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Chinesische Migration und soziale Reproduktion

Biao Xiang

/ 17 Minuten zu lesen

Chinesische Migration ins Ausland ist seit den 1990er Jahren vermehrt durch Erfordernisse der sozialen Reproduktion begründet. Die gestiegenen Anforderungen für Eheschließung, Wohnen, Bildung, Gesundheit und ein gutes Leben sind für viele nur noch im Ausland aufzubringen.

China steht nicht nur als Staatsmacht in einer Beziehung zu seinen Nachbarn und dem Rest der Welt. Auch die transnationale Migration von Menschen ist ein wichtiger Bestandteil dieser Beziehung. Migration wird nicht nur durch gezielte Staatspolitik angetrieben, sie wird auch von privaten Überlegungen in Bezug auf Einkommen und Status bestimmt. Meiner Meinung nach wird die Abwanderung aus China seit den 1990er Jahren zunehmend von Sorgen um soziale Reproduktion angetrieben: Bildung, Fürsorge, Ehe, Lebensumfeld und der allgemeine Wunsch, ein gutes Leben zu führen, sind Bestandteil der gesellschaftlichen Reproduktion, da sie für die Vermehrung, Erhaltung und Verbesserung menschlichen Lebens unerlässlich sind. Das "bestimmende Moment in der Geschichte", schrieb Friedrich Engels 1884, beinhaltet "die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens. (…) Einerseits die Erzeugung von Lebensmitteln, von Gegenständen der Nahrung, Kleidung, Wohnung und den dazu erforderlichen Werkzeugen; andrerseits die Erzeugung von Menschen selbst, die Fortpflanzung der Gattung."

Die von sozialer Reproduktion angetriebene Migration unterscheidet sich auf den ersten Blick nicht von der ökonomisch motivierten, doch lassen sich beide voneinander abgrenzen. So können zum Beispiel Investor*innen auf der Suche nach profitablen Investitionsmöglichkeiten emigrieren oder im Ausland einen ausgewogeneren Lebensstil genießen, losgelöst von Investitionsmöglichkeiten. Student*innen können entweder mit dem Ziel emigrieren, nach dem Abschluss ein höheres Einkommen zu verdienen, oder um neues Wissen zu erwerben, ohne zukünftige Gewinne einzurechnen. Arbeiter*innen können aufgrund von Arbeitslosigkeit oder Armut auswandern oder weil sie den Wunsch haben, eine bessere Ausbildung für die eigenen Kinder zu finanzieren. Die unterschiedlichen Anreize bedeuten, dass Migration unterschiedlich geplant, gefühlt und erlebt wird.

Soziale Reproduktion ist immer ein gewisser Faktor bei der Migration, die Frage ist, in welchem Ausmaß. Überlegungen zur Reproduktion lassen sich nicht vollständig von Erwägungen wirtschaftlicher Möglichkeiten trennen, dennoch ist soziale Reproduktion als Antrieb für Migration im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden. Dieser Trend spiegelt auch umfassende Veränderungen in der chinesischen Gesellschaft wider, in Bezug darauf, wie die Menschen auf das Leben blicken und wie essenzielle Ressourcen verteilt werden. Der Stellenwert der sozialen Reproduktion bei der Migration wird auch unmittelbar Einfluss darauf haben, wie sich die Migrationsströme in Anbetracht des geopolitischen Wandels verändern könnten. Im Folgenden werde ich drei Haupttypen von Migration aus China unter die Lupe nehmen, nämlich Bildungs-, Investitions- und Arbeitsmigration.

Bildungsmigration

"Ich will nicht, dass sie herausragend wird oder so etwas", sagt Ying, eine Telekommunikationstechnikerin und alleinerziehende Mutter Mitte Vierzig aus dem südostchinesischen Hangzhou, mit Tränen in den Augen. "Es geht nur darum, [sie] als Mensch zu retten!" Ying erklärt mir den Plan, ihre zwölf Jahre alte Tochter für den Schulbesuch nach Europa zu schicken. Diese kommt in der Sekundarschule gut voran und ist für die Vorzugsklasse ausgewählt worden, in der Schüler*innen schneller lernen und "Ruhm für die Schule" erlangen sollen, indem sie bei den Aufnahmeprüfungen für die weiterführende Schule besser abschneiden als andere. Der Druck ist enorm. Jeder Tag ist für Ying ein Kampf. Nachdem die Tochter um 6:30 Uhr aufgestanden ist, öffnet Ying eine App auf dem Smartphone, die englische Wörter und Sätze vorliest, die ihre Tochter auswendig lernen muss. Mit dem Smartphone in der Hand folgt sie ihr ins Bad und anschließend in die Küche, damit das Mädchen beim Waschen und Frühstücken Englisch lernen kann. Der Kampf in der Nacht ist noch schmerzvoller. Ying hat 22:00 Uhr als Schlafenszeit festgelegt, aber das Kind wird mit den Hausaufgaben nicht vor 23:00 Uhr oder später fertig. Wenn Ying ihre Tochter auffordert, ins Bett zu gehen, rastet diese manchmal aus. Oft weinen am Ende beide. "Selbst ich habe das Gefühl, nicht genug zu schlafen, wie soll ein Kind das ertragen? Das chinesische Bildungswesen zerstört buchstäblich Menschen!"

"Unmenschlich" oder "ohne Menschlichkeit" sind Äußerungen, die auch andere Eltern benutzen, mit denen ich über das chinesische Bildungssystem spreche. Ihre Sorgen decken sich weitgehend mit Beiträgen aus den sozialen Netzwerken. Bei einem Auslandsstudium geht es darum, die Menschlichkeit an sich zu bewahren, und nicht so sehr um die Verbesserung des eigenen Status oder das Erwerben von Wissen. Das Kosten-Nutzen-Kalkül ist weniger relevant.

Aber so ist es mit der Bildungsmigration aus China nicht immer gewesen. Als die chinesische Regierung die Abwanderung von Studierenden nach der Kulturrevolution Ende der 1970er Jahre wieder ermöglichte, wurde dies mit der Produktivität Chinas begründet. Es gab ein akutes Bewusstsein dafür, dass Chinas Wirtschaft der Welt hinterherhinkte und die eigene Produktivität steigern musste. Als die Regierung im Januar 1979 mit den USA bilaterale Abkommen über eine Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technologie und Bildung schloss, hatte dies eine massive Abwanderung von Studierenden zur Folge. Diese wurden von der chinesischen Regierung unterstützt und waren dazu verpflichtet, nach Abschluss ihrer Ausbildung zurückzukehren. Die meisten Studierenden waren erwachsen und gingen für Aufbaustudien ins Ausland.

Die Bildungsmigration aus China fiel allmählich in den Bereich familiärer Investitionen, nachdem es in den 1980er Jahren Einzelpersonen erlaubt worden war, selbstbestimmt ins Ausland zu gehen. 2001 finanzierten sich erstmals über 90 Prozent aller chinesischen Studierenden im Ausland selbst. Dieser Anteil ist seither weitgehend unangetastet geblieben. Ein selbstfinanziertes Studium im Ausland ist teuer. Malaysia gilt üblicherweise als eines der günstigsten Länder für ausländische Studierende, aber ein Studium kostete dort in den Nullerjahren immer noch mindestens 6.000 US-Dollar pro Jahr, etwa das Doppelte des durchschnittlichen Pro-Kopf-Haushaltseinkommens in China 2010. Um die Ausbildung im Ausland zu finanzieren, griffen Eltern nicht nur auf ihre privaten Ersparnisse zurück, sondern trieben auch Mittel in der erweiterten Familie auf, liehen sich Geld und beantragten Kredite. Im Gegenzug hofften Familien, dass die Ausbildung im Ausland mit einem gut bezahlten Beruf einhergehen würde. Somit folgte die von Familienseite angetriebene Migration an diesem Punkt noch einer wirtschaftsorientierten Logik.

Die Dinge begannen sich zu verändern, als die chinesische Gesellschaft wohlhabender und gleichzeitig wettbewerbsorientierter wurde. Allmählich wurden studentische Migrant*innen nicht nur von potenziellen Vorteilen im Ausland angezogen, sondern auch von der Verunsicherung über die Lebensbedingungen in China abgestoßen. In einem kurzen Zeitraum von dreißig Jahren hat sich China von einem der egalitärsten zu einem der ungleichsten Länder der Welt entwickelt. Erbitterter Wettstreit und Versagensängste haben unter jungen Menschen zu großem Unmut geführt. Die rasche soziale Stratifizierung hat auch zu einem starken Gefühl der Anomie geführt. Ein junger Beamter, der für die Verwaltung der Provinz Liaoning im Nordosten Chinas arbeitet, erzählte mir von seiner Entscheidung, seine einzige Tochter ins Ausland zu schicken, weil China zu "chaotisch" sei. Damit meinte er nicht nur den chaotischen Verkehr oder den Mangel an Sicherheit, sondern bezog sich vielmehr auf die moralische Ordnung: "Die Leute können heutzutage so reich werden. Man hat keine Ahnung, woher sie das Geld haben. Wie sollen wir das verstehen? Wie sollen wir reagieren, wenn unsere Tochter sagt, dass sie auch so werden will? Diese reichen Leute sind nicht unbedingt glücklich. Sie sind vielleicht sehr besorgt. Aber ich spüre ein Ungleichgewicht in meinem Herzen, wenn ich sehe, dass sie so ein gutes Leben haben. Menschen wie Sie sind anders. Sie leben im Ausland und haben klare Regeln, denen Sie folgen. Es ist klar, wofür Sie stehen und gegen was man sein sollte. Ich denke, junge Menschen wissen besser, was sie im Ausland machen sollen."

Ein Studium im Ausland wurde zunehmend als ein Weg zu einem ausgeglicheneren und vorhersehbareren Leben für die nächste Generation betrachtet. Dieser Anreiz resultierte in einem neuen Migrationsmuster, nämlich der Migration junger Kinder im Rahmen der Primar- oder Sekundarschulbildung. 2018 machten chinesische Schüler*innen im Highschool-Alter und darunter 35 Prozent aller internationalen Lernenden aus China aus. Diese Gruppe stellt die profitabelste Geschäftsnische für gewerbliche Vermittler dar, die auf Bildungsmigration spezialisiert sind. Vermittler für Bildungsmigration bedienen in China drei Gruppen von Kunden: Erstens erwachsene Studierende, insbesondere Berufstätige mit Arbeitserfahrung, die 250.000 bis 300.000 Renminbi aus eigenen Ersparnissen für einen Masterabschluss im Ausland bezahlen; zweitens Familien mit mittlerem Einkommen, die ungefähr 300.000 Renminbi bezahlen, um ihre Kinder für ein Aufbaustudium ins Ausland zu schicken; und schließlich wohlhabende Familien, die als erste Investition 800.000 Renminbi für die weiterführende Schule bezahlen und bereit sind, mehr für eine anschließende Hochschulausbildung auszugeben. Die dritte Kundengruppe ist bereit, das meiste umgehend zu bezahlen, aber auch über einen längeren Zeitraum hinweg. Daraus entstehen neue Geschäftsmöglichkeiten. Beispielsweise bieten manche Vermittler Folgeleistungen an, wie die Unterstützung bei Hochschulbewerbungen nach Abschluss der weiterführenden Schule und bei der Suche nach Gastfamilien oder Bürgen in den jeweiligen Zielländern. Die finanziellen Vorteile, die sich daraus ergeben, Kinder in jungem Alter ins Ausland zu schicken, sind schwer vorherzusehen, aber die Kosten sind offenkundig hoch. Doch ist das Verhältnis von Kosten und Nutzen in der Tat zweitrangig, wenn es bei der Migration um den Schutz und die Förderung von "Menschlichkeit" geht.

Investitionsmigration

Eine der auffälligsten Entwicklungen in der chinesischen Migration seit den Nullerjahren war die dramatische Zunahme von Investitionsmigration, bis diese Praxis kürzlich von einigen Staaten unter anderem wegen geopolitischer Spannungen mit China ausgesetzt wurde. Investitionsmigrant*innen sind wohlhabende Personen, die Aufenthaltsgenehmigungen im Ausland erhalten, wenn sie sich verpflichten, eine signifikante Geldsumme im Zielland zu investieren.

Abhängig vom jeweiligen Land und dessen Regelungen für Investitionsvisa, können ausländische Investor*innen Eigentum oder Staatsanleihen erwerben, einen Betrag an nationale Entwicklungsfonds spenden oder in Privatunternehmen investieren. Im Gegenzug erhalten sie gewisse Aufenthaltsrechte: Dabei kann es sich unmittelbar um eine Staatsbürgerschaft handeln, um eine permanente Aufenthaltsgenehmigung oder um eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung mit Aussicht auf eine permanente. Zu den beliebtesten Programmen gehören Tier 1 in Großbritannien, EB-5 in den USA, Significant Investor in Australien und Golden Visa in Portugal. In den 2010er Jahren machten Migrant*innen aus China den Löwenanteil aller Antragssteller*innen für diese Visa aus. 2014 erhielten chinesische Staatsangehörige in den USA beispielsweise 85 Prozent aller EB-5-Visa. 2010 waren 58 Prozent der zugewanderten Investor*innen in Kanada chinesische Staatsangehörige, gefolgt von acht Prozent taiwanesischen Staatsangehörigen. Auch in Australien erhielten chinesische Staatsangehörige 86 Prozent aller Significant Investor Visa zwischen 2012 und 2019.

Die Aufnahmeländer haben das System der Investitionsmigration geschaffen, um die wirtschaftliche Produktivität zu steigern. Von ausländischen Investor*innen wird erwartet, dass sie Kapital mitbringen und Arbeitsplätze schaffen. Doch für die chinesischen Investor*innen ist das System nicht deshalb attraktiv, weil es ihnen mehr Geld einbringt, sondern weil es neue Möglichkeiten im Bereich der sozialen Reproduktion schafft. In einer 2009 von der US-amerikanischen Unternehmensberatung Bain and Co. in China durchgeführten Umfrage unter Personen mit einem investierbaren Vermögen von 1,5 Millionen US-Dollar und mehr gaben 37 Prozent "Schaffung von Vermögen" (wealth creation) als Hauptgrund dafür an, ins Ausland zu gehen. 2016 waren es nur noch 13 Prozent, während 44 Prozent den "Erhalt von Vermögen" (wealth preservation) und das "Erben von Vermögen" (wealth inheritance) als Hauptgrund für die Migration nannten. Es scheint, als würden chinesische Investor*innen ihre Mittel, wie von den Programmen verlangt, eher für den Kauf von Vermögenswerten ausgeben, insbesondere von Immobilien, als in produktive Unternehmen zu investieren. Ein Händler aus Südchina, der vorhatte, nach dem Quasi-Ausscheiden aus seinem Geschäft nach Kanada auszuwandern, erzählte mir von seinem Plan: "Ich möchte in Kanada einfach nur jeden Tag lesen und Filme sehen. Würde ich mehr Geld verdienen wollen, würde ich in China bleiben. In China kommt das Geld viel schneller."

Was erhoffen sich chinesische Investor*innen von der Migration ins Ausland, wenn sie nicht investieren? Die drei wichtigsten Gründe für die Abwanderung, die 141 Befragte bei einer Umfrage des Migrationsberatungsunternehmens Visas Consulting Group nannten, waren Bildungsqualität für Kinder, Umweltverschmutzung und Lebensmittelsicherheit. Das Niveau der Lebensmittelsicherheit ist in China niedrig, und die Umweltverschmutzung so hoch, dass jedes Jahr zwischen 350.000 und 500.000 Menschen vorzeitig allein an den Folgen der Luftverschmutzung sterben. Die Annehmlichkeiten internationaler Reisefreiheit, die ein chinesischer Pass nicht bieten kann, die aber für Investitionsmigrant*innen zugänglich sind, werden ebenfalls als wichtige Komponenten eines erstrebenswerten Lebens betrachtet. Im Gegensatz zu dem weitverbreiteten Bild, dass wohlhabende Chinesen im Ausland einem dekadenten Lebensstil frönen, äußerten viele Investitionsmigrant*innen den Wunsch nach einem gesünderen und saubereren Lebensstil im Ausland, wo sie alkoholische Getränke, üppige Banketts und hektische Arbeitspläne vermeiden können und mehr Zeit für Bewegung und Entspannung haben. Demnach wandern Investor*innen aus, um einen geeigneten Weg zu finden, ihr körperliches und geistiges Wohlbefinden zu erhalten. Ein Investitionsmigrant in den USA sagte der Soziologin Gracia Liu-Farrer, für Wohlhabende in China "ist etwas kein Problem, wenn es mit Geld gelöst werden kann". Migration ist für Reiche aus China damit kein Mittel, um Geld zu verdienen, sondern um Dinge zu erreichen, die man nicht mit Geld kaufen kann.

Arbeitsmigration

Arbeitsmigration ist die Art von Migration, die die Fachdiskussion sowohl in akademischen als auch in politischen Kreisen dominiert, und aus diesem Grund wird Migration oft als eine Angelegenheit der Wirtschaft und nicht als eine der sozialen Reproduktion betrachtet. Die Arbeitsabwanderung aus China ist jedoch zunehmend reproduktionsgetrieben. Statt durch Arbeitslosigkeit oder Armut dazu gezwungen zu werden, wandern Menschen aus, um schnell Ersparnisse aufzubauen, Häuser zu kaufen, zu heiraten, die Ausbildung ihrer Kinder zu bezahlen und ihre medizinische und soziale Versorgung sicherzustellen. Diese Reproduktionsaufgaben sind zeitaufwendig. Während durch Arbeit in China durchaus Ersparnisse angesammelt werden können, wird dieser Prozess im Ausland beschleunigt. Es ist natürlich nichts Neues, dass Arbeitsmigrant*innen Einkünfte nach Hause schicken, um für Bildungs- und Gesundheitskosten aufzukommen, aber die reproduktionsgetriebene Migration zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Pflichten der sozialen Reproduktion zu Projekten entwickelt haben, die man in einem bestimmten Alter, auf einem gewissen Niveau und mit einem erheblichen finanziellen Aufwand abgeschlossen haben sollte. In der Vergangenheit wurden zusätzliche Einkünfte ausgegeben, um ein Haus in der ländlichen Heimat auszubauen, aber inzwischen ist das im Ausland verdiente Migrationseinkommen zum primären Mittel geworden, um Ersparnisse zu maximieren und damit städtisches Eigentum zu erwerben, was zur nötigen Voraussetzung für die Eheschließung auf dem Land geworden ist.

Als ich 2004 mit meiner Feldforschung zur Arbeitsmigration in der nordostchinesischen Provinz Liaoning begann, planten viele Migrant*innen, ihre zukünftigen Auslandseinkünfte in kleine Unternehmen zu investieren, zum Beispiel um einen Laden zu gründen, ein Auto zu kaufen und dieses als Taxi zu vermieten, oder um Werkzeug zu erwerben und ein Renovierungsteam auszustatten. 2010 dachten bereits viel weniger Menschen über Businesspläne nach. Sie beschäftigten sich eher mit Dingen wie Partnersuche, dem Abbezahlen von Schulden und dem Kauf von Wohnungen für sich oder ihre Kinder, obwohl manche davon erst die Grundschule besuchten. Dies lag teils daran, dass die Gründung kleiner Unternehmen komplizierter wurde, da die chinesische Wirtschaft inzwischen kapitalintensiver und stärker reguliert ist, vor allem sind aber die sozialen Erwartungen an das Wohnen, die medizinische Versorgung und Bildung gestiegen – und auch die Kosten dafür.

Die Nachbarländer Japan, Singapur und Südkorea sind die drei wichtigsten Ziele für chinesische Arbeitsmigranten. Als Hauptgründe für die Entscheidung, im Ausland zu arbeiten, führen Migrant*innen seit 2010 häufig die "vier schweren Berge" an: Ehe, Wohnen, Bildung und medizinische Versorgung.

Laut einer Statistik aus der Provinz Liaoning vom Ende der Nullerjahre sind etwa 70 Prozent der Arbeitsmigrant*innen Männer. Das Stigma, das unverheirateten Männern in China anhaftet, ist hinlänglich bekannt, und die Ängste, die mit der Partnersuche einhergehen, werden durch das akute Bewusstsein der ungleichen Geschlechterverteilung im Land verstärkt: Im Alter zwischen 20 und 24 Jahren kamen 2019 auf 100 Frauen 115 Männer. Um in den späten 2010er Jahren in einer Bezirksstadt eine Heirat zu sichern, musste ein potenzieller Bräutigam über eine Wohnung verfügen und ein Brautgeld von 100.000 Renminbi bezahlen. Von Bräutigamen wird außerdem erwartet, die Mittel für ein Auto, Möbel, Schmuck und das Hochzeitsbankett beizusteuern, Kosten, die sich meinen Erhebungen zufolge auf etwa 300.000 Renminbi belaufen.

Der zweite "Berg" ist das Wohnen. Die Preise für Wohnen sind in China über die vergangenen vierzig Jahre in die Höhe geschossen. China reformierte 1998 sein wohlfahrtsorientiertes städtisches Wohnwesen, unter anderem um den Immobilienmarkt zu entwickeln und die Wirtschaft nach der asiatischen Finanzkrise von 1997 zu stabilisieren. Zwischen 1999 und 2018 ist der durchschnittliche Quadratmeterpreis für neugebaute Wohnungen in China von 1.758 auf 8.539 Renminbi gestiegen. Das Verhältnis von Kredit zu verfügbarem Haushaltseinkommen ist von 2004 bis 2018 von 16,2 auf 47,6 Prozent gestiegen. Migrant*innen sagen, sie gehen ins Ausland, um "für die Banken zu arbeiten"; sie müssen hart arbeiten und sparen, weil sie "Sklaven ihres Hauses", also ihres Kredits seien.

Was die Bildung anbelangt, bietet China zwar noch immer eine kostenlose Grundbildung an, doch das zunehmende Interesse von Eltern an einer besseren Bildung für ihre Kinder hat die tatsächlichen Bildungskosten in die Höhe getrieben, zum Beispiel durch Zahlungen für Privatunterricht. Laut einer Umfrage des Internetportals Sina Education von 2017 gaben Haushalte im Durchschnitt 26 Prozent ihres Jahreseinkommens während der Vorschulzeit eines Kindes aus, 21 Prozent ihres Jahreseinkommens vom Kindergarten bis zur Sekundarschule und 29 Prozent ihres Einkommens für jedes Jahr an einer Hochschule. Eine neue Entwicklung im ländlichen China besteht darin, dass Vorschulkinder einen Kindergarten besuchen, wohingegen sie früher zu Hause blieben oder im Dorf mit Gleichaltrigen spielten. Die einzigen Kindergärten, die ihnen zur Verfügung stehen, sind private Einrichtungen in nahegelegenen Städten, die monatliche Gebühren erheben, da es in Kleinstädten nur sehr wenige öffentliche Einrichtungen gibt. Zwischen 2012 und 2021 stiegen die monatlichen Gebühren für private Kindergärten von unter 650 auf über 1.000 Renminbi. Für Landwirte, die nur ein begrenztes Vermögen haben, sind dies sehr hohe Ausgaben.

Die Migrant*innen, die am dringendsten ins Ausland wollen, haben oft Familienmitglieder, die eine umfangreiche medizinische Behandlung benötigen. Die Pro-Kopf-Auslagen für medizinische Kosten sind im Laufe der 2000er Jahre drastisch gestiegen. Lu Gang, ein 32 Jahre alter, aber viel älter aussehender Mann, den ich 2018 in einer Bezirksstadt in Liaoning traf, sagte mir, dass er um jeden Preis ins Ausland gehen wolle, da sein Vater Krebs im Spätstadium habe. Als wir uns trafen, dauerte die Behandlung bereits über ein Jahr an und hatte alle Ersparnisse der Familie aufgebraucht. Lu war bereit, 70.000 Renminbi zu bezahlen, um nach Australien zu gehen, wo die Löhne, wie man ihm gesagt hatte, höher seien als in den üblichen Zielländern. Er wolle als Lkw-Fahrer arbeiten, trotz seiner minimalen Englischkenntnisse: "Ich bin schon früher Lkw gefahren. Als Lkw-Fahrer kann man Gelegenheitsjobs annehmen. Ich kann mehr verdienen."

Ehe, Wohnen, Bildung und Gesundheitsfürsorge haben sich zu gigantischen Lasten entwickelt, weil sie monetarisiert wurden. Lebenswichtige Grundbedürfnisse sind zu Waren geworden, für die man zahlen muss. Um seinen sozialen Status zu bewahren, fühlt man sich genötigt, Wohnraum, Bildung und medizinische Versorgung zu erwerben, auch wenn dies die eigenen Ressourcen übersteigt. Da alle miteinander konkurrieren und immer mehr für soziale Reproduktion ausgeben, steigen die Kosten dafür schneller als die Einkommen. Die Monetarisierung der sozialen Reproduktion treibt die Abwanderung in zweierlei Hinsicht an: Einkommensschwachen Gruppen hilft die Arbeitsmigration dabei, schnell Ersparnisse aufzubauen. Diejenigen, die vom chinesischen Wirtschaftswachstum profitiert haben, beziehungsweise deren Kinder wandern aus, um sich von dem stressigen Lebensstil zu befreien. Für die Armen ist die Migration ein Weg in den chinesischen Mainstream-Lebensstil, für die Reichen ist die Migration ein Weg nach draußen.

Migration und Werte in der Zukunft

Die Abwanderung aus China könnte in den kommenden Jahren noch stärker reproduktionsgetrieben werden. In den frühen 2020er Jahren hat sich das Verhältnis Chinas zu seinen Nachbarn und dem Westen verschlechtert. Handel und Reisen zwischen China und dem Rest der Welt sind massiv zurückgegangen. Chinas Wirtschaftswachstum hat sich verlangsamt, und die politische Kontrolle wurde verschärft. Vor diesem neuen Hintergrund zeigen in China einige Menschen aus der gebildeten Mittelschicht, insbesondere die jungen, eine größere Bereitschaft als zuvor, im Namen von Vorhersehbarkeit, politischer Sicherheit, persönlicher Würde und Freiheit für sich und ihre Kinder auszuwandern. Zum Beispiel stiegen am 3. April 2022 – dem Tag, an dem die Regierung offiziell ihr Festhalten an der desaströsen Null-Covid-Politik bekräftigte – die Suchanfragen für den Begriff "Auswanderung" auf WeChat, dem sozialen Netzwerk, das praktisch jeder in Festlandchina nutzt, um 440 Prozent. Viele fühlten sich desillusioniert von der brutalen Lockdown-Politik der Regierung, die wenig Verständnis für menschliche Bedürfnisse und Gefühle zeigte. Vor allem junge Frauen wollen das Land verlassen, in dem der patriarchale Konservatismus gerade wieder erstarkt. Einige eilen überstürzt in Nachbarländer wie Thailand, Kambodscha und Laos, aus Furcht, dass China seine Grenzen bald schließen könnte und sie nicht mehr ausreisen könnten. Während wirtschaftliche Werte, das heißt finanzielle Entlohnung und Kapital, stets eine wichtige Rolle bei der Konditionierung menschlicher Aktivitäten spielen, könnten soziale Werte wie Freiheit, Würde und Harmonie in den kommenden Jahren bei der Abwanderung aus China zum zentralen Faktor werden.

Aus dem Englischen von Maximilian Murmann, München

ist Direktor der Abteilung Anthropologie des wirtschaftlichen Experimentierens des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle an der Saale. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Migration in Asien, Mobilität und soziale Reproduktion.
E-Mail Link: office.xiang@eth.mpg.de