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Tübingen: Neue Wege der Planung und der Bürgeraktivität beim Städtebau | APuZ 17/1997 | bpb.de

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APuZ 17/1997 Die beiden Stadtzentren Berlins: Unter den Linden und Kurfürstendamm Berlin: Lasten der Vergangenheit und Hoffnungen der Zukunft Stadtentwicklungspolitik und lokale Demokratie in vier Großstädten. Eine empirische Untersuchung Entwicklungs-, Planungs-und Partizipationsprozesse in ostdeutschen Mittelstädten Tübingen: Neue Wege der Planung und der Bürgeraktivität beim Städtebau

Tübingen: Neue Wege der Planung und der Bürgeraktivität beim Städtebau

Andreas Feldtkeller

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Stadt Tübingen arbeitet seit 1991 an einem städtebaulichen Projekt, das sich in der Grundidee radikal von der gängigen Praxis des modernen Städtebaus abkehrt. Auf einem bis dahin überwiegend militärisch genutzten Areal mit einer Fläche von etwa 60 Hektar in der Tübinger Südstadt sollen dicht bebaute und gemischt genutzte Quartiere für 6 000 Einwohner und für 2 000 bis 2 500 Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Unternehmen entstehen. In den Quartieren soll der öffentliche Raum einem kommunikativen Alltäg -und nicht nur den Verkehrsbelangen -dienen. Die neuerschlossenen und kleinparzellierten Baugebiete werden abweichend vom sonst Üblichen nicht durch Entwicklungs-oder Baugesellschaften, sondern direkt durch die künftigen Nutzer bebaut, die sich zu Baugemeinschaften unterschiedlicher Größe zusammenschließen. Da es sich bei der Maßnahme um eine förmlich festgelegte „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme“ nach dem Baugesetzbuch handelt, wird zunächst die Stadt Eigentümer der neu zu ordnenden Areale. Durch die dichte Bauweise und die Vergabe der Grundstücke zu offiziell festgelegten Preisen ergeben sich außerordentlich günstige Bauland-kosten für den einzelnen Erwerber. Das große Interesse an dem Projekt zeigt, daß gerade bei jungen Haushalten Konzepte für neue, lebendige Stadtviertel mit einem vielfältigen gewerblichen Angebot und einer attraktiven Infrastruktur Akzeptanz finden. Das Projekt befindet sich am Beginn der Neubauphase. Die Vorplanung und der Umbau zahlreicher ehemaliger Militärgebäude ist abgeschlossen. Im weiteren Verfahren muß sich zeigen, in welchem Umfang das Projekt mit seiner besonderen Ausprägung und den damit verbundenen „weichen Standort-faktoren“ imstande ist, kleine und mittlere Unternehmen in größerer Zahl anzuziehen.

I. Vorbemerkungen

Abbildung 1: Städtebaulicher Entwicklungsbereich „Stuttgarter Straße/Französisches Viertel“ Quelle: Prospekt „Bauen in der Tübinger Südstadt“

Die Stadt Tübingen arbeitet seit 1991 an einem städtebaulichen Projekt, das sich in der Grundidee radikal von der gängigen Praxis des modernen Städtebaus unterscheidet. Auf einem bis dahin überwiegend militärisch genutzten Areal in der Tübinger Südstadt sollen dicht bebaute und gemischt genutzte Stadtquartiere entstehen, die einem lebendigen Alltag dienen. Die Baumaßnahmen werden nicht durch Entwicklungs-oder Bau-gesellschaften durchgeführt, sondern unmittelbar von den künftigen Nutzern: Bürgerbeteiligung als nutzungsorientiertes Mitbauen.

Die „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme Stuttgarter Straße/Französisches Viertel“ (s. Foto auf S. 46) wird von vielen Seiten mit wohlwollendem Interesse, teilweise auch mit Skepsis beobachtet. Was steckt hinter dem Konzept? Welche Schwierigkeiten gibt es bei der Umsetzung? Kann das Projekt als Beispiel für den Stadtumbau anderswo betrachtet werden?

II. Hintergründe der Planung

Abbildung 2: Individuelle Stadthäuser, die sich zu einem Ensemble fügen Quelle: wie Abbildung 1

1. Auswirkungen der Rationalisierung Angesichts der Umwälzung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Sturz der Mauer zwischen Ost-und Westdeutschland fällt auf, wie wenig sich seither an der städtebaulichen Praxis geändert hat. Eher noch wird -gerade in den Städten der neuen Bundesländer -ihr Beharrungsvermögen deutlich sichtbar.

Wir müssen heute feststellen: Die Moderne hat nicht einfach die Stadt rationalisiert, sie an neue Techniken und Lebensstile angepaßt. Sie hat vielmehr im Zuge der Rationalisierung aus der Stadt etwas gemacht, was im Effekt gerade ihr Gegenteil darstellt.

Die europäische Stadt war traditionell ein Platz des offenen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs und des Zusammenlebens der unterschiedlichsten Schichten und Gruppen. Heute ist sie nur noch ein bedeutungsloser Raum, in dem die unterschiedlichen Dinge säuberlich voneinander abgeschottet und dadurch vor Störungen und Behelligungen bewahrt werden. Austausch und Geschütztsein sind nicht mehr wie früher die Aufgabe der Stadt, sondern instrumentelle Netze und Überwachungseinrichtungen, die den Zustand der Störungsfreiheit garantieren.

Die Stadt ist nicht mehr auf Mischung und Konfliktbewältigung hin angelegt, sondern auf Entmischung und Konfliktvermeidung. Deshalb befaßt sich die Stadtplanung seit 50 Jahren fast ausschließlich mit Aufgaben der Funktionstrennung, des Verkehrs und des Designs; seit wenigen Jahren am Rande auch mit Fragen des Umweltschutzes. 2. Ist die Stadt noch ein emanzipatorisches Modell?

Die gesellschaftlichen Probleme, die aus der Globalisierung und aus der damit zusammenhängenden Ausbreitung der strukturellen Arbeitslosigkeit in den europäischen Ländern resultieren, zeigen sehr deutlich, daß der gebauten Stadt noch andere Verpflichtungen obliegen, als nur reservierte Zonen für Arbeitsstätten, Wohnsiedlungen, Einkaufszentren und Freizeitanlagen bereitzustellen. Doch ein Bewußtsein jenseits der gängigen Praxis der Stadtplanung ist kaum vorhanden.

Welchen Beitrag leistet das städtebauliche Gefüge eines Stadtteils für den gesellschaftlichen Austausch zwischen den unterschiedlichen Gruppen? Welche Umbaumaßnahmen sind in der Stadt erforderlich, um einen Stadtteil für Jugendliche attraktiv zu machen Wo entstehen in der Stadt die Arbeitsplätze der Zukunft? Wie findet in der Stadt selbstorganisiertes Lernen statt? Wie kann die Stadt des 21. Jahrhunderts ein Gefühl für selbstverständliches Geschütztsein vermitteln? Welche Rahmenbedingungen muß die Planung setzen, damit die Menschen instand gesetzt werden, sich bei der Schaffung von Wohnraum und Arbeitsplätzen selbst zu helfen? Solche Fragen müssen angesichts der akuten Probleme dringend gestelltwerden, wenn die Stadt künftig wieder als emanzipatorisches Modell für die Gesellschaft fungieren soll. Wo der Staat immer weniger in der Lage ist, Ungerechtigkeiten auszugleichen, muß wenigstens die Stadt räumlich geeignet sein, ein faires Miteinanderumgehen im Alltag möglich zu machen. Dies war eine wesentliche Qualität der europäischen Stadt. Sie hat Ungleichheiten zwar nicht beseitigt, aber Armen und Reichen, Jungen und Alten, Eingesessenen und Fremden den gleichen Platz in der Stadt, die gleichen Chancen des Austauschs und das gleiche Gefühl des Geschütztseins eingeräumt. 3. Gängige Praxis der Stadtplanung Es ist bequem, vermeintliche Grenzen der Stadtplanung mit den vorhandenen Normen des Planungsrechts und mit wirtschaftlichen Sachzwängen zu rechtfertigen. Die Schwierigkeiten, die einer gesellschaftlich komplexen Vision von der Stadt entgegenstehen, liegen aber nicht in den Gesetzen, sondern in den Köpfen derer, die die Gesetze anwenden. Wir vergessen allzuleicht, wie sehr die Art des Gebrauchs der gesetzlichen Regelwerke -also die gängige Praxis der Stadtplanung -bestimmte Formen der alltäglichen Lebenspraxis fördern und andere massiv behindern.

Wir haben uns daran gewöhnt, daß -das Wohnen säuberlich von allen anderen städtischen Aktivitäten getrennt wird, -Arbeit im Wohnquartier nicht sichtbar ist, -Bauen im städtischen Maßstab nur noch Bau-gesellschaften und Bauträgern anvertraut wird, -kleine Betriebe in der Stadtplanung nicht vorkommen, -der vermeintliche Wunsch aller Menschen ein Eigenheim ist, -moderne Architektur sich in großen Bauten artikuliert, -die Lebendigkeit eines Stadtviertels dem Recht auf ruhiges Wohnen geopfert wird, -für Kinder und Jugendliche Pädagogen und Erzieherinnen zuständig sind und -für die freie Entfaltung der Wirtschaft auf großzügig bemessene Areale am Stadtrand nicht verzichtet werden kann.

Die gängige Praxis orientiert sich -allen gesellschaftlichen Umbrüchen zum Trotz -wie seit fünfzig oder hundert Jahren einseitig an den Bedürfnissen der erfolgreichen erwerbstätigen Erwachsenen, also an jener Bevölkerungsgruppe, die am wenigsten auf die vielfältigen Angebote der dichten und gemischt genutzten Stadt angewiesen ist. Diese Gruppe findet ihr Auskommen und ihre gesellschaftliche Anerkennung im Berufsleben. Alle anderen Gruppen, angefangen von den Kindern und Jugendlichen bis hin zu den Zugewanderten, sind sowohl in ihrer Alltagsorganisation als auch in ihren gesellschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen geradezu existentiell auf „die Stadt“ angewiesen. Diese Erkenntnis ist allerdings seit der Zeit, als die Pädagogen entdeckt haben, daß die Kinder von der Straße geholt werden müssen, weitgehend verschüttet. Da ist es nur folgerichtig, wenn heute Medientheoretiker als die ebenbürtigen Nachfolger der Pädagogen postulieren: „Die Zukunft der Urbanität findet in den Netzen statt.“

III. Ist die Forderung nach der dichten, gemischt genutzten Stadt unrealistisch?

Tübingen: Städtebaulicher Entwicklungsbereich „Stuttgarter Straße/Französisches Viertel“

1. Interesse am urbanen Lebensstil Was der Gesellschaft am Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend fehlt, sind Stadtquartiere, die kulturell attraktiv sind und dadurch Menschen an sich binden, die sich gerne in einem lebendigen Quartier aufhalten. Solche Stadtquartiere müssen ein erhebliches Maß an sozialer und wirtschaftlicher Vielfalt und Abwechslung, an Erlebnis-dichte und an Bequemlichkeit für die Alltagsorganisation des einzelnen bieten. Sie werden eine solche Dichte an Austauschmöglichkeiten nur erreichen, wenn ihre Angebote an Wohnraum und an Raum für wirtschaftliches Unternehmertum preislich eine große Bandbreite einnehmen. Solche Quartiere gibt es -in abnehmendem Maße -am Rande bestehender Stadtkerne, wo aus diesem oder jenem Grund die Modernisierung noch nicht allzuweit vorangekommen ist. Die Frage ist, ob in der Zukunft -also in einer Zeit zurückgehender Beschäftigung und beschränkten Wohlstands -derartige Qualitäten an geeigneten Standorten auch neu entstehen können.

Zweifellos gibt es in der modernen Gesellschaft eine wachsende Gruppe von Menschen, die, der langweiligen Wohnsiedlungen und des ständigen Pendelns überdrüssig, an einem urbanen Lebensstil interessiert sind. Die meisten dieser Menschen sehen sich jedoch nicht in der Lage, ihre Vorstellungen eines derartigen Lebensstils zu verwirklichen, weil auf dem Markt entsprechende Angebote fehlen. Daß es an solchen Angeboten mangelt, ist weniger das Ergebnis fehlender Nachfrage als der Unbeweglichkeit und Bequemlichkeit auf der Seite der eingeführten Anbieter. Wenndiese Beobachtung richtig ist, kommt es darauf an, an diesen vorbei einen neuen Markt zu eröffnen.

Es ist dringend notwendig, für die latente Nachfrage nach solchen „städtischen“ Standorten passende Angebote zu machen: Menschen, die ein Leben in der vitalen Stadt anstreben, dürften eher bereit sein, sich auf das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensgewohnheiten, unterschiedlicher Kulturen in der zukünftigen Gesellschaft einzulassen, als Menschen, die das Eigenheim in der beschaulichen Wohnsiedlung vorziehen. Hinzu kommt, daß solche städtischen Strukturen am ehesten geeignet sein werden, neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Arbeitslose, für junge Menschen, für Unternehmerbegabungen im Sinne einer „Aktivierung und wechselseitigen Verflechtung endogener Ressourcen auf lokaler Ebene“ hervorzubringen.

Aufgabe der Stadtplanung muß also in der gegenwärtigen Situation sein, in Abweichung von der Praxis der modernen Stadtplanung den konsequenten Versuch zur Gründung neuer städtischer Vorstadtkerne zu machen -und umgekehrt alle Nachfragen nach den gängigen Modellen der Wohnanlagen, Gewerbeparks und Erlebniszentren mit Hinweis auf die in ausreichendem Maße vorhandenen Bestände zurückzuweisen. 2. Die „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme"

Läßt sich eine so radikale Forderung überhaupt praktisch umsetzen? Bestehen dagegen nicht unüberwindbare, insbesondere wirtschaftliche Sachzwänge? Solche Fragen lassen sich nicht am grünen Tisch, sondern nur durch ausprobierende Praxis beantworten: Man muß es versuchen.

Interessanterweise bietet das bundesdeutsche Bau-gesetzbuch ein planungsrechtliches Instrument, das sich zur Erprobung neuer Verfahrensweisen in der Stadtplanung -also etwa gerade zum Aufbau neuer urbaner Milieus -hervorragend eignet. Ich meine die „Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme“ nach § 165 ff. Baugesetzbuch. Dieses Instrument bietet den Städten die Möglichkeit, größere Flächen, die im Rahmen des wirtschaftlichen und politischen Umbruchs ihre bisherige Funktion verloren haben (beispielsweise Verkehrsbrachen, Gewerbe-brachen, Militärbrachen), durchgreifend neu zu ordnen Bei diesem Verfahren lassen sich kommunale Ziele besser als bei den sonst vorgeschriebenen Planungsinstrumenten umsetzen, weil im „Städtebaulichen Entwicklungsbereich“ die Stadt alle Grundstücke zunächst erwirbt, um sie im Zuge des Umbaus wieder „unter Berücksichtigung weiter Kreise der Bevölkerung“ zu reprivatisieren. Die Veräußerungserlöse müssen in diesem Verfahren zur Finanzierung der neuen Infrastruktur des Gebietes herangezogen werden. Das sind Voraussetzungen, die dem Bedarf an neuen Quartieren mit städtischer Ausrichtung entgegenkommen.

Die Städte können hier also mit Pilotprojekten ansetzen. Sollten sich solche Beispiele bewähren, könnte dies durchaus dazu führen, daß der „heimliche Konsens“ seine Überzeugungskraft verliert und sich neue Ziele der Stadtplanung auf größerer Breite durchsetzen. 3. Das Beispiel Tübingen Genau diese Idee liegt dem Konzept der „Städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme“ zugrunde, die die Stadt Tübingen auf einem etwa 60 Hektar großen Areal in ihrer Südstadt durchführt. In den kommenden 10 bis 15 Jahren sollen hier etwa 6 000 Bewohner und 2000 bis 2500 Arbeitsplätze in kleinen und mittleren Betrieben in gemischt genutzten Quartieren angesiedelt werden

Das für die Maßnahme zur Verfügung stehende Gebiet ist teils ehemaliges Militärgebiet, teils Vorratsfläche für einen früher geplanten vierspurigen Ausbau der Bundesstraße 27, der in dieser Form nicht weiterverfolgt wird. Das Gebiet ist für das begonnene Vorhaben besonders geeignet, weil es weder zentral, noch peripher im Tübinger Stadtgebiet liegt. Das Stadtzentrum ist von hier aus leicht mit dem Bus, mit dem Fahrrad und auch zu Fuß zu erreichen. Die bandförmige Ausdehnung des zur Verfügung stehenden Gebietes bietet sich förmlich an, an dieser Stelle ein neues „städtisches“ Rückgrat der Tübinger Südstadt entstehen zu lassen (siehe Abbildung 1).

Das Projekt befindet sich am Beginn der eigentlichen Umsetzungsphase -die Phase der Konzeptionsfindung, die Planungsphase, die öffentliche Diskussion über die Planungsinhalte und eine erste Baustufe, die den Umbau ehemaliger Militärgebäude beinhaltet, sind weitgehend abgeschlossen. Die Erfahrungen bei der Umsetzung des Projekts werden derzeit in zwei Forschungsvorhaben des Bundesbauministeriums (ExWOSt „Nutzungsmischung“) und der Bundesanstalt für Verkehrswesen („Autoarmes Wohnen und Arbeiten“) wissenschaftlich begleitet. 4. Vision eines neuen Stadtkerns Der äußere Anlaß für die Tübinger Südstadtplanung war der Abzug der französischen Garnison. Zum zündenden Funken wurde gleich anfangs die Vision von einer zusammmenhängenden Planung für einen neuen Stadtkern, der der Südstadt eine eigene Qualität verleihen könnte.

Das Bild Tübingens ist geprägt durch die gut erhaltene, in ihrem Grundriß mittelalterliche Altstadt und durch die Universität, die sich, ausgehend von der Innenstadt, in vielen Etappen auf die nördlich liegenden Schönbuchhöhen hinaufgeschoben hat. In der Nordstadt hat sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte das akademische Tübingen mit seinen Arbeitsplätzen und Wohngebieten niedergelassen. Die Südstadt ist dagegen jenes Gebiet, das traditionell alle die Einrichtungen aufzunehmen hatte, die für das geistige Tübingen nicht fein genug waren: den Güterbahnhof, die Kasernen, das Gaswerk, die wenigen Fabriken.

Die Südstadt war immer auch sozial gemischt. Vielleicht konnte deshalb die Idee der innerstädtischen Mischung ohne Vorbehalte auf spontane Zustimmung stoßen. Wer sich etwas Feineres vorstellte, war ohnehin auf andere Weidegründe spezialisiert. Jedenfalls gab es diesen Anschubeffekt, der Menschen zu Interessenten an dem Projekt machte, die sich sagten: „So etwas suchen wir doch schon lange.“

Die in der Stadtverwaltung für das Projekt Engagierten nutzten die Chance, um von Anfang an die Konsequenzen des Projekts auszubreiten: Das lebendige Stadtviertel bringt Umtrieb, nicht Ruhe; Vielfalt und Öffentlichkeit kommt nur zustande, wo auf Vorgärten verzichtet wird; die Stadt der kurzen Wege bedeutet, daß bei der Unterbringung der Autos -ähnlich wie in der Altstadt -Zugeständnisse gemacht werden müssen. 5. Ohne Nutzungsmischung kein städtisches Leben Stadtleben kann man nicht planen: Dieser Satz ist ebenso richtig wie die Feststellung, daß ohne passende räumlich-bauliche Rahmenbedingungen Stadtleben nicht entstehen kann. Wer das „Städtische“ will und Nutzungsmischung für unzeitgemäß hält, wird sein Ziel nicht erreichen.

Funktionsmischung erzeugt Konflikte. Diese Konflikte müssen von den Nutzern eines Stadtquartiers akzeptiert werden. Das Stadtquartier muß geeignet sein, als sozialer Raum bei der Bewältigung der Konflikte genutzt werden zu können. Nutzungsmischung kann nur funktionieren, wenn sie von Anfang an von allen Beteiligten gewollt und dann auch konsequent planungsrechtlich abgesichert ist. Die Baunutzungsverordnung unseres Planungsrechts bietet dazu eine einzige geeignete Gebietskategorie: das Mischgebiet. Alle anderen Gebietskategorien sind segmentierende Kategorien. Im Mischgebiet ist Wohnen zulässig und Gewerbe, soweit es das Wohnen nicht wesentlich stört. Solche Störungen müssen zugunsten derLebendigkeit des Stadtquartiers hingenommen werden. Wichtig ist also, daß Lebendigkeit wirklich entsteht, weil sonst die Akzeptanz der zumutbaren Störungen verlorengeht.

Es geht also darum, bei einer auf Lebendigkeit abzielenden Planung von Beginn an Nutzungsmischung als ein grundlegendes Ziel der Planung zu thematisieren. Allein auf diese Weise kann erreicht werden, daß jeder Beteiligte sich über seine individuellen Präferenzen -„lebendiger Stadtteil“ oder „ruhiges Wohnen“ und „abgekapseltes Arbeiten“ -selbst Rechenschaft ablegt.

Das angestrebte städtische Ambiente setzt eine möglichst große Vielfalt im sozialen wie im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich voraus. Es ist ohne eine sehr große Bandbreite unterschiedlicher (wirtschaftlicher, kultureller, bürgerschaftlicher) Nutzungen bei entsprechender Dichte nicht denkbar. Und es ist nicht vorstellbar, ohne daß die Bewohner der Quartiere und Straßen in ihren Alltagsbedürfnissen und in ihrer Alltagsorganisation von diesen vielfältigen Nutzungen Kenntnis nehmen und Gebrauch machen.

Dies alles wird sich nur ergeben, wenn Wohnen und andere Nutzungen in ein und demselben Quartier und an ein und derselben Straße nebeneinander vorhanden sind. Das heißt nicht, daß die Menschen auch dort arbeiten müssen, wo sie wohnen. Aber auch diese Gelegenheit muß es geben. Es ist auch nicht jedes Quartier für jede Nutzung gleich gut geeignet. Im Gegenteil: Die Wahrnehmung unterschiedlicher Standortqualitäten gehört zur Lebendigkeit des „Städtischen“. 6. Mischung und Dichte ergeben Vielfalt Das Wesentliche der Nutzungsmischung ist die entstehende Vielfalt der Angebote für das Publikum im Stadtteil und im Stadtviertel. Diese sollen sich im Interesse eines sozial und kulturell gemischten Publikums auf die gesamte Palette des Wirtschaftens beziehen -von der Warenproduktion bis zur Produktions-oder haushaltsorientierten Dienstleistung, vom marktorientierten bis zum stadtteilorientierten Angebot.

Nutzungsmischung an sich ist noch keine ausreichende stadtplanerische Rahmenbedingung für das Entstehen von Stadt. Das Nebeneinander, die Vielfalt der Nutzungen (und der damit verbundenen Lebensgewohnheiten usw.) muß für den einzelnen mit seinen individuellen Bedürfnissen attraktiv und deshalb sinnlich (im Gegensatz zur Virtualität des Mittelbaren) erfahrbar sein. Das städtebauliche Kommunikationsmittel dafür ist die Dichte (also das dichte Nebeneinander vieler Nut-zungen)und die räumliche Zuordnung der Nut-zungen zum öffentlichen Raum.

Zu den Zielen der Planung muß deshalb von Anfang an neben der Nutzungsmischung eine räumliche Organisation der Quartiere gehören, die diese Zuordnung der Nutzungen zu den Straßen, Wegen und Plätzen des Stadtteils unter Berücksichtigung der anzustrebenden hohen Nutzungsdichte zum Inhalt hat.

Architekten und Planer versuchen immer wieder, städtisches Ambiente durch die Verwendung bestimmter „städtischer“ Gebäudetypen oder bestimmter städtebaulicher Muster zuwege zu bringen, ohne daß sie auf die Inhalte achten, mit denen diese Typen und Muster verbunden sein müssen, wenn sie die Lebendigkeit beispielsweise einer Straße hervorbringen sollen. Auf diese Weise entsteht leicht eine städtisch anmutende Szenerie ohne städtisches Leben.

Der hier verwendete Begriff der Dichte (Bebauungsdichte, Nutzungsdichte) ist schillernd. Zu geringe Dichte widerspricht dem Ziel der Vielfalt in einem Quartier. Bei zu geringer Dichte kann öffentlicher Raum seine Bindekraft nicht entfalten. Sehr hohe Dichte kann dazu führen, daß sich im öffentlichen Raum keine Aufenthaltsqualität einstellt. Jedes Projekt wird deshalb „seine“ Dichte aus möglichst konkreten Bedürfnissen ableiten müssen. 7. Nutzerorientierte Stadtteilplanung Die Tübinger Vision eines neuen Stadtkerns für die Südstadt war nicht von Anfang an mit einer bestimmten Vorstellung von den notwendigen Akteuren verbunden. Erst im Laufe des Verfahrens hat sich gezeigt, wie Menschen sich an einem solchen Projekt beteiligen und beteiligen können.

Heute werden die unterschiedlichsten Verfahren der Bürgerbeteiligung propagiert und ausprobiert. Diese Verfahren (wie etwa die „Planungszelle“, bei der sachkundige Bürger im Losverfahren ausgewählt und an der Planung beratend beteiligt werden) gehen meist davon aus, daß nicht die Menschen „die Stadt machen“, sondern anonyme „Träger“, „Entwickler“ oder „Projektmanager“, denen man kritisch auf die Finger schauen muß. Bürgerbeteiligung im Bereich der Stadtentwicklung, wie sie heute praktiziert wird, ist ein Indiz dafür, daß die Bürger nicht mehr selbstverständlich -von innen -an der Herstellung und am Umbau der Stadt beteiligt sind. Sie müssen deshalb in einem quasi pädagogischen Verfahren, das von Moderatoren gelenkt wird -von außen -, beteiligt werden. Die Beteiligung rechtfertigt am Ende, daß sie draußen bleiben.In dem Augenblick, wo die Politik sich entscheidet, die Grundstücke den künftigen Nutzern anzubieten und nicht anonymen Gesellschaften, ergeben sich geradezu automatisch andere Formen der Mitwirkung. Wir vermissen heute als Folge der zunehmenden Individualisierung und Abschottung ein Gefühl der Zugehörigkeit der Menschen zu ihrer Stadt. Die Frage ist, ob das fehlende Zugehörigkeitsgefühl auch damit zusammenhängt, daß Stadtplanung und Stadtverwaltung nicht mehr nutzungs-und stadtteilbezogen sind, sondern den Stadtteil nur als einen Bruchteil der Stadt verstehen. Städtisches entsteht hier nur -wenn überhaupt -in der Stadt als Einheit.

Der Tübinger Ansatz hat eine andere Perspektive: Er sieht „Städtisches“ im einzelnen Stadtteil und die Stadt als Ensemble aus städtischen Zellen, Kernen, Flecken. Im Laufe des Verfahrens hat sich nämlich herausgestellt, daß dieses „Städtische“ nur von den Nutzern selbst aufgebaut werden kann. Es geht also darum. Formen zu finden, die künftigen Nutzer am Aufbau zu beteiligen und nicht nur am Konzept.

Unsere Bürgerbeteiligung begann mit Arbeitsgruppen zu den auch sonst üblichen Planungsthemen. Sie änderte sich schlagartig, als den Gruppen angeboten wurde, sich ganz handfest beim Umbau ehemaliger Militärgebäude zu beteiligen. Plötzlich wurden aus Arbeitsgruppen Projekte, aus Interessierten Investoren.

IV. Aspekte der Umsetzung

1. Unwegsames Gelände Bei der Planung städtischer Quartiere befinden sich die Akteure quasi auf unwegsamem Gelände.

Unerwartete Hindernisse treten auf dem Weg bis zur Projektfertigstellung auf. Es gibt keinen fertigen Leitfaden für das Projektmanagement, wenn man einmal das Konzept der sortierenden Planung verworfen hat. Die Erkundung des Geländes kann nur an einem konkreten Ort mit konkreten Randbedingungen und leibhaftigen Mitwirkenden stattfinden. Sie ist deshalb auch nicht ohne weiteres auf andere Fälle übertragbar. Sie kann'aber für andere Fälle Hinweise liefern und Anregungen vermitteln. Und sie kann aus der Lethargie des „Das geht ja doch nicht!“ befreien.

Fragen, die unterwegs entstehen: -Welche räumliche Struktur des Stadtteils soll man anstreben, damit die unterschiedlichen Nutzer die Zusammenhänge begreifen und den richtigen Standort finden (Thema: Räumliche Organisation)?

-Wie schafft man es, daß in einer Art Selbstorganisation eine Nutzung die nächste nach sich zieht (Thema: Planung als „Wachstum“)?

-Wie werden Nutzer zu Investoren (Thema:

Nutzerorientiertes Planen)?

-Wie kann eine Kommune beim Aufbau eines städtischen Viertels konkret Geburtshilfe leisten (Thema: Stadt als „Hebamme“)? 2. Räumliche Organisation Das Tübinger Projekt hat den Vorteil einer band-förmigen Ausdehnung mit vielen Nahtstellen zu bestehender Bebauung. Eine Erschließung und Entwicklung in Abschnitten wird dadurch sehr erleichtert.

Das städtebauliche Gerüst wurde über einen offenen städtebaulichen Ideenwettbewerb gefunden, zu dem neben praktizierenden Architekten und Stadtplanern auch noch nicht etablierte Hochschulabsolventen und Studierende zugelassen waren. Vorgegeben war als Thema „Vielfalt und Dichte in einem städtischen Viertel“. Bei der Bewertung der Arbeiten spielte die Möglichkeit der Verwirklichung der späteren Bauvorhaben auf kleinen Parzellen eine zentrale Rolle. Als beste Arbeit wurde der Entwurf von fünf Studenten der Universität Stuttgart ausgezeichnet. Dieses Konzept wurde in einer modifizierten Form, bei der auf die Erhaltung bestehender Altbauten zusätzlicher Wert gelegt wurde, Teil des Rahmenplans, den im nächsten Planungsschritt das Stadtsanierungsamt erarbeitete. Der Rahmenplan enthält keine Aussagen über die räumliche Verteilung von Funktionen: Quartiere werden als „Mischgebiet“ ausgewiesen. Bestandteil dieser Mischgebiete sind nicht nur Wohnungen und gewerbliche Betriebe, sondern auch die notwendigen öffentlichen Einrichtungen. Die Umsetzung der Blockrandbebauung in den einzelnen Quartieren (drei-bis fünfgeschossige Stadthäuser in geschlossener Bauweise) erfolgt nicht durch städtische Planung, Wettbewerbe oder Vergabe an Bauträger. Die Stadt lädt die an einem Standort interessierten Nutzer zu Gesprächen ein, bei denen die Parzelleneinteilung und -Zuteilung diskutiert, skizziert und vorläufig festgelegt wird. Grundlage ist eine Skizze zum Bebauungsplan im Maßstab 1 : 500 und ein Massenmodell im gleichen Maßstab.

Die Interessenten erhalten vom städtischen Südstadtausschuß eine formlose Kaufoption, die nach Ausarbeitung und Auslegung des Bebauungsplan-entwurfs angenommen werden kann. Während der Planungsphase, in der die Stadt den Bebauungs43 plan fixiert, prüfen die Nutzer (mit den von ihnen selbst gewählten Planern) die baulichen und finanziellen Möglichkeiten zur Umsetzung ihrer Bau-wünsche. Die Stadt gibt den Optionsnehmern in sogenannten „Stadthausbörsen“ Gelegenheit, über ihre individuellen Planungsabsichten zu informieren und Mitwirkungsmöglichkeiten auszutauschen.

Im Interesse der Vielfalt enthalten die Bauungspläne nur wenige -aber entscheidende -Vorgaben: Festgelegt wird die Art der Nutzung (Mischgebiet) und mit großer Zurückhaltung das Maß der Nutzung (Grundflächenzahl 0, 6/0, 7 mit einer innerhalb der Straßenfront wechselnden maximalen Traufhöhe -in der Regel zwischen 9, 0 und 15, 0 Metern -und einem festgelegten Dachumriß, der nicht überschritten werden darf) (siehe Abbildung 2).

Das Konzept geht davon aus, daß die Fixierung des geschlossenen Straßenraums und des Verlaufs der Straßenfronten im Bebauungsplan ohne weitere Vorschriften für die Gestaltung der einzelnen Gebäude starke Bindungen beinhalten, d. h., wenn Gebäude in eine geschlossene Straßen-oder Platz-front eingebunden sind und wenn diesen Gebäuden andere Stadthäuser auf der anderen Straßenseite gegenüberstehen, dann muß der Architekt sich in der Fassadengestaltung (z. B.der Anordnung der Fenster) an dieser Situation orientieren; er kann nicht (wie in einem normalen Neubaugebiet) seiner Fantasie freien Lauf lassen. Im übrigen ist in gestalterischer Hinsicht Vielfalt -in gewissem Maß auch Chaos -erwünscht. Die Erfahrung zeigt, daß das gewählte Verfahren keine architektonischen Eitelkeiten, sondern tatsächlich so etwas wie normale städtische Vielfalt produziert.

Einen entscheidenden Anteil am städtebaulichen Konzept hat die Behandlung des Verkehrs: Der Autoverkehr soll möglichst weitgehend in Kompaktgaragen („Silos“) direkt an den übergeordneten Straßen festgehalten werden. Die Autofahrer müssen folglich zu ihren Fahrzeugen ebensoweit zu Fuß gehen wie die Benutzer des öffentlichen Verkehrs zur nächsten Haltestelle; ein Verzicht auf das eigene Auto soll durch ein flächendeckendes und. leicht zugängliches Mietauto-Angebot unterstützt werden. 3. Planung als „Wachstum“

Ein oft gehörtes Argument gegen vielfältige Nutzungsmischung und die Vorstellung eines lebendigen Stadtviertels ist, daß die traditionellen Stadtviertel in Jahrhunderten gewachsen seien und man Wachstum nicht planen könne. Dieses Argument ist insoweit berechtigt, als die rationalisierten Planungsmethoden der modernen Stadtplanung der Entstehung lebendiger Viertel tatsächlich im Wege stehen. Man muß also der Selbstorganisation des Viertels Raum und Zeit lassen. Diese Zeit erstreckt sich auf die Planungs-und Bauphase, aber auch auf die Nutzungsphase. Wo Monostrukturen planerisch festgelegt sind, kann am Anfang nichts Lebendiges entstehen und später -durch Umnutzung -ebensowenig.

Bei unserem Vorgehen in Tübingen hat sich der Entschluß, a) die aufgelassenen Militärgelände sofort zur Umnutzung -auch für provisorische Nutzungen -freizugeben und b) selbst abgewirtschaftete Baulichkeiten (bis hin zu ehemaligen Pferdeställen und zu Fahrzeug-Wartungshallen) zu erhalten, für das „Wachstum“ des Stadtviertels als außerordentlich hilfreich herausgestellt. Wer sich heute, am Beginn der Neubauphase, anschaut, was an städtischer Vielfalt schon vorhanden und im Aufbau ist, muß feststellen, daß sich hier etwas wie ein Kristallisationsprozeß vollzieht, bei dem jede Einrichtung, jeder Betrieb und jedes Wohnprojekt neue Interessierte magnetisch anzieht.

Noch etwas anderes ist zu bemerken: Die zwangsläufig vor der Neubauphase ablaufende Umbau-phase demonstriert für jeden Interessenten sozusagen handgreiflich die Vision des „Städtischen“: Viele Betriebe und kulturelle Angebote sind schon vorhanden, ehe ein Bagger die erste Baugrube aushebt und Baukräne in Erscheinung treten.

Die Stadt schreibt beim Verkauf der Grundstücke vor, daß die Erdgeschosse mit einer lichten Mindesthöhe von 2, 75 Meter ausgeführt werden müssen, weil sich Gewerbeinteressenten vielfach erst dann für einen Standort entscheiden, wenn sie das Risiko der Standortwahl auch zeitlich und in seinen Konsequenzen hinsichtlich des Umfelds wenigstens einigermaßen genau abschätzen können. 4. Nutzerorientiertes Planen Das Tübinger Projekt ist auf eine besondere Sorte von Nutzern angewiesen. Die Öffentlichkeitsarbeit für das Projekt wirbt deshalb weniger um öffentliche Zustimmung als um persönliches Mitmachen: Sie ist immer ein Appell, das eigene wirtschaftliche oder kulturelle Interesse mit dem Interesse an den wirtschaftlichen oder kulturellen Angeboten anderer im Quartier zu verknüpfen. Nichts anderes bedeuten die Slogans „Mischen Sie mit!“, und „Hier entsteht die Stadt der kurzen Wege“.

Wer sind unsere Nutzer, Optionsnehmer und Investoren?

Im Gegensatz zu anderen Projekten, die die Idee der Nutzungsmischung verfolgen, hatte das Tübinger Vorhaben nie die Chance -und unterlag daher auch gar nicht der Versuchung Wohnen mit der obligaten Bürozeile oder einem anderen Großprojekt zu verknüpfen und dadurch ein Nebeneinander von zwei Monostrukturen zu etablieren. Das Projekt war von Anfang an darauf angewiesen, kleinparzelliert unterschiedliche Interessenten zu versammeln und dazu anzuregen, sich selbst in dem vorgegebenen räumlichen Rahmen zu organisieren. Dies ist der Grund, warum es keinen bestimmten Typ des Nutzers und Investors gibt. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Investoren, daß sie eher innovativ orientiert sind, auf kostensparende Ressourcennutzung schauen und im Hinblick auf die Lebendigkeit des Quartiers weniger ängstlich als neugierig sind.

Grundstückserwerber sind in der Regel kleinere oder größere Gruppen von Bauinteressierten, die sich um eine Ansprechperson (meist einen Architekten oder einen Baukoordinator) gruppieren und ihr eigenes Baukonzept entwickeln. Daneben gibt es gewerbliche Unternehmen und Vereine, die einen Altbau erwerben und freibleibende Raum-kapazität an Dritte weitervermitteln. Die Breite der beteiligten „Bevölkerungskreise“ ergibt sich aus den außerordentlich günstigen Grundstücks-preisen, die das Resultat hoher baulicher Dichte auf kleinen Grundstücken bei vom Gutachterausschuß festgelegten Quadratmeterpreisen sind (ca. 300 DM je Quadratmeter Geschoßfläche).

Außerhalb der regulären Bauflächen werden im Entwicklungsbereich Angebote für in Eigenleistung hergestellte oder beschaffte Behelfsbauten gemacht, die von Bauwagenbewohnern und Wohnungslosen genutzt werden. 5. Stadt als „Hebamme“

Es genügt nicht, einen städtebaulichen Rahmen für Nutzungsmischung und Bürgermitwirkung zu setzen und die Dinge sich selbst zu überlassen. Beim Aufbau eines neuen Stadtquartiers geht es heute darum, Aufgaben, die in den vergangenen Jahrzehnten auf die öffentlichen Hände übertragen wurden, wieder in den Stadtteil, dorthin, wo die Menschen leben und arbeiten, zurückzugeben. Dazu ist ein Projektmanagement erforderlich, das all denen, die etwas zum Nutzen des Stadtteils und der Stadtkultur unternehmen wollen, eine Chance gibt, ihre Vorstellung auch umzusetzen. Diese Hebammenaufgabe wird für das Tübinger Projekt vom Stadtsanierungsamt organisiert, das aus 20 Jahren Altstadtsanierung. gelernt hat, wie die Nutzungswünsche der unterschiedlichsten Beteiligten für die Realisierung (oder Erhaltung) einer kommunikativen Stadtstruktur eingesetzt werden können.

Als Grundsatz gilt, daß es für jeden Ansiedlungsinteressierten, dessen Nutzungsbedarf einerseits „das Wohnen nicht wesentlich stört“ und andererseits das Quartier in seiner Vielfalt bereichern kann, eine passende „Ecke“ geben muß, an der er seine Vorstellungen realisieren kann. Diese „Ecke“ zu finden und zu vermitteln ist eine zentrale Aufgabe des Projekt-und Flächenmanagement. Hebammentätigkeit ist das Gegenstück zu pädagogischer Betreuung: einen Weg eröffnen, auf dem die Menschen in dem Stadtviertel ihre eigene Infrastruktur (marktförmig oder nicht marktorientiert) selbst aufbauen und unterhalten können, einen Weg eröffnen, bei dem die Kommunikation gegenüber der Abschottung im Vordergrund steht, dabei städtische Zuständigkeiten eher zurücknehmen und loslassen, die Kompetenz der Menschen im Stadtviertel herausfordern und sie als Dienstleister für die Gesellschaft nutzen.

Das Angebot konkreter Altbauten und konkreter Parzellen beschränkter Größe führt bei den Beteiligten zu einem Prozeß der Selbstorganisation: Sie übernehmen nach einer Phase der Geburtshilfe selbst die Initiative und suchen sich Interessenten, die ihr eigenes Projekt so ergänzen, daß es die räumlichen Möglichkeiten ausfüllen kann. Partner sind nicht nur Wohnungsbauinteressierte, sondern umsiedlungsbereite Betriebe, Existenzgründer, Kirchen, Vereine der unterschiedlichsten Couleur, Künstler, alle möglichen Freischaffenden usw. Sie finden sich in der Entwicklungsmaßnahme zusammen, weil es nur hier ein differenziertes, anpassungsfähiges Raumpotential zu definierten Preisen gibt. Die Kunst der Planung ist, für die Vermittlung des Angebots die geeigneten Wege zu finden:Diese Wege sind in keinem Planungshandbuch vorgezeichnet, man muß sie als Teil des Entwicklungsprozesses buchstäblich selbst (er) finden: Arbeitsgruppen werden zu Projektgruppen, aus der Stadtteilzeitung wird eine Stadthausbörse, aus angesiedelten Betrieben und Vereinen werden Stadtteilkristallisatoren, die „Schule im Stadtteil“ betätigt sich als Stadtteilmoderatorin.

V. Schlußbemerkung: Langfristige Orientierung der Stadtentwicklung

Maßnahmen der Stadtentwicklung schaffen Strukturen, die die Zukunft einer Stadt für sehr lange Zeiträume festschreiben. Wer ein Auto kauft, kann es morgen wieder abschaffen. Die Gesellschaft, die die segmentierte Stadt immer weiter ausbaut, hat wenig Chancen, ihre sozialen und kulturellen Folgewirkungen einzudämmen oder gar rückzuführen.

Der Bau überdimensionierter Einkaufszentren auf der grünen Wiese nach der Wende in den neuen Ländern durch Konzerne, die sich alle dabei auf Wünsche der Bevölkerung berufen können, behindert heute ganz massiv die Reparatur der noch rudimentär vorhandenen städtischen Strukturen in den Stadtkernen. Oder die einseitig auf den Individualverkehr ausgerichtete (und dabei schlecht genug funktionierende) Verkehrsinfrastruktur der Ballungsräume -einschließlich deren öffentlicher Finanzierung -macht einen Umbau der Städte mit dem Ziel einer gesamtwirtschaftlich vertretbaren Erschließung zu einem fast aussichtslosen Geschäft.

Gesellschaft und Wirtschaft befinden sich im Umbruch. Die öffentlichen Verwaltungen müssen ebenso umgebaut werden wie die baulich-räumlichen Strukturen der Städte. Hier können aber die notwendigen Maßnahmen nicht einfach am kundenorientierten Output gemessen werden. Gerade die Defizite der Städte weisen darauf hin, wie sehr Gleichheit und Gerechtigkeit Schaden nehmen, wenn die öffentliche Hand sich ein (zwangsläufig aufs eigene Produkt zugeschnittenes) Bild vom Kunden macht, wie Firmen das zwangsläufig tun müssen.

Die Frage ist nicht, wie angesichts der leeren öffentlichen Kassen die bisherigen Angebote verbessert, rationalisiert, kundenfreundlicher gemacht werden können; die Frage ist vielmehr, welche anderen Angebote die Städte machen müssen, damit die Menschen ihr eigenes Zusammenleben wieder besser selbstorganisieren können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. Andreas Feldtkeller; Jugendgerechte Stadtplanung, in: Jugend macht Gesellschaft, Stuttgart 1995.

  2. Gabriele Steffen, Virtuelle und vitale Stadt -Urbanität in der digitalen Gesellschaft, in: der städtetag, (1996) 5.

  3. Andreas Feldtkeller, Innovation durch Konversion, in: deutsche bauzeitung, (1994) 8.

  4. Vgl. Stadt Tübingen, Städtebaulicher Rahmenplan „Stuttgarter Straße/Französisches Viertel“, Tübingen 1994.

  5. ExWOSt = Experimenteller Wohnungs-und Städtebau, ein Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, betreut von der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raum-ordnung.

  6. Die Grundflächenzahl bezeichnet den Anteil der Grundstücksfläche, die überbaut werden darf.

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Andreas Feldtkeller, geb. 1932; seit 1972 Leiter des Stadtsanierungsamts der Stadt Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Die zweckentfremdete Stadt -Wider die Zerstörung des öffentlichen Raums, Frankfurt am Main-New York 1994.