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Die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei | APuZ 11-12/1997 | bpb.de

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APuZ 11-12/1997 Die gegenwärtige politische Lage in der Türkei unter der neuen Regierung Die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei Außenpolitik am Wendepunkt? Ankara sucht seinen Standort im internationalen System Die Zollunion der Türkei mit der Europäischen Union -ein Schritt auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft? Zur Kurdenproblematik in der Türkei

Die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei

Cigdem Akkaya

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die türkische Wirtschaftspolitik zeichnet sich derzeit durch mangelnde Konsequenz und Orientierungslosigkeit aus, die das Vertrauen in-und ausländischer Investoren belastet. Das Fehlen einer langfristigen Planung in der türkischen Politik und ein deutlicher Populismus führen oft zu unerwarteten Veränderungen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft haben und die langfristigen Planungen der Unternehmen erschweren. Die chronisch hohe Inflationsrate bildet nach wie vor eines der größten Probleme der Türkei. Der türkische Staat, der bisher über die eigenen Verhältnisse lebte, bediente sich in zunehmendem Maße attraktiver Zinsen zur Mobilisierung des notwendigen Kapitals. Somit wird die Kluft zwischen Budgeteinnahmen und Zinsausgaben immer größer. In den ersten zehn Monaten des Jahres 1996 wurde genau die Hälfte der Einnahmen für Zinsrückzahlungen verwendet. Die intensive Verschuldungspolitik des Staates durch hohe Zinsen zur Deckung des Haushaltsdefizits bedeutet einerseits, daß die Zinsausgaben immer größer werden und eine neue Verschuldung notwendig ist, um Zinseszinsen zu tilgen. Andererseits werden private Investitionen verteuert, so daß es sich nicht mehr lohnt zu produzieren. Die Folge ist, daß Spekulationsgewinne und Renten die Wirtschaft dominieren statt produktiver Investitionen. Diese Rahmenbedingungen bieten kaum Hoffnung auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Türkei. Ebenso wie die Innenverschuldung verzeichnet auch die Außenverschuldung eine zunehmende Tendenz. Die Außenschulden übersteigen die Exporte um das Dreifache, wobei die Kluft zwischen Exporten und Importen immer größer wird. Das Inkrafttreten der Zollunion zu Beginn des Jahres 1996 hat zu einem Importboom bei gleichzeitiger Abschwächung der Exporte geführt. Die Hoffnung, daß die Zollunion eine rapide Zunahme ausländischer Direktinvestitionen auslösen würde, erfüllte sich bislang nicht.

I. Das binnenökonomische Umfeld

Tabelle 1: Wachstumsrate des BSP nach Sektoren Quelle: The Central Bank of the Republik of Turkey, Annual Report 1995, Ankara 1996, S. 14.

Politische Rahmenbedingungen 1996 erlebte die Türkei eine ihrer schwierigsten politischen Phasen seit den achtziger Jahren. Die politische Instabilität seit dem letzten Quartal 1995 in Form einer permanenten Regierungskrise dominierte die Tagesordnung des Landes, bis am 8. Juli 1996 eine Koalition zwischen der Wohlfahrtspartei (Refah Partisi = RP) und der Partei des Rechten Weges (Dogruyol Partisi = DYP) die Regierungsgeschäfte übernahm. Es ist heute trotzdem kaum möglich, eine Aussage im Hinblick auf eine langfristige politische Stabilität der Türkei unter dieser Regierung zu treffen. Der Grund liegt u. a. darin, daß bestimmte Faktoren die Lebensdauer der Koalition in Frage stellen, nicht zuletzt deswegen, weil die beiden Parteien von ihren Grundprinzipien her zu verschieden sind und innerparteilich kein homogenes Bild abgeben. Sowohl die Partei Erbakans (RP) als auch die Partei illers (DYP) bergen vom radikal-fanatischen bis liberalen Flügel alles in sich, was die Stabilität der Koalition gefährden könnte.

Tabelle 5: Verteilung des Außenhandels der Türkei nach Ländern (Mio. US-Dollar) Quellen: TÜSIAD (Turkish Industrialist and Businessmen’s Association), Turkish Economy ’ 96, Istanbul, November 1996, S. 66; ANKA Ekonomi Bülteni vom 2. 1. 1997, S. 7; ANKA Ekonomi Bülteni vom 3. 1. 1997, S. 13, und eigene Berechnungen.

Derzeit ist die Regierung hauptsächlich mit innenpolitischen Problemen befaßt, die mit schweren Vorwürfen gegen die Regierung aufgrund illegaler Aktivitäten und Verbindungen der Politiker zur Mafia und der Polizei verbunden sind, filier und ein kurdischer Abgeordneter ihrer Partei sowie der bis zum Auftreten dieses Skandals amtierende Innenminister Mehmet Agar, ebenfalls von der DYP, der daraufhin zurücktreten mußte, werden durch diese Vorwürfe schwer belastet, so daß die Zukunft der Koalition auch vom Ausgang dieses Skandals abhängen wird.

Tabelle 6: Reale Entwicklung der Löhne (1991 = 100) Quelle: Cumhuriyet Ekonomi (Wirtschaftsbeilage der Tageszeitung Cumhuriyet) vom 9. 12. 1996.

Hinzu kommt, daß die Politik Erbakans -nach dem Parteiprogramm und seinen Äußerungen zu urteilen -eine Umorientierung der türkischen Gesellschaft in Richtung Islam erreichen will, die massive Veränderungen vor allem im Erziehungsbereich, aber auch in der Wirtschafts-und Außenpolitik des Landes erfordern. Erbakan allerdings, der sich in einem eindeutigen Zwiespalt zwischen den Gegebenheiten der Realpolitik und seinem Parteiprogramm befindet, ist in seinen Aussagen und Taten widersprüchlich, wodurch die Berechenbarkeit der Türkei für inländische und ausländische Investoren sowie für die internationalen Kreditinstitute nachhaltig beeinträchtigt wird. So hat sich Ministerpräsident Erbakan beispielsweise während des Aufenthaltes der Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) in der Türkei, mit der die türkische Wirtschaft schwierige Verhandlungen über ein neues Stand-by-Abkommen für dringend notwendige Kredite führte, gegenüber der Presse dahingehend geäußert, daß die Türkei den IWF nicht nötig habe. Fehlende Konsequenz und Orientierungslosigkeit der Wirtschaftspolitik belasten das Vertrauen der in-und ausländischen Investoren. Das Fehlen einer langfristigen Planung in der türkischen Politik und ein deutlicher Populismus führen oft zu unerwarteten Veränderungen, die unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft haben und die Zukunftsplanung erschweren. 2. Wirtschaftliches Wachstum Trotz dieser chaotischen politischen Situation verzeichnete die türkische Wirtschaft nach der Krise 1994 wieder überdurchschnittlich hohe Wachstumsraten. Die gute konjunkturelle Lage dauerte auch im Jahre 1996 an. In den ersten zehn Monaten des Jahres 1996 betrug die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts (BSP) 7, 5 Prozent 1.

Tabelle 7: Reale Entwicklung der Gehälter und Renten (1990 = 100) Quellen: Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 12. 11. 1996, S. 7; ebd. vom 28. 11. 1996, S. 5.

Trotz hoher Wachstumsraten sehen einige Wirtschaftsexperten jedoch erste Anzeichen einer Krise für die nächsten Jahre aufgrund des starken Anteils des importinduzierten Wachstums beim gesamten Aufschwung, während eine andere Gruppe eine solche Gefahr nicht sieht, da die Türkei über ausreichende Devisenreserven verfüge (15 Mrd. US-Dollar) In der Tat gingen bisherige schwere Krisen in der türkischen Wirtschaft immer mit Devisenengpässen einher. Doch könnte eine eventuelle Krise diesmal durch die hohe Staatsverschuldung infolge der Budgetdefizite hervorgerufen werden. 3. Inflation Die chronisch gewordene hohe Inflationsrate bildet nach wie vor eines der größten Probleme der Türkei. Hierfür werden klassische Gründe genannt: chronische Budgetdefizite, geringere Produktivität, hoher Nachfragedruck bei niedrigem Angebot, Fehlallokation der Ressourcen, Inflationserwartung und nicht zuletzt die starke Dominanz des Staates in der Wirtschaft mit unrentablen staatlichen Betrieben, die hohe Defizite im Staatshaushalt verursachen. Von großer Bedeutung sind ferner die hohen Ausgaben für die Terrorismusbekämpfung im Südosten des Landes. Diesbezüglich liegen keine aktuellen Angaben von offizieller Seite vor. Zeitungsberichten zufolge gab 1993 die damalige Ministerpräsidentin iller an, daß sechs Prozent des Bruttosozialproduktes für die Terror-bekämpfung ausgegeben wurden. Die staatlichen Ausgaben für Südostanatolien wurden 1993 zu 95 Prozent zur Terrorbekämpfung verwendet. Nach aktuellen Angaben des türkischen Menschenrechtsvereines kostet der Krieg mit der PKK das Land jährlich etwa acht Mrd. US-Dollar.

Tabelle 8: Personelle Einkommensverteilung 1994 Quelle: ANKA Ekonomi Bülteni vom 21. 10. 1996.

Die durchschnittliche Inflationsrate betrug 1996 bei Großhandelspreisen 80, 4 Prozent und bei Verbraucherpreisen 79, 8 Prozent (s. Tabelle 2). Nach dem Haushaltsprogramm soll die Inflationsrate 1997 auf 65 Prozent gesenkt werden. Die Regierung hofft, durch Reduzierung des Haushaltsdefizits auf Null dieses Ziel zu erreichen, indem die Privatisierungs-und Steuereinnahmen kräftig erhöht und zusätzlich Mittel aus bisher bereits angekündigten drei Maßnahmenpaketen beschafft werden sollen.

Tabelle 9: Funktionelle Einkommensverteilung 1995 Quelle: Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 9. 9. S. 5. 1996,

In den staatlichen Betrieben, die weiterhin einen großen Anteil der türkischen Wirtschaft ausmachen, ist eine weitere Inflationsursache zu suchen. Die Privatisierung -insbesondere der mit Verlust arbeitenden -staatlichen Betriebe bildet seit 1986 eines der Hauptziele der bisherigen Regierungen. Dennoch sind die Privatisierungserfolge bislang nicht überwältigend. Bis Ende 1995 betrugen die Erlöse aus der Privatisierung der staatlichen Betriebe insgesamt 2, 6 Mrd. US-Dollar. Auf dem Privatisierungsplan der Regierung stehen derzeit insgesamt 53 Betriebe. In 35 davon übersteigt der staatliche Anteil mehr als 50 Prozent 4. Die Krise von 1994 und ihre Auswirkungen Seit 1989 gewinnt die Innen-und Außenverschuldung bei der Mittelbeschaffung für öffentliche Finanzen zunehmende Bedeutung. Kennzeichnend für das Jahr 1989 ist, daß durch den Erlaß der Verordnung Nr. 32 die staatlichen Kontrollmöglichkeiten über die ausländischen Kapitalbewegungen aufgehoben und somit die türkischen Finanzmärkte für kurzfristigen Kapitalzufluß geöffnet wurden. Hohe Zinsen lockten schnell Devisen ins Land. Für 1995 gehen die Schätzungen davon aus, daß das Transaktionsvolumen mit kurzfristigem Kapital aus dem Ausland etwa 105 Mrd. US-Dollar erreichen wird. Diese Politik diente fast ausschließlich der Deckung der staatlichen Defizite Da sich allerdings das Spekulationsgeschäft für ausländische Geldgeber nur lohnt, wenn die Differenz zwischen Auslands-und Inlandszins (Zins-rendite) größer ist als die Wechselkursdifferenz nach dem Ablauf des Termins wurde zugleich die Türkische Lira (TL) künstlich hochgehalten. Die Folge war aufgrund der künstlichen Verbilligung ausländischer Waren ein starker Anstieg der Importe und somit des Außenhandelsdefizits. Diedurch diese Politik ausgelösten Prozesse brachten der Wirtschaft lediglich eine vorläufige, kurzfristige Entlastung und bedeuten nur eine Verschiebung der strukturellen Probleme auf einen späteren Zeitpunkt. Die hohen importinduzierten Wachstumsraten machten sich innerhalb kürzester Zeit bei knapper werdenden Devisen bemerkbar. Während 1992 die Handelsbilanz der Türkei ein Minus von acht Mrd. US-Dollar aufwies, stieg dieses Defizit im nächsten Jahr bei einer Wachstumsrate von 75 Prozent auf 14 Mrd. US-Dollar. Die Devisenreserven wurden nicht zuletzt dadurch immer knapper. Insbesondere gegen Ende 1993 begannen die Währungsreserven der Zentralbank stark zu schrumpfen. Sie sanken von 7, 2 Mrd. US-Dollar im November auf 4, 4 Mrd. US-Dollar im nächsten Monat und erreichten im März 1994 die Grenze von 3, 3 Mrd. US-Doll 2 Mrd. US-Dollar im November auf 4, 4 Mrd. US-Dollar im nächsten Monat und erreichten im März 1994 die Grenze von 3, 3 Mrd. US-Dollar. Die Situation spitzte sich Ende Januar zu und mündete am 19. Januar 1994 in einer Währungskrise. Dieser Tag ging in die türkische Wirtschaftsgeschichte als „Schwarzer Mittwoch“ ein. Der Versuch einiger weniger Handelsbanken, den Devisenmangel in Höhe von fünf Mrd. US-Dollar durch die hohe Nachfrage auf dem freien Devisenmarkt zu dekken, löste ein Chaos im Lande aus. Die hohe Nachfrage der Bevölkerung nach ausländischen Währungen infolge der künstlichen Senkung der Zinsen verschärfte nur noch die Krise. Am 19. Januar 1994 erlebte man erdrutschartige Veränderungen der Devisenkurse. Der Dollarkurs stieg von 15 800 TL am Montag auf 22 000 TL am Mittwoch. Am nächsten Tag intervenierte die Zentralbank durch kräftige Zinserhöhungen und Offenmarktoperationen. Am 22. Januar 1994 sank der Dollarkurs wieder auf 16 800 TL. Trotz des Eingriffs der Zentralbank stieg der Dollarkurs im Vergleich zur Vorwoche um 4, 43 Prozent und der DM-Kurs um 4, 66 Prozent. Diese Tendenz hielt in der folgenden Woche weiter an, so daß die Zentralbank am 26. Januar 1994 zum ersten Male seit zehn Jahren die Türkische Lira um 13, 6 Prozent abwerten mußte. Daraufhin trat der Präsident der Zentralbank von seinem Amt zurück. 5. Das Maßnahmenpaket vom 5. April 1994 ging in die Wirtschaftsgeschichte der Türkei als ein „schwarzes Jahr“ ein, da das Land eine der tiefgreifendsten Krisen seit den achtziger Jahren erlebte. Die Ketteneffekte der Devisenkrise zeigten sich rasch in der Wirtschaft. Doch traf die Koalitionsregierung bis zum 5. April keinerlei Maßnahmen zur Krisenbewältigung, da am 27. März 1994 Kommunalwahlen stattfanden. Durch diese Verzögerung wurde die Situation zusätzlich verschlechtert, und die Krise nahm ein größeres Ausmaß an. Eine Woche nach den Kom-munalwahlen kündigte (die damalige) Minister-präsidentin filier am 5. April ihr Maßnahmenpaket an. Dieses sah einerseits stabilisierende und andererseits strukturverbessernde Maßnahmen vor. Kräftige Preisanhebungen bei Grundnahrungsmitteln und Verbrauchsgütern wie Heizöl, Benzin und Gas sowie weitere Verteuerungen durch Ketteneffekte sorgten für dreistellige Inflationsraten. Im Mai 1994 betrug der Anstieg des Index der Großhandelspreise 129, 6 und der Verbraucherpreise 111 Prozent. Ab der zweiten Hälfte des Jahres ging die Teuerungsrate leicht zurück, so daß die durchschnittliche Jahresinflation für Konsumentenpreise mit 106, 3 Prozent und für Großhandelspreise mit 120, 7 Prozent etwas niedriger ausfiel 6. Die Folgen des sogenannten Maßnahmenpakets vom 5. April waren für die abhängig Beschäftigten am härtesten, da sie einerseits durch die hohen Inflationsraten und andererseits durch das Einfrieren der Löhne und Gehälter mehrfache reale Einkommensverluste hinnehmen mußten. Der Reallohnindex sank 1994 im Vergleich zum Vorjahr um 21, 4 Prozent. Hinzu kamen die starken Rückgänge der industriellen Produktion und Kapazitätsauslastung, so daß es zu Massenentlassungen in der verarbeitenden Industrie kam. Nach Angaben des staatlichen Planungsamtes verloren im Jahre 1994 32 244 Personen aufgrund der Krise ihren Arbeitsplatz 7.

Schaubild: Strukturelle Probleme der türkischen Wirtschaft Quelle: Y. Uysal/I. Mazgit, 1996 Yilina Girerken Türkiye Ekonomisi, hrsg. von TÜGIK, Izmir 1996, S. 25.

Um das Haushaltsgleichgewicht wiederherzustellen, sah das genannte Programm zweierlei Maßnahmen vor. Zum einen sollten die Einnahmen erhöht und zum anderen die Ausgaben reduziert werden. Zukünftige staatliche Investitionsvorhaben wurden gestrichen und zugleich Ausgaben für Büromaterial, -heizkosten etc. stark gekürzt. Zur Erhöhung der Einnahmen wurde die Körperschaftsteuer auf zehn Prozent angehoben und eine Besteuerung für Zusatzeinkommen 'eingeführt Zudem sollte die Privatisierung beschleunigt und schwer zu privatisierende staatliche Betriebe geschlossen werden, was allerdings bis heute nicht geschehen ist, so daß diese weiterhin ein immenses Problem für die türkische Wirtschaft darstellen. Das Stabilisierungsprogramm, das zunächst mit ehrgeizigen Maßnahmen begann, konnte aufgrund der Zwischenwahlen und vorgezogenen Parlamentswahlen im folgenden Jahr nicht konsequent durchgesetzt werden. Im Krisenjahr 1994 sank das BSP im Jahresdurchschnitt um 6, 1 Prozent In Verbindung mit dem sprunghaften Anstieg des Dollarkurses ging das Pro-Kopf-Einkommen von 3 056 US-Dollar auf 2 184 US-Dollar zurück. Selbst im folgenden Jahr konnte das Pro-Kopf-Einkommen trotz einer Wachstumsrate vom 8, 1 Prozent das Niveau von 1993 nicht wieder erreichen und lag bei 2 975 US-Dollar 6. Staatshaushalt Der türkische Staat, der bisher über die eigenen Verhältnisse lebte, bediente sich hierfür in zunehmendem Maße attraktiver Zinsen zur Mobilisierung des notwendigen Kapitals. Da allerdings die auf diese Weise erzielten Mittel in der Regel nicht in Bereiche investiert wurden, die eine höhere Rendite erwarten lassen als die Zinszahlungen, wurde die Zinsfalle immer größer (s. Tabelle 3). Von 1991 bis 1996 öffnete sich die Schere zwischen Budgeteinnahmen und Zinsausgaben immer weiter. In den ersten zehn Monaten des Jahres 1996 wurde genau die Hälfte der Budgeteinnahmen für Zinsrückzahlungen verwendet. Diese Rate hatte 1991 noch 24, 2 Prozent betragen. Das bedeutet, daß innerhalb von fünf Jahren diese Relation um mehr als das Doppelte gestiegen ist.

Die intensive Verschuldungspolitik des Staates durch hohe Zinsen zur Deckung des Haushaltsdefizits bedeutet einerseits, daß die Zinsausgaben des Staates immer größer werden und eine neue Verschuldung notwendig ist, um Zinseszinsen zu tilgen. Andererseits werden private Investitionen verteuert, so daß es sich nicht mehr lohnt zu produzieren. Die Folge ist, daß Spekulationsgewinne und Renten die Wirtschaft dominieren. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist eine langfristige und konsequente Wirtschaftspolitik notwendig. Dagegen sprechen allerdings die bisherigen kurzen Amtszeiten der Regierungen.

Die Haupteinnahmen des Staates bilden die Steuern. Sie machen durchschnittlich 80 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Im OECD-Durchschnitt belegt die Türkei den dritten Platz hinsichtlich des geringen Anteils der gesamten Steuereinnahmen am BSP. 1995 lag diese Rate in der Türkei bei 18, 2 Prozent, während sie im gleichen Jahr im EU-Durchschnitt 30, 2 Prozent betrug Da es dem türkischen Staat nicht gelingt, ein effektives System zur Erhebung der Steuern einzuführen, haben die nichtregistrierten wirtschaftlichen Aktivitäten ein enormes Ausmaß angenommen, das -nach Berechnungen verschiedener Autoren -zehn bis 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmacht Dementsprechend fällt das Steuerauf-kommen gering aus. 50 Prozent der zu zahlenden Steuern in den Jahren 1984-1991 flossen laut einer Untersuchung von Ahmet Fazil Özsoylu nicht in die Staatskasse Hinzu kommt, daß sich die Steuerpolitik bisher zu oft des Instruments der Aufhebung der Steuerschuld von Unternehmen bediente, wodurch Steuerzahler bestraft und Steuerhinterzieher belohnt wurden. Es trat somit ein Gewohnheitseffekt ein, lieber nicht zu zahlen und zu warten, bis der Staat die Schulden erläßt. Insgesamt 15mal wurden zwischen 1960 und 1992 den Unternehmern die Steuerschulden erlassen Dies führt dazu, daß ein Großteil der direkten Steuereinnahmen durch die offiziell registrierten Lohn-und Gehaltsbezieher getragen wird, d. h. die Steuererhebungsbasis des Staates mit etwa drei Mio. sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sehr klein ist.

Die Kompensation von Einnahmeausfällen aus direkten Steuern erfolgt überwiegend durch die kräftige Anhebung der indirekten Steuern. In den letzten fünf Jahren ist ein rapider Anstieg bei dieser Relation zugunsten indirekter Steuern festzustellen. Während diese 1991 39 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen ausmachten, erreichten sie 1996 die Rekordmarke von annähernd 60 Prozent Da die indirekten Steuern ohne Berücksichtigung der Einkommenshöhe von allen zu zahlen sind, verschlechtert sich die Einkommensverteilung. Bei niedrigem Steueraufkommen und hohen Defiziten ist der türkische Staat gezwungen, die immer größer werdenden Budgetdefizite durch Neuverschuldung zu dekken. Nach dem Haushaltsplan soll die Regierung das Jahr 1996 mit einer Finanzlücke von 800 Billionen TL schließen. Doch in Wahrheit dürfte das Haushaltsdefizit aufgrund der populistischen Politik Erbakans gleich nach dem Amtsantritt mit einer 50prozentigen Anhebung der Gehälter und Renten sowie der Erhöhung der Interventionspreise für landwirtschaftliche Güter bei 1 500 Bill. TL liegen, was einem Anteil von zehn Prozent am BIP entspricht

Für den Staatshaushalt 1997 ist durch die Koalitionsregierung zum ersten Mal seit der Gründung der Türkischen Republik ein ausgeglichenes Budget vorgelegt worden, welches in der zweiten Dezemberwoche im türkischen Parlament angenommen wurde. Der vorgelegte Haushaltsentwurf mit Nullsaldo wird sowohl von der Opposition als auch von den Wirtschaftsexperten als Augenwischerei der neuen Regierung bezeichnet, da er an den Realitäten vorbeigehe. In der Tat sind im Haushaltsplan 1997 die Einnahmen optimistisch hoch und die Ausgaben äußerst niedrig gehalten worden, um auf diese Weise einen Ausgleich zu erreichen.

II. Außenwirtschaftliche Indikatoren

Tabelle 2:, Jährliche durchschnittliche Inflationsraten (in Prozent) Quelle: TÜSIAD (Türkish Industrialist and Businessmen’s Association), Turkish Economy ’ 96, Istanbul, November 1996, S. 8; ANKA Ekonomi Bülteni vom 6. 1. 1997, S. 3.

1. Außenverschuldung Ebenso wie die Innenverschuldung verzeichnet auch die Außenverschuldung eine zunehmende Tendenz. Die Außenverschuldung der Türkei betrug Ende 1995 rund 73, 3 Mrd. US-Dollar. Im Juni 1996 erreichte sie 75, 7 Mrd. US-Dollar, wobei 57, 2 Mrd. mittel-bis langfristig und 5 Mrd. kurzfristig sind. 1996 leistete der türkische Staat einen Schuldendienst von 9, 4 Mrd. US-Dollar 18. Laut Regierungsprogramm soll 1997 eine Schuldenrückzahlung in Höhe von 7 Mrd. US-Dollar sowie eine Tilgung von 4, 7 Mrd. für Verschuldungszinsen erfolgen. Im Gegensatz hierzu ist geplant, insgesamt 14, 1 Mrd. neue Außenschulden aufzunehmen, wobei 5, 6 Mrd. davon als mittel-bis langfristige und 4 Mrd. US-Dollar als kurzfristige Verschuldung geplant sind Andererseits haben sich die Chancen der Türkei, Kredite mit günstiger Verzinsung zu mobilisieren, eindeutig verschlechtert. Die Kreditnote der Türkei ist in der zweiten Dezemberwoche durch das internationale Rating-Institut Standard & Poors gesenkt worden. Auch die Delegation des IWF, die sich im November in der Türkei aufhielt, stellte harte Auflagen und forderte einen Stabilisierungspaket für die Bewilligung eines Stand-by-Abkommens. Das letzte Abkommen, mit dem die Türkei Kredite in Höhe von 948 Mio. US-Dollar erhielt, konnte die Türkei im Juli 1994, d. h. nach der Einführung des Stabilitätsprogramms vom April, unterzeichnen, das Ende Februar 1996 auslief. 2. Außenhandel Die Außenschulden übersteigen die Exporte um das Dreifache, wobei die Schere zwischen Exporten und Importen immer weiter auseinanderklafft. Das Inkrafttreten der Zollunion am 1. Januar 1996 hat zu einem Importboom bei einer Abschwächung der Exporte geführt. Aufgrund der technischen Veränderungen zur Vereinheitlichung der Außenhandelsstatistiken mit der EU wurden bisher nur die Außenhandelswerte für die ersten vier Monate des Jahres bekanntgegeben. Diese Werte bestätigen die Schätzungen bezüglich des hohen Außenhandelsdefizits für das Jahr 1996, das offiziell auf 5 Mrd. US-Dollar beziffert wird (s. Tabelle 4).

Einige Schätzungen, basierend auf Mehrwertsteuereinnahmen, gehen davon aus, daß der Anstieg der Importe in den ersten sechs Monaten des Jahres im Vergleich zum Zeitraum des Vorjahrs bei etwa 40 Prozent lag, während die Exporte nur um vier Prozent gestiegen sind 20.

Nach offiziellen Angaben sind die Importe in den ersten vier Monaten des Jahres 1996 im Vergleich zum Vorjahr um 32, 4 Prozent angewachsen und erreichten 13, 307 Mrd. US-Dollar, während die Exporte um 9, 9 Prozent zunahmen und sich auf 7, 275 Mrd. US-Dollar beliefen Die Deckungsrate der Importe durch Exporte betrug demnach nur 55 Prozent.

Etwa zu 82 Prozent wurden Industriegüter eingekauft. Andererseits sind die Importe so strukturiert, daß 29, 8 Prozent aus Investitionsgütern, 14, 1 Prozent aus Konsumgütern und 56, 1 Prozent aus Rohstoffen bestehen. Die Türkei exportierte hingegen zu 86 Prozent Industriegüter und zu zwölf Prozent Agrarprodukte

Die Verteilung des türkischen Außenhandels nach Ziel-und Herkunftsländern zeigt, daß nahezu die Hälfte des türkischen Außenhandels mit der EU abgewickelt wird, wobei die Bundesrepublik Deutschland mit weitem Abstand der wichtigste Handelspartner ist (s. Tabelle 5). Die hohe Konzentration des türkischen Außenhandels auf einige wenige Ländergruppen birgt das große Risiko in sich, daß die Exporte des Landes in starke Abhängigkeit von der konjunkturellen Lage in diesen Ländern geraten. Von der schwachen Konjunktur in Europa, vor allem in Deutschland, wurde der Textilsektor am meisten betroffen, in den die größten Hoffnungen für die Zeit nach der Zollunion gesetzt wurden. Die Textilwaren machen nahezu 40 Prozent der türkischen Exporte aus. 3. Ausländische Direktinvestitionen Die Türkei versucht seit 1980, durch liberale Rahmenbedingungen das Land für ausländische Investoren attraktiv zu machen. Mit dieser Politik gelang es ihr im Laufe der Zeit, eine zunehmende Zahl von Investoren ins Land zu holen. Die Hoff-nung allerdings, daß die Zollunion eine rapide Zunahme ausländischer Direktinvestitionen auslösen würde, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil fiel die Summe der genehmigten Investitionen in den ersten elf Monaten des Jahres 1996 mit 1, 206 Mrd. US-Dollar um 35 Prozent niedriger aus als im Vorjahr Der Grund liegt nach Ansicht des Vorsitzenden von YASED (Verband für ausländische Investitionen) in erster Linie in der politischen Instabilität der Türkei, die die ausländischen Investoren abschreckt, aber auch im schlechten politischen Image der Türkei im Ausland sowie in der Zunahme der Konkurrenz durch die Öffnung der Märkte in den ehemaligen Ostblockstaaten

Die Struktur der genehmigten Investitionen zeigt, daß der Interessenschwerpunkt ausländischer Kapitalgeber nicht in erster Linie in produktiven Investitionen, sondern in Portfolioinvestitionen lag. Nahezu jeder dritte US-Dollar der genehmigten Investitionssumme wurde dafür beantragt, während nur 23 Prozent der Bewilligungen für Neuinvestitionen vorgesehen waren

Ende November 1996 lag die Zahl der ausländischen Firmen in der Türkei bei 3 551, die sich mit 71 Prozent (2 530) im Dienstleistungsbereich konzentrierten. 885 ausländische Firmen ließen sich in der verarbeitenden Industrie nieder, während der Anteil der Landwirtschaft (99) und des Bergbaus (48) deutlich geringer ist. Bezüglich der Zahl der Firmen belegt Deutschland mit 639 den ersten Rang. Nach der Höhe des eingebrachten Kapitals allerdings liegt Deutschland nach den Niederlanden an zweiter Stelle 4. Tourismuseinnahmen Der Tourismussektor ist eine der wachstumsträchtigsten Branchen in der Türkei. Insbesondere seit den achtziger Jahren verzeichnet dieser Sektor einen stetigen Zuwachs. Seit 1980 hat sich die Zahl der Touristen etwa um das Achtfache erhöht. Erzielte die Türkei 1980 Einnahmen aus dem Tourismus in Höhe von 327 Mio. US-Dollar, so betrug diese Zahl 1996 etwa sechs Mrd. US-Dollar. In den ersten zehn Monaten des Jahres 1996 besuchten die Türkei 7 727 561 Touristen, womit der gesamte Jahreswert von 1995 übertroffen wurde. Die Deutschen lagen mit 1, 954 Mio. mit weitem Abstand an erster Stelle vor den Engländern (729 837) und US-Amerikanern (230 069). Für 1997 beabsichtigt die Regierung, die Zahl der Touristen auf 9, 7 Mio. und die Einnahmen auf 6, 85 Mrd. US-Dollar zu steigern.

So vielversprechend diese Branche ist, so empfindlich ist sie gegenüber politischen Entwicklungen. Vor allem die Konzentration auf Deutschlandführte in den letzten Jahren zu tiefgreifenden Krisen, als die deutschen Urlauber 1993 aufgrund der Bombenanschläge in einigen Touristenorten und Bombendrohungen der PKK ihre Buchungen stornierten. Verluste durch andere ausländische Gruppen zu kompensieren war so kaum möglich. Als Weg aus der Misere wurden die Preise stark gesenkt. Die Sensiblität des Tourismussektors gegenüber politischen Ereignissen führte dazu, daß sich die niedrigen Preise bei gleichbleibender oder gar verbesserter Qualität als wichtigstes Instrument zur Vermarktung des Reiselandes Türkei bewährten. So fallen die Einnahmen niedriger aus als unter normalen Bedingungen.

III. Arbeitswelt und Einkommens-verteilung

Tabelle 3: Budgeteinnahmen und Zinsausgaben des Staatshaushaltes (Billionen TL) Quellen: ANKA Ekonomi Bülteni vom 19. 8. 1996, S. 3; ANKA Ekonomi Bülteni vom 6. 12. 1996, S. 3; ANKA Ekonomi Bülteni vom 9. 12. 1996; iktisat Dergisi, 357 (1996), iktisat Dergisi, 359 (1996), und eigene Berechnungen.

1. Beschäftigungssituation Die hohen Wachstumsraten der türkischen Bevölkerung stellen das Land vor unlösbare Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Für 1996 wird die Gesamtbevölkerung der Türkei auf 63, 8 Mio. geschätzt Die durchschnittliche jährliche Zuwachsrate der Bevölkerung beträgt 1, 78 Prozent. Obwohl in den letzten Jahren deutlich abnehmende Raten verzeichnet wurden, ist die Wachstumsrate der Bevölkerung verglichen mit dem europäischen Durchschnitt zu hoch. Die jährliche Zunahme der Bevölkerung um mehr als eine Million Menschen stellt das Land vor wachsende Probleme hinsichtlich der sozialen und infrastrukturellen Entwicklung sowie der Beschäftigung. Heute liegt der Anteil der Bevölkerung unter 20 Jahren bei 45, 9 Prozent. In den nächsten zehn Jahren werden 14 Mio. junge Menschen ins erwerbsfähige Alter eintreten, die neben den bereits existierenden Arbeitslosen die Beschäftigungssituation zusätzlich verschärfen werden

Die Zahl der zivilen Erwerbspersonen in der Türkei wird für 1996 auf 22, 2 Mio. und die der Erwerbstätigen auf 20, 8 Mio. geschätzt. Die sektorale Verteilung der zivilen Erwerbstätigen weist trotz eines abnehmenden Anteils der Landwirtschaft zugunsten des Dienstleistungssektors noch auf eine Dominanz des ersteren hin. 44, 6 Prozent der Beschäftigten (rund 9, 5 Mio.) sind nämlich im Agrarsektor tätig, während 16, 2 Prozent (3, 4 Mio.) im industriellen-und 39, 2 Prozent (8, 4 Mio.) im Dienstleistungsbereich arbeiten. Nach offiziellen Angaben beträgt die Zahl der Arbeitslosen 1, 391 Mio., was einer Arbeitslosenquote von 6, 3 Prozent entspricht. Fügt man noch die Prozentzahl der Unterbeschäftigten hinzu, so beträgt die offiziell angegebene gesamte Arbeitslosenquote 12, 6 Prozent In Wahrheit dürfte die Arbeitslosigkeit wesentlich höher liegen, da die verdeckte Arbeitslosigkeit nicht zuletzt im Agrarsektor außerordentlich hoch ist. 44 Prozent der Beschäftigten erwirtschaften in diesem Sektor nicht einmal 15 Prozent des BIP. Hinzu kommt, daß nahezu jeder dritte 3 Prozent) Erwerbstätige nach dem Mikrozensus des türkischen Staatlichen Amtes für Statistik im April 1996 als mithelfender Familien-angehöriger, d. h. ohne Entgelt, tätig war.

Da in der Türkei keine Arbeitslosenversicherung existiert, sind die Arbeitslosen auf sich selbst gestellt. Hoffnung auf Arbeitsplatzbeschaffung über neue Investitionen bietet die türkische Industrie unter den derzeit herrschenden Rahmenbedingungen kaum. Investitionen sind aufgrund der hohen Zinsen unbezahlbar geworden. Zudem bietet die türkische Wirtschaft keine Möglichkeit zu einer langfristigen Investitionsplanung, was potentielle Investoren zusätzlich abschreckt, ein Risiko einzugehen. Hinzu kommt, daß die Investoren den Bau-und den Dienstleistungssektor vorziehen, da diese schnellere Renditen erwarten lassen als langfristige Investitionen in der verarbeitenden Industrie. Spekulationswirtschaft ist in der Türkei bei den herrschenden Rahmenbedingungen viel gewinnbringender, als mit hohem Risiko zu produzieren. Zieht man in Betracht, daß etwa die Hälfte der Unternehmergewinne aus zinsbringenden Aktivitäten außerhalb des geschäftlichen Tätigkeitsbereiches bestehen, werden die Dimensionen klarer 30. 2. Löhne und Gehälter Die Rechnung für die wirtschaftlichen Mißstände der letzten Jahre wurde insbesondere von den Lohn-und Gehaltsempfängern beglichen. Nach einer Untersuchung von Recep Dumanh ist die Armut in der Türkei zwischen 1987 und 1994 um 31, 8 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum stieg die Zahl derer, die unter dem Existenzminimum leben mußte, von 7, 5 Mio. auf 9, 9 Mio.

Ein Vergleich der Löhne in der verarbeitenden Industrie mit anderen EU-Staaten macht deutlich, daß die Türkei nach wie vor ein Billiglohnland ist. Nach Angaben des World Economic Forum liegt die Türkei unter 39 Staaten an 28. Stelle, was die Höhe der Stundenlöhne betrifft. Während ein Industriearbeiter im EU-Durchschnitt 16, 9 US-Dollar und in Deutschland 27, 3 US-Dollar pro Stunde verdient, beträgt diese Summe in der Türkei 3, 3 US-Dollar

Unter Realeinkommensverlusten mußten nicht nur die Erwerbstätigen leiden, sondern auch die Rentner (s. Tabellen 6 u. 7). Zwischen 1990 und 1995 sind die Arbeitnehmer-und Beamtenrenten real um 17 Prozent gesunken. Trotz einer Zunahme der realen Renten im Jahre 1996 liegen sie heute unter dem Niveau des Jahres 1990.

Nicht zuletzt wegen der chronischen Inflation im Lande sind, angefangen bei den Arbeitern bis zu den Beamten, weite Bevölkerungsteile gezwungen, ihre Löhne und Gehälter in Devisen umzutauschen, um durch Kursgewinne den Monat überbrücken zu können. 3. Einkommensverteilung Die Einkommensverteilung in der Türkei hat sich seit den achtziger Jahren für Bezieher niedriger Einkommen erheblich verschlechtert. Als Gründe hierfür werden die hohen Zinsen und somit die Umlenkung der Ressourcen von produktiven Investitionen zu hochverzinslichen Anleihen genannt. Auch die anteilsmäßig höhere Steuerbelastung der Lohn-und Gehaltsempfänger und das Einfrieren der Löhne bei'steigenden Inflationsraten in Verbindung mit hoher verdeckter und offener Arbeitslosigkeit trugen zu einer ungerechten Einkommensverteilung bei. Nach einem langjährigen Zeitraum veröffentlichte das Staatliche Amt für Statistik die diesbezüglichen Untersuchungsergebnisse.

Die ungerechte Einkommensverteilung drückt sich darin aus, daß die obersten 20 Prozent der Bevölkerung nahezu 55 Prozent des gesamten Einkommens beanspruchen, während den restlichen 80 Prozent der Bevölkerung nur 45 Prozent des Einkommens zur Verfügung stehen. Die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung haben lediglich einen Anteil von 4, 9 Prozent am Gesamteinkommen. Ebenso wie die personelle zeigt auch die regionale Einkommensverteilung ein unausgewogenes Bild. Die einseitige Verlagerung der Industrie auf die westlichen Teile der Türkei führt zu einer kontinuierlichen Fortsetzung der ohnehin existierenden regionalen Disparitäten, die seit den sechziger Jahren starke Binnenwanderungsströme auslösen. Gemäß dieser Tatsache wird die Hälfte des Einkommens in sechs Städten der Türkei erwirtschaftet, die ein Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes beherbergen. Allein in Istanbul beträgt das erwirtschaftete Einkommen mit 21, 1 Prozent soviel wie in 51 weiteren Städten der Türkei zusammen Auch die funktionelle Einkommensverteilung zeigt eine Abnahme des Anteils der Lohn-und Gehaltsbezieher (s. Tabelle 9). Nach Angaben des statistischen Amtes leben 39 Prozent der Bevölkerung von Lohn-und Gehaltseinkommen, wobei diese Gruppen einen Anteil von 22, 2 Prozent am BIP haben. 45, 8 Prozent bezieht landwirtschaftliches Einkommen (inkl. mitarbeitender Familien-angehöriger), und 15, 6 Prozent leben von Kapital-und Rentenerträgen.

IV. Pläne der Regierung für 1997

Tabelle 4: Außenhandel der Türkei (Mio. US-Dollar) Quelle: ANKA Ekonomi Bülteni vom 15. 11. 1996, S. 7.

Am 10. November wurde im Amtsblatt das Jahres-wirtschaftsprogramm der Regierung für 1997 veröffentlicht. Nach diesem Programm soll die Wachstumsrate im Jahre 1997 4 Prozent betragen, während von einer Inflationsrate von 65 Prozent ausgegangen wird. Die Exporte sollen um 20, 4 Prozent steigen, während der Anstieg der Importe auf 11, 1 Prozent gesenkt werden soll. Demnach sollen im nächsten Jahr die Importe 50 Mrd. US-Dollar (CIF) und die Exporte 29, 5 Mrd. US-Dollar (FOB) erreichen. Das Außenhandelsdefizit soll wie im Jahr 1996 20, 5 Mrd. US-Dollar betragen. Das Leistungsbilanzdefizit, das für 1996 auf 6, 9 Mrd. US-Dollar geschätzt wird, soll auf 5, 6 Mrd. gesenkt werden. Die Tourismuseinnahmen sollen um 14, 2 Prozent ansteigen und somit rund 6, 9 Mrd. US-Dollar betragen. Bei Devisenübertragungen der türkischen Arbeitnehmer im Ausland wird kein Anstieg erwartet, so daß diese bei etwa 3, 4 Mrd. US-Dollar liegen sollen

Ein Novum in der türkischen Wirtschaft soll das ausgeglichene Haushaltsbudget darstellen, welches zwar wünschenswert, aber unrealistisch ist. Zur Erreichung dieses ehrgeizigen Ziels hat Ministerpräsident Erbakan in kurzen Abständen drei Mittelbeschaffungspakete bekanntgegeben. Diese drei Pakete sollen Mittel in Höhe von je zehn Mrd. US-Dollar in die Staatskasse bringen. Nach ihrer Wirkung können die durch diese Pakete vorgesehenen Maßnahmen unter vier Gesichtspunkten betrachtet werden: 1. Maßnahmen zur Umwandlung un-oder nicht ausreichend genutzter staatlicher Kapazitäten in liquide Mittel: Vorgesehen sind hierfür u. a.der Verkauf staatlicher Immobilien und Grundstücke und von Bergbaunutzungsrechten, ein Trinkwasserprojekt für die Mittelmeerregion durch den Wasserfall in Manavgat. Diese Maßnahmen können durchaus als nützlich eingestuft werden und zu einer Entlastung der Staatskasse führen. Sie nehmen allerdings eine gewisse Zeit in Anspruch, um Wirkung zu zeigen. Die Regierung und das Land haben diese Zeit aber nicht. 2. Maßnahmen zur Umwandlung der illegalen Schattenwirtschaft in registrierte wirtschaftliche Aktivitäten: Vorgesehen sind u. a. die Lockerung der Bedingungen für Altsteuerschulden, die Förderung der termingerechten Zahlung von Steuerschulden durch Vergünstigungen sowie die Ermöglichung der steuerfreien Erklärung von Edelstein-und -metallvermögensbeständen. Mit diesen Maßnahmen wird ein grundlegendes Problem aufgegriffen. Es wird versucht, die dominante Schattenwirtschaft zugunsten legaler Wirtschaft zurückzudrängen. Abgesehen davon, daß die Durchsetzung der hochgesteckten Ziele ebenfalls Zeit braucht und von der Attraktivität der Förderung abhängt, sind sie mit einem ethischen Problem verbunden, die Ehrlichen zu bestrafen und die Unehrlichen zu begünstigen. Hinzu kommt, daß der Regierung aufgrund der vorgesehenen steuerfreien Erklärungsmöglichkeit von Edelstein-und -metallbeständen vorgeworfen wird, nicht die Schattenwirtschaft unterbinden zu wollen, sondern eine Möglichkeit zur Geldwäsche zu schaffen. 3. Maßnahmen zur Erzielung direkter Einnahmen wie die Privatisierung der türkischen Telekom und der staatlichen Eti Bank sowie die Erhöhung der Handtelefongrundgebühren. Auch bei diesen Maßnahmen kann -abgesehen vom letztgenannten -von einer raschen Mittelbeschaffung nicht ausgegangen werden. 4. Maßnahmen zur Umlenkung der Devisen ins Land bzw. Verhinderung der Kapitalflucht: Im Mittelpunkt stehen die inländischen superverzinsli-chen Devisenkonten und Devisenanleihen, die nicht nur durch hohe Zinsen, sondern auch durch andere Möglichkeiten attraktiver gemacht werden, das Werben um die Devisenguthaben der Auslandstürken durch hohe Zinsen und die Möglichkeit der zollfreien Einfuhr von Kraftfahrzeugen und Maschinen sowie durch die Ermöglichung einer türkischen Rente gegen eine Zahlung von 1, 5 US-Dollar pro Tag für 5 000 Arbeitstage unabhängig vom Alter und von Berufsjahren. Diese Art von Maßnahmen können zwar zur kurzfristigen Mittelbeschaffung dienen, bedeuten allerdings nichts anderes als eine weitere teure Verschuldung des Staates. Somit retten sie lediglich die aktuelle Situation und verschieben die Lösung des Problems wieder auf einen späteren Zeitpunkt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 3. 12. 1996, S. 5.

  2. Vgl. Länderanalysen der FAZ-Informationsdienste, Türkei, Dezember 1996, S. 7.

  3. Vgl. Finans Dünyasi (Finanzwelt), November 1996, S. 62 ff.

  4. Vgl. Erin? Yeldan, Turkiye Ekonomisinde 1980 Sonrasinda Gelir Bölüümünü Belirleyen Süreler (Bestimmungsfaktoren der Einkommensverteilung in der türkischen Wirtschaft nach 1980), in: iktisat Dergisi, 359 (1996), S. 27.

  5. Vgl. Manfred Willms, Zahlungsbilanz, Wechselkurs und Währungssysteme, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 1, München 19842, S. 226 f.

  6. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 14. 10. 1996, S. 3.

  7. Vgl. Hüsnü Erkan, Be Nisan Önlemleri Uygulama Sonularnn Degerlendirilmesi (Auswertung der Ergebnisse der Maßnahmen vom fünften April), in: EGIAD (Verband Ägäischer Junger Industrieller) (Hrsg.), Ekonomik Raporlar, Nr. 11 vom November 1994, S. 9.

  8. Preise von 1987.

  9. Vgl. TÜSIAD, Turkish Economy '96, Istanbul, Novem ber 1996, S. 7.

  10. Summe der Steuereinnahmen der Zentralregierung, der Kommunen und Steueranteil aus den Fonds.

  11. Vgl. ANKA-Ekonomi Bülteni vom 6. 11. 1996, S. 3.

  12. özsoylu geht von einem Anteil zwischen 6, 9-11, 7 Prozent aus, während Altug diesen Satz auf 35-50 Prozent schätzt. Dieser Prozentsatz variiert nach unterschiedlichen Schätzungen und unterschiedlicher Definition der Schatten-wirtschaft als nichtregistrierte wirtschaftliche Aktivität. Manche Autoren zählen hierzu die kriminellen und illegalen Aktivitäten wie Heroinschmuggel und Geldwäsche sowie den direkten Handel zwischen der Türkei und den Bewohnern der ehemaligen Ostblockstaaten, dessen Volumen mittlerweile jährlich auf 5-10 Mrd. US-Dollar geschätzt wird. Eine andere Gruppe von Autoren hingegen berücksichtigt Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit im marginalen Sektor sowie die niedrig erklärten Einkommen und Umsätze. Vgl. hierzu Osman Altug, Kaytd Ekonomi (Schattenwirtschaft), Istanbul, März 1994; Türkmen Derdiyok, Türkiye’nin Kayitdi§i Ekonomisinin Tahmini (Schätzung der nichtregistrierten Wirtschaft der Türkei), in: Turkiye Iktisat, 5 (1993) 14, S. 54.

  13. Vgl. Ahmet Fazil Özsoylu, Türkiye’de Kayitdi§i Ekonomi (Schattenwirtschaft in der Türkei), Istanbul 1996.

  14. Vgl. ebd.

  15. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 23. 10. 1996, S. 6.

  16. Vgl. Länderanalysen der FAZ-Informationsdienste (Anm. 2), S. 8.

  17. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 6. 1. 1997, S. 10.

  18. Vgl. ebd. vom 12. 11. 1996, S. 6.

  19. Vgl. Hedef vom Juli 1996.

  20. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 2. 1. 1997, S. 6.

  21. In den ersten vier Monaten des Jahres 1996; eigene Berechnungen aus ANKA Ekonomi Bülteni vom 2. 1. 1997, S. 7.

  22. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 10. 12. 1996, S. 5.

  23. So der Vorsitzende des Verbandes Yavuz Canevi, in: ANKA Ekonomi Bülteni vom 11. 12. 1996, S. 3.

  24. Vgl. ebd., S. 3.

  25. Vgl. ebd.

  26. Schätzungen des Staatlichen Statistischen Amtes für Mitte des Jahres, in: Capital-Turkey 1996, Juni 1996, S. 20.

  27. Vgl. ebd., S. 20.

  28. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 28. 11. 1996, S. 6.

  29. Vgl. Yaar Uysal/Ismail Mazgit, 1996 Yilina Girerken Türkiye Ekonomisi (Türkische Wirtschaft zu Beginn des Jahres 1996). hrsg. von TÜGIK (Höherer Ausschuß der Vereine türkischer Junger Industrieller), Izmir 1996, S. 24.

  30. Vgl. Intermedya Ekonomi vom 17. 11. 1996.

  31. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 18. 11. 1996, S. 7.

  32. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 14. 11. 1996, S. 6.

  33. Vgl. ANKA Ekonomi Bülteni vom 12. 11. 1996, S. 6.

Weitere Inhalte

idem Akkaya, Dipl. -Ökonomin, geb. 1963; stellvertretende Direktorin des Zentrums für Türkei-studien an der Universität GH Essen. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Sammelbänden zur Wirtschaft, den Außenbeziehungen der Türkei und zur Frage der EU-Beziehungen der Türkei.