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Globalisierung und wohlfahrtsstaatliche Aufgaben | APuZ 33-34/1997 | bpb.de

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APuZ 33-34/1997 Globalisierung -Begriff und grundlegende Annahmen Wirtschaft und Staat im Zeitalter der Globalisierung. Von nationalen Volkswirtschaften zur globalisierten Weltwirtschaft Zu den Folgen der Globalisierung für die nationalen Güter-, Finanz-und Arbeitsmärkte Globalisierung und wohlfahrtsstaatliche Aufgaben

Globalisierung und wohlfahrtsstaatliche Aufgaben

Otto G. Mayer

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Globalisierung dürfte im wesentlichen die Konstruktionsmängel und Ineffizienzen der deutschen sozialen Institutionen aufdecken, die bei weniger offenen Güter-, Dienstleistungs-, Kapital-und Arbeitsmärkten noch nicht in dem Maße zutage treten. Durch die Globalisierung wird ein Druck in Richtung auf eine ungleichere Einkommensverteilung ausgeübt; weniger qualifizierte Arbeit verliert relativ an Boden zugunsten von hochqualifizierter Arbeit und Kapital. Zur Finanzierung der Sicherungssysteme wie auch der Umverteilungspolitik können mobile Faktoren in zunehmend geringerem Umfang herangezogen werden. Art und Umfang der Sozialleistungen werden sich verstärkt danach richten, inwieweit die Bürger selbst bereit sind, auf ansonsten verfügbares Einkommen zugunsten von Sicherheit und Gerechtigkeit zu verzichten. Die Hoffnung auf ein verstärktes Umverteilungsengagement des Staates ist insofern trügerisch, als die immobilen Bürger -die Arbeitnehmer -dann selbst verstärkt zu Abgaben herangezogen werden müßten und weil soziale Transfers verstärkt in einen Mittelwettbewerb mit produktivitätssteigernden staatlichen Ausgaben für Investitionen, Forschung und Bildung treten dürften -will man die Chancen aus der Globalisierung auch wahmehmen.

I. Einleitung: Der Sozialstaat unter Druck

Übersicht: Soziale Bereiche in der Bundesrepublik Deutschland

Der deutsche Sozialstaat ist verstärkt unter Druck geraten. Die Bürger klagen über steigende Steuer-und Abgabenbelastungen, die Unternehmen über die ihre Flexibilität und Anpassungsfähigkeit beeinträchtigenden sozialen Reglementierungen, und der Staat hat Probleme, trotz zunehmender Belastung der Bürger seine Verschuldung in den Griff zu bekommen. Nimmt man die anderen Aufgaben des Staates und das Ausgabeverhalten der privaten Wirtschaftssubjekte als gegeben an, könnte hieraus geschlossen werden, daß die Güter „Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“, die durch die sozialen Systeme produziert werden sollen, entweder in zu großer Menge oder ineffizient her-bzw. bereitgestellt werden.

Die derzeit im politischen Raum geführte Diskussion um Reformen im Sozialbereich hat denn auch die mit der heutigen Ausgestaltung verbundene Finanzierungslast zum Ausgangspunkt. So betrug das Sozialbudget, das neben den staatlichen Leistungen auch die der Arbeitgeber an ihre jeweiligen Beschäftigten umfaßt, nach vorläufigen Ergebnissen im Jahre 1994 rund 1 Billionen DM und belief sich damit auf ungefähr ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts 1. Die Sozialleistungsquote hat damit wieder das Niveau des Jahres 1975 erreicht, als sie ihren zeitweiligen Höchststand erreicht hatte. Im Jahre 1960 betrug diese Quote dagegen noch 22, 8 Prozent, und die Leistungen je Einwohner lagen -deflationiert -um rund 66 Prozent niedriger als im Jahre 1994.

Finanziert werden die Ausgaben des Sozialbudgets zu 29, 6 Prozent (1994) aus den Sozialbeiträgen der Versicherten, zu 35, 5 Prozent von den Arbeitgebern und zu 31, 2 Prozent durch Zuweisungen der staatlichen Haushalte. Der gegenüber den sechziger Jahren zu verzeichnende starke Anstieg der Ausgaben für Sozialleistungen hat sich in entspre-chend kräftig gestiegenen Beitragssätzen zu den Sozialversicherungssparten niedergeschlagen. Betrugen diese im Jahre 1960 zusammengenommen 22, 4 Prozent des beitragspflichtigen Einkommens, so erreichten sie 38, 9 Prozent im Jahre 1994 und rund 42 Prozent 1997.

Die Gründe für die heutigen und vor allem noch in Zukunft zu erwartenden Finanzierungsprobleme der sozialen Systeme mögen in politischen Entscheidungen über Art und Umfang der Leistungen liegen, in demographischen Entwicklungen und/oder in Konstruktionsfehlern der Systeme, die entweder -wegen fehlender Rückkoppelungsregeln -bei exogenen Schocks, zum Beispiel bei demographischen Veränderungen oder bei Beschäftigungseinbußen, zu Finanzierungsschwierigkeiten führen und/oder wegen des nur lockeren Zusammenhangs zwischen Beiträgen und Leistungen falsche Anreize und damit Ineffizienzen zur Folge haben. Schlimmer noch: Durch die Ausgestaltung der Systeme bzw. durch die Menge an Leistungen und die damit verbundenen Kosten kann -so die Vermutung -gerade die wirtschaftliche Basis, auf der der Sozialstaat beruht, unterminiert werden, so daß ein Teufelskreis aus rückläufiger wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, höheren Abgaben und Steuern bei gegebenen Sozialleistungen sowie einer weiteren Beeinträchtigung der „Wirtschaftskraft“ entstehen könnte. Die These, daß die Arbeitslosigkeit an der finanziellen Misere der sozialen Systeme vorrangig schuld sei, muß daher insoweit mit Vorsicht betrachtet werden, als sie außer acht läßt, daß die Beschäftigungsentwicklung nicht unabhängig von den Anreizstrukturen und der Finanzierungslast ist, die auf die Sozialleistungen zurückzuführen sind.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn auf nahezu allen Feldern des Sozialbereichs Änderungen überlegt, Kürzungen vorgenommen und Reformen diskutiert werden Beispielhaft seien nur erwähnt die Änderung des Lohnfortzahlungsgesetzes, die Absenkung der Lohnersatzlei­ stungen im Falle von Arbeitslosigkeit, die diversen Versuche, die Kostenentwicklung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zu dämpfen, die Diskussion um eine Absenkung der Regelsätze in der Sozialhilfe oder die Debatte um eine Rentenversicherungsreform. Wie auch bei der Arbeitslosen-und der Krankenversicherung spielt dabei unter anderem die Frage eine Rolle, ob die Versicherungsbeiträge gesenkt werden sollen, indem die sogenannten versicherungsfremden Leistungen „umfinanziert“ werden durch eine Erhöhung indirekter Steuern

Diese „heimische“ Diskussion wird seit einiger Zeit durch eine „internationale“ Komponente angereichert, indem die Frage nach den „Grenzen des Sozialstaates“ im eigenen Lande mit der Standortfrage verknüpft und ein „Wettbewerb der Systeme“ prognostiziert wird. Die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, die Integration der ehemals abgeschotteten sozialistischen Staaten Mittel-und Osteuropas in die Weltwirtschaft, insbesondere in die europäische Arbeitsteilung, das Aufholen der sogenannten Schwellenländer, die schon ihrerseits durch Nachholer unter Wettbewerbsdruck geraten, drastisch gesunkene Kommunikations-und Transportkosten sowie die mit der Liberalisierung einhergehende Kapitalmobilität haben den internationalen Wettbewerb zwischen den Unternehmen intensiviert Befürchtet wird, daß diese „Globalisierungsprozesse“ einerseits den Sozialstaat beispielsweise durch höhere Arbeitslosigkeit noch stärker fordern werden, andererseits aber erzwingen, daß weniger finanzielle Leistungen in Zukunft bereitgestellt werden können oder die sogenannten Sozialstandards abgesenkt werden müßten. Anders gewendet: In einer Zeit zunehmender Unsicherheit bestände die Gefahr, daß die Produktion des Gutes „Sicherheit“ und des Gutes „soziale Gerechtigkeit“ auch noch eingeschränkt werden müsse. Aus dem politi-sehen Raum (Oskar Lafontaine) ist denn auch schon die Forderung erhoben worden, einen derartigen „Wettbewerb der Systeme“ durch „internationale Kooperation“ zu unterbinden.

II. Eine Skizze der deutschen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen

Damit stellt sich die Frage, inwieweit Globalisierungsprozesse die Produktion der Güter „Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ zusätzlich zu den „hausgemachten“ Entwicklungen beeinflussen können bzw. Änderungen erzwingen. Bei dem Versuch, auf diese Frage Antworten zu finden, dürfte es hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, daß die Produktion dieser Güter -vereinfacht formuliert -in drei Bereichen stattfindet (vgl. die alles andere als vollständige Übersicht; zudem sollte berücksichtigt werden, daß eine Umverteilungs-und Ausgleichspolitik auch im Rahmen der jeweils anderen Bereiche stattfindet):

Erstens gelten tarifliche und gesetzliche Bestimmungen für den Unternehmensbereich, die die Unternehmen zu bestimmten sozialen Leistungen verpflichten. Die Unternehmen müssen auch die Kosten dieser Leistungen tatsächlich tragen, sofern sie diese nicht in Form niedrigerer Löhne -als gemessen an der Arbeitsproduktivität ansonsten möglich -auf die Arbeitnehmer rücküberwälzen oder in Form höherer Preise auf den Güter-märkten auf ihre in-und ausländischen Abnehmer überwälzen können. Ist ihnen dies nicht möglich, sind bei gegebener gewünschter Verzinsung des eingesetzten Kapitals Rationalisierungen die Folge, und/oder es werden Investitionen unterlassen, mit anderen Worten, dann sind negative Auswirkungen auf die Zahl der heutigen oder zukünftigen Arbeitsplätze zu befürchten Über die Art der Auswirkungen zusätzlicher, dem Unternehmensbereich übertragener Aufgaben entscheidet also auch die Tarif-und Lohnpolitik in dem Maße, in dem sie den für Verteilungszwecke zur Verfü-gung stehenden Produktivitätsspielraum nicht gänzlich für Lohnerhöhungen ausschöpft, sondern Raum für tarifliche oder auch gesetzliche zusätzliche Belastungen läßt. Eine Überwälzung dieser Last auf die Abnehmer hängt entscheidend von der Wettbewerbsposition des einzelnen Unternehmens auf seinen in-oder ausländischen Märkten ab, das heißt vom Ausmaß seines Spielraums für Preiserhöhungen. Dieser dürfte im Falle innovativer und qualitativ hochwertiger Produkte größer sein als bei sogenannten Standardprodukten. Hier wird auch deutlich, daß für alle Unternehmen einheitlich vorgegebene soziale Verpflichtungen die einzelnen Unternehmen sehr unterschiedlich treffen können.

Zweitens wird das Gut „Sicherheit“, aber auch das Gut „soziale Gerechtigkeit“, im Bereich der soge-nannten sozialen Absicherungssysteme (Renten-, Kranken-, Pflege-, Unfall-, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe) produziert. Deren Leistungen sind gesetzlich festgelegt und werden durch Beiträge von Unternehmen und Arbeitnehmern sowie durch Steuern finanziert: Die Unfallversicherung wird gänzlich von den Unternehmen getragen, die Sozialhilfe gänzlich von den Gemeinden aus Steuermitteln finanziert, die übrigen Versicherungssparten werden im Prinzip hälftig aus Arbeitgeber-und Arbeitnehmerbeiträgen finanziert.

Bundeszuschüsse aus Steuermitteln (oder aus Verschuldung) fallen gesetzlich vorgeschrieben im wesentlichen in der Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung, oder besser: für die Bundesanstalt für Arbeit an, insbesondere für die sogenannte aktive Arbeitsmarktpolitik; zudem wird die Arbeitslosenhilfe gänzlich aus Bundesmitteln finanziert.

Ein spezifisches Kennzeichen der Finanzierung der Sparten Renten-, Kranken-, Pflege-und Arbeitslosenversicherung ist die proportionale Abhängigkeit der Beitragszahlungen von der Höhe der individuellen Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer bis zur jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze. Die individuell zu erwartenden Leistungen aus der jeweiligen Versicherung hängen aber nicht nur von den eingezahlten Beiträgen ab -Stichwort: „versicherungsfremde“ Leistungen im Falle der gesetzlichen Krankenversicherung sind die Gesundheitsleistungen und auch die Zahl der Empfänger der Leistungen (mitversicherte Familienmitglieder) völlig unabhängig von den Beitragsleistungen. Änderungen in der Beschäfti­gungssituation und im Erwerbsverhalten haben damit unmittelbare Auswirkungen auf die Finanzlage der Versicherungssparten, während sich auf der Leistungsseite entsprechende Wirkungen erst in mittel-oder längerfristiger Sicht oder -ohne staatliche Interventionen -überhaupt nicht zeigen. Beispielsweise führt eine rückläufige Beschäftigung oder ein verstärkter Übergang von einer Voll-zu einer Teilzeitbeschäftigung heute tendenziell zu sinkenden Beitragseinnahmen in allen Versicherungssparten, die Leistungen aber der Renten-und der Krankenversicherung bleiben prinzipiell unverändert, während die Arbeitslosenversicherung sogar mit höheren Ausgaben zu rechnen hat. Ein Ausgleich durch höhere Beitragssätze kann jedoch kontraproduktiv wirken, soweit die Beschäftigungssituation hierdurch verfestigt oder gar verschlechtert wird. Gleiches gilt, wenn die aufgrund der oben geschilderten Situation rückläufigen staatlichen Einnahmen durch Steuererhöhungen kompensiert werden.

Welche Beschäftigungswirkungen zu erwarten sind, hängt wiederum entscheidend von der Lohn-und Tarifpolitik ab, da für die Arbeitgeberbeiträge zu den Versicherungssparten das oben Gesagte analog gilt. Für die Unternehmen sind die Beiträge zur Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen-und Unfallversicherung Kosten, die entweder über eine entsprechende Produktivitätssteigerung aufgefangen und/oder durch eine entsprechende Lohnzurückhaltung kompensiert werden müßten oder sich in einer ungünstigeren Beschäftigungsentwicklung niederschlagen dürften. Gleiches gilt, wenn die Gemeinden versuchen sollten, steigenden Sozialhilfeausgaben durch Anhebungen von Gebühren oder der Gewerbesteuer zu begegnen.

Drittens werden die Güter „Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ sowohl durch entsprechende Reglementierungen (z. B. Mieterschutz) als auch in Form der staatlichen Ausgleichs-und Verteilungspolitik über die Steuerpolitik sowie über direkte und indirekte Subventionen bereitgestellt. Hierzu zählen nicht nur die Bereiche, in denen Leistungen kostenlos (z. B. das Bildungssystem) oder zu unter dem Marktpreis liegenden Preisen (z. B. sozialer Wohnungsbau) abgegeben werden, oder Finanzhilfen bzw. Steuervergünstigungen für notleidende Branchen; es spielen auch, wie die Diskussion um die Steuerreform zeigt, Gerechtigkeitsvorstellungen über die Höhe oder Angemessenheit von Grenzsteuersätzen (Wie hoch darf oder soll der „Spitzensteuersatz“ sein?) eine Rolle.

III. Zur ökonomischen Begründung von Sozialleistungen

Aus dieser kurzen Skizze des deutschen Sozialsystems wird -wie selbstverständlich nicht anders zu erwarten war -die Abhängigkeit der sozialen Bereiche von den Einkommen der Bürger und der Fähigkeit des Staates, diese Einkommen zu besteuern oder mit Abgaben zu belegen, deutlich. Um Einkommen zu erzielen, bedarf es entweder einer Beschäftigung oder eines Vermögens. Von einer Beschäftigung wiederum hängt es ab, ob der einzelne Arbeitnehmer überhaupt in den Genuß der unternehmensspezifischen Sozialleistungen kommen kann und Arbeitnehmer und Arbeitgeber in der Lage sind, ihre Beiträge zu den verschiedenen Versicherungssparten und zum Steueraufkommen zu leisten. Ob sie diese Belastung auch tatsächlich tragen, hängt dabei nicht nur davon ab, ob in ihrem Nutzen-/Kostenkalkül ihren Aufwendungen für den sozialen Bereich auch angemessene Leistungen gegenüberstehen, sondern auch von ihrer Möglichkeit, sich der Heranziehung zu solchen Abgaben zu entziehen.

Mit dem Begriff „Nutzen-ZKostenkalkül“ klingt an, daß soziale Leistungen nicht nur als Kostenfaktor und damit als hinderlich für die Erzielung von Beschäftigung und Einkommen anzusehen sind. Abgesehen davon, daß „Wirtschaften“ kein Selbstzweck ist, gibt es auch respektable ökonomische Gründe für soziale Leistungen. Soziale Leistungen können zweifellos die Produktivität des einzelnen Arbeitnehmers, des Unternehmens und der Volkswirtschaft insgesamt erhöhen. Für das Gut „Sicherheit“ ist dieses in vielen Fällen unmittelbar einleuchtend. Durch einen guten Arbeitsschutz wird beispielsweise vermieden, daß jeder Arbeitnehmer für sich Schutzmaßnahmen ergreifen muß; seine Produktivität erhöht sich. Soweit der so erzielte Produktivitätszuwachs die Kosten für zusätzliche Schutzmaßnahmen übersteigt, liegen diese auch im Interesse des Unternehmens. Eine ähnliche Argumentationslinie läßt sich auch für andere Bereiche wie etwa für den Kündigungsschutz entwickeln. Ein Arbeitnehmer dürfte bei Vorliegen eines entsprechenden Schutzes eher bereit sein, sich fortzubilden und ein spezifisches Arbeitsplatz-Know-how aufzubauen. Andererseits wird dann das Unternehmen auch daran interessiert sein, den Arbeitnehmer längerfristig an sich zu binden.Auch kann der Sozialstaat insgesamt, einschließlich der Redistributionsmaßnahmen, als eine Versicherung interpretiert werden, die insbesondere jungen Menschen „die Sicherheit und das Selbstvertrauen“ gibt, „das sie brauchen, um riskante und vielversprechende Lebenschancen wahrzunehmen“ Die Umverteilungsmaßnahmen garantieren, daß auch bei einem Fehlschlag eine bestimmte Einkommensposition gehalten werden kann. Diese Art der Absicherung hat nicht nur eine Kostenseite; sie kann auch dazu führen, daß die Produktivität der Volkswirtschaft insgesamt gesteigert wird. Auch kann ein zu starkes Abweichen von der von der Gesellschaft als angemessen angesehenen Einkommensverteilung den „sozialen Frieden“ durch Verteilungskämpfe gefährden, was sich unter Umständen auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität auswirkt

Mit dieser Argumentation können allerdings letzlich alle sozialpolitischen Maßnahmen gerechtfertigt werden. Die Schwierigkeit in der Praxis besteht darin, daß die Produkte „Sicherheit“ und „Gerechtigkeit“ keine greifbare Einheit bzw. ein unteilbares Produktpaket darstellen, sondern ihr ideeller Gehalt jeweils durch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen erreicht werden muß. Ob jede dieser Maßnahmen auch wirklich in effizienter Weise dem angestrebten Zwecke dient, kann auf dieser Basis nicht beurteilt werden. Des weiteren besteht das Problem, daß diejenigen, die für die Leistungen aus diesen Maßnahmen aufkommen sollen oder müssen, nicht zwangsläufig auch diejenigen sind, die davon profitieren. Zu vermuten ist, daß sich die Wirtschaftssubjekte in diesen Fällen tendenziell den Belastungen zu entziehen versuchen.

Wenn diese Überlegungen in der Tendenz richtig sind, dann steht der Staat vor einem Optimierungsproblem. Allgemein kann dieses damit umschrieben werden, daß die (Grenz-) Kosten der Produktion der Güter „Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ ihrem (Grenz-) Nutzen entsprechen müssen. Da die Träger der Kosten und die Nutznießer der Leistungen nicht zwangsläufig identisch sind, müssen die Systeme entweder so konstruiert werden, daß eine möglichst enge Verknüpfung zwischen Leistungsträgern und -empfängern hergestellt wird (Äquivalenz) und/oder die

Wirtschaftssubjekte oder -faktoren zur Finanzierung herangezogen werden, die kaum die Möglichkeit haben, sich dieser Belastung zu entziehen. Diejenigen, die beispielsweise durch Abwanderung der Belastung ausweichen können, dürften nur insoweit herangezogen werden, als sie durch entsprechende Produktivitätszuwächse kompensiert werden. Die Frage stellt sich nun, ob die soge-nannte „Globalisierung“ neue Rahmenbedingungen schafft, die in dieser Hinsicht neue Probleme aufwerfen.

IV. Verteilungswirkungen der Globalisierung

Unter Globalisierung wird im allgemeinen eine zunehmende Verflechtung der nationalen Volkswirtschaften durch die „Wanderungsfreiheit“ von Personen, Gütern, Dienstleistungen und Kapital verstanden Diese Freiheiten sind zumindest seit Mitte der achtziger Jahre durch politische Entscheidungen erweitert und durch technologische und ökonomische Entwicklungen gefördert worden Die politischen Entscheidungen gründen auf der Überzeugung -die letztlich auch dem europäischen Binnenmarktprojekt zugrunde liegt-, daß dem Wohlstand aller Länder am besten gedient ist, wenn Freihandel herrscht und die Produktionsfaktoren in ihre jeweils produktivsten Verwendungen wandern können.

Es geht also um den steigenden Anteil international gehandelter Güter und Dienstleistungen, der zunehmend auch die Möglichkeit erschwert, dem ausländischen Wettbewerb durch eine Produktion für heimische Marktnischen auszuweichen; es geht zudem um den Anstieg der kapitalmäßigen Verflechtung mit der Weltwirtschaft, die von den Unternehmen im „Weltdorf“ globale Entscheidungsstrategien verlangt und -wenn auch bislang in geringem Ausmaß -um Wanderungen von Arbeitskräften über Grenzen hinweg. Zwar handelt es sich hierbei bislang um eine eher graduelle denn schockartig auftretende Entwicklung doch wird insbesondere seit dem Fall des „eisernen Vorhangs“ -aber schon davor -mit der Entwicklung der Schwellenländer Ostasiens das Schreckensbild vom untergehenden Standort Deutschland an die Wand gemalt

Unbestritten dürfte jedoch sein, daß die Bundesrepublik Deutschland von dem bisherigen Prozeß der weltwirtschaftlichen Liberalisierung und wirtschaftlichen Öffnung profitiert hat. Wie Theorie und Empirie gezeigt haben, ist eine zunehmende Integration der Weltwirtschaft, hier Globalisierung, kein „Null-Summen-Spiel“, in dem eine Nation nur gewinnen kann, wenn sie einer anderen etwas wegnimmt. Es ist überhaupt zweifelhaft, ob von der Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft gesprochen werden kann, da nur einzelne Unternehmen und ihre Produkte, nicht aber ganze Volkswirtschaften miteinander konkurrieren Zudem muß bedacht werden, daß dem Wechselkurs in diesem Zusammenhang eine Bedeutung zukommt. Der Wechselkursmechanismus kann unterschiedliche Kosten-und Preisniveaus ebenso wie unterschiedliche Belastungen durch Sozial-oder Steuersysteme, die sich in unterschiedlichen Kosten-und Preisniveaus niederschlagen, konkurrenzfähig erhalten. Der tradierte Wechselkursmechanismus kann aber nur die Wettbewerbsfähigkeit des „durchschnittlichen“ Unternehmens sichern. Das schließt nicht aus, daß einzelne Unternehmen oder gar ganze Branchen -eben die unterdurchschnittlich produktiven -konkurrenz-unfähig werden. Dies gilt um so mehr, wenn im Integrationsraum Europa für die internen Transaktionen der Wechselkursmechanismus durch Schaffung einer Währungsunion aufgegeben wird und ein gemeinsamer Wechselkurs zwischen den Mitgliedern einer Europäischen Währungsunion und Drittländern gilt Es stellt sich allerdings auch die Frage, inwieweit die Politik bereit ist, bei ihren sozialpolitischen Entscheidungen der unterschiedlichen Produktivität der Unternehmen Rechnung zu tragen.

Damit ist zugleich angesprochen, daß eine Volkswirtschaft von den wohlfahrtserhöhenden Effekten einer zunehmenden Arbeitsteilung nur profitieren kann, wenn sie bereit ist, den damit verbundenen Strukturwandel zuzulassen und die

Mobilitätskosten auch zu tragen. Kommt es im Zuge der Anpassungsprozesse zu negativen Entwicklungen wie länger andauernder Arbeitslosigkeit, so ist dies nicht einer „Globalisierung“ anzulasten, sondern mangelnder Anpassungsmöglichkeit oder -bereitschaft auf dem Arbeitsmarkt Ähnliche Überlegungen gelten auch hinsichtlich der in der Globalisierungsdiskussion behaupteten Gefährdung des Sozialstaates durch einen verstärkten internationalen Standortwettbewerb. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in seinem letzten Gutachten hierauf deutlich hingewiesen, indem er argumentiert, daß auch im globalen Wettbewerb jedes Land die Möglichkeit hat, seinen Bürgern in dem Maße soziale Leistungen zu bieten oder sogar Ineffizienzen in Kauf zu nehmen, wie die Bürger bereit sind, dafür auf anderweitig verfügbares Einkommen zu verzichten. Der internationale Wettbewerb verkleinere den Spielraum für soziale Leistungen solange nicht, solange die Produktivität nicht zum Beispiel durch unbewältigte Anpassungs-und Strukturprobleme kleiner werde. Hier liege aber die Gefahr im Standortwettbewerb. Wenn in einem Lande die Arbeitskosten insgesamt zu hoch würden, wandere das Kapital an andere Standorte ab. Wolle man dies vermeiden, aber nicht die verfügbaren Einkommen reduzieren, müsse man die sozialen Leistungen reduzieren; anderenfalls drohten Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit.

Diese mehr allgemeinen Ausführungen decken sich mit den obigen Ausführungen über eine Lohn-und Tarifpolitik, die auch ohne verstärkten Globalisierungsdruck die Sozialaufwendungen mit berücksichtigen muß, um Arbeitslosigkeit bei gegebenen Produktivitätsspielräumen zu vermeiden. Die Notwendigkeit, dies zu tun, -der Anpassungsdruck -wird durch einige Spezifika des Globalisierungsprozesses noch verstärkt. Der Versuch, die Literatur zu den allokativen und distributiven Globalisierungseffekten zusammenzufassen, ergibt ungefähr folgendes Bild -Die Globalisierung wird den Strukturwandel beschleunigen und damit die Arbeitsmärkte unter einen stärkeren Anpassungsdruck setzen* -Hiervon werden die geringer qualifizierten Arbeitskräfte besonders betroffen sein. Die weltweite Öffnung der Märkte bedeutet ja auch, daß weniger qualifizierte Arbeit relativ zum Kapital in größerer Menge zur Verfügung steht. Schon von daher muß weniger qualifizierte Arbeit relativ billiger werden. Sie steht unter doppeltem Wettbewerbsdruck: direkt durch mögliche Zuwanderungen billiger ausländischer Arbeitskräfte und indirekt über die Einfuhr von Gütern und zunehmend auch von Dienstleistungen aus sogenannten Billiglohnländem. -Die Industrieländer werden komparative Vorteile bei der Produktion nicht standardisierter, also in der Regel technologie-und forschungsintensiver Produkte haben. Neben Kapital verlangt dies nach qualifizierter oder hochqualifizierter Arbeit. Relativ zur weniger qualifizierten Arbeit wird diese also teurer. -Internationale Unternehmen sind tendenziell in der Lage, ihre Produktion nach einzelnen Wertschöpfungsstufen aufzuspalten und diese -je nach den Rahmenbedingungen -an unterschiedliche Orte zu verlagern Am vorherigen Standort verbleiben dann im Extremfall nur noch ,. Kernkompetenzen“ mit den entsprechend qualifizierten Arbeitskräften. Diese Entwicklung kann an Hochlohnstandorten zu Schrumpfungsprozessen vor allem im Bereich der industriellen Fertigung sowie der informationstechnisch leicht übertragbaren Dienstleistungen führen, von denen primär weniger qualifizierte Erwerbspersonen betroffen sein werden. -Die Globalisierung erzwingt einen verstärkten Standortwettbewerb, das heißt einen Wettbewerb der immobilen Faktoren einer Region mit denen anderer Regionen um die mobilen Produktionsfaktoren; mit anderen Worten, die immobilen Faktoren müssen einen Preis und/oder eine Produktivität -durch Aus-, Weiter-und Fortbildung -aufweisen, die Kapital anzieht und nicht abstößt. Ähnliches gilt für das Verhältnis gering qualifizierter Arbeit zum Humankapital, da hochqualifizierte Arbeitskräfte in der Regel mobiler und leichter an anderen Standorten einsetzbar sein dürften als andere.

Die hieraus ableitbaren Beschäftigungseffekte, das heißt die notwendigen Anpassungen zur Verhinderung oder Abschwächung der ansonsten negativen Arbeitsplatzeffekte, sind für die achtziger Jahre auch tatsächlich feststellbar -Die Einkommen für höher Qualifizierte sind von 1980 bis 1990 stärker gestiegen als die für geringer Qualifizierte. Gleichzeitig sind bekanntermaßen die Arbeitslosenquoten in der Gruppe der wenig Qualifizierten deutlich höher als in der der Höherqualifizierten. -Als Reaktion darauf ist in Deutschland in dieser Zeit ein genereller Trend zur Höherqualifizierung festzustellen. Ebenfalls ist die brancheninterne regionale Mobilität gestiegen, insbesondere die der geringer qualifizierten Beschäftigten. -Als weitere Reaktion läßt sich ein Anstieg der internationalen Mobilität der höher qualifizierten Beschäftigten erkennen. -Auch ist eine deutliche Beschäftigungsverlagerung in den tertiären Sektor feststellbar. Von dieser Verlagerung waren geringer Qualifizierte überproportional betroffen.

Trotz dieser erkennbaren Anpassungen an den „Globalisierungsdruck“ herrscht eine inakzeptabel hohe Arbeitslosigkeit. Der Schluß liegt nahe, daß neben anderen Faktoren ein Grund hierfür darin liegt, daß das von der Globalisierung tendenziell verlangte Auseinanderdriften der Einkommen zugunsten von Kapital und Humankapital bislang noch nicht in ausreichendem Maße erfolgt ist und/oder der Produktivitätszuwachs der immobilen Faktoren nicht ausreichte, um die Ansprüche an das verfügbare Einkommen, an staatliche und soziale Leistungen ohne Arbeitsplatzabbau in Einklang zu bringen. Anders formuliert: Das mobile Kapital und auch die höherqualifizierten mobilen Arbeitskräfte können nur insoweit zu Sozialabgaben und direkten Steuern für die Produktion der Güter „Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ herangezogen werden, wie die Produktivität der immobilen Faktoren einer Region diejenige anderer Regionen übersteigt. Anderenfalls wandern diese Faktoren in andere Regionen mit der Folge relativ rückläufiger Produktivität und Einkommen der einheimischen Region.

V. Wer finanziert künftig die sozialen Leistungen?

Für die sozialen Bereiche stellt sich damit die Frage, inwieweit die immobilen Faktoren bereit sind, soziale Leistungen aus ihrem Einkommen zu tragen oder, anders gewendet: Inwieweit sind sie bereit, zugunsten von mehr Beschäftigung auf Umverteilungen zu Lasten der mobilen Faktoren zu verzichten? Hierzu zählt auch die Frage nach der Bereitschaft, aus eigenem Einkommen -vielleicht durch Verzicht auf bestimmte staatliche Transfers -den „wirklich Bedürftigen“ ein angemessenes Einkommen zukommen zu lassen. Zudem stellt sich die Frage, inwieweit soziale Leistungen zur Produktivität der immobilen Faktoren beitragen.

Hält man sich die Leistungen im Unternehmens-bereich vor Augen, so dürfte auf den ersten Blick zu vermuten sein, daß dies am ehesten der Fall für die tariflich bedingten Leistungen sein dürfte, da hier die Unternehmensseite die entsprechenden Vereinbarungen mit unterschrieben hat. Wie die Auseinandersetzungen in Unternehmensverbänden und um den Flächentarifvertrag zeigen, scheint dies aber insbesondere von den kleineren und mittleren Unternehmen nicht mehr so gesehen zu werden. Einheitliche kollektive Regelungen treffen auf unterschiedlich produktivitätsstarke Unternehmen. Hinzu kommt, daß größere Firmen eher die Möglichkeit haben und/oder wahrnehmen können, sich produktivitätsmindernden Regelungen durch Abwanderung oder Auslagerung von Produktionen zu entziehen.

Schon früher wurde bemängelt daß zweifellos berechtigte Schutzmaßnahmen für bestimmte Gruppen -wie etwa Jugendliche oder werdende Mütter -dem jeweiligen Arbeitgeber aufgebürdet werden: Weil die Einstellung besonders geschütz-ter Arbeitnehmer für den Arbeitgeber mit einem erheblichen Kostenrisiko verbunden ist, werden deren Chancen am Arbeitsmarkt vermindert. Ähnlich wirkt ein gesetzlicher Kündigungsschutz, wenn er dazu führt, daß die Unternehmen sich mit Einstellungen zurückhalten, um das Kostenrisiko im Falle eines künftigen ungünstigeren Geschäfts-verlaufs in Grenzen zu halten. Die Folge sind bei günstigem Verlauf vermehrte Überstunden statt Einstellungen.

Die Beitragsleistungen der Unternehmen zu den gesetzlichen Versicherungssparten führen schon durch die jährlichen Anhebungen der Beitragsbemessungsgrenzen auch ohne Beitragssatzsteigerungen zu einem stetigen Kostenschub, ohne daß hieraus erkennbare direkte Produktivitätszuwächse resultieren. Angesichts des „Globalisierungsdrucks“ dürfte es zumindest den, ob im In-oder Ausland, im internationalen Wettbewerb stehenden Unternehmen schwerfallen, diesen Kostenschub auf ihre Abnehmer weiterzuwälzen. Damit wird die Frage entscheidend, ob dieser Kostendruck an anderer Stelle, insbesondere durch eine entsprechend zurückhaltende Lohnpolitik, kompensiert wird. Daß dies der Fall ist, kann für die Vergangenheit nicht ausgeschlossen werden. Die Europäische Kommission zum Beispiel geht davon aus, daß die bisherigen Kosten der Sozialabgaben der Arbeitgeber „in erheblichem Umfang“ auf die Arbeitnehmer überwälzt worden sind, das heißt, daß die Löhne niedriger sind, als sie es anderenfalls gewesen wären. So weisen Länder mit ähnlichen Produktivitätsniveaus im allgemeinen ähnliche Arbeitskostenniveaus auf, unabhängig vom Beitragssatz der Arbeitgeber, aber häufig sehr unterschiedliche Bruttoeinkommensniveaus. Auch die jeweiligen Anteile der Arbeitskosten und Gewinne an der Wertschöpfung sind vergleichbar und werden offenbar durch den jeweiligen Anteil der Arbeitgeberbeiträge an den Gesamtarbeitskosten nur unwesentlich berührt.

In diesem Falle wäre es also die Gruppe der Arbeitnehmer selbst, die einen großen Teil der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme trägt. Insoweit dürfte die Forderung verständlich werden, die Arbeitgeberbeiträge direkt als Lohn auszuzahlen und die Versicherten künftig die Beiträge selbst in voller Höhe entrichten zu lassen. Der Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung würde gestützt, die Unternehmen würden in Zukunft von nicht produktivitätssteigernden Kosten entlastet und produktivitätsstarke und -schwache Unternehmen würden nicht „über einen Kamm“ geschoren. Wenn hierdurch Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen werden, dürften ceteris paribus die Einnahmen der Sozialversicherungssparten steigen und damit einen dämpfenden Einfluß auf Beitragssatzsteigerungen beispielsweise aufgrund von demographischen Änderungen ausüben. Letztlich liegt dieser Gedanke auch der Ausgliederung versicherungsfremder Sozialleistungen aus diesen Sparten zugrunde

Inwieweit die „Globalisierung“ mehr oder weniger direkt die Einnahmen-und Leistungsseite der Absicherungssysteme berührt, ist eine Frage, die nur spekulativ beantwortet werden kann, hängt doch die Antwort entscheidend davon ab, welchen Einfluß der Globalisierung auf die gesamtwirtschaftliche Einkommens-und Beschäftigungsentwicklung und welche wirtschaftspolitischen Reaktionen hierauf man unterstellt. Selbst wenn man davon ausgeht, daß die oben angeführten Verteilungseffekte einer Globalisierung zugunsten von realem und Humankapital auch in Zukunft und vielleicht sogar verstärkt auftreten, bedeutet dies nicht, daß ein relatives Zurückbleiben weniger qualifizierter Arbeit auch eine absolute Verminderung der Einkommen bedeutet; eher dürfte das Gegenteil der Fall sein. Die Gefahr scheint mehr darin zu liegen, daß die entsprechende Spreizung der Einkommensverteilung auf politischen Widerstand stößt, diese Anpassung zu verhindern gesucht wird durch verstärkte Umverteilungsmaßnahmen -oder durch Protektionismus -und damit das herbeigeführt wird, was man zu verhindern trachtet, nämlich eine reale Minderung der Durchschnittseinkommen.

Eine solche Entwicklung hätte gerade für die Arbeitslosenversicherung einen zweifach ungünstigen Effekt: Die Einnahmen würden relativ zurückgehen und die Ausgaben wegen verstärkter Arbeitslosigkeit steigen. Will man nicht in einen Teufelskreis aus sinkenden Einnahmen, steigenden Beiträgen, höheren Arbeitskosten und zunehmender Arbeitslosigkeit geraten, bestände spätestens dann ein Druck, zumindest Überlegungen in Richtung auf eine stärkere Effizienz der Arbeitslosenversicherung anzustellen Insbesondere sollte zu denken geben, daß internationale Vergleiche zeigen, daß der Umfang der Arbeitslosigkeit -vor allem der Langzeitarbeitslosigkeit -eng mit der relativen Höhe, aber in erster Linie mit der Dauer der gewährten Arbeitslosenunterstützung zusammenhängt. Sollten diese reduziert werden, hat dies natürlich Auswirkungen auf die Vorstellungen, welche Arbeit und welche Entlohnung den Arbeitsplatzsuchenden zugemutet werden müssen. Auch dies ist letztlich nur ein Reflex der gesamtwirtschaftlich notwendig werdenden stärkeren Spreizung der Einkommensverteilung. Daß eine solche Entwicklung nicht ohne Ausfluß auf die relative Höhe der Sozialhilfe (Lohnabstandsgebot!) bleiben kann, sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.

Der denkbar mögliche Ausweg einer stärkeren Umverteilung über staatliche Transferzahlungen wird verschlossen oder zumindest stark eingeschränkt, wenn die obigen Überlegungen über das Verhältnis und die Belastungsmöglichkeiten durch Abgaben und Steuern von immobilen und mobilen Faktoren auch nur in der Tendenz richtig sind. Wenn die Faktoren mobil sind und auch die Freiheit haben, in andere Regionen wandern zu können, so ist theoretisch denkbar -so die hier verkürzte Argumentation daß Regionen mit verstärkter Umverteilung tendenziell die Faktoren mit niedrigem Einkommen anziehen, da diese sich dort thöhere Transfereinkommen erhoffen Umgekehrt werden Faktoren mit höheren Einkommen (hochqualifiziertes Human-und sonstiges Kapital) wegen der geringeren Abgaben-und Steuerbelastung in Regionen mit weniger Umverteilung wandern. Im Extremfall wird diese Entwicklung von den wirtschaftspolitischen Akteuren antizipiert, und Umverteilungspolitik findet erst gar nicht statt.

Auch diese Argumentation hat als Voraussetzung, daß das durch Umverteilung produzierte Gut „soziale Gerechtigkeit“ durch eine Maßnahme bereitgestellt wird, der man sich entziehen kann oder auch nicht. Wanderungsentscheidungen dürf-ten aber in der Regel Totalentscheidungen sein. Im allgemeinen gibt es für die Standortwahl von Bürgern und Unternehmen viele Gründe, wobei die Steuerbelastung durch eine bestimmte umverteilungsmotivierte Maßnahme kaum eine Rolle spielen dürfte, aber auch die Steuerbelastung insgesamt nur einen -wenn auch wichtigen -Aspekt darstellen dürfte. So zeigt denn auch das Beispiel der Schweiz mit ihren sehr unterschiedlichen kantonalen und lokalen Belastungen, daß die theoretisch vermuteten negativen Auswirkungen des Steuerwettbewerbs auf den Umfang der Umverteilung sich dort kaum auffinden lassen -„der Wohlfahrtsstaat ist nicht zusammengebrochen“

Wenn allerdings die Steuerbelastung insgesamt bestimmte Grenzen nicht übersteigen darf, stehen die staatlichen Transfers für soziale Zwecke in Konkurrenz zu anderen staatlichen Aufgaben, insbesondere zu solchen, die die Produktivität der Gesamtwirtschaft positiv zu beeinflussen in der Lage sind. Eine relative Ausweitung solcher Transfers zu Lasten der staatlichen Investitionen, der Forschungs-und Bildungsausgaben kann daher kontraproduktiv sein Allerdings gilt dies auch dann, wenn keine Globalisierungseffekte zu verzeichnen wären. Diese dürften aber die möglichen Entscheidungskonflikte noch akzentuieren.

VI. Zusammenfassung

Generell scheinen die obigen Überlegungen darauf hinauszulaufen, daß die Globalisierung verstärkt die Ineffizienzen der sozialen Regelungen und Institutionen aufdeckt, die im Rahmen einer mehr geschlossenen oder geschützten Volkswirtschaft noch nicht in dem Maße zutage getreten wären. Damit ist zu vermuten, daß eine zunehmende Globalisierung für das deutsche soziale System tendenziell folgende Konsequenzen haben dürfte: -Im Unternehmensbereich werden auf Dauer nur solche sozialen Leistungen in einem entsprechenden Umfange zu halten sein, die zur Steigerung der Produktivität der Unternehmen beitragen oder durch Lohnzurückhaltung kompensiert werden können. Die Beibehaltung der lOOprozentigen Lohnfortzahlung trotz anderer Gesetzeslage gegen tarifliche Zugeständnisse bei Löhnen, Gratifikationen (Weihnachtsgeld)

etc. in den jüngsten Tarifverhandlungen sind hierfür ein Beispiel. Anderenfalls dürfte der erforderliche Produktivitätszuwachs über eine Beschäftigungsanpassung erreicht werden. -Die beitragsfinanzierten Leistungssysteme werden entweder verstärkt direkt von den Nutznießern finanziert, oder die Arbeitgeberbeiträge werden von den Arbeitnehmern über Lohnzurückhaltung oder Arbeitsplatzeinbußen bezahlt. Die Heranziehung der Unternehmen unterliegt zunehmend einer Verteilungsillusion. -Will man weitere Beschäftigungseinbußen vermeiden, muß im Zuge der Globalisierung eine relative Umverteilung zu Lasten der immobilen Faktoren hingenommen werden. Dies setzt einer verstärkten Belastung der mobilen Faktoren durch Abgaben und Steuern Grenzen. -Die staatlichen Transfers werden verstärkt im Mittelwettbewerb mit zukunftsträchtigen Staatsausgaben für Investitionen, Forschung und Bildung stehen. -Aus diesen Gründen werden auch der staatlichen Umverteilungspolitik engere Grenzen gesetzt. Die Ausgleichs-und Distributionspolitik muß verstärkUüber eine Steuerpolitik (lies:

indirekte Steuern) finanziert werden, die vor allem die immobilen Faktoren heranzieht.

Ein solcher „Umbau“ der sozialen Regelungen und Institutionen hätte einen politischen Vorteil: Erst dann könnte sich heraussteilen, wieviel von den Gütern „Sicherheit“ und „soziale Gerechtigkeit“ die Bürger wirklich wünschen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Michael Hüther/Matthias Bremer, Zwischen individueller und solidarischer Absicherung, in: Wirtschaftsdienst, 77(1997) 2, S. 117.

  2. Zu Vorstellungen über eine Reform der sozialen Sicherung vgl. das letzte Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 18. November 1996, BT-Drucksache 13/6200, S. 223 ff.

  3. Vgl. hierzu u. a. Otto G. Mayer, Sozialabgaben, versicherungsfremde Leistungen und Beschäftigung, in: Jörn Kruse/Otto G. Mayer (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Wettbewerbs- und Wirtschaftspolitik. Erhard Kantzenbach zum 65. Geburtstag. Veröffentlichungen des HWWA-lnstituts für Wirtschaftsforschung -Hamburg, Baden-Baden 1996, S. 341 ff.

  4. Diese Diskussion ist so neu nicht. Vgl. beispielhaft Willi Albers, Grenzen des Wohlfahrtsstaates, in: Bernhard Külp u. a. (Hrsg), Schriften des Vereins für Socialpolitik, NF 92/11, Berlin 1977, oder Phillip Herder-Dorneich, Der Sozialstaat in der Rationalitälenfalle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 30. April 1982.

  5. Vgl. Otto G. Mayer, Standort Deutschland -neue Herausforderungen angesichts veränderter Wettbewerbs-bedingungen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/96, S. 3 ff.

  6. Diese Personalzusatzkosten (allerdings einschließlich der Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber) werden für 1996 auf 38 720 DM pro Arbeitnehmer im Produzierenden Gewerbe Westdeutschlands geschätzt und auf 26 000 DM in Ostdeutschland. Der Anteil der Zusatzkosten am Direkt-entgelt betrug damit 80, 7 bzw. 71, 2 Prozent. (Vgl. Edmund Hemmer, Die gesetzlich verordnete Last steigt, in: arbeitgeber [2. Mai 1991], S. 270 f.) Damit hat der „zweite“ Lohn seit 1972 mit einer jährlichen Zuwachsrate von fast 7 Prozent einen stärkeren Kostenschub ausgelöst als das Direktentgelt mit 5 Prozent.

  7. Hans-Werner Sinn, Risiko als Produktionsfaktor, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 201 (1986), S. 566 f., ders., Social Insurance, Incentives and Risk Taking, NBER, Working Paper 5335, 1995.

  8. Zu diesem Argument siehe auch Otto G. Mayer, Ist der „soziale Frieden“ in Gefahr?, in: Wirtschaftsdienst, 76 (1996) 2, S. 55.

  9. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch die Beiträge von Jürgen Friedrichs, Ditmar Brock und Rudolf Weltmüller in diesem Heft.

  10. Vgl. Hans-Hagen Härtel/Rolf Jungnickel u. a., Grenzüberschreitende Produktion und Strukturwandel -Globalisierung der deutschen Wirtschaft, Veröffentlichungen des HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung -Hamburg, Bd. 29, Baden-Baden 1998, S. 58 ff.

  11. Vgl. Arne Heise, Der Mythos vom „Sachzwang Weltmarkt“, in: Politik und Gesellschaft, (1996) 1, S. 19.

  12. Vgl. O. G. Mayer (Anm. 5), S. 10 ff.

  13. Vgl. A. Heise (Anm. 11), S. 19.

  14. Vgl. E. R. Krugmann, Competitiveness: A Dangerous Obsession, in: Foreign Affairs, 73 (1994) 2, S. 28 ff.

  15. Bislang hat der Binnenmarkt anscheinend nicht zu mehr Strukturwandel geführt als im weltwirtschaftlichen Trend angesagt.

  16. Vgl. Joachim Wagner, „Globalisierung der deutschen Wirtschaft“ -Viel Lärm um Nichts?, in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber-Stiftung, 36 (1997) 4.

  17. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung (Anm. 2), S. 180.

  18. Vgl. u. a. Oliver Landmann/Michael Pflüger, Arbeitsmärkte im Spannungsfeld von Globalisierung und technologischem Wandel, Diskussionsbeitrag Universität Freiburg, Juni 1996; Eddy Lee, Globalization and Employment: Is anxiety justified?, in: International Labour Review, (1996) 135, S. 485 ff.; Thomas Straubhaar/Achim Wolter, Europäische Arbeitsmärkte im Zeitalter der Globalisierung, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik, 42. Jg., Tübingen 1997 (erscheint demnächst) und die dort angegebene Literatur.

  19. Seit Beginn der neunziger Jahre ist in Deutschland in der Tat eine Zunahme des Tempos des Strukturwandels zu verzeichnen; unklar ist allerdings, inwieweit diese der Globalisierung zuzuschreiben ist oder einem so einschneidenden Ereignis wie der Wiedervereinigung.

  20. Vgl. Hans-Jürgen Rösner, Soziale Marktwirtschaft -ein Konzept für die internationale Ordnungspolitik im Zeitalter der Globalisierung?, in: Soziale Marktwirtschaft in der Bewährung. Aktuelle Fragen der Politik, hrsg. von der Konrad-Adenauer-Stiftung, (1997) 45, S. 61 f.

  21. Vgl. Th. Straubhaar/A. Wolter (Anm. 18).

  22. Vgl. Armin Gutowski/Renate Merklein, Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik. Tübingen 1985, S. 35 f.

  23. Europäische Kommission, Beschäftigung in Europa, Luxemburg 1994, S. 130.

  24. Eine Steuererhöhung als Gegenfinanzierung für diesen Zweck wäre allerdings kontraproduktiv. Sollen die Leistungen zu Recht steuerfinanziert werden, träten sie natürlich in Konkurrenz zu anderen staatlichen Aufgaben. Dies würde freilich die Transparenz des politischen Entscheidungsprozesses erhöhen. Vgl. O. G. Mayer (Anm. 3), S. 357.

  25. Sei es durch Entsenderichtlinien oder durch Abfordem von hohen Sozialstandards von Ländern mit relativ niedriger Produktivität oder durch direkten Protektionismus im außenwirtschaftlichen Bereich.

  26. Vgl. hierzu u. a.den Sachverständigenrat zur Begutachtung (Anm. 2), S. 180 ff. sowie insbesondere S. 253 ff.

  27. Vgl. Hans-Werner Sinn, Implikationen der vier Grundfreiheiten für eine nationale Fiskalpolitik, in: Wirtschaftsdienst, 75 (1995) 5, S. 240-249; ders., The Subsidiarity Principle and Market Failure in Systems Competition, paper for the Conference „Competition or Harmonization? -Fiscal Policy, Regulation, and Standards“, Tutzing, 30. Oktober bis 2. November 1995.

  28. Lars F. Feld/Gebhard Kirchgässner, Fiskalischer Wettbewerb in der EU: Wird der Wohlfahrtsstaat zusammenbrechen?, in: Wirtschaftsdienst, 75 (1995) 10, S. 567.

  29. Dies war im vergangenen Jahrzehnt der Fall!

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Otto G. Mayer, Dr. rer. pol., geb. 1943; Studium der Volkswirtschaftslehre und Promotion in Hamburg; Abteilungsleiter im HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung -Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Erhard Kantzenbach) Deutschland im internationalen Standort-wettbewerb, Veröffentlichungen des HWWA-Instituts für Wirtschaftsforschung -Hamburg, Bd. 18, Baden-Baden 1994/95; (Hrsg. zus. mit Jörn Kruse) Aktuelle Probleme der Wettbewerbs-und Wirtschaftspolitik, Baden-Baden 1996; Standort Deutschland -Neue Herausforderungen angesichts veränderter Wettbewerbsbedingungen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/96.