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Ziemlich beste Rivalen? | China und seine Nachbarn | bpb.de

China und seine Nachbarn Editorial Regionaler Hegemon? Kleine Geschichte der auswärtigen Beziehungen Chinas in Asien "Von der Verlobung zur Rivalität". China und seine benachbarten Großmächte Über das Seerecht zur Seemacht. Chinas maritime Machtspiele und strategische Konflikte Bedrohte Demokratie. Der Konflikt in der Taiwanstraße Ziemlich beste Rivalen? Sino-russische Beziehungen nach dem Angriff auf die Ukraine "So eng wie Lippen und Zähne"? Chinas Beziehungen zu Nordkorea Chinesische Migration und soziale Reproduktion Karte

Ziemlich beste Rivalen? Sino-russische Beziehungen nach dem Angriff auf die Ukraine

Nele Noesselt

/ 13 Minuten zu lesen

Die Proklamation einer "grenzenlosen Freundschaft" zwischen Moskau und Beijing im Februar 2022 hat Spekulationen über ein anti-liberales Bündnis angefacht. Doch setzt Beijing primär auf strategische Autonomie und eine Pluralisierung seiner Kooperationspartner.

Als der russische Präsident Wladimir Putin am 4. Februar 2022 anlässlich der Olympischen Winterspiele Beijing besuchte, unterzeichneten er und der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping ein Dokument zur umfassenden Vertiefung der Kooperation, in dem auch die "grenzenlose Freundschaft" zwischen ihren beiden Ländern bekundet wurde. 2021 war der erstmals 2001 unterzeichnete Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen eines Telefonats zwischen den beiden Staatspräsidenten bekräftigt und um neue Themenfelder erweitert worden. Die Formel der "grenzenlosen" Partnerschaft befeuerte allerdings weltweit Spekulationen über die finale Zementierung einer neuen autokratischen sino-russischen Opposition zur bestehenden regelbasierten liberalen Weltordnung. Allerdings blieben die meisten Punkte der Kooperationserklärung äußert vage, weshalb internationale Analysten von einer "undeclared alliance" sprechen. Diese signalisiert die wechselseitige symbolische Unterstützung, ohne jedoch konkrete Verpflichtungen für einen gegebenenfalls militärischen Bündnisfall zu formulieren.

Dass Beijing diese Freundschaft nicht als Nibelungentreue auslegt, verdeutlicht das Abstimmungsverhalten Chinas im Rahmen der Vereinten Nationen. Die Volksrepublik hat den russischen Angriffskrieg in der Ukraine seit dem 24. Februar 2022 nicht offiziell verurteilt und sich bei entsprechenden UN-Abstimmungen enthalten – wie bereits 2014 angesichts der russischen Annexion der Krim-Halbinsel: Als im März 2014 eine Resolution zur territorialen Unversehrtheit der Ukraine in der UN-Generalversammlung angenommen wurde – mit 100 Stimmen dafür, elf Gegenstimmen und 58 Enthaltungen –, wählte China den symbolischen Mittelweg der Stimmenthaltung. Auch auf der elften Sondersitzung der UN-Generalversammlung 2022 enthielt sich die Volksrepublik bei der Abstimmung über die Resolution zu den humanitären Folgen des Angriffs auf die Ukraine. Es gab nur fünf Gegenstimmen – von Belarus, Eritrea, Nordkorea, Syrien und Russland selbst. Zuvor hatte es bereits eine Initiative der USA und Albaniens im UN-Sicherheitsrat gegeben, mit einer Resolution ein umgehendes Ende des Militäreinsatzes zu verlangen und die Anerkennung von Donezk und Luhansk als eigenständige Volksrepubliken durch Russland rückgängig zu machen. Russland verhinderte die Resolution mit seinem Veto – China, Indien und die Vereinigten Arabischen Emirate enthielten sich. Der Vertreter Chinas bei der UN betonte die komplexen historischen Wurzeln des Konflikts und sprach sich für die Notwendigkeit einer auf Dialog und Konsultation beruhenden Beilegung der Streitigkeiten aus. Zudem formulierte er, dass die Ukraine eine wichtige Brücke zwischen Ost und West darstelle und nicht zum Außenposten anderer Großmächte werden sollte.

Das Abstimmungsverhalten Chinas – symbolische Stimmenthaltung mit dem Anspruch, sich als "neutraler" Akteur auszuweisen – bleibt dem grundlegenden Muster der zurückliegenden Dekaden treu: Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates verfügt Beijing über ein permanentes Vetorecht, nutzt dieses in der Regel jedoch nicht. Die von China eingebrachten Vetos seit 2011 betrafen mehrheitlich Resolutionen zu Syrien. Die USA und Russland, ebenso wie Frankreich und Großbritannien, machten weitaus häufiger von ihrem Vetorecht Gebrauch.

Die VR China schreckt offensichtlich vor symbolischen Handlungen zurück, die auf einen Schulterschluss zwischen Beijing und Moskau schließen lassen könnten. Allerdings hat die chinesische Berichterstattung die Terminologie Russlands übernommen und vermeidet in der Regel den Begriff "Krieg" zur Lage in der Ukraine. Parallelen und Gemeinsamkeiten in der offiziösen Interpretation durch die chinesischen und russischen Staatsmedien finden sich zudem in der Identifikation der NATO-Osterweiterung und den von beiden Staaten perzipierten Hegemoniebestrebungen der USA als Ursache des Konfliktes.

2023: "Felsenfeste" Beziehungen?

Im Februar 2023 hatte der damals noch amtierende chinesische Außenminister Wang Yi bei seinem Besuch in Russland die Beziehungen mit der chinesischen Formel "stabil wie der Berg Tai" als unerschütterlich und robust bezeichnet. Im März 2023 begab sich Xi Jinping, gerade für eine dritte Amtszeit als Staatspräsident durch den Nationalen Volkskongress bestätigt, auf eine Staatsvisite nach Moskau, wo er mit Wladimir Putin zusammentraf. Dieser wird im Zuge des Krieges in der Ukraine durch den Westen nicht nur sanktioniert, sondern gilt seit der Verhängung des Haftbefehls durch den Internationalen Strafgerichtshof am 17. März 2023 zusätzlich als symbolisch isoliert und geächtet. Xis Besuch steht dem internationalen Druck auf Beijing entgegen, sich der Verurteilung Russlands anzuschließen und seine Sonderbeziehungen mit Moskau einzustellen, um auf eine Beendigung des Krieges hinzuwirken.

Zugleich befinden sich die USA und ihre Verbündeten in Opposition zu Beijings maritimen Machtansprüchen und haben ihre militärischen Abschreckungspotenziale im Indopazifik sukzessive verstärkt. Aus Sicht Beijings ist durch den Erlass neuer US-Bundesgesetze zu Taiwan und der daran anknüpfenden hochrangigen Reisediplomatie zwischen US-Delegationen und der autonomieorientierten Präsidentin Taiwans, Tsai Ing-wen, der Status quo ausgehebelt worden. Die Eskalationsspirale im Indopazifik dreht sich weiter; die USA haben ihre regionale Sicherheitsarchitektur ausgebaut und Bündnisstrukturen wie den quadrilateralen Sicherheitsdialog, auch bekannt unter der Kurzform Quad, mit Australien, Indien und Japan reaktiviert. Beijing fühlt sich zunehmend durch ein proamerikanisches Sicherheitsbündnis umzingelt, das selbst urkommunistische Akteure wie Vietnam einbezieht. Somit ist es wenig erstaunlich, dass sich die VR China nicht an den Forderungskatalogen der USA und ihrer Bündnispartner orientiert, sondern die Kooperation mit Russland daraufhin prüft, inwiefern diese den eigenen nationalen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen dienen kann. So wurden zum Beispiel bei Xis Staatsbesuch in Russland im März 2023 Abkommen unterzeichnet, die einen Ausbau der russischen Gas- und Öllieferungen nach China im Tausch gegen Technologielieferungen vorsehen.

China hat mehrfach Vorschläge für eine Beendigung des Krieges formuliert, detailliert ausgeführt in Xis Zwölf-Punkte-Plan im Februar 2023, mit denen der russische Präsident, wie er bei einem bilateralen Treffen betonte, grundsätzlich einverstanden war. Gerade dies sorgt allerdings für Kritik seitens internationaler Analysten, die China nicht als unabhängigen Mediator, sondern als Verbündeten und Fürsprecher russischer Interessen einstufen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der noch vor Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine weit verbreiteten Szenarien einer möglichen Synchronisation der russischen und chinesischen Außenpolitik gegenüber der Ukraine und Taiwan. Zwar ist kein zeitgleicher Angriff erfolgt, doch befürchtet die westliche Bündnispolitik weiterhin eine militärische Wiedereingliederung Taiwans durch die Volksrepublik. Im April 2023 verurteilten die Außenministerinnen und Außenminister der G7-Staaten bei ihrem Treffen in Japan den russischen Angriffskrieg und warnten nicht nur Moskau, sondern parallel auch Beijing. Kurz davor hatte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Staatsbesuch in Beijing eine entsprechende Warnung sehr direkt ausgesprochen und betont, dass Europa eine gewaltsame Veränderung des Status quo nicht akzeptieren werde. Zugleich forderte sie, dass Beijing Russland nicht mit Waffen für seinen Krieg in der Ukraine beliefern sollte. Der chinesische Außenminister verwahrte sich gegen entsprechende Belehrungen und Zurechtweisungen aus dem Westen. Vor dem Hintergrund dieser diplomatischen Verstimmungen erschien die unmittelbar darauf durchgeführte – bereits länger geplante – Russlandreise des im März 2023 neuernannten chinesischen Verteidigungsministers Li Shangfu fast schon wie eine symbolische Retourkutsche. Li traf in Moskau nicht nur mit dem russischen Verteidigungsminister, sondern auch direkt mit Putin zusammen.

Egozentrische Zweckgemeinschaft?

Trotz der medial zur Schau gestellten Kooperation entsprechen die gegenwärtigen sino-russischen Beziehungen eher einer Zweckgemeinschaft als einer Neuauflage der sozialistischen Brüderschaft. So finden sich zwar auf der einen Seite überlappende Interessen und weltpolitische Zielsetzungen: In ihrer außenpolitischen Rhetorik haben China und Russland seit dem Zerfall des sowjetischen Blocks formuliert, auf eine multipolare Weltordnung hinarbeiten zu wollen. Beide Staaten üben deutliche Kritik an der Osterweiterung der Nato sowie an den reaktivierten und erweiterten Sicherheitsallianzen der USA, nicht zuletzt jenen im Indopazifik.

Auf der anderen Seite hat Beijing in den vergangenen Jahren seine ganz eigene Vision einer "neuen" Weltordnung formuliert: Neben der Belt and Road Initiative hat Xi Jinping mit den Konzepten der 2021 initiierten Globalen Entwicklungsinitiative und der 2022 auf dem Boao Forum umrissenen Globalen Sicherheitsinitiative den chinesischen Anspruch unterstrichen, alternative Ordnungskonzeptionen global verankern zu wollen. Die Globale Sicherheitsinitiative betonte das Prinzip der "unteilbaren Sicherheit" – ein Konzept, das auch von Russland bestätigt wird: Im Februar 2022 forderte der russische Außenminister Sergej Lawrow die USA und ihre Verbündeten auf, das OSZE-Abkommen von 1999 zu respektieren, dass kein Staat "seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe". In einem Telefongespräch mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba am 1. März 2022 hatte Chinas Außenminister Wang Yi ebenfalls Chinas Engagement für dieses Prinzip betont.

Xi hatte bis in den Herbst 2022 eine "Null-Covid-Strategie" mit umfassenden Quarantäneauflagen und drakonischen Lockdowns verfolgt und im Zuge dessen auch seine eigenen Reiseaktivitäten eingestellt. Das Gipfeltreffen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, das im September 2022 in Usbekistan stattfand, bot den Rahmen für das erste persönliche Zusammentreffen zwischen Xi und Putin seit Beginn des Krieges in der Ukraine. Der Empfang, der den beiden Staatspräsidenten bei ihrer jeweiligen Ankunft am Flughafen in Samarkand zuteilwurde, sprach allerdings Bände. So wurde für Xi eine prachtvoll geschmückte Empfangspromenade auf dem Flugfeld aufgebaut, die durch eine speziell hierfür errichtete Pagode führte. Umrahmt wurde die Begrüßung durch Musik und Tanzgruppen, der usbekische Präsident war höchstpersönlich zugegen. Ganz anders, vergleichsweise sang- und klanglos, erfolgte die Landung des russischen Präsidenten, dem keine entsprechenden Ehren entgegengebracht wurden. Dies verdeutlichte die Skepsis und Ängste der zentralasiatischen Staaten vor möglichen wiedererstarkenden Kontrollansprüchen Moskaus. Am Rande des Gipfeltreffens äußerten sich Putin und Xi zur Situation in der Ukraine. Der russische Präsident lobte Chinas ausgeglichene Positionierung und kritisierte Tendenzen der Zementierung einer unipolaren Weltordnung durch die USA. In dem Zusammenhang wies er die Weigerung Washingtons, mit Russland über eine neue Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa jenseits der Nato zu verhandeln, als Auslöser der militärischen Eskalation aus. Darüber hinaus formulierte er proaktiv, dass Moskau am Ein-China-Prinzip festhalte, und er verurteilte die Positionierung der USA in der Taiwanstraße als provokativen Akt. Ein entsprechendes Statement der Unterstützung der russischen Ukraine-Position durch Beijing blieb hingegen aus.

Zudem vermeidet Beijing eine formale Verletzung der internationalen Sanktionen gegen Russland und betont immer wieder, dass es keine Waffen an Russland liefern werde. Gleichzeitig unterstreicht die chinesische Seite die Notwendigkeit, eine dialogbasierte Beilegung des Konflikts zu erwirken, und hält damit an ihrem Mantra einer friedensorientierten Außen- und Weltpolitik fest.

Bröckelnde Fassade?

Die offizielle Berichterstattung in China und Russland lässt jedoch substanzielle Grenzen der "grenzenlosen" Partnerschaft erahnen. Das Telefongespräch zwischen Putin und Xi am 15. Juni 2022 wurde gemeinhin als ein Akt der Bestätigung der symbolischen Unterstützung Beijings für Russland interpretiert. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass sich die Regierung in Beijing der Risiken bewusst ist, als (militär)strategischer Partner und enger Verbündeter Moskaus wahrgenommen zu werden. Daher unterstreichen die Medien das chinesische Selbstbild, als Förderer und Verteidiger des globalen Friedens und der Stabilität der Weltwirtschaft zu fungieren. Während die chinesische Seite das Verständnis für Russlands Sicherheits- und Souveränitätsbelange bekräftigt, drängt sie dennoch auf eine verantwortungsvolle, dialogbasierte Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine. Die von Beijing artikulierten Rollenansprüche bestehen auf den Grundsätzen des Friedens, der Entwicklung und der Zusammenarbeit. Dazu gehört auch ein starkes Engagement für Diplomatie und Konfliktprävention.

Die russische Berichterstattung über das Telefonat vermeldete hingegen Beijings allumfassende Anerkennung "der Legitimität der Maßnahmen Russlands zum Schutz seiner grundlegenden nationalen Interessen angesichts der Herausforderungen für seine Sicherheit, die durch externe Kräfte geschaffen wurden" und kündigte eine Stärkung der zukünftigen bilateralen Zusammenarbeit an.

Offensichtlich besteht ein deutlicher Widerspruch zwischen den beiden offiziellen Zusammenfassungen des Telefonats. Die chinesische Seite sucht nach einer neutralen Position zwischen Russland und der Ukraine. In einem Telefongespräch mit dem ukrainischen Außenminister Kuleba am 4. April 2022 erklärte Wang Yi, dass die Volksrepublik davon absehen würde, Russland mit Waffen zu unterstützen. Darüber hinaus haben chinesische staatseigene Bankinstitute Berichten zufolge die gegen Russland verhängten Sanktionen weitgehend eingehalten. Es gibt eine spürbare Besorgnis unter chinesischen Analysten, dass China allzu leicht als russischer Verbündeter eingestuft und daher analog mit Wirtschafts- und Finanzsanktionen überzogen werden könnte – eine Eskalation in der Taiwanstraße wäre für die Verhängung solcher Sanktionen keine zwingende Voraussetzung.

China als Mediator und Schlichter?

Dass sich China in Konfliktkonstellationen als Mediator positioniert, hat vielerorts erneut Spekulationen über eine offene Infragestellung der ordnungspolitischen Führungsrolle der USA evoziert. Chinas Position angesichts des Krieges in der Ukraine wird von Kritikern daher als "pro-russische Neutralität" klassifiziert, was zugleich suggeriert, dass jede von China (mit)herbeigeführte Konfliktregulierung auf ein Respektieren der Interessen Putins hinauslaufen würde. Für China hingegen steht die Mediationsrolle für einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer unabhängigen Außenpolitik und für die Positionierung als globale Großmacht mit weltweitem Ordnungsanspruch.

Schon 2017 hatte die Volksrepublik unter Xi Jinping Vorstöße unternommen, die USA in ihrer globalen Rolle als Mediator zu beerben. Die von China orchestrierten Verhandlungen zwischen Israel und Palästina im Geiste von Camp David liefen jedoch ins Leere. Ganz anders im März 2023, als es vermittelt durch China zu ersten symbolischen Schritten der Aussöhnung zwischen Saudi-Arabien und Iran kam. Angefeuert von diesem diplomatischen Erfolg vermeldete der chinesische Außenminister kurz darauf, im April 2023, das Anliegen, in den jüngsten Spannungen zwischen Israel und Palästina schlichtend eingreifen zu wollen.

Am 26. April 2023, im Nachgang seines Staatsbesuches in Moskau, führte Xi sein erstes offizielles Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten. Dieser pries das Gespräch auf seinem Twitter-Account als "long and meaningful". Die chinesische Seite kündigte zudem die Entsendung eines Mediators, Li Hui, an. Wenige Tage zuvor hatten Äußerungen des chinesischen Botschafters in Frankreich, Lu Shaye, für einen diplomatischen Eklat gesorgt, da sie dahingehend interpretiert worden waren, dass China die Souveränität der Ukraine ebenso wie jene der baltischen Staaten hinterfrage. Xis Telefonat muss jedoch nicht zwingend eine Reaktion hierauf gewesen sein. Denn im Hintergrund stehen seine Zusagen gegenüber der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, denen er bei ihrer Visite in Beijing kurz zuvor signalisiert hatte, dass sich die Volksrepublik vermittelnd in den Konflikt einschalten werde. Die von den USA und ihren transatlantischen Partnern an Xi herangetragene Forderung, die chinesischen Sonderbeziehungen mit Moskau und die wirtschaftliche Abhängigkeit Russlands von Handels- und Finanzierungszusagen aus China zu nutzen, um eine Einstellung des Krieges und einen Rückzug Russlands zu erzwingen, wurde und wird jedoch entschieden zurückgewiesen. Teil des chinesischen Selbstverständnisses als globale Großmacht ist es, Weltfriedenspolitik nach eigenen Vorstellungen und Idealen zu gestalten und China als eigenständigen und unabhängigen Akteur im Weltgeschehen zu positionieren. In der Literatur zu nationalen Rollenkonzeptionen wird dies exemplarisch mit der Kategorie eines "aktiven unabhängigen" Akteurs abgebildet. Nachdem China in der post-maoistischen Ära zunächst vorsichtige, beobachtende Schritte auf dem internationalen Parkett gewagt hatte, zeichnet sich seit dem Zugewinn an ökonomischer Macht ein selbstbewussteres Auftreten ab – insbesondere in Zeiten, in denen die kapitalistisch geprägten Wirtschaftssysteme des Westens zunehmend in Erschütterung geraten.

Strategische Non-Rivalität

Im sino-russischen Verhältnis zeigen sich über ein Jahr nach dem Bekenntnis zu einer "grenzenlosen Freundschaft" deutlich mehr Differenzen und Nuancierungen als es die Formel vermuten lässt. Moskau sieht Beijing nicht nur als Partner, sondern auch als Rivalen und Konkurrenten in Zentralasien. Beide haben in den zurückliegenden Jahren die Absicht bekundet, ihre Infrastruktur- und Integrationsprojekte wie die Belt and Road Initiative und die von Russland angestrebte Eurasische Wirtschaftsunion zu verbinden. Tatsächlich aber beobachtet Moskau die wachsende Präsenz Chinas in Zentralasien mit immer größerer Besorgnis. Auch in Afrika und Lateinamerika konkurrieren die beiden Akteure indirekt um den Ausbau ihrer jeweiligen Machtbasen.

Dennoch stellen Moskau und Beijing ihre Rivalitäten immer dann zurück, wenn sich die Abgrenzungen und Kritikäußerungen des Westens mehren. Nahezu perfekt inszeniert erscheint die Abschiedsszene bei Xis Visite in Moskau. Internationalen Medienberichten zufolge soll Xi sich mit den Worten verabschiedet haben: "Right now there are changes – the likes of which we haven’t seen for 100 years – and we are the ones driving these changes together." Der russische Präsident soll dem zugestimmt haben. Diese inszenierte Fensterrede sendet eine deutliche Botschaft: Nur wenn Moskau und Beijing in eine Neuaushandlung der regionalen und globalen Sicherheitsarchitektur eingebunden werden, können bestehende und zukünftige Konflikte gelöst werden. Allerdings unterscheiden sich die russischen und chinesischen Konzepte der Sicherheits- und Friedenspolitik maßgeblich – wie das Beispiel Ukraine zeigt.

ist Professorin für Politikwissenschaft und Politik Ostasiens/Chinas an der Universität Duisburg-Essen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Internationale Beziehungen und Global Governance.
Externer Link: nele.noesselt@uni-due.de