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Editorial | In guter Verfassung? | bpb.de

In guter Verfassung? Editorial Alt aber nicht veraltet. Das Grundgesetz im 75. Jahr Verfassungskultur statt Leitkultur. Genutzte und ungenutzte Potenziale des Grundgesetzes Verpasste Chancen? Die gescheiterte DDR-Verfassung von 1989/90 Wehrhafte Demokratie. Vom Wesen und Wert eines schillernden Konzepts Grundrecht unter Druck. Das Recht auf Asyl in den Mühlen der Migrationspolitik Krise des globalen Konstitutionalismus

Editorial

Sascha Kneip

/ 2 Minuten zu lesen

Jubiläen des Grundgesetzes waren in der Vergangenheit meist Hochfeste der liberaldemokratischen Selbstvergewisserung. Die am 23. Mai 1949 verkündete Verfassung gilt zu Recht als ein zivilisatorischer und verfassungsrechtlicher Meilenstein der deutschen Geschichte. Die im Grundgesetz verankerten Grundrechte, ihre Fundierung in der Menschenwürde und ihr Schutz durch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit haben mit dafür gesorgt, die Bundesrepublik zu einer stabilen liberalen Demokratie zu machen. Auch wenn das „Provisorium“ Grundgesetz bei seiner Verabschiedung mit großer Skepsis betrachtet wurde und es immer wieder Forderungen nach einer grundlegenden Revision gab, hat es sich in den vergangenen 75 Jahren als Glücksfall erwiesen – und als Vorbild für junge Demokratien weltweit.

Doch liegt über den diesjährigen Feierlichkeiten ein Schatten. Unter dem Eindruck eines erstarkenden Rechtspopulismus, gesellschaftlicher Polarisierung, Desinformationskampagnen und außenpolitischer Krisen steht weniger die Erfolgsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte als vielmehr die Aktivierung ihrer „wehrhaften“ Komponenten. Nicht über weitere Demokratisierungspotenziale des Grundgesetzes wird gestritten und diskutiert, sondern über Fragen des Parteiverbots und die Entziehung von Grundrechten. Unterdessen zeigen Woche für Woche Hunderttausende demonstrierende Menschen, dass sie gewillt sind, die liberale Demokratie gegen ihre Verächter zu verteidigen.

Tatsächlich zeigt der historisch vergleichende Blick, dass Demokratien nicht alleine von klugen Verfassungen und unerschrockenen Verfassungsgerichten am Leben erhalten werden können. Gut funktionierende Institutionen sind wichtig, aber ebenso wichtig ist die Unterstützung der Demokratie durch ihre Bürgerinnen und Bürger. Diese hängt nicht zuletzt von der Performanz des demokratischen Systems ab, von als gerecht empfundenen Politikergebnissen, von demokratischer Repräsentation und Inklusion – und eben auch von der zivilgesellschaftlichen Selbstvergewisserung über die Prinzipien guten Zusammenlebens. Das Grundgesetz stellt hierfür alle Voraussetzungen bereit; mit Leben füllen müssen wir es selbst.