, eingeht in die weitere Arbeit. Aber diese Tonart, welche dem noch zu wählenden Parlament im voraus die Legitimität abzusprechen scheint, den zur Abstimmung gedachten Verfassungsentwurf vorzulegen, kann ich nicht gut finden“. Christine Weiske (Grüne Partei – GP) widersprach dem vehement. Es könne nicht angehen, die AG „nun zu einem Häufchen von Hobby-Verfassungsrechtlern“ zu degradieren, „die das auf Privatbasis“ weitermache. Die AG solle weiter bestehen, „schon allein deshalb, um die Früchte der basis-demokratischen Bewegung zu wahren“.

Der Entwurf, wie er schließlich am 4. April, also einen Tag vor der konstituierenden Sitzung der Volkskammer, einstimmig von der Redaktionsgruppe verabschiedet und tags drauf der Öffentlichkeit präsentiert wurde, umfasste unter anderem soziale Grundrechte wie das Recht auf Arbeit, Wohnung, Bildung und soziale Sicherheit, das Streikrecht und ein Aussperrungsverbot, plebiszitäre Elemente wie eine Gesetzgebung durch das Parlament oder durch Volksentscheid sowie privilegierte Rechte für Bürgerbewegungen mit Zugang zu Informationen der Verwaltung. Zum Staatswappen wurde das Emblem der ostdeutschen Friedensbewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ bestimmt.

Verfassungsdiskussion in der 10. Volkskammer

Am 4. April übersandte die Redaktionsgruppe den Entwurf, wie von ihr angekündigt, auch an die neugewählten Volkskammerabgeordneten mit der Bitte, „sich dafür einzusetzen, daß die Volkskammer der Inkraftsetzung dieses Verfassungsentwurfs der Beschlußfassung über verfassungsändernde Einzelgesetze den Vorzug gibt“. Doch mit dem eindeutigen Sieg des von CDU, DA und DSU (Deutsche Soziale Union) gebildeten Wahlbündnisses Allianz für Deutschland am 18. März 1990 war sein Schicksal quasi besiegelt, noch bevor die 10. Volkskammer überhaupt zum ersten Mal zusammengetreten war. Schließlich hatte die Allianz, im Gegensatz zum Bündnis 90, das mit dem Slogan „Art. 23. Kein Anschluss unter dieser Nummer!“ in die Wahl gegangen war, eine „Einheit auf der Grundlage des Grundgesetzes“ und mithilfe von Übergangsregelungen propagiert. In den Koalitionsvereinbarungen legten sich CDU/DA, DSU, FDP und SPD auf eine Vereinigung „auf Grundlage von Art. 23“ fest, auch wenn es zwischen CDU und SPD in dieser Hinsicht Meinungsverschiedenheiten gab. Den ursprünglichen Plan der SPD, einen Beitritt nach Artikel 23 in Kombination mit Artikel 146 GG, hatte die CDU abgelehnt. Übereingekommen war man aber, das Recht auf Arbeit, auf Wohnung und auf Bildung in die Vereinbarungen aufzunehmen. Plebiszitäre Elemente hingegen, die die SPD auch festgeschrieben haben wollte, waren mit der CDU nicht zu machen: „Man kann dem Parlament nicht Themen der Straße aufzwingen.“

Die Chancen für den Runden-Tisch-Entwurf standen also von Beginn an schlecht, auch wenn seine Verfechter und Autoren mehrfach versuchten, ihn in die Debatte einzubringen. In der vom Bündnis 90 beantragten Aktuellen Stunde am 19. April warb Gerd Poppe für den Entwurf nicht allein als Sprecher von Bündnis 90, sondern ausdrücklich auch im Auftrag der AG „Neue Verfassung“ und erinnerte daran, dass an der Erarbeitung alle am Runden Tisch vertretenen Parteien beteiligt gewesen waren, weshalb auch in der Volkskammer eine Mehrheit dafür zu finden sein müsse.

Für die Gegner des Vorschlags, für die die Berichterstatterin des Verfassungsausschusses und Anwältin Brigitta-Charlotte Kögler (DA) sprach, war mit dem 18. März auch die alte Verfassung von 1974 abgewählt worden. Eine neue DDR-Verfassung auszuarbeiten, die ohnehin nur eine Übergangslösung sein konnte, hielten sie für reine Zeitverschwendung. Selbst diejenigen, die dem Entwurf größeres Wohlwollen entgegenbrachten, wie beispielsweise SPD-Fraktionschef Richard Schröder, der selbst für kurze Zeit an ihm mitgearbeitet hatte, waren skeptisch. Die von den Antragstellern geforderte öffentliche Diskussion und ein späterer Volksentscheid würden, so die Einschätzung, zu lange dauern. Angesichts des ungeheuren Zeitdrucks, unter dem der Einigungsprozess inzwischen ablief, schien das schlicht nicht praktikabel.

Entsprechend wurden am 26. April 1990 die beiden vom Bündnis 90 eingebrachten Anträge zur Inkraftsetzung einer vorläufigen DDR-Verfassung und zur Volksabstimmung über eine neue Verfassung von den Parteien der großen Koalition mit einer knappen Mehrheit von 179 zu 167 Stimmen abgelehnt und nicht einmal in den Ausschuss überwiesen. Damit war klar, dass das demokratisch gewählte Parlament den Weg einer neuen DDR-Verfassung nicht weiter verfolgen, sondern lediglich mit verfassungsändernden Gesetzen arbeiten würde, die es dann am 17. Juni mit Zweidrittelmehrheit verabschiedete – also genau an dem Datum, für das die Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ ursprünglich die Volksabstimmung vorgesehen hatte.

Nach dem 3. Oktober

Mit dem 3. Oktober 1990 hatte sich der Entwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ aber mitnichten erledigt. Denn auch auf westdeutscher Seite hatte inzwischen eine rege und kontroverse Verfassungsdiskussion vor allem in den Printmedien und der (nicht nur) juristischen Publizistik begonnen. Von dort kamen, nachdem die Einigungsfeierlichkeiten abgeklungen waren, ebenfalls Forderungen, den Wortlaut des Artikels 146 GG ernst zu nehmen und das ursprünglich als Provisorium gedachte Grundgesetz durch eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu ersetzen. Vor allem an den Universitäten und unter linken und linksliberalen Intellektuellen gab es große Sympathien für eine Neufassung. So setzten Jürgen Habermas, Michael Stolleis, Axel Honneth, Adrienne Göhler, Ute Gerhard, Claus Leggewie oder Horst Bredekamp, um nur einige herauszugreifen, ihre Unterschrift unter einen Aufruf für eine verfassunggebende Versammlung.

Ihre Vorstellungen korrespondierten mit denen der Autoren und Unterstützer des Runden-Tisch-Entwurfs, beide Diskussionsstränge wurden so zusammengeführt und bisweilen auch von denselben Personen vertreten. Stellvertretend sei hier als eine der zentralen Figuren der Debatte der Berliner Theologe Wolfgang Ullmann genannt, 1989 Gründungsmitglied von Demokratie Jetzt, einer der Initiatoren des Zentralen Runden Tisches – wenngleich er nur zeitweise an den Sitzungen der AG „Neue Verfassung“ teilnahm –, später für das Bündnis 90 Abgeordneter in der 10. Volkskammer und einer ihrer Vizepräsidenten sowie von 1990 bis 1994 Abgeordneter des Bundestages. Er gehörte zusammen mit Rosemarie Will, Wolfgang Templin oder Ulrich K. Preuß zu denjenigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe, die schon am 16. Juni 1990, nachdem die Volkskammer die Beratung des Verfassungsentwurfs abgelehnt hatte, den außerparlamentarischen Weg beschritten und zusammen mit weiteren Akteuren aus Ost- und Westdeutschland im Reichstag in Berlin „die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative“, das „Kuratorium für einen demokratisch verfassten Bund deutscher Länder“ gründeten, um ihrem Vorhaben doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Ihr erklärtes Ziel war es, einen Verfassungsentwurf für das vereinigte Deutschland „als wichtigstem Element des Zusammenwachsens“ vorzulegen. Die etwa 200 aus den unterschiedlichsten Bereichen stammenden Mitglieder – die Liste reichte von Wolf Biermann über Otto Schily, Marianne Birthler, Fritz Pleitgen, Bärbel Bohley, Tatjana Böhm, Lea Rosh bis hin zu Jürgen Habermas – trafen sich in der Folgezeit zu insgesamt drei Kongressen, zwei davon an zentralen Orten der deutschen Verfassungsgeschichte: am 16. September 1990 unter dem Titel „Verfassung mit Volksentscheid“ in Weimar, am 8. Dezember 1990 in Potsdam und schließlich am 18. Mai 1991 in der Paulskirche in Frankfurt am Main, auf den Tag genau 143 Jahre, nachdem sich dort das erste deutsche Nationalparlament konstituiert hatte. Ihre Forderungen nahmen viele Punkte des Entwurfs der AG „Neue Verfassung“ auf: die Trennung von Staat und Kirche, das Recht auf Wohnung und Arbeit, Umweltschutz als Staatsziel, die Stärkung des Föderalismus und nicht zuletzt plebiszitäre Elemente und die Bestätigung der neuen Verfassung durch einen Volksentscheid.

Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat

Im Einigungsvertrag selbst war dem Gesetzgeber in Artikel 5 empfohlen worden, sich innerhalb von zwei Jahren mit einigungsbedingten Änderungen oder Ergänzungen des Grundgesetzes zu befassen. Dies bezog sich speziell auf das Verhältnis zwischen dem Bund und den Ländern, die mögliche Aufnahme von Staatszielen sowie die Frage der Anwendung des Artikels 146 GG und in dessen Rahmen die Durchführung einer Volksabstimmung.

Zu diesem Zweck wurde im November 1991 eine 64 Mitglieder starke gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat eingesetzt. Das allerdings entsprach ganz und gar nicht den Vorstellungen der geistigen Mütter und Väter des Runden-Tisch-Entwurfs. Wolfgang Ullmann etwa, der für Bündnis 90 in der Kommission saß, und andere Kuratoriumsmitglieder forderten eine breite öffentliche Diskussion, die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und einen anschließenden Volksentscheid. Auch SPD und Grüne hatten ursprünglich für die Einsetzung eines Verfassungsrates plädiert, der das Grundgesetz zu einer gesamtdeutschen Verfassung weiterentwickeln sollte.

Die Resultate, die die Kommission nach zweijähriger Beratung und kontroversen Auseinandersetzungen präsentierte, empfanden viele denn auch als enttäuschend. Während die einen sich über den Erhalt des Status quo freuten – das „Grundgesetz bleibt das Grundgesetz“ – titelten andere „Eine Leiche droht zu sterben“. Die beschlossenen Änderungen betrafen vor allem das Bund-Länder-Verhältnis, die Aufgaben des Bundesrats oder die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. Der Umweltschutz wurde in der Folge als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen, eine Forderung, mit der die Bundestags-Grünen zuvor noch in mehreren Anläufen gescheitert waren. Doch weder basisdemokratische Elemente noch das Recht auf Arbeit oder Wohnen noch ein von Konrad Elmer (SPD) vorgeschlagener Aufruf zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn schafften es ins Grundgesetz.

Auch wenn Wolfgang Ullmann im Mai 1993 ebenso wie sein Stellvertreter Gerd Poppe die Kommission vorzeitig verlassen hatte, weil er „seine verfassungspolitischen Vorstellungen und Erwartungen in den Beratungen und Abstimmungen der Kommission nicht verwirklicht sah“ und sich über die verpassten Chancen beklagte, war die Kommission dennoch „der einzige institutionalisierte Raum, in dem dieser deutsch-deutsche Reformdiskurs systematisch und unter großer öffentlicher Anteilnahme geführt wurde“. Ostdeutsche Demokratieideen, „die in der Herbstrevolution so vielstimmig artikuliert worden waren (…), kamen hier ausführlich zur Sprache“. Immerhin rund 800.000 Bürgereingaben, unter anderem Masseneingaben auf vorgedruckten Postkarten, zeugten vom großen öffentlichen Interesse.

Der gescheiterte Verfassungsentwurf – eine verpasste Chance?

Was bleibt nun von diesem gescheiterten Verfassungsversuch? Der Entwurf der AG „Neue Verfassung“ des Zentralen Runden Tisches war vor allem ein Projekt der DDR-Bürgerrechtsbewegung, unterstützt von den Reformkräften der SED und später der PDS. Mit dieser Verfassung sollte die DDR der Bundesrepublik als gleichberechtigter Partner gegenübertreten können. Die CDU als Gewinnerin der Wahlen vom 18. März präferierte allerdings von Anfang an den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes und sah, wie ihre Koalitionspartner in der Volkskammer, in einer eigenen DDR-Verfassung keinen Sinn. Nach dem 3. Oktober bildete der Entwurf eine der wesentlichen Quellen für einen weiteren Versuch, mithilfe einer Bürgerinitiative eine neue gesamtdeutsche Verfassung ins Leben zu rufen, die einen Neuanfang markieren und als Symbol für die Einheit zweier gleichberechtigter Partner stehen sollte. Dieser Versuch ist nicht geglückt. Zumindest aus Sicht der Initiatoren ist damit eine einmalige Chance vertan worden. Mehrheiten konnte der Entwurf allerdings zu keiner Zeit gewinnen. Auffallend sowohl beim Entwurf selbst als auch beim Engagement der Bürgerinitiative sind die starken Vorbehalte gegen die repräsentative parlamentarische Demokratie und ihre Verfahren sowie die Präferenz für direktdemokratische Teilhabe. Darin knüpfte der Entwurf an die DDR-Verfassung von 1949 an.

Dass der Entwurf über die erste Ablehnung hinaus trotzdem über vier Jahre in der Diskussion blieb, verdankte er unter anderem dem Einsatz von Akteuren wie Gerd Poppe oder Wolfgang Ullmann, die in den unterschiedlichsten Funktionen – als Mitglieder des Zentralen Runden Tisches, als Abgeordnete von Volkskammer und Bundestag, als Mitglieder der gemeinsamen Verfassungskommission und als Mitbegründer des außerhalb des Parlaments agierenden Kuratoriums – immer wieder für seine Realisierung kämpften. Obwohl sie letztlich damit scheiterten, hat der Entwurf dennoch seine Spuren hinterlassen. Sein politisches Erbe findet sich in einigen Verfassungen der 1990 wiedergegründeten ostdeutschen Bundesländer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. allg. Uwe Thaysen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990; Francesca Weil, Die runden Tische in der DDR 1989/90, Erfurt 2014.

  2. Vgl. allg. Klaus Michael Rogner, Der Verfassungsentwurf des Zentralen Runden Tisches der DDR, Berlin 1993; Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. Analysen – Hintergründe – Materialien, München–Wien 1991; Helge-Lothar Batt, Die Grundgesetzreform nach der deutschen Einheit. Akteure, politischer Prozeß und Ergebnisse, Opladen 1996.

  3. Vgl. Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik (VK), 9. Wahlperiode, Protokolle, Bd. 25, VK 9/12, 17./18.11.1989, S. 308.

  4. VK 9/14, 11./12.1.1990, S. 385.

  5. Ebd.

  6. So Manfred Mühlmann, ebd.

  7. Vgl. Bundesarchiv (BArch), DA 3/1, Bl. 40.

  8. Vgl. Zentraler Runder Tisch (ZRT), 7.12.1989, in: Uwe Thaysen (Hrsg.), Wortprotokoll und Dokumente – Der Zentrale Runde Tisch der DDR, Bd. 4: Identitätsfindung?, Opladen 2000, S. 50.

  9. ZRT, 18.12.1989, in: Thaysen (Anm. 8), S. 152f.

  10. Vgl. Wolfgang Templin, Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches. Hintergründe und Entstehungsbedingungen, in: Guggenberger/Stein (Anm. 2), S. 350–356, hier S. 351.

  11. Laut Rosemarie Will gehörten alle Beteiligten der SED-Reformgruppe der Sektion an. Vgl. Rosemarie Will, Die juristische Fakultät in der DDR, in: Stefan Grundmann et al. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Berlin u.a. 2010, S. 838–847.

  12. Rogner (Anm. 2), S. 131.

  13. Vgl. Templin (Anm. 10), S. 352.

  14. Ebd., S. 351.

  15. So Martin Gutzeit (SPD), ZRT, 7.12.1989, in: Thaysen (Anm. 8), S. 49.

  16. Vorschlag AG Neue Verfassung der DDR an den ZRT, 21.2.1990, in: BArch DA 3/40, Bl. 17.

  17. ZRT, 12.3.1990, in: Thaysen (Anm. 8), S. 1097.

  18. Ebd.

  19. Ebd.

  20. Vgl. Rogner (Anm. 2), S. 48.

  21. ZRT (Anm. 17), S. 1105.

  22. Ebd., S. 1111.

  23. Als einzige Tageszeitung veröffentlichte das Neue Deutschland am 18. April den kompletten Entwurf.

  24. AG Neue Verfassung des ZRT an die Abgeordneten der Volkskammer, 4.4.1990, BArch DA 3/42, Bl. 132.

  25. Zur rechtlichen Problematik vgl. Horst Dreier, Das Grundgesetz – Eine Verfassung auf Abruf?, in: APuZ 18–19/2009, S. 19–25.

  26. Artikel 23 GG in der Fassung bis 1990 bestimmte, dass das Grundgesetz „in anderen Teilen Deutschlands (…) nach deren Beitritt in Kraft zu setzen“ sei, Artikel 146 lautete: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

  27. Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), 07-011-6013, Stichwortprotokoll der IV. Sitzung der Fraktion der CDU, 10./11.4.1990.

  28. Vgl. Protokolle der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik, 10. Wahlperiode, Nachdruck, 3. Bd., Berlin 2000, VK 10/3, S. 51–59.

  29. Vgl. ebd., VK 10/5, S. 123–126 u. VK 10/15, S. 543–557.

  30. Stellvertretend dafür Guggenberger/Stein (Anm. 2). Vgl. auch die vielen Beiträge, zumeist von direkt Beteiligten, in der Fachzeitschrift Kritische Justiz der Jahre 1990 bis 1994, aber auch in Taz, FAZ, der Zeit und anderen.

  31. Vgl. Öffentliche Aufrufe für eine verfassunggebende Versammlung, in: Kritische Justiz 2/1990, S. 263ff.

  32. Rogner (Anm. 2), S. 138.

  33. Gründungsaufruf des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder, verfügbar z.B. unter Externer Link: http://www.blaetter.de/ausgabe/1990/september/gruendungsaufruf-des-kuratoriums-fuer-einen-demokratisch-verfassten-bund-deutscher-laender.

  34. Vgl. Potsdamer Erklärung des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder vom 8. Dezember 1990, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/1991, S. 121.

  35. Günter Bannas, Hoffnungen und Ängste waren übertrieben – das Grundgesetz bleibt das Grundgesetz, in: FAZ, 3.7.1993.

  36. Hans Monath, Eine Leiche droht zu sterben, in: Taz, 23.6.1994.

  37. Vgl. Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999, Bd. 3, Baden-Baden 1999, S. 3013–3019.

  38. Vgl. Sten Martenson, Mitmenschlichkeit soll Verfassungsrang erhalten, in: Stuttgarter Zeitung, 5.3.1994.

  39. Bericht der gemeinsamen Verfassungskommission, Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 12/6000, S. 7.

  40. Vgl. Wolfgang Ullmann, Verfassung und Parlament. Ein Beitrag zur Verfassungsdiskussion, Berlin 1992.

  41. Christina Morina, Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren, München 2023, S. 222.

  42. Vgl. BT-Drs. 12/6000 (Anm. 39), S. 13.

  43. Vgl. den Beitrag von Karl-Heinz Schöneburg, Verfassungsfortschritt in „Teutschland“?, in: Rosa-Luxemburg-Verein e.V., Mitteilungen 5/1991, S. 17–35.

  44. Vgl. Rogner (Anm. 2), S. 156–177; Morina (Anm. 41), S. 229f.; Bernd Hohmann, Etappen des verfassungsrechtlichen Diskurses und der Verfassungsgesetzgebung nach der revolutionären Wende in der DDR, in: Guggenberger/Stein (Anm. 2), S. 87–106, hier S. 102.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Bettina Tüffers für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

ist promovierte Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt "Parlamente in der DDR" bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V. in Berlin.