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Die Zollunion der Türkei mit der Europäischen Union -ein Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft? | APuZ 11-12/1997 | bpb.de

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APuZ 11-12/1997 Die gegenwärtige politische Lage in der Türkei unter der neuen Regierung Die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei Außenpolitik am Wendepunkt? Ankara sucht seinen Standort im internationalen System Die Zollunion der Türkei mit der Europäischen Union -ein Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft? Zur Kurdenproblematik in der Türkei

Die Zollunion der Türkei mit der Europäischen Union -ein Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft?

Sefik Alp Bahadir

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Türkei schloß 1963 ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Gemeinschaft ab und strebt seit Jahren vehement die Vollmitgliedschaft an. Nachdem ihr Beitrittsantrag von 1987 erfolglos war, hat die am 1. Januar 1996 in Kraft getretene Zollunion mit der EU neue Hoffnungen auf einen baldigen Anschluß des Landes an die europäische Staatengemeinschaft geweckt. In diesem Beitrag werden die Zollunion und die Perspektiven eines künftigen EU-Beitritts im Gesamtkontext der türkisch-europäischen Beziehungen analysiert und dabei vier Belastungsfaktoren für den weiteren Ausbau dieser Beziehungen besonders hervorgehoben. Hierzu zählt zunächst das Wirtschaftsgefälle zwischen der Türkei und den EU-Staaten, wobei diese Beitrittsbarriere infolge der Zollunion bzw.des daraus zu erwartenden erheblichen Strukturwandels der türkischen Wirtschaft mit einem starken Modernisierungsschub in den folgenden Jahren zunehmend an Bedeutung verlieren wird. Dagegen werden die Defizite der Türkei auf den Gebieten der Demokratie und der Menschenrechte auch künftig einen ebenso schwerwiegenden Belastungsfaktor in den Beziehungen des Landes zu Europa bilden wie dessen bilaterale Konflikte mit dem EU-Mitglied Griechenland. Was schließlich die aktuellen Irritationen in den Beziehungen infolge der Regierungsbeteiligung der islamistischen Refah-Partei in Ankara betrifft, so werden diese bald einer nüchternen Betrachtung Platz machen und aller Voraussicht nach zu keiner ernsthaften zusätzlichen Belastung dieser Beziehungen führen.

Seit Januar 1996 nimmt die Türkei in den Außenbeziehungen der Europäischen Union eine Sonderstellung ein. Sie ist das einzige Land, das eine Zollunion mit der EU gebildet hat, ohne zuvor die Mitgliedschaft zu erwerben. Bedeutet diese Sonderstellung einen Dauerzustand in den künftigen Beziehungen der Türkei zur EU oder nur eine Übergangsphase bis zur Vollmitgliedschaft? Im folgenden werden die politischen und ökonomischen Folgen der Zollunion sowie die Perspektiven einer künftigen EU-Vollmitgliedschaft der Türkei erörtert.

I. Die Zollunion -ein Politikum

Als das Europäische Parlament am 13. Dezember 1995 die zuvor getroffene Vereinbarung zwischen der EU und der Türkei über die Bildung einer Zollunion ratifizierte, wurde dies in den türkischen Medien als ein großartiger politischer Etappensieg auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft gefeiert. Die Schlagzeile der Wirtschaftszeitung Euro-Turk Trade ist exemplarisch für die Meldungen in der türkischen Presse über die mit Spannung erwartete Abstimmung im Europäischen Parlament: „Customs Union approved: next Step is full membership.“ Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Qiller sprach sogar von einer historischen Entscheidung: „Through the Customs Union with the EU, Turkey has fulfilled a 30 years old aspiration.“ Dieser Enthusiasmus über die Zustimmung des Europäischen Parlaments ist nur dadurch zu erklären, daß die Frage der Zollunion von der türkischen politischen Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren zu einer Vorentscheidung über die künftige EU-Mitgliedschaft hochstilisiert und damit in den Mittelpunkt der seit längerem anhaltenden Debatte über die kulturelle Identität und die außenpolitische Orientierung des Landes gerückt wurde. Die proeuropäische Koalition von „Kemalisten" aus konservativen und sozialdemokratischen Parteien stand dabei in einer doppelten Frontstellung zu den „antieuropäischen“ Islamisten einerseits und zu der „antitürkischen Fraktion“ des Europäischen Parlaments andererseits, d. h. zu der Gruppe von grünen und sozialistischen Europaabgeordneten, die wegen des Defizits an Menschenrechten und Demokratie die Zollunion mit der Türkei ablehnten. Tansu iller konnte letztendlich diese beiden Fronten erfolgreich gegeneinander ausspielen, indem sie an die Furcht der Europäer vor dem sogenannten islamischen Fundamentalismus appellierte: „Fundamentalism is only going to be a threat if Turkey is left out of Europe. I think Europe needs Turkey if it does not want the forces of fundamentalism to move up to its borders.“ Es ist eine Ironie der türkischen Innenpolitik, daß dieselbe Vorsitzende der Partei des Rechten Weges (Dogruyol Partisi = DYP) bereits sieben Monate nach der Zustimmung des Europäischen Parlaments am 28. Juni 1996 eine Koalitionsregierung mit der islamistischen Refah-Partei (RP) Erbakans bilden sollte. Als das Abstimmungsergebnis des Europäischen Parlaments mit 343 Ja-Stimmen gegen 149 Nein-Stimmen und 36 Enthaltungen bekanntgegeben wurde, war das jedenfalls noch ein historischer Sieg der „Kemalisten" gegen die „Islamisten“.

Tatsächlich ist die Vereinbarung einer Zollunion zwischen der Türkei und der EU vom 6. März 1995, die am 13. Dezember desselben Jahres vom Europäischen Parlament ratifiziert wurde und am 1. Januar 1996 in Kraft trat, keineswegs „das bedeutendste Abkommen der Geschichte der Türkischen Republik“, wie dies in einem offiziellen Organ der türkischen Generäldirektion für Medien und Information proklamiert wurde Diese Vereinbarung war vielmehr der längst fällige Vollzug eines im Assoziationsabkommen von 1963 zwischen der damaligen EWG und der Türkei vorgesehenen Schrittes. In diesem Abkommen wurde die stufenweise Errichtung einer Zollunion im Verlauf der sogenannten Übergangsphase des Assoziationsverhältnisses vereinbart, wobei diese Phase nicht länger als zwölf Jahre dauern durfte Da das Abkommen am 1. Dezember 1964 in Kraft trat, hätte die Zollunion -eingerechnet die ebenfalls vereinbarte fünfjährige Vorbereitungsphase -eigentlich bereits 1981 errichtet werden sollen. In jenem Jahr wurde aber das Assoziationsverhältnis der Gemeinschaft mit der Türkei wegen der Militärintervention vom 12. September 1980 bis auf weiteres eingefroren.

Für die um 15 Jahre verspätete Errichtung der Zollunion gibt es zwar viele ökonomische und politische Gründe. Bis 1980 lag der Hauptgrund jedoch darin, daß dieses Projekt in einem krassen Widerspruch zu der ebenfalls 1963 initiierten langfristigen Wirtschaftsplanung in der Türkei stand, wobei die Importsubstitution und die Protektion der heimischen Industrie die wichtigsten strategischen Elemente der jeweiligen Fünfjahres-Entwicklungspläne bildeten So heißt es in einer Studie der „Staatlichen Planungsorganisation“ in Ankara zur Vorbereitung des Dritten Fünfjahresplanes 1973-1978, daß die Verpflichtungen aus dem Assoziationsabkommen, den schrittweisen Zollabbau, betreffend, „die Aufstellung des Dritten Fünfjahres-Entwicklungsplanes im Sinne des Grundgesetzes und in der Weise, wie die Wirtschaftstheorie dies für die unterentwickelten Länder vorschreibt, unmöglich werden ließ(en)“

Die ab 1980 in der Türkei vollzogenen Wirtschaftsreformen, insbesondere die außenwirtschaftliche Öffnung des Landes ließen zwar die Zollunion mit der EU als eine konsequente Fortsetzung dieses Reformkurses erscheinen, doch lag es seither vornehmlich an innen-und außenpolitischen Gründen, daß das Projekt trotz des Drängens der Türkei nicht zu einem baldigen Abschluß gebracht werden konnte. Der Assoziationsrat EG-Türkei, der sich aus Regierungsvertretern der Gemeinschaft und der Türkei zusammensetzt und die Durchführung des Assoziationsverhältnisses überwacht, trat nach der Militärintervention vom September 1980 erstmals im September 1986 wieder zusammen, ohne jedoch nennenswerte Beschlüsse über die Fortentwicklung der Assoziationsbeziehung zu fassen. Verhandelt wurden dort vornehmlich die Mängel bei der Wiederherstellung der Demokratie in der Türkei sowie Menschenrechtsverletzungen einerseits und die griechischen Vorwürfe wegen der türkischen Zypernpolitik andererseits. Auf einer erneuten Tagung des Assoziationsrates, die für den 25. April 1988 geplant war, sollte über die Blockierung der acht Jahre zuvor vereinbarten Finanzhilfe der Gemeinschaft an die Türkei in Höhe von 600 Mio. Ecu beraten werden, zumal das Veto Griechenlands nach einem Treffen des türkischen Premiers Turgut Özal mit seinem griechischen Amtskollegen Andreas Papandreou im Januar 1988 in Davos aufgehoben zu werden schien.

Da jedoch in der von den EG-Vertretern vereinbarten Eingangserklärung die Zypernfrage als „die Beziehungen zwischen der Türkei und der EG berührend“ bezeichnet wurde, versagte die türkische Regierung der geplanten Tagung ihre Zustimmung Seither hat der Assoziationsrat mehrmals getagt und eine Reihe von Hürden der Zollunion aus dem Weg geräumt. Doch ein endgültiger Beschluß scheiterte stets am Veto Griechenlands, das von der Türkei politische Konzessionen in der Zypernfrage im Gegenzug für seine Zustimmung verlangte. Noch über die Tagung des Assoziationsrates vom 19. Dezember 1994 in Brüssel berichtete die EU-Kommission, „... daß die meisten Verhandlungspunkte hinsichtlich der Errichtung einer Zollunion zwischen der Gemeinschaft und der Türkei geregelt seien... Wegen des Widerstands eines der Mitgliedsstaaten konnte der Assoziationsrat jedoch zu keiner endgültigen Einigung über die Zollunion gelangen.“

Erst auf Drängen des amtierenden Ratspräsidenten der EU und französischen Außenministers, Alain Juppe, konnte Griechenland zu einem Einlenken in der Frage der Zollunion bewegt werden, nachdem ihm die Aufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Republik Zypern noch vor derWiedervereinigung der Insel in Aussicht gestellt wurde. Auf der erneuten Tagung des Assoziationsrates am 6. März 1995 unter dem Vorsitz Juppes wurde schließlich Einvernehmen über die Errichtung der Zollunion erzielt, nachdem die Türkei sich verpflichtet hatte, noch vor der Ratifizierung der Zollunion durch das Europäische Parlament konkrete Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die „Achtung der demokratischen Grundsätze“ zu gewährleisten, und zwar durch die entsprechende Änderung der von der Militärregierung 1982 eingeführten Verfassung sowie des berüchtigten Gesetzes zur Bekämpfung des Terrorismus Während des Sommers 1995 hat die Türkei tatsächlich solche Verfassungs-und Gesetzesänderungen vorgenommen die u. a. die unmittelbare Entlassung von mehr als 70 politischen Gefangenen zur Folge hatten. Für die grünen und sozialistischen Fraktionen des Europäischen Parlaments blieben diese Maßnahmen jedoch weit hinter den türkischen Zusagen zurück. Die Ratifizierungsdebatte im Parlament zeigte übrigens wieder einmal deutlich, daß dort politischen und strategischen Themen eine weit größere Bedeutung beigemessen wird als den Menschenrechtsfragen. Nach der Ratifizierung der Zollunion blieb der Führerin des Sozialistischen Blocks, Pauline Green, nur noch übrig, die Bedeutung dieser Abstimmung herunterzuspielen: „Turkish politicians are trying to convince people that customs union means that Turkey is almost in the European Union. This is nonsense. As far as we are concerned the customs union Stands alone. It means that Turkey is a sort of arms-length partner of the EU.“

II. Die Zollunion -eine wirtschaftliche Herausforderung

Wirtschaftlich beinhaltet die mit 64 Artikeln und mehreren Anhängen, Noten und Zusatzprotokollen kaum überschaubare Vereinbarung über die Zollunion im Kern den freien Warenverkehr zwischen der EU und der Türkei, die Annahme des EU-Außenzolltarifs und der gemeinschaftlichen Handelspolitik durch die Türkei sowie die Angleichung der türkischen Rechtsvorschriften, insbesondere im Bereich der Wettbewerbsregeln und des Schutzes des geistigen, gewerblichen und kommerziellen Eigentums, an die EU-Normen. Abgesehen von einigen Übergangsregeln und Ausnahmeklauseln, die Ende 1999 auslaufen sollen, ist die türkische Wirtschaft damit in den europäischen Wirtschaftsraum integriert worden. Obwohl der Importwettbewerb in der Türkei seit der außen-wirtschaftlichen Öffnung der achtziger Jahre erheblich gewachsen ist, stellt der zollfreie Warenverkehr mit den EU-Ländern für die türkischen Produzenten dennoch eine gänzlich neue Herausforderung dar.

Die Importprotektion der türkischen Produzenten vor der EU-Konkurrenz betrug 1995 im Durchschnitt sechs Prozent. Für die einzelnen Warengruppen lag die Protektion jedoch bei wesentlich höheren Sätzen: neun Prozent für Haushaltsgeräte, 20 Prozent für PKWs und sogar 50 Prozent für Bier und einige andere alkoholische Getränke. Dementsprechend erfreuten sich die meisten türkischen Firmen noch 1995 einer für EU-Standards ungewöhnlich hohen Profitrate von rund 40 Prozent. Durch die Überschwemmung des türkischen Marktes mit billigen Importgütern werden solche hohen Gewinne bald der Vergangenheit angehören. Zum erhöhten Importdruck wird neben der Beseitigung der Zölle auch die vereinbarte Anwendung von strikten EU-Sicherheits-und Konsumentenschutznormen in der Türkei führen. Hinzu kommt die Anpassung der Wettbewerbsregeln an die EU-Normen, woraus sich wiederum ein verbesserter Marktzugang für die EU-Produzenten ergeben wird.

Tatsächlich sind die türkischen Importe in den ersten acht Monaten 1996 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 27, 8 Prozent (von 21 537 auf 27 525 Mio. US-Dollar) gestiegen. Es ist jedoch noch verfrüht, daraus den Schluß zu ziehen, daß die Zollunion das Land in eine ernsthafte Zahlungsbilanzkrise führen wird. Denn in diesem Zeitraum verzeichneten auch die Exporte des Landes einen beachtlichen Zuwachs um immerhin 18, 6 Prozent (von 13 494 auf 16 002 Mio. US-Dollar). Zudem ist der Importzuwachs von 27, 8 Prozent keineswegs eine einmalige Erscheinung im Außenhandel des Landes. Ein Jahr zuvor (Januar-August 1995) lag der Importzuwachs gegenüber der Vorjahresperiode weit höher, nämlich bei 50, 2 Prozent Deshalb kann bisher von einer dramatischen Entwicklung noch keine Rede sein, obgleich von der Beseitigung der Handelsschranken vor -erst nur die europäischen Exporte in die Türkei profitieren, während die türkischen Exporteure bereits vor der Errichtung der Zollunion zollfreien Zugang zum EU-Markt für die meisten ihrer Absatzgüter genossen. Nach Angaben der EU-Kommission ist die Türkei jedenfalls bereits Ende 1996 zum siebtgrößten Handelspartner der EU (direkt nach Rußland) avanciert und wird in naher Zukunft ihre Position sicherlich noch weiter ausbauen

Ein Teil der türkischen Industrie hat diese Herausforderung bereits seit längerem angenommen. Es handelt sich hierbei zumeist um die großen kapitalstarken Unternehmensgruppen {Holdingler), deren Interessenverband Turkish Industrialist’s and Businessmen’s Association (TÜSIAD) die die wichtigste pressure group für die Zollunion gewesen ist. Diese in der Zeit der Importsubstitution bis zu den achtziger Jahren und während der folgenden Phase der Exportförderung gewachsenen Firmen drängen ohnehin seit längerem auf Auslandsmärkte und hatten 1994 einen erheblichen Anteil an den türkischen Exporten in die EU-Länder in Höhe von immerhin 8, 2 Mrd. US-Dollar. Sie haben in den vergangenen Jahren den technologischen Anschluß an das EU-Niveau weitgehend erreicht und werden von dem zu erwartenden Kapitalstrom aus Europa als potentielle Jointventure-Partner in erster Linie profitieren. Zu nennen sind hier die Autoindustrie, die Produzenten von dauerhaften Konsumgütern und nicht zuletzt die Textil-und Bekleidungs-sowie die Nahrungsmittelindustrie. Für einen Großteil der mittelständischen und kleineren Produzenten, die zumeist im informellen Sektor operieren, bedeutet die Zollunion jedoch eine Existenzbedrohung. Ein Teil dieser Firmen, die chronisch an Investitionsmangel, technologischem Rückstand bzw. schlechtem Management leiden und deshalb zu sehr hohen Kosten produzieren, wird das eigentliche Opfer der Zollunion sein. Das gilt insbesondere für Firmen, die von der bis vor kurzem florierenden Markenpiraterie profitierten, und für die Hersteller von qualitativ minderwertigen Nahrungsmitteln. Insgesamt wird die türkische Industrie in den kommenden Jahren einen erheblichen Strukturwandel mit einem starken Modernisierungsschub erfahren. Vor allem wird die Bedeutung der Türkei als Produktionsstandort mit gut ausgebildeten und dennoch billigen Arbeitskräften steigen, und zwar nicht nur für die europäischen Investoren, die bereits mehr als die Hälfte der ausländischen Direktinvestitionen tätigen. Auch die japanischen und US. -Investoren werden künftig diesen Produktionsstandort für den zollfreien Export nach Europa bevorzugen. Autohersteller wie General Motors, Toyota, Honda und Mazda produzieren bereits in der Türkei, und Vertreter-anderer Branchen -von Electrolux bis Coca-Cola -bedienen den Nahost-Markt von ihren Standorten in Istanbul aus. Deshalb wird der industrielle Struktur-wandel aller Voraussicht nach nur vorübergehend die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit weiter steigen lassen. Mittel-bis längerfristig dagegen wird die türkische Arbeitnehmerschaft sicherlich von der Zollunion profitieren. Die unmittelbaren Nutznießer der Zollunion sind schließlich die türkischen Konsumenten, die künftig bessere Produkte zu niedrigeren Preisen kaufen können.

Aus den Erfahrungen mit der Süderweiterung der EG kann zwar der Schluß gezogen werden, daß die Zollunion insgesamt den Lebensstandard der türkischen Bevölkerung anheben wird. Hier ist jedoch zu bedenken, daß im Falle Portugals, Spaniens und Griechenlands die Integration in den europäischen Markt dadurch wesentlich erleichtert wurde, daß sie als Mitgliedsstaaten erhebliche Hilfen aus den Regional-und Sozialfonds sowie aus anderen Quellen in Brüssel in Anspruch nehmen konnten. Im Falle der türkischen Zollunion hat die EU finanzielle Zuwendungen und Darlehen in einer Gesamthöhe von knapp 1, 5 Mrd. Ecu für die ersten fünf Jahre zugesagt. Die Inanspruchnahme seitens der Türkei scheiterte aber bisher am Veto Griechenlands.

III. Die Zollunion -ein erster Schritt?

Wird die Türkei irgendwann Vollmitglied der Europäischen Union? Es ist zunächst festzuhalten, daß sie bereits zweimal -1958 und 1987 -die Voll-mitgliedschaft beantragt hat. Beide Anträge wurden zwar abgelehnt, aber nicht definitiv, sondern nur vorläufig in dem Sinne, daß das Land noch nicht reif für den Beitritt sei. Im Jahre 1958 bildete das hohe wirtschaftliche Gefälle zwischen der Sechsergemeinschaft und der Türkei den Ablehnungsgrund. In der Folge wurde das bereits erwähnte Assoziationsabkommen von 1963 abgeschlossen, worin sich die EWG bereiterklärte, „der Türkei während einer bestimmten Zeit eine Wirtschaftshilfe zu gewähren“, die „später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft erleichtern“ soll Mit dem zweiten Beitrittsantrag vom 14. April 1987 hat sich die Brüsseler Kommission immerhinmehr als zweieinhalb Jahre beschäftigt, um schließlich in ihrem Bericht vom 18. Dezember 1989 festzustellen, daß die Verwirklichung des geplanten Binnenmarktes die höchste Priorität genieße und daher bis 1993 grundsätzlich keine Beitrittsverhandlungen geführt werden könnten. Mit dem Hinweis auf das erhebliche wirtschaftliche Gefälle zwischen der Gemeinschaft und der Türkei wurde in diesem Bericht zugleich empfohlen, vorerst das Potential des Assoziationsabkommens für die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen auszuschöpfen und insbesondere die geplante Zollunion zu verwirklichen.

Auch im Falle eines künftigen Beitrittsantrags der Türkei kann sich die EU nicht grundsätzlich sperren: Je länger die jetzt vereinbarte Zollunion reibungslos funktioniert, desto stärker wird die Position der Türkei im Falle eines künftigen Beitrittsersuchens. Die Erfüllung der Vertragsbedingungen seitens der Türkei in den ersten neun Monaten der Zollunion gibt diesbezüglich durchaus Anlaß zum Optimismus: Die aus Vertretern der EU und der Türkei bestehende Kommission zur Überwachung der Zollunion konnte jedenfalls Anfang Oktober 1996 eine „befriedigende“ Zwischenbilanz ziehen Dieser Optimismus gilt allerdings lediglich für die ökonomischen bzw. wirtschaftspolitischen Vorbedingungen der EU für einen künftigen Beitritt der Türkei. Was jedoch die politischen Vorbedingungen der EU anbetrifft, so bilden sie nicht nur die eigentlichen Hindernisse für eine baldige Aufnahme der Türkei in die Gemeinschaft, sondern zugleich die wesentlichen Belastungsfaktoren in den aktuellen politischen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. 1. Die Belastungsfaktoren Es ist vor allem die innenpolitische Lage in der Türkei, die seit der Militärintervention im September 1980 die politisch-diplomatischen Beziehungen zu Europa permanent belastet und zu wiederholten Verurteilungen des Landes seitens der Menschenrechtsorganisationen wie auch im Europäischen Parlament, zuletzt wieder am 19. September 1996 geführt hat. Angeprangert werden dabei eine Reihe von rechtlichen und administrativen Einschränkungen der politischen Betätigung und der freien Meinungsäußerung einerseits und die häufigen Menschenrechtsverletzungen zur Einschüchterung der politischen Opposition sowie bei der Bekämpfung des Terrorismus, insbesondere der Kurdischen Arbeiterpartei PKK im Osten des Landes, andererseits.

Die Medien in Europa thematisieren die Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei bei weitem häufiger und legen dabei weit strengere Maßstäbe an als im Falle anderer nahöstlicher Staaten wie Ägypten und Syrien, und zwar nicht ohne Grund. Denn die Türkei ist Mitglied in mehreren europäischen und transatlantischen politischen Institutionen wie dem Europarat und der NATO, hat bereits 1987 das Recht auf Individualbeschwerde nach Artikel 25 der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannt und ist 1989 der Europäischen Anti-Folterkonvention beigetreten. Zudem bilden die Migranten aus der Türkei mit fast drei Millionen die größte Minderheiten-gruppe innerhalb der EU-Staaten; die politischen und sozialen Geschehnisse in der Türkei bleiben nicht ohne Folgen auf das Leben und Verhalten dieser Menschen. Die Türkei ist zu nahe an Europa herangerückt und strebt seit Jahren zu vehement die EU-Mitgliedschaft an, als daß sie die Kritik aus Europa mit dem Argument der „Einmischung in innere Angelegenheiten“ abwehren könnte. Doch genau das versucht heute nicht nur die offizielle Türkei, sondern auch ein Großteil der türkischen Medien und der politischen Klasse des Landes.

Es gibt heute keine politische Partei oder Organisation in der Türkei, die nicht für die Fortsetzung des Demokratisierungsprozesses, für die Einhaltung der Menschenrechte und insbesondere für das Recht auf freie Meinungsäußerung eintritt -zumindest verbal. Es besteht jedoch zugleich eine weit verbreitete Verdrossenheit gegenüber entsprechenden kritischen Forderungen aus Europa. Selbst die intellektuelle Elite des Landes wie auch die breite Öffentlichkeit ist heute geneigt, in der harschen Kritik aus Europa einen scheinheiligen Vorwand zu sehen, hinter dem die Absicht stecke, einem islamischen Land den Zutritt zur europäischen Staatengemeinschaft zu versperren. Dazu gehört auch der häufige Vorwurf des „doppelten Standards“ der EU bei der Anwendung der Kriterien der Demokratie und der Menschenrechte gegenüber der Türkei einerseits und den beitritts-willigen mittel-und osteuropäischen Staaten andererseits, denen -im Unterschied zur Türkei -die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen ohne strenge Einhaltung dieser Kriterien in Aussicht gestellt wurde. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch zu verstehen, wenn heute die Einstellung von kemalistisch-prowestlichen Intellektuellen und Politikern gegenüber Europa häufig die Züge einer „enttäuschten Liebe“ aufweist, während die Vertreter des politischen Islam mit einer gewissen Genugtuung behaupten können, daß die „schwärmerische Nachahmung“ {taklit) Europas von Anbeginn eine außenpolitische Sackgasse für die islamische Türkei gewesen sei.

In Fragen der Demokratie und Menschenrechte besteht das eigentliche Dilemma der Türkei darin, daß in diesen Belangen die Regierung und das Parlament zwar die politische Verantwortung tragen, aber nicht über die volle Entscheidungsfreiheit verfügen. Im Zuge des seit nunmehr zwölf Jahren andauernden Krieges gegen die PKK hat die politische Führung des Landes ihre Souveränität im Bereich der inneren Sicherheit faktisch an den Generalstab der Streitkräfte abgetreten, indem sie die verhängnisvolle Staatsdoktrin verfolgte, wonach es in der Türkei kein Problem der kurdischen Minderheit, sondern nur das Problem des PKK-Terrorismus gibt, dem man nicht mit politischen, sondern nur mit militärischen Maßnahmen entgegentreten kann. Das Festhalten an dieser Staatsdoktrin und die Tabuisierung einer wie auch immer gearteten politischen Lösung führte in der Folge zur Verhängung des Ausnahmezustandes in zahlreichen Ostprovinzen des Landes und damit zur Einschränkung der bürgerlichen Rechte der dortigen Bevölkerung sowie zu bisweilen schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen. Der Primat einer militärischen Lösung versetzt zudem den Generalstab der Streitkräfte in die Lage, grundsätzlich alle Fragen der Demokratie und der Menschenrechte als „die innere Sicherheit des Landes berührend“ zu deklarieren und damit in diesen Fragen das letzte Wort zu behalten bzw. eine „den militärischen Erfordernissen der Terrorismusbekämpfung angemessene“ Entscheidung zu bewirken. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch zu erklären, daß in offiziellen Verlautbarungen der türkischen Regierungen oft versucht wird, die zögerlichen Verbesserungen der demokratischen Verhältnisse bzw.der Menschenrechts-situation in der Türkei mit dem Hinweis auf die erschwerten politischen Bedingungen angesichts des PKK-Terrorismus zu rechtfertigen.

Dieses Dilemma der türkischen Regierungen resultiert übrigens aus der Existenz einer eklatant undemokratischen Institution im Zentrum der politischen Macht in Ankara, in der Berufssoldaten faktisch die Richtlinien für Regierungsentscheidungen bestimmen können. Gemeint ist hier der vom Generalstab der Streitkräfte beherrschte „Nationale Sicherheitsrat“. Dieses Gremium wurde gemäß Artikel 118 der Verfassung von 1982 ins Leben gerufen, als die Militärs sich im Herbst 1983 aus der unmittelbaren Regierungsverantwortung zurückzogen, aber das letzte Wort in „Sicherheitsfragen“ des Staates behalten wollten. Ihm gehören neben dem Staatspräsidenten vier Regierungsmitglieder (der Ministerpräsident, die Innen-, Außen-und Verteidigungsminister) sowie fünf Berufssoldaten (der Generalstabschef und die Oberkommandierenden der drei Streitkräfte sowie der Gendarmerie) an, die in ihren monatlichen Sitzungen „Ansichten über die Bestimmung und Festlegung der nationalen Sicherheitspolitik des Staates, über die ihre Anwendung betreffenden Beschlüsse und über die Sicherstellung der notwendigen Koordination“ festlegen. Im Rahmen dieser „vom Nationalen Sicherheitsrat festgelegten Ansichten“ bestimmt dann der Ministerrat die „Richtlinien der nationalen Sicherheitspolitik im Inneren, nach außen und im Bereich der Verteidigung“

Im Sondergesetz betreffend den Nationalen Sicherheitsrat ist übrigens der Zuständigkeitsbereich dieses Gremiums so weit gefaßt, daß es letztlich selbst entscheiden kann, in welchen Fragen es dem Ministerrat verbindliche „Ansichten“ zur Beschlußfassung vorlegen will. Und nach Artikel 8 dieses Gesetzes ist der Ministerrat dann angehalten, die Beschlüsse des Nationalen Sicherheitsrats mit Priorität zu behandeln und die geforderten Beschlüsse zu fassen. „Nationale Sicherheit“ bedeutet nach diesem Gesetz übrigens „den Schutz und die Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung, der nationalen Existenz und der Integrität des Staates sowie seiner politischen, sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und sonstigen Interessen ... auf der internationalen Ebene vor äußeren und inneren Bedrohungen jeder Art“

Der Nationale Sicherheitsrat als das höchste Entscheidungsgremium im Bereich einer so weit gefaßten Sicherheitspolitik legt somit die Richtlinien der Kurdenpolitik ebenso fest wie die Grenzen, innerhalb derer die Regierung bzw. das Parlament Gesetzesänderungen bzw. institutioneile Maßnahmen zur Verbesserung der Menschenrechtssituation im Lande vornehmen dürfen.

Insoweit stellt die Abschaffung dieser demokratisch nicht legitimierten Institution heute nicht nur die wichtigste Herausforderung für den Demokratisierungsprozeß in der Türkei, sondern zugleich eine wesentliche Voraussetzung für die weitere politische Integration der Türkei in die europäische Staatengemeinschaft dar. Es ist aber leider noch nicht abzusehen, wann die demokratischen Kräfte in Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft diese Machtprobe mit der militärischen Führung des Landes aufnehmen werden, zumal die demokratische Legitimität des Nationalen Sicherheitsrats heute noch zu den Tabu-Themen des politischen Diskurses in der Türkei gehört. Neben der innenpolitischen Lage in der Türkei bilden die türkisch-griechischen Konflikte über den künftigen Status Zyperns und über die Hoheitsrechte in der Ägäis eine zweite permanente Belastung der Beziehungen des Landes zur Europäischen Union. Der Belastungsfaktor ist hier einfach die EU-Mitgliedschaft Griechenlands bzw. die ihm als EU-Mitglied gebotene Option, sein Vetorecht in EU-Entscheidungen als Hebel einzusetzen, um in seinen bilateralen außenpolitischen Konflikten mit dem Nachbarn Türkei einseitige Konzessionen zu erlangen. Die Entwicklung der Assoziationsbeziehung der Türkei mit der Gemeinschaft ist seit dem Beitritt Griechenlands so stark und nachhaltig belastet worden, daß hier eine künftige Besserung nur dann erwartet werden kann, wenn die Konflikte um Zypern und die Ägäis zumindest entschärft werden. Doch ist hier Optimismus nicht angebracht: Gerade seine starke Position als EU-Mitglied verleitet Griechenland zu einer kompromißlosen Haltung auf beiden Konfliktfeldern; und die Türkei ist mit Recht nicht bereit, die Verbesserung seiner Beziehungen zur EU mit einseitigen Konzessionen gegenüber Griechenland zu erkaufen. 2. Der politische Islam -ein zusätzlicher Belastungsfaktor?

Zusätzlich zu den genannten Belastungsfaktoren für die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei scheint in jüngster Zeit ein weiterer hinzuzutreten: Der politische Islam wird vielerorts zunehmend zu einer unüberwindlichen Barriere für eine weitere Annäherung der Türkei an Europa hochstilisiert. Dies gilt nicht nur für die europäischen Medien, die oftmals geneigt sind, die Regierungsbeteiligung der Refah-Partei mit der Abwendung der Türkei von Europa hin zur islamischen Welt gleichzusetzen. Das gilt auch für einen Großteil der Medien und der politischen Öffentlichkeit in der Türkei, die sogar das Schreckensbild einer islamischen Republik ä la Iran an die Wand malen. Solche Vermutungen bzw. Befürchtungen können aber einer nüchternen Analyse des politischen Islam in der Türkei nicht standhalten.

Die Türkei ist fast sieben Jahrzehnte lang der radikalste säkularistische Staat im Vorderen Orient gewesen. Nach der Gründung der Republik wurde nicht nur das Kalifat abgeschafft (1924), die isla-mischen religiösen Derwischorden verboten (1925) und der Islam als Staatsreligion aus der Verfassung gestrichen (1928); sämtliche Höheren Schulen für islamische Theologie wurden geschlossen, und der Religionsunterricht wurde an den staatlichen Oberschulen (1924), Mittelschulen (1927), Volksschulen (1930) und Dorfschulen (1938) eingestellt. Kurz vor den Wahlen von 1950, die erstmalig in der Geschichte der Republik das Attribut „demokratisch“ verdienten, hat die kemalistische Staatspartei noch versucht, den „antilaizistischen“ Versuchungen der Opposition einen Riegel vorzuschieben: 1949 wurde das Strafgesetzbuch um den Artikel 163 ergänzt, der erst vier Jahrzehnte später wieder gestrichen werden sollte. Dieser drohte Haftstrafen bis zu fünf Jahren für jene an, die die Religion für'politische oder persönliche Ziele „mißbrauchten“ oder religiöse Empfindungen zur Schwächung des „laizistischen Prinzips“ ausnutzten. Haftstrafen bis zu sieben Jahren wurden Gründern und Mitgliedern von Organisationen angedroht, die die Errichtung einer politischen, sozialen, juristischen oder wirtschaftlichen Ordnung auf religiöser Grundlage anstrebten. Seit der Streichung dieses Artikels im Jahre 1989 ist insoweit eine Normalisierung der zuvor durch ein antidemokratisches Laizismusverständnis bestimmten politischen Landschaft des Landes zu konstatieren.

Die Refah-Partei Erbakans hat von dieser Normalisierung zwar in erster Linie profitiert; ihre Wahl-erfolge resultieren jedoch keineswegs aus einer wie auch immer gearteten „Reislamisierung" der türkischen Gesellschaft. Sie sind vielmehr die Folge des langanhaltenden Substanzverlustes bei den traditionellen konservativen wie auch den sozialdemokratischen Parteien, die angesichts der schwerwiegenden innenpolitischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes spätestens seit dem Ende der Regierung Turgut Özal keine Zukunftsperspektiven mehr zu bieten hatten. Auch die Refah-Partei Erbakans hat bisher zwar noch nicht viel von dem realisieren können, was sie bei den Wahlen versprochen hat -zumal in einer Koalitionsregierung. Ihrem Aufstieg von einer sektiererisch-islamistischen Kleinpartei zur größten Volkspartei des Landes kommt dennoch bereits heute eine gewisse historische Bedeutung zu: Zum einen ist das klientelistisch-verkrustete türkische Parteiensystem um ein halbes Dutzend Parteiführer ohne nennenswerte Mitgliederschaft so gründlich aufgerüttelt worden, wie seit der Militär-intervention von 1980 nicht mehr; aber diesmal eben von den Wählern und damit sicherlich mit positiven Folgen. Zum anderen hat die Refah-Partei den anderen islamistisch-politischen Parteien und Gruppierungen im Nahen Osten erfolgreichdemonstriert, daß islamische Werte und islamistische politische Forderungen am besten mit demokratischen Mitteln Eingang in die Politik des jeweiligen Landes finden können. Und schließlich ist zu erwarten, daß es der jetzigen Koalitionsregierung Erbakan-Qiller gelingen wird, die europäische politische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, daß die Intensivierung der politisch-ökonomischen Beziehungen zu anderen islamischen Staaten ebensowenig wie die stärkere Betonung der islamischen Werte in der türkischen Politik eine Abkehr der Türkei von Europa bedeutet.

IV. Ausblick

Eingangs wurde bereits dargelegt, daß ein Großteil des innenpolitischen Spektrums der Türkei einen künftigen EU-Beitritt favorisiert, wobei die Zollunion als ein erster Schritt auf diesem Weg gesehen wird. Einzig die Refah-Partei als die traditionelle Vertreterin der Wirtschaftsinteressen von mittelständischen und kleinen Betrieben in Anatolien opponierte eine Zeitlang gegen die für diese Schichten wirtschaftlich bedrohliche Zollunion. Doch bereits nach dem Wahlsieg vom Dezember 1995 erklärte Erbakan, daß die Refah-Partei lediglich die Revision einiger Vertragsbestimmungen fordere. Seit der Bildung der Regierung Erbakan-Qiller im Juli 1996 wurde auch diese Forderung fallengelassen. Wählerbefragungen haben seither vielfach belegt, daß auch die Mehrheit der Refah-Wähler den EU-Beitritt der Türkei gegenüber der Mitgliedschaft in einer künftigen islamischen Wirtschaftsgemeinschaft favorisiert. Deshalb kann hier abschließend die Prognose gewagt werden, daß die seit der Bildung der Regierungskoalition Erbakan-Qiller aufgetretenen zusätzlichen Irritationen in den EU-Türkei-Beziehungen bald vorüber sein werden. Eine solche Vorhersage erscheint hinsichtlich der eigentlichen Belastungsfaktoren, die mit den Problemen der Demokratie und der Menschenrechte in der Türkei sowie mit dem Vetorecht Griechenlands Zusammenhängen, heute leider kaum möglich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Euro-Türk Trade. Monthly Economic Newspaper, January 1996, S. 1.

  2. Ebd.

  3. „Kemalismus“ beinhaltet die sechs vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk propagierten politischen Prinzipien (Republikanismus, Nationalismus, Populismus, Etatismus, Laizismus und Reformismus), die 1938 in Art. 2 der Verfassung festgeschrieben wurden. In der heutigen politischen Debatte wird der „Kemalismus“ weitgehend mit dem „Laizismus“ im Sinne der Kontrolle der Religion durch den Staat gleichgesetzt.

  4. Turkey: The Customs Union with Europe. Rumbles in the east as the gate opens, in: Financial Times vom 22. 1. 1996, S. 23.

  5. Vgl. Türk Haber Ankara vom 21. 3. 1995, S. 1.

  6. Das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. 9. 1963, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 29. 12. 1964, Dok. 3687/64 bis 3708/64.

  7. Vgl. Art. 4, Abs. 2 des Assoziationsabkommens.

  8. Vgl. efik Alp Bahadir, Europa und die Türkei. Eine ökonomische Studie, in: Claus Leggewie/Marios Nikolinakos (Hrsg.), Europäische Peripherie. Zur Frage der Abhängigkeit des Mittelmeerraumes von Westeuropa. Tendenzen und Entwicklungsperspektiven, Meisenheim 1975, S. 155-185, bes. S. 165 ff.

  9. Babakanlik Devlet Planlama Te§kilati, Üüncü Be Yillik Kalkinma Plani ve Ortak Pazar, Ankara 1972, S. 21.

  10. Vgl. Angelika Schubert, Politische Ökonomie der Handelsliberalisierung in der Türkei, 1980-1990, Gotha 1996, bes. Teil l, S. 27 f.

  11. Vgl. Detlef Puhl, Die Mittelmeerpolitik der EG. Strukturschwächen des EG-Systems bei der Verwirklichung des Globalkonzepts, Schriftenreihe Europa-Forschung, Bd. 4, Kehl am Rhein-Straßburg 1993, S. 33ff.

  12. Bulletin der Europäischen Union, 12/1994, Ziff. 1. 3. 62, S. 131.

  13. Vgl. Bulletin der Europäischen Union, 3/1995, Ziff. 1. 4. 65, S. 81 f. Parlament Änderungen

  14. Am 23. Juli 1995 wurden im an 16 Artikeln der Verfassung von 1982 vorgenommen, und am 28. Oktober desselben Jahres wurde der Paragraph 8 des Antiterrorgesetzes einer Revision unterzogen.

  15. Turkey: The Customs Union with Europe. Membership is the goal, in: Financial Times Survey vom 22. 1. 1996, S. 24.

  16. Vgl. Isbank, Economic Research and Planning Department, Review of Economic Conditions, (1996) 2, S. 5, Tabelle.

  17. Vgl. Turkey: Investment and Finance, Financial Times Survey, in: Financial Times vom 6. 12. 1996, S. I-VI, bes. S. II.

  18. Präambel des Assoziationsabkommens von 1963 (Anm. 6).

  19. Auskunft von Michele Villani, Europäische Kommission, GD III.

  20. Das Europäische Parlament hat an diesem Tag mit 362 Stimmen (bei 23 Gegenstimmen und 20 Enthaltungen) eine Resolution über die politische Situation in der Türkei verabschiedet, worin das Einfrieren der EU-Hilfe gefordert wurde.

  21. Dieser untersteht in der Türkei nicht dem Verteidigungsminister, sondern unmittelbar dem Ministerpräsidenten.

  22. Artikel 4, Satz a des „Gesetzes betreffend den Nationalen Sicherheitsrat und das Generalsekretariat des Nationalen Sicherheitsrats“ Nr. 2945 vom 9. 11. 1983, in: Resmi Gazete (Staatsanzeiger), Nr. 18218 vom 11. 11. 1983, S. 3-10.

  23. Ebd.. Artikel 2, Satz b.

  24. Ebd., Artikel 2, Satz a.

  25. Kalif = Nachfolger. Titel mohammedanischer Herrscher als Nachfolger Mohammeds.

Weitere Inhalte

efik Alp Bahadir, Dr. rer. pol., geb. 1946; Professor für Gegenwartsbezogene Orientforschung am Institut für Staats-und Versicherungswissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Theorien und Strategien der regionalen Wirtschaftsintegration von Entwicklungsländern, Berlin 1984; zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden zu Wirtschaftsfragen der islamisch-nahöstlichen Staaten.