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Von der äußerlichen zur verinnerlichten „Vergangenheitsbewältigung“ Gedanken und Fakten zu Erinnerungen | APuZ 3-4/1997 | bpb.de

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APuZ 3-4/1997 Die Vergegenwärtigung von Vergangenem Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken Von der äußerlichen zur verinnerlichten „Vergangenheitsbewältigung“ Gedanken und Fakten zu Erinnerungen Holocaust-Gedenken: Ein deutsches Dilemma

Von der äußerlichen zur verinnerlichten „Vergangenheitsbewältigung“ Gedanken und Fakten zu Erinnerungen

Michael Wolffsohn

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

„Vergangenheitsbewältigung“ umfaßt einen vollständigen Wandel der in einem Unrechtsstaat geltenden und nun abgelehnten Wertvorstellungen. Sie bezieht sich vor allem auf die Politik und Ideologie, auf Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Recht und das Militär. Sie betrifft primär den Personenkreis, der zuvor in diesen Bereichen entscheidende Verantwortung trug und strafrechtlich oder politisch (und erst recht moralisch) schuldig wurde, aber auch die gesellschaftlichen und politischen Prozesse, die den Unrechtsstaat ermöglichten. „Vergangenheitsbewältigung“ ist sowohl rational als auch emotional. Dazu werden in der Studie nationale wie internationale'Daten und Fakten aus empirischen Untersuchungen vorgelegt. In bezug auf das Wissen über den Holocaust sind die Deutschen umfassend informiert, allerdings bestehen offenbar emotionale Defizite -eine Scheu vor Empfindungen, die letztlich auch Trauer um und die Erinnerung an die „eigenen“ Toten und Verluste behindert. Der Mangel an verinnerlichtem Gedenken führt nicht nur zu emotionaler Distanz, sondern er hat auch historisch-politische Konsequenzen. So wird der Holocaust heute von der Bevölkerungmehrheit nicht mehr als politisch „relevant“ betrachtet -trotz überwiegend sehr großen Wissens über den Holocaust. Wenn er aber für die Gegenwart als „nicht mehr relevant“ erscheint, ist die Bereitschaft, moralische Haftung -nicht Schuld -zu übernehmen, gering. Das Wissen verkümmert dann zur Phrase und zum Ritual; der Holocaust -wie die Erinnerung an alle Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft -würde zu einem austauschbaren, unverbindlichen Thema.

I.

Der 27. Januar ist seit 1996 „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Symbol-haft für den NS-Terror „steht das Konzentrationslager Auschwitz, das am 27. Januar 1945 befreit wurde ... Die Erinnerung darf nicht enden; sie muß auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“, erklärte Bundespräsident Roman Herzog „Die Opfer“, heißt es in der Erklärung -alle Opfer sind also gemeint: Juden und Nichtjuden, Deutsche und Nichtdeutsche. In der Öffentlichkeit wurde der Name jedoch sofort eingeengt: „Holocaust-Gedenktag" hieß er bei den meisten fortan. Das war gut gemeint und politisch scheinbar korrekt. Scheinbar, nicht wirklich, denn es brüskiert die übrigen Opfer.

Was sagte „Volkes Stimme“ zum Jahresbeginn 1996 zu diesem Gedenken? Für „sinnvoll“ hielten einen „Holocaust-Gedenktag“ fast zwei Drittel (64 Prozent) aller Deutschen Warum gerade der 27. Januar, der Tag der Befreiung der Hölle von Auschwitz, als Gedenktag ausgewählt wurde, wußten 78 Prozent der Deutschen nicht obwohl noch ein Jahr zuvor -fünfzig Jahre nach dem Ende der schier endlosen Schrecken von Judenmorden und Zweitem Weltkrieg -auch jenes Datum der Öffentlichkeit bewußt war. Die politisch Erziehenden wie die Publizisten sollten sich selbstkritisch fragen, weshalb ihre Informationen, ihre Tatsachenvermittlung, so wenig nachhaltig blieben -von der Bewertung der Tatsachen ganz zu schweigen. Denn wie kann man etwas bewerten, was man nicht kennt? Und wie steht es um die verinnerlichte „Bewältigung“ der Vergangenheit, wenn schon die äußerliche eher lückenhaft genannt werden muß? Oder wird hierzulande in bezug auf die

Vergangenheit mehr ge-und bewertet als gewußt? Vielleicht aber ist das Wissen über die NS-Vergangenheit doch nicht so lückenhaft?

Zunächst aber: Was haben wir unter „Bewältigung der Vergangenheit“ zu verstehen? Legion sind die Definitionen. Auf ihre Wiedergabe, die Beurteilung ihrer Stärken und Schwächen sei hier aus Platzgründen verzichtet. Ich schlage folgende Definition vor: „Vergangenheitsbewältigung“ umfaßt einen vollständigen Wandel der vorher geltenden und nun abgelehnten Werrvorstellungen. Sie bezieht sich vor allem auf die Bereiche Politik und Ideologie, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur, Recht, Militär und Polizei. Sie betrifft den Personenkreis, der zuvor in diesen Bereichen entscheidende Verantwortung trug und strafrechtlich oder politisch (und erst recht moralisch) schuldig wurde.

Zu umfassend ist dieser Personenkreis, als daß die deutsche Realität nach 1945 (oder nach 1989/90) dieses Ideal eines vollständigen Wandels auch nur annähernd erreicht hätte. Kaum wesentlich anders wurde, abgesehen von Akten der Selbstjustiz, in bezug auf die Kollaboration in den westeuropäischen Ländern nach 1945 oder in den nach-kommunistischen Staaten Osteuropas oder bei der „Bewältigung“ der Diktaturen in Chile oder Argentinien verfahren. Die Defizite waren und sind bei jeder „Vergangenheitsbewältigung“ überall und immer programmiert nicht zuletzt schon deshalb, weil allein aus funktionalen Gründen nicht jeder austauschbar ist. Moralisch höchst unbefriedigend, aber empirisch leider unbestreitbar: In bezug auf den vollständigen Wechsel des jeweiligen Personenkreises ist „Vergangenheitsbewältigung“ historisch-empirisch offenbar unmöglich. Die juristische ist in Deutschland sowohl nach 1945 als auch nach 1990 (und nach anderen Diktaturen in anderen Teilen der Welt) empörend unzureichend gewesen Der Grund hierfür ist ebenso einfach wie niederschmetternd: Überall und immer leisten leider die wenigsten Widerstand. Die meisten laufen mit und schauen weg, verstecken sich in Nischen und hoffen, dort überleben zu können. Das erleichtert der verbrecherischen und höchst aktiven Minderheit ihr möderisches Handwerk. Widerstand (in Deutschland), „Resistance“ (in Frankreich) oder „Resistenza“ (in Italien) war die rühmliche Ausnahme, „Kollaboration“ die traurige Regel

Die wirklichen Widerständler wurden -das zeigte Deutschland nach 1945 wie nach 1989/90 -in den ersten Jahren des massiven Verdrängens und Vergessens als „Ruhestörer“ sogar diffamiert.

Wie aktuell die europäische Dimension des von Deutschland zu verantwortenden Holocausts immer noch ist, zeigen die intensiven Diskussionen 1995/96 über Gold und Nummernkonten jüdischer Holocaust-Opfer in der Schweiz und die bis jetzt umkämpfte Rückgabe jüdischen Vermögens sowohl in Norwegen wie in zahlreichen ost-oder südosteuropäischen Staaten. Und was Frankreich betrifft: Der Kollaborateur Touvier wurde hier noch in der Nachkriegszeit von führenden Persönlichkeiten gedeckt, der Kollaborateur Pappon brachte es bis zum Minister der Fünften Republik. 1996 wurde endlich der Prozeß gegen ihn eröffnet. „Geschichtspolitisch“ heikel und trotzdem wahr: Undemokratische, eher „faschistische“ Staaten wie Mussolinis Italien, Francos Spanien und Salazars Portugal, auch das . unltranationalistische Japan der Kriegszeit, haben den von den Deutschen verfolgten Juden williger und wirksamer als manche Demokratie geholfen Wer die gesamteuropäische Wahrheit nicht verschweigt oder verdrängt, wird diesen zeitgeschichtlichen Sachverhalt bedauernd feststellen müssen. Natürlich kann man aus vorgeblich pädagogischen Gründen meinen, es sei nicht „sinnvoll“, gerade „einem deutschen Lesepublikum“ Informationen über die außerdeutsche Kollaboration zu „liefern“

Wer so denkt und dementsprechend handelt, wird von der „Bewältigung“ der Vergangenheit überwältigt. Unterstellt er nicht, daß „die Deutschen“ seit 1945 nichts dazugelernt hätten und immer noch, oder schon wieder -und zwar mehr oder weniger alle (doch er selber nicht, obwohl ebenfalls deutsch) -vom NS-Bazillus infiziert wären? In einer solchen auch andernorts zu hörenden Argumentation scheint eine Art Deutschen-Haß durch, eine Haltung von Intellektuellen, die sich ihre volkspädagogische Präzeptorenrolle auch nicht von einem aufgeklärter gewordenen Publikum nehmen lassen wollen. Deutschen-Beschimpfung der direkten oder indirekten Art wird die innere Bereitschaft „der Deutschen“ zur Vergan-genheitsbewältigung gewiß nicht fördern -im Gegenteil. Seelische Abwehrreaktionen erzeugt man auch, wenn aufgrund der Verbrechen des „Dritten Reichs“ das millionenfache individuelle Leid von Deutschen -zum Beispiel Flucht, Vertreibung oder die Massentötung von Zivilisten im Bomben-krieg -geleugnet, gerechtfertigt, tabuisiert, minimiert oder gar nicht mehr wahrgenommen wird. Verbrechen von Deutschen waren kein Freibrief für Verbrechen an Deutschen. Die Rache an Deutschen war nach dem Zivilisationsbruch von Deutschen ihrerseits ein Zivilisationsbruch, ein Rückfall in vorzivilisatorisches Verhalten der Selbst-und Lynchjustiz. Sie war u. a. damals das, was man heute „ethnische Säuberung“ nennt und zu Recht verurteilt. Ohne schlechtes Gewissen können und sollten „die Deutschen“ auch dieser Verbrechen -und das heißt ihrer eigenen Opfer -gedenken. Mit „Aufrechnung“ oder gar Verharmlosung der vorangegangenen deutschen Verbrechen hat dies nichts zu tun -viel aber mit Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Vollständigkeit, Seele und Mitgefühl. Ohne Mitgefühl gibt es kein Miteinander, ohne ein Miteinander kann es keinen inneren seelischen Frieden geben -sondern nur ein neues Gegeneinander. Dies betrifft übrigens auch das Verhältnis der jüngeren Generation der Nachgeborenen -die tatsächlich die „Gnade der späten Geburt“ besitzen -zu der älteren Generation. Heutzutage gegen unseren dezidiert nichtfaschistischen Staat „antifaschistischen Widerstand“ zu leisten ist einfach absurd und eine Verhöhnung der damaligen Opfer. Dieser Unsinn bekommt jedoch Methode, wenn sich unter diesem propagandistischen Deckmantel der ideologische Kampf gegen unsere Demokratie verbirgt.

II.

Vergangenheitsbewältigung besteht -so könnte man verkürzt formulieren -aus vier „W“ s: Wissen, Werten, Weinen, Wollen. Diesen muß entsprechendes Handeln folgen:

-Wissen, was geschah. Andere sprechen von „Erinnerung“.

-Das Werten der Taten als barbarische, die Maßstäbe der Zivilisation brechende Untaten („Zivilisationsbruch“).

-Das (zumindest symbolische) Weinen über die Greueltaten. Damit wird auch eine Wiederherstellung der früher geltenden Werte zum Ausdruck gebracht. Andere nennen dieses Weinen „Trauer“ oder sprechen (wie Alexander Mitscherlich) von der „Unfähigkeit zu trauern“. -Aus dem Weinen und Trauern sind Entscheidungen abzuleiten. Sie setzen einen Willen hierzu voraus.

-Praktische Folgen und Handeln sind notwendig:

Man will der signalisierten Wiederherstellung der Werte Taten folgen lassen, eine Neue Ordnung, ein „Neues Deutschland“ schaffen.

Auch ein „Neues Europa“ schaffen, denn neben dem Hauptschuldigen Deutschland wurde Europa zum Mitschuldigen: zunächst durch Wegsehen, dann durch Mitmachen und Mitmorden, also durch die Kollaboration.

Nicht der Hauch eines Zweifels besteht über die deutsche Urheberschaft der Verbrechen Weltkrieg und Holocaust. Zwischen 1933/39 und 1945 war, in den Worten des unvergessenen Dichters Paul Celan, der „Tod ein Meister aus Deutschland“; ein „Meister aus Deutschland“ -mit zahlreichen, freiwilligen und eifrigen europäischen Gesellen oder Gehilfen. Deshalb gilt heute der folgende Satz: Vom Verhältnis zur „Endlösung“ hängt die moralische und politische Erlösung der Deutschen und auch der Europäer ab. Dieser Satz gilt, sofern Europa und Deutschland tatsächlich „Europa“, also eine moralische Wertegemeinschaft der Menschen- und Bürgerrechte sein und wirklich auf christlich-jüdischem Fundament stehen wollen. Dieser Satz beinhaltet keine Schuldzuweisung an die nachgeborenen Deutschen und Europäer, denn Nachgeborene können nicht schuldig sein. „Gegen das Vergessen“ wenden sich deutsche Politiker und Publizisten, Historiker und Erzieher seit Jahrzehnten. Mit Erfolg? Schauen wir auf nationale und internationale Umfragen. Die deutsche Sichtweise ist aufschlußreich, noch aufschlußreicher die internationale: Daß Auschwitz, Dachau oder Treblinka „Konzentrationslager“ waren, wußten in den neunziger Jahren Deutsche mehr als Bürger anderer Staaten Daß „Holocaust“ die„Ermordnung von Juden durch Hitler und Deutschland bedeutet“, ist den Deutschen ebenfalls besser als vielen anderen bekannt

In Polen wurde unter den Kommunisten besonders die polnische Opferrolle betont. Auch die in Polen (nicht selten mit Hilfe von Polen) ermordeten Juden wurden einfach als „Polen“ zusammengefaßt (ähnlich noch heute in Tschechien). Es überrascht daher nicht, daß rund ein Viertel der Polen meint, ihr Volk sei „Hauptopfer der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ gewesen Ein neues, realistisches Bild überdeckt allmählich in Polen das alte, kommunistische. Oder doch nicht? Daß die Polen im Zweiten Weltkrieg „den Juden genügend geholfen“ hätten, sagten 1995 immerhin 49 Prozent der Polen Eine beschönigende Legende. Über die Zahl der Opfer besteht international erschreckendes Unwissen Oder ist es böser Wille? Daß sechs Millionen Juden ermordet wurden, wußten bei Umfragen der Jahre 1990 bis 1995 jedenfalls nur wenige

Trotz offensichtlicher Lücken: Was das Wissen über den Holocaust betrifft -das bestätigen vor allem die internationalen Umfragen des American Jewish Committee -haben die „Deutschen“ viel von ihrer Vergangenheit „aufgearbeitet“. Wo gewußt wird, wird offensichtlich auch gelehrt, wird nicht verdrängt oder gar verschwiegen -wie oft (im In-und Ausland) nicht selten vorwurfsvoll -oder auch absichtlich -behauptet wird. Die Leistung der deutschen Lehrer, Historiker, Publizi-sten und Politiker kann sich auch international sehen lassen.

Manche der Kritiker setzen ihre eigenen normativen Maßstäbe absolut oder verketzern diejenigen, die für erkennbare Defizite, pragmatische Kompromisse und unterlassene Verbesserungen verantwortlich waren und sprechen von einer „Zweiten Schuld“ (Ralph Giordano). Betreiben sie mit solchen pauschalen Vorwürfen nicht eher Politik als die objektive Aufarbeitung von Geschichte bzw. eine subjektive Politik mit der Geschichte -also Geschichtspolitikl 15. Wissenschaftlich scheint Norbert Frei in seinem Buch „Vergangenheitspolitik“ die These von der Zweiten Schuld zu bestätigen. Doch ist sein Untersuchungszeitraum der „halben Dekade“ bundesdeutscher Anfänge ab 1949 so begrenzt, daß man daraus keine allgemeinen Schlüsse ziehen kann im Hinblick auf die späteren Jahrzehnte mit ihrer immer intensiver werdenden Aufarbeitung sowohl im Rahmen zeitgeschichtlicher Forschung wie des öffentlichen Gedenkens. Wer dies gleichwohl tut, muß sich fragen lassen, welche Absichten er damit verfolgt. Den einen kontern daher die anderen. Sie sprechen von einer „Legende von der Zweiten Schuld“ (Manfred Kittel). Die Wahrheit dürfte wohl in der Mitte zwischen Giordano und Kittel liegen. Nicht zu unterschätzen in diesem Zusammenhang ist ferner das Verdecken von NS-Verbrechen durch Amerikaner und Briten während des Kalten Krieges Die „Epoche der fröhlichen Restauration“ ging in der bundesdeutschen Gesellschaft Ende der fünfziger Jahre zu Ende So „restaurativ" kann sie jedoch gar nicht gewesen sein, weil weder die Weimarer Republik noch gar das Dritte Reich „wiederhergestellt“ wurde oder werden sollten.

III.

Das Wissen über den Holocaust nenne ich „äußerliche Vergangenheitsbewältigung“. Diese kann man mit Hilfe von Umfragen messen, so problematisch Messungen dieser Art auch sind. Politisches Handeln läßt sich hingegen nicht messen, eher ermessen -anhand der normativen Vorgaben des Messenden. Und genau deshalb stoßen die Meinungen und Gegenmeinungen hier bei den Bewertungen so hart aufeinander. Die eine, die positive Seite, haben wir beschrieben: „Die Deutschen“ wissen, empirisch belegbar, über den millionenfachen Judenmord sehr viel. Das Fundament hierfür haben zweifellos deutsche Historiker gelegt. Ohne sie hätten die übrigen Multiplikatoren hierzulande nicht dieses verbreitete Wissen erzielt. Die andere, die eher negative Seite: Es ist nur wenigen deutschen Historikern gelungen, ein tiefgehendes, ebenso weit verbreitetes emotionales Interesse in der deutschen Öffentlichkeit zu wecken.

Begonnen hat der Durchbruch zu einer tieferen, emotionalen Wahrnehmung mit dem Tagebuch der Anne Frank, das auch dramaturgisch für das Theater bearbeitet wurde. Dann folgte 1959 mit der Blechtrommel von Günter Grass eine literarische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf hohem Niveau, die gleichwohl sehr große Leserkreise erreichte Man denke ferner an Andorra, das ebenso bedeutende wie auch und gerade in Deutschland erfolgreiche Stück des Schweizers Max Frisch. Und hatte nicht der bereits 1958 uraufgeführte Besuch der Alten Dame seines Landsmannes Friedrich Dürrenmatt sehr viel mit dem Problem von Anpassung, Opportunismus und Mitläufertum zu tun? Noch mehr emotionale Wirkung ging von Fernsehfilmen aus, so vor allem von der 1979 gesendeten Serie Holocaust. „Seifenoper“ kritisierten diejenigen, denen es nie gelungen war, ähnliche Wirkungen zu erreichen. Ähnlich war es 1995, als Steven Spielbergs Film Schindlers Liste Millionen Deutsche erschütterte.

Die größten Bucherfolge zur Geschichte des Dritten Reichs erzielten Joachim Fest mit seiner Hitler-Biographie (1973), Victor Klemperers Tagebücher der Jahre 1933 bis 1945 (1995) und Daniel J. Goldhagen im Jahre 1996 Klemperer war Tagebuch schreibender Romanist, Fest ist in erster Linie Publizist, Goldhagen amerikanischer Politik-wissenschaftler. Kein Wort ist darüber zu verlieren, daß Holocaust, Schindlers Liste und Hitlers willige Vollstrecker (Goldhagen) wissenschaftlich Lichtjahre von den soliden Forschungen Joachim Fests oder der Fachhistoriker, nicht zuletzt der deutschen, trennen. Schon ein Vergleich wäre absurd.

Alles andere als absurd, sondern notwendig wäre eine selbstkritische Bestandsaufnahme der Historiker sowie Publizisten hinsichtlich ihrer Vermittlungsbemühungen. Sie müßten sich fragen, weshalb es ihnen nicht gelingt, auch so nur annähernd „erfolgreich“ wie ein Goldhagen zu sein. Vielleicht ist dies aber auch eine Frage an die deutsche Öffentlichkeit, insbesondere an die veröffentlichte Meinung. Der so engagierte Publizist Ernst Klee hat, gemeinsam mit zwei weiteren Autoren, eine Dokumentensammlung veröffentlicht, die (noch!) viel erschütterndere Berichte über deutsche Greueltaten enthält als Goldhagens Buch Ihre Dokumentation erreichte zwar mehrere Auflagen, Goldhagens „Erfolg“ erreichte sie jedoch (bedauerlicherweise) nicht. Das ist insofern nicht verwunderlich, weil in vielen deutschen (und europäischen) Büchern zwar Kenntnisse vermittelt werden, nicht aber Empfindungen, Emotionen, die zu diesem Thema dazugehören. Hier ist ein gewisser Wandel unerläßlich, wenn man eine größere Öffentlichkeit und ein tieferes Verständnis erreichen möchte. Man muß es versuchen, wenn „Vergangenheitsbewältigung“ auch verinnerlicht werden und nicht nur äußere Faktenkenntnis bleiben soll. Dies hat dann auch etwas mit „Trauerarbeit“ zu tun. Unverständlich, daß manche Historiker diese Dimension des Erinnerns während der Gold-hagen-Debatte mißachteten. Hans Mommsen z. B. meinte, daß „Betroffenheit und Anschauung des Grausamen nicht auf den Grund des Holocaust führen“ Das aber kann nur bedeuten, daß „Vergangenheitsbewältigung“ letztlich äußerlich bleibt: „wissenschaftlich“ und „strukturalistisch“. r Dies heißt jedoch wahrlich nicht, Hans Mommsen oder anderen zu unterstellen, die NS-Verbrechen auf eine abstrakte, theoretische Ebene „wegschieben“ zu wollen. An der Einzigartigkeit der NS-Verbrechen haben schon vor dem „Historikerstreit“ Hans Mommsen und andere nie einen Zweifel aufkommen lassen. Aber wird diese „Einzigartigkeit“ inzwischen nicht eher formalisiert und ritualisiert? Bewirkt die „seelenlose“, objektivierte Analyse von Zahlen, Daten, Fakten und vor allem von Strukturen nicht auch eine Art Abfederung und wissenschaftliche Wattierung des Grauens? Fast drängt sich die Vermutung auf, daß das Übergewicht der Analyse von Strukturen -so unverzichtbar sie ist -Distanz und seelische Barrieren geradezu errichtet. Hitler wird dann letztlich nur noch zu einer Marionette. Einmal mehr und immer wieder: Vom Verhältnis „der Deutschen“ (und auch der Nichtdeutschen) zur soge-nannten Endlösung hängt ihre moralische und geschichtspolitische Erlösung ab. Die talmudischen Weisen lehrten: „Das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung.“ Das ist richtig. Noch richtiger ist der ergänzte Satz: Das Geheimnis der Erlösung ist vollständige Erinnerung. Ohne eine solche Vollständigkeit -die dann auch die Trauer um die „eigenen“. Opfer mitenthält -entstehen neue seelische Barrieren.

IV.

Legion sind die Studien über den tatsächlichen und vermeintlichen Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland „Langsam, zäh und diskontinuierlich“ sei der Antisemitismus von 1945 bis 1994 zurückgegangen, bilanzieren Bergmann/Erb Knapp 50 Prozent antisemitische Einstellungen registrierte 1949 das Allensbacher Institut für Demoskopie. Seit Mitte der achtziger Jahre sind es rund fünfzehn Prozent Gewiß, fünfzehn Prozent zu viel, doch fünfzehn Prozent Antisemiten sind besser als fünfzig. Die DDR hatte den millionenfachen Judenmord ohnehin nur als Problem von Faschismus und Kapitalismus gesehen und sich mit ihrem propagandistischen Antifaschismus aus der gemeinsamen deutschen Verantwortung zu stehlen versucht Gemischte Signale kommen daher eher von den Jugendlichen aus den Neuen Bundesländern. Eher besorgniserregende Umfragen liegen ebenso vor wie ermutigende Den Nationalso-zialismus „gar nicht so schlecht“ fanden im Frühjahr 1995 30 Prozent der Ost-und 16 Prozent der Westdeutschen Eine „besondere Verantwortung der Deutschen gegenüber den Juden“ erkennt in Ost und West nur ungefähr jeweils die Hälfte der Bevölkerung an, sowohl bei Jung und Alt „Haben die Deutschen gegenüber den Juden noch eine Schuld abzutragen?“ fragte das Forsa-Institut die vereinten Deutschen zur Jahreswende 1995/96. „Nein“, antworteten 60 Prozent Wegen der zahlreichen Schwingungen dieser Frage ist die Antwort allerdings kein eindeutiger Hinweis auf eine mangelnde Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Da jedoch die Reaktion auf die wiederholt gestellte Frage nach der deutschen Verantwortung gegenüber den. Juden auch nicht gerade Aufgeschlossenheit andeutete, wird man nicht erleichtert aufatmen können. Wie erwünscht oder unerwünscht sind die Juden? „Als Nachbarn lieber nicht“ sagten international meistens noch mehr Menschen als in Deutschland, aber auch in Deutschland viele

Unser Fazit: Der Antisemitismus nahm trotz erkennbarer Defizite ab, der Antiisraelismus ist beklemmend Sind Antisemitismus und Antiisraelismus aber wirklich voneinander zu trennen? Israel verleiht auch den Juden außerhalb des Jüdischen Staates existentielle Sicherheit „für den Fall der Fälle“. Wer den Juden diesen sicheren Boden -auch indirekt -entzieht oder verunsichert, mag noch kein „Antisemit“ sein und sich subjektiv auch gar nicht so fühlen, objektiv unterscheidet sich die Wirkung seiner Einstellung für uns Juden nicht wesentlich vom Antisemitismus.

Es ist einfach, tote Juden zu beweinen. Sie sind sozusagen bequem. Israelische Juden sind erheblich unbequemer; erst recht die extrem nationalistischen und religiösen (sie stehen auch mir wahrlich nicht nahe). Doch es sind zum Teil noch diejenigen, die den Mördern entkamen. Wären sie nicht entkommen, hätten gerade ihre heutigen Kritiker sie heftig beweint, zumal in Deutschland.

Diese Gruppe der überlebenden Juden und ihre Nachkommen haben, wie „die Deutschen“ und deren jüngere Generation „aus der Geschichte gelernt“. Die Lehre der überlebenden Juden lautet: „Nie wieder Opfer!“ „Die Deutschen“ haben ihrerseits „aus der Geschichte gelernt“. Sie sagen: „Nie wieder Täter!“ Jede Seite hat recht und ihre Lernfähigkeit bewiesen und die Vergangenheit sozusagen „bewältigt“. Zueinander kommen sie heute aber offenbar so wenig wie einst -wegen der Geschichte und wegen der „Lehren aus der Geschichte“.

Die von der jüngeren deutschen Generation gegenüber den Eltern und Großeltern in oft außerordentlich heftiger, um nicht zu sagen anmaßender, arroganter Weise angemahnte Toleranz gegenüber den nunmehr toten Juden sollten -und könnten -diese nachgeborenen Deutschen den Juden Israels gegenüber heute selbst zeigen. Das bedeutet keinesfalls, daß sie die israelische Politik im allgemeinen und die Netanjahu-Regierung im besonderen blind unterstützen sollen. Aber mehr Wissen’und Verständnis für die psychologischen, historischen und vor allem sicherheitsbedingten Wurzeln israelischer Politik könnten sie trotzdem aufbringen. Sie müßten es, wenn sie nicht nur äußerliche Vergangenheitsbewältigung im Wege der Generationen-Anklage und des nationalen Selbsthasses betrieben. Dieses deutsch-israelische Mißverständnis, erkennbar an deutschen Umfragen über Israel, bestand nicht nur in den Regierungsjahren des Likud von 1977 bis 1992, es wurde auch während der friedenspolitischen Offensive unter Rabin und Peres in den Jahren 1993 bis 1995 registriert. Seit Mai 1996, seit der Wahl Netanjahus, ist es wieder sichtbarer geworden. Dies ist leider zu konstatieren trotz der fortdauernden guten Beziehungen auf der Regierungsebene und intensiver Kooperation in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Vollständige „Vergangenheitsbewältigung“ gibt es nicht. Nicht einmal biologisch ist sie möglich. Das biblisch-alttestamentliche Gleichnis verdeutlicht dies vortrefflich: Die „Kinder Israel“ waren in Ägypten Sklaven, sie leisteten Fronarbeit. Dann gelang die Flucht durch die Wüste. Dort packte sie die Sehnsucht nach den vermeintlichen „Fleischtöpfen Ägyptens“. Sogar ums Goldene Kalb tanzten sie. Gott beschloß: Diese Generation muß aussterben, bevor die „Kinder Israel“ ins Gelobte Land dürfen. Auch dort fielen sie später von Gott ab, der sie errettet hatte. -Man braucht keine Metaphysik oder Metageschichte zu betreiben, um die geschichtliche Botschaft zu entschlüsseln. Sie lautet: Nie ist die Vergangenheit bewältigt. Die Bibel enthält noch eine wichtige Botschaft zur „Bewältigung“ von Vergangenheiten: Sie ist in der Fortsetzung der Kainsgeschichte zu finden. Sie zeigt in Kains’ Generationenfolge Unschuldige, Gute -und immer wieder neue Verbrecher. Das bedeutet: Jederzeit ist die Wiederkehr des Grauens möglich; eine dauerhafte oder gar endgültige, vollständige und sichere „Bewältigung“ ist unmöglich. Die politische Botschaft heute könnte und sollte jedoch lauten: Konsequenzen aus den Erfahrungen ziehen, das bewußte politische Handeln -trotz aller Widerstände -immer wieder auch an moralischen Maßstäben messen.

V

Seit 1992 finden wir aufschlußreiche Informationen über judenbezogenes Handeln im internationalen Zusammenhang im Antisemitismus-Jahrbuch des Institute for Jewish Policy Research in London. Neuerdings beteiligt sich daran das American Jewish Committee. Sie veröffentlichen gemeinsam den „Antisemitism World Report“. Das Ergebnis: Natürlich gab es auch in Deutschland antisemitische Aktionen und Verbrechen, aber im internationalen Vergleich gehört das vereinte Deutschland zur Gruppe der eher toleranten Staaten

Diese Daten über das Handeln „der Deutschen“ sind eher ermutigend. Ist ihr Handeln Ergebnis ihres Wollens, und ist dies ebenso ermutigend? Was will die Mehrheit der Deutschen aufgrund ihres Wissens, Wertens und Empfindens über den millionenfachen Judenmord? Empfindet sie die Judenvernichtung auch heute noch als „relevant“, also wichtig? Mitnichten. „Der Holocaust ist heute nicht mehr wichtig, weil er vor ungefähr fünfzig Jahren stattfand.“ Diesem Satz stimmen international große Mehrheiten zu, auch und vor allem in Deutschland Daß die Erinnerung an den Holocaust „wichtig“ oder „sehr wichtig“ sei, stieß international mehr auf Zustimmung als hierzulande Wenn der Holocaust „nicht mehr wichtig“ scheint, ist auch die Bereitschaft, Haftung zu übernehmen, gering. Das aber könnte bedenkliche moralische und geschichtspolitische Auswirkungen haben.

Das deutsche Volk ist -wie jedes andere Volk -vor allem eine Lebensgemeinschaft, eine Kommunikationsgemeinschaft. Jede staatlich-nationale Kommunikations-und Lebensgemeinschaft, jedes Volk ist zugleich auch eine Haftungsgemeinschaft für die Folgen der eigenen Geschichte und Politik. Mit der geschichtlichen Haftung tut sich jedes Volk schwer, auch das deutsche. Auf meine These von der Haftungsgemeinschaft entgegnete mir ein Lehrer: „Wie kann ich einem deutschen Schüler türkischer Herkunft oder auch einem jüdischen Schüler erklären, daß er als deutscher Staatsbürger Teil der deutschen Haftungsgemeinschaft sei?“ Die Antwort ist einfach: Geistes-, familien-und herkunftsgeschichtlich haftet der Deutsche türkischer Herkunft oder der in Deutschland lebende Jude natürlich nicht für den millionenfachen Judenmord. Doch als deutsche Staatsbürger gehören Deutschtürken und Juden politisch ebenfalls der deutschen Haftungsgemeinschaft an. Gemessen an den geäußerten Einstellungen weigert sich jedoch die Mehrheit der Deutschen -und der einst kollaborierenden Europäer -innerlich, die Haftung für die Judenvernichtung zu übernehmen. Wer (wie der Autor dieses Textes) für Haftung, für Verantwortung plädiert, muß daher gegensteuern.

Ist ein „Holocaust-Gedenktag“ ein geeignetes „Steuerungsmittel“? Ist es nicht einfach, über die Toten zu trauern? Je länger sie tot sind, desto leichter die Trauer. Auf die Lehren der Todesursaehe, also auf die Lehren der Geschichte komme es an, werden manche entgegenhalten. Richtig. Die wichtigste Lehre heißt: Das Leben der Lebenden muß geschützt werden, Tränen über die Toten allein reichen nicht aus. Die Funktion der Trauer ist, das Leben zu sichern.

Das bedeutet konkret und tagespolitisch: Anders als (wie erwähnt und belegt) ungefähr die Hälfte der Deutschen meint, haben „die Deutschen“ sowohl gegenüber den Juden als auch dem Staate Israel eine besondere Verantwortung. Weniger Probleme als die bundesdeutsche Gesellschaft hatten mit dieser Art der Haftung alle Bundesregierungen. Jede bisherige Koalition hat die Besonderheit der deutsch-israelischen Beziehungen nicht nur durch Worte, sondern auch durch (keineswegs nur finanzielle) Taten wie die „Wiedergutmachtung“ belegt, das beiderseitige Verhältnis gepflegt und dadurch Haftung übernommen Das gilt erst recht in bezug auf das Verhältnis zur jüdischen Gemeinschaft in Deutschland.

Wie schwer jedoch manchmal die konkrete gesellschaftliche bzw. politische Realisierung der Erneuerung ist, zeigen nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um bestimmte „Gedächtnisorte“ in Deutschland Im allgemeinen aber sind solche Erinnerungsmale in den deutschen Städten unstrittig -was allein schon ihre sehr große Zahl beweist wie auch ihre oft eindrucksvolle und bewegende Gestaltung

Trauer als Sicherung des Lebens bedeutet auch: Nie wieder Aggression und Völkermord hinnehmen, nie wieder appeasement, also Beschwichtigung, gegenüber Aggressoren und Völkermördern. Aber haben wir in Deutschland, in Europa, in der Welt diese Lehren wirklich gezogen? Fernsehend haben das deutsche Volk und andere Völker vier lange Jahre von 1991 bis 1995 weggesehen, als in Bosnien brutale Vertreibungen und Völkermord geschahen und sogar belohnt wurden. Und diejenigen, die hierzulande die ältere Generation nicht genug anklagen können wegen deren damaliger Haltung gegenüber ethnischen Verfolgungen, diese „antifaschistischen Pazifisten“ verweigerten jegliche effektive Hilfe, ächteten vielmehr jene, die eingreifen und das Morden beenden wollten. Sehen so die „Lehren aus der Geschichte“ für die nachwachsende Generation aus? Dasselbe gilt im Hinblick auf den Völkermord in Ruanda, Burundi und Zaire, Sudan oder Tschetschenien. Auch hier herrschen die Phrasen der „Betroffenheit“, die lediglich Distanz und Gleichgültigkeit kaschieren sollen. Man wendet sich mit großer öffentlicher Empörung lieber risikolosen Ersatzhandlungen zu wie dem Boykott von Shell-Tankstellen oder französischem Champagner. Denn wirkliche Trauer verpflichtet ja: Völker trauern, um menschenwürdig zu leben. Das ist der Sinn jeder Trauer: Trauern, um menschenwürdig zu leben.

Wer jedoch nicht einmal die Toten, die Verluste des eigenen Volkes betrauern kann, sondern sie eher diffamiert und beschuldigt, der wird erst recht nicht die Toten, die Verluste anderer Völker betrauern. Wer eigenes Leid kennt und öffentlich benennt, wird auch das Leid anderer nachfühlen können -und wollen. Ausschließlichkeit des nationalen oder individuellen Leids verhärtet Herz und Verstand den anderen gegenüber genauso wie das Vergessen oder die Verachtung der eigenen Toten. Nur eine vollständige Erinnerung führt zur Erlösung, und Erlösung zur Versöhnung. Erinnerung -Erlösung -Versöhnung: Nur die Einheit dieser Dreiheit schafft Frieden, den äußeren und inneren Frieden. Deutsche und Nichtdeutsche, Juden und Nichtjuden sollten miteinander trauern und gedenken -nicht mehr gegeneinander.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erklärung von Bundespräsident Roman Herzog, Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Bonn, 3. 1. 1996.

  2. Vgl. Forsa-Umfrage, in: Die Woche vom 26. 1. 1996, S. 27.

  3. Vgl. ebd.

  4. Ins Gleichnis des Romans hat dies unübertroffen gefaßt: Andrzej Szczypiorski, Eine Messe für die Stadt Arras, Zürich 1988.

  5. Vgl. vor allem Jörg Friedrich, Die kalte Amnestie. NS-Täter in der Bundesrepublik, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe, München -Zürich 1994. Materialreich, aber nur bis Mitte der fünfziger Jahre reichend: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. Er zeigt dabei die Verzahnung von Politik und Recht.

  6. Zur Kollaboration vgl. mit weiterführender Literatur Franz W. Seidler, Die Kollaboration 1939-1945, München 1995. Es kann keine Rede davon sein, daß Seidler in diesem Buch „Verständnis für Kollaborateure“ zeige oder gar wecke, wie Kurt Sontheimer (in: Abendzeitung, München, vom 24. 5. 1996) mit unzureichenden Belegen unterstellt, zumal er Seidler bescheinigt, über die Kollaborateure „ziemlich sachlich“ zu informieren. Unverzichtbar zum Thema Kollaboration, keinesfalls ausschließlich) der ost (doch -europäischen, ist Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges, München -Zürich 1993 (als Taschenbuch 1995). Wie keiner vor oder nach ihm zeigt Friedrich zugleich die mörderisch-strategische Funktion des Holocaust für die Wehrmacht. Er jede Motive für Kollaborateure. auch ohne Beschönigung die Hier vereinfacht das Fazit: 1) Durch den Juden-mord sollte eine Art Verbrüderung der Besatzer und Besetzten erreicht werden. Er band beide Seiten aneinander. 2) Der Judenmord sollte ein abschreckendes Beispiel für den Fall sein, daß nicht kollaboriert würde. 3) Die Deutschen sparten deutsches Mordpersonal, so wurden Frontkämpfer frei. Psychologisch tiefer als Sachbuchautoren können Schriftsteller die Motive der Kollaboration beschreiben. Genannt seien einige Meisterwerke (aus meiner Sicht): Louis Begley, Lügen in den Zeiten des Krieges, Frankfurt am Main 1994 (über Polen); Aleksandar Tisma, Das Buch Blam, München 1995 (über Jugoslawien); Wolfgang Koeppen, Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, Frankfurt am Main 1992 (über Polen, die Sowjetunion); Janos Nyiri, Die Judenschule, München -Leipzig 1990 (über Ungarn); Robert Bober, Was gibt’s Neues vom Krieg?, München 1995 (über Frankreich); Harry Mulisch, Das Attentat, München 1986 (über die Niederlande). Im Frühjahr 1995 haben sowohl die niederländische als auch die dänische Königin in eindrucksvollen Ansprachen ihre Landsleute daran erinnert, daß während des Zweiten Weltkriegs zu wenig Widerstand gegen die und zu viel Kollaboration mit den deutschen Besatzern betrieben worden sei.

  7. Zu Spanien und auch Portugal vgl. mit weiterführender Literatur Michael Wolffsohn, Spanien, Deutschland und die Jüdische Weltmacht*. Über Moral, Realpolitik und Vergangenheitsbewältigung, München 1991; ferner Raanan Rein, Im Schatten des Holocaust und der Inquisition. Die Beziehungen Israels zu Franco-Spanien (hebräisch), Tel-Aviv 1996. Spät geehrt wurde kürzlich die Haltung Portugals durch die Ausstellung des Lissaboner Goethe-Instituts „Lissabon 1993 bis 1945. Fluchtstation am Rande Europas“. Zu Italien vgl. Jonathan Steinberg, Deutsche, Italiener und Juden. Der italienische Widerstand gegen den Holocaust, Göttingen 1992. Steinbergs Fazit: Bis zur Entmachtung Mussolinis am 8. 9. 1943 wurde kein Jude im italienischen Herrschafts-oder Schutzbereich an die Deutschen oder ihre französischen, griechischen sowie kroatischen Kollaborateure ausgeliefert. Vgl. zu Japan David G. Goodman/Masanori Miyazawa, Jews in the Japanese Mind, New York 1995, bes. Kap. V.

  8. Kurt Sontheimer, Eine Weißwäsche für Hitlers Helfer, in: Abendzeitung, München, vom 24. 5. 1996. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine eher politische Rezension des Buches von F. W. Seidler (Anm. 6).

  9. 92 Prozent der Deutschen wußten es im Jahre 1994, 91 Prozent der Polen (1995), 90 Prozent der Franzosen (1993), 85 Prozent der Australier (1994), nur 76 Prozent der Briten (1993) und in den USA (1994) 67 Prozent; vgl. Jennifer Golub/Renae Cohen, Knowledge and Remembrance of the Holocaust in Poland, The American Jewish Committee (AJC), New York 1995, S. 6 ff. Das AJC führt seit Jahren die gleichen Umfragen durch. Deshalb sind in der Polenstudie auch die Vergleichszahlen genannt. Andere AJC-Umfragen (jeweils erschienen in New York): Jennifer Golub, Current German Attitudes toward Jews and other, Minorities, 1994; David A. Jodice, United Germany and Jewish Concerns. Attitudes toAus ward Jews, Israel, and the Holocaust, 1991; Jennifer Golub/Renae Cohen, What do the British know about the Holocaust, 1993; Jennifer Golub, British Attitudes toward Jews and other Minorities, 1993; dies. /Renae Cohen, What do the Americans know about the Holocaust, 1993; Tom W. Smith, Anti-Semitism in Contemporary America, 1994; ders., What do Americans think about Jews, 1991. Von AJC sind auch in anderen Ländern entsprechende Umfragen ausgewertet worden.

  10. Aus den angegebenen internationalen Umfragen: Deutschland 59 Prozent, gefolgt von Australien mit 39 Prozent, Frankreich 35 Prozent, Großbritannien 33 Prozent, USA 24 Prozent und Polen nur 3 Prozent. Zu beachten ist, daß es sich hier -außerhalb des angelsächsischen Sprachraums -um ein Fremdwort handelt.

  11. 1995 meinten dies 26 Prozent der Polen; „Die Juden“, sagten 28 Prozent; vgl. J. Golub/R. Cohen, Knowledge and Remembrance (Anm. 9), S. 27.

  12. Ebd., S. 29.

  13. Dazu unerläßlich Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, München 1991.

  14. In Frankreich 45 Prozent, USA 44 Prozent, Großbritannien 41 Prozent, Deutschland nur 36 Prozent und in Polen noch weniger: 34 Prozent. Ebenfalls zusammengestellt aus den diversen AJC-Umfragen.

  15. Vgl. Manfred Kittel, Die Legende von der . Zweiten Schuld. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Berlin -Frankfurt am Main 1993. Mit vergleichbaren Methoden kommt zu ähnlichen Ergebnissen Christa Hoffmann, Stunde Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, Bonn 1992. Vgl. ferner Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Ädenauer, Hamburg 1994. Das Interesse der US-Presse an der Wiedergutmachung überschätzt Norbert Frei, Die deutsche Wiedergutmachungspolitik gegenüber Israel im Urteil der öffentlichen Meinung der USA, in: Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989, S. 215-230. Zum Thema US-Presse und Wiedergutmachung an Israel vgl. Michael Wolffsohn, Die Wiedergutmachung und der Westen -Tatsachen und Legenden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16-17/87, S. 19-29. Von den vielen Arbeiten zum Thema sei ferner hingewiesen auf: Clemens Entnazifizierung. Säuberung Vollnhals (Hrsg.), Politische und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 bis 1949, München 1991. Immer noch lesenswert der Essay von Peter Graf Kielmansegg, Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Berlin 1989. In vergleichender Sicht Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991. Vorbildlich in bezug auf Italien: Hans Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1942/1948, München 1996. Ebenfalls vergleichend: Ian Buruma, Erbschaft der Schuld. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und Japan, München 1994, und Judith Müller, One by One by One. Facing the Holocaust, New York 1990.

  16. Vgl. Hans Mayer, Die umerzogene Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher 1945 -1967, Berlin 1988, S. 81 ff.

  17. Umfragedaten dazu in: Michael Wolffsohn, Keine Angst vor Deutschland, Erlangen 1990, S. 113 ff.; erweiterte und aktualisierte Taschenbuchausgabe: Berlin 1992, S. 93 ff.

  18. Vgl. H. Mayer (Anm. 17), S. 150 ff.

  19. Weitere Belege für die in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, also entgegen zahlreichen, wiederholt vorgetragenen Legenden vor und nicht erst seit 1968 einsetzende „Vergangenheitsbewältigung“ in: M. Wolffsohn (Anm. 18), S. 136 ff.

  20. Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie, Berlin 1973; Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Berlin 1995.

  21. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust, Berlin 1996.

  22. Vgl. Ernst Klee/Willi Dreßen/Volker Rieß (Hrsg.), „Schöne Zeiten“. Judenmord aus der Sicht der Tater und Gaffer, Frankfurt am Main 1988. Sehr wichtig ist die Dokumentensammlung von Peter Longerich (Hrsg.), Die Ermordnung der europäischen Juden, München -Zürich 1989; unerläßlich W. Benz (Anm. 13) und Götz Aly, Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt am Main 1995.

  23. Interview mit Hans Mommsen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 9. 1996, S. 37.

  24. Vgl. u. a. (mit weiterführender Literatur) Werner Bergmann/Rainer Erb, Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945 bis 1994, in: Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, hrsg. von Wolfgang Benz, München 1995, S. 69 f. Ausführlicher dies., Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946 bis 1989, Opladen 1991.

  25. Dies., Antisemitismus in der Bundesrepublik, ebd., S. 62.

  26. Vgl. Renate Köcher, Deutsche und Juden vier Jahrzehnte danach, Allensbach 1986, besonders S. 12, 23, 33.

  27. Zur Juden-Politik der DDR vgl. Michael Wolffsohn, Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden, München 1995. Aufgrund begrenzter Archiv-und Dokumentarmaterialien gelangt zu ganz anderen Schlußfolgerungen Mario Keßler, Die SED und die Juden -zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995. Keßler hat weder MfS-Akten noch Dokumente aus Israel, der Bundesrepublik, den USA oder Großbritannien gesichtet.

  28. Vgl. Einstellung Jugendlicher in Brandenburg zu Judentum und zum Staat Israel, hrsg. von Julius H. Schoeps u. a., Landeszentrale für politische Bildung, Potsdam 1995, S. 22; besonders die Daten auf Seite 32; daß Israel ein Staat sei, der „über Leichen“ gehe, meinten (in „bester“ DDR-Tradition) 66 Prozent der Jugendlichen -während der Phase nahöstlicher Friedenspoltik unter Rabin und Peres!

  29. Vgl. Leipziger Institut für praktische Sozialforschung, in: blick nach rechts, 31. 5. 1995, S. 7.

  30. Vgl. Forsa-Umfrage, in: Die Woche vom 5. 5. 1995.

  31. Vgl. J. H. Schoeps u. a. (Anm. 29), S. 32, mit weiteren Umfragen; gegenüber Israel lehnten diese „besondere Verantwortung“ im Frühjahr 1995 56 Prozent der Bundesbürger ab (Forsa-Umfrage, ebd.).

  32. Vgl. Forsa-Umfrage, in: Die Woche vom 26. 1. 1996.

  33. In Litauen (1992) 40 Prozent. Polen 30 Prozent (1991 waren es noch 40 Prozent), Österreich 26 Prozent, Rußland 24 Prozent, Deutschland 22 Prozent, Großbritannien 12 Prozent, USA 5 Prozent. Alle Daten aus den erwähnten Umfragen des AJC.

  34. Vgl. die Umfragedaten in: Michael Wolffsohn/Douglas Bokovoy, Israel. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Opladen 1996, S. 236 ff.

  35. Vgl. Antisemitism. World Report 1996, London 1996, besonders S. 127 ff. über Deutschland.

  36. In Polen waren es, den AJC-Umfragen zufolge, 71 Prozent, in Deutschland 70 Prozent, Großbritannien und USA 38 Prozent und in Frankreich 35 Prozent.

  37. In Frankreich bei 88 Prozent, Polen 86 Prozent, USA 76 Prozent, Australien und Großbritannien 72 Prozent, in Deutschland jedoch nur 68 Prozent. Alle Daten aus den AJC-Umfragen.

  38. Vgl. M. Wolffsohn (Anm. 15). Zur Wiedergutmachung, auch das heftige Ringen um sie, Constantin Goschler, Wiedergutmachung. Westdeutschland und die Verfolgten des Nationalsozialismus (1945-1954), München 1992; Ludolf Herbst/Constantin Goschler (Hrsg.), Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland, München 1989.

  39. Vgl. dazu Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995.

  40. Vgl. Ulrike Puvogel u. a., Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, Bd. 1, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 19952. In diesem Buch wurden für die alten Bundesländer mehr als 2 000 Orte dokumentiert. Das Erinnern reicht von der Gedenktafel über Mahnmale bis hin zu Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern. Vgl. ferner Thomas Lutz, Historische Orte sichtbar machen -Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 1-2/95, S. 18-26.

Weitere Inhalte

Michael Wolffsohn, Dr. phil., geboren 1947 in Israel; Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Veröffentlichungen u. a.: Ewige Schuld? 40 Jahre deutsch-jüdisch-israelische Beziehungen, München -Zürich 1993; Israel. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Opladen 19965; Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West, München 19963; Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern, München 19974.