Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Vergegenwärtigung von Vergangenem Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken | APuZ 3-4/1997 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 3-4/1997 Die Vergegenwärtigung von Vergangenem Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken Von der äußerlichen zur verinnerlichten „Vergangenheitsbewältigung“ Gedanken und Fakten zu Erinnerungen Holocaust-Gedenken: Ein deutsches Dilemma

Die Vergegenwärtigung von Vergangenem Zum Spannungsverhältnis zwischen individueller Erinnerung und öffentlichem Gedenken

Peter Steinbach

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Formen, Inhalte und Ziele des Gedenkens an geschehenes Unrecht spiegeln nicht selten geschichtspolitische Konflikte innerhalb einer Nation, die eine sehr unterschiedliche Katastrophen-geschichte aufzuarbeiten hat. Diese Auseinandersetzungen beruhen zu einem großen Teil auf einer Parzellierung des öffentlichen Gedenkens wie auch einer Tabuisierung der persönlichen Erinnerung an erlittenes Leid. Im Streit um die Interpretation der Geschichte -der Verursachung und der Folgen von Unrecht -kann es dann zu einem Verschwinden der individuellen Erinnerung und Trauer im öffentlich veranstalteten Gedenken kommen, zumal wenn hier eine Rangfolge von Leid und Trauer „verordnet“ wird. Angesichts dieser Konflikte käme es auf den ernsthaften Versuch an, öffentliches Gedenken auch als Ausdruck einer Bemühung zu sehen, an die vielfältigen Dimensionen des Leidens im Zeitalter der europäischen Diktaturen zu erinnern. Dies setzt die Fähigkeit voraus, nicht nur die Leidenserfahrungen der eigenen Bezugsgruppe in den Mittelpunkt des Gedenkens zu rücken, sondern sich zu bemühen, auch das Leiden anderer Gruppen sehen zu wollen und beklagen zu können. Dieser Essay plädiert deshalb für eine integrale Konzeption des öffentlichen Gedenkens, um zugleich jene Maßstäbe entwickeln zu helfen, die es gestatten, mit der Bewußtmachung der Gefährdungen und des Leids des Individuums in der Konfrontation mit den modernen Diktaturen und ihren Ideologien auch die Fundamente politischer Moral aus diesem Gedenken und dem zeitgeschichtlichen Bewußtsein zu festigen.

I.

Die Auseinandersetzungen um die Deutung des 8. Mai 1945 haben vor zwei Jahren erneut deutlich gemacht, daß gemeinsame Erinnerungen an Ereignisse kollektiver Vergangenheit nicht automatisch die Bürger eines Staates einen müssen. Eher im Gegenteil: Manche Auseinandersetzungen um Formen, Inhalte und die Anlässe des Gedenkens haben in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder heftige geschichtspolitische Kontroversen ausgelöst. In diesen ging es nicht nur um die Voraussetzungen eines „angemessenen Gedenkens“ -um die Erörterung der Spannungen zwischen der vergangenen Wirklichkeit und ihrer Deutung -, sondern viel häufiger um eine historisch lediglich verbrämte, letztlich aber politische Auseinandersetzung, die den Streit um die Erinnerung zum Mittel politischer Zuspitzung machte. Insbesondere die deutschen Kontroversen haben nicht nur in der internationalen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit gefunden, sondern Spuren vor allem im Bewußtsein der Deutschen hinterlassen. Und nahezu immer wirkten die Reaktionen des Auslandes auf den deutschen Streit zurück. Schon deshalb bleibt die Bewertung des Geschichtsbewußtseins, der Erinnerungskultur und des Gedenkwillens der Deutschen von großer Brisanz, und auch Manifestationen des angeblichen deutschen Verdrängungswillens finden international weiterhin Interesse.

Gewiß: Deutschland lebt im Schatten seiner Vergangenheit, auch nach dem Umbruch des Jahres 1989. Aber gerade deshalb drängt sich die Notwendigkeit auf, die spezifischen Prägungen der deutschen Bemühungen um die eigene Vergangenheit zu klären. Wollten auch manche Zeitgenossen 1989 das Ende des Ostblocks als eine Zäsur interpretieren, welche die Nachkriegszeit endgültig beendet habe, so machte die Goldhagen-Debatte klar, daß dem nicht so war. Dies kann auch gar nicht anders sein, denn bis heute sind viele Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges in Osteuropa wie in Deutschland spürbar, das mühsam seine Teilung überwindet. Nicht um dieses Problem einer Bewältigung von „Politikfolgen“, die weit in die zwanziger und dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts zurückreichen, geht es bei den Kontroversen um die deutsche Geschichte. Sie stehen unter dem Kapitel „Versailles“ auf einem anderen, noch zu schreibenden Blatt der Zeitgeschichte. Sondern es geht hier um die Frage, wie sich in Deutschland im Gedenken das 20. Jahrhundert mit seinen Chancen und Katastrophen, mit seinen Hoffnungen und seinem Leid auf eine -wie auch immer -„angemessene Weise“ in das Bewußtsein der Nachlebenden rücken läßt.

Diese Frage berührt vor allem die Herausforderung des 27. Januar, des Jahrestags der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahre 1945, der Anfang 1996 vom Bundespräsidenten -ohne intensive, vorausgehende öffentliche Diskussion -zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ erklärt wurde. Wenn man in Zukunft alljährlich am 27. Januar an die Befreiung der Häftlinge des Vernichtungslagers Auschwitz erinnert, so schwingen aber -und dies ist ebenso beabsichtigt wie unvermeidlich -Erinnerungen an weitere Ereignisse mit, die mit der gesamten Geschichte der NS-Zeit Zusammenhängen. Die Frage ist, welche Ereignisse in den Mittelpunkt rücken, welche eher am Rand des Gedenkens bleiben, welche Erinnerungsdynamik im Zeitablauf entsteht.

Denn der Begriff „Opfer des Nationalsozialismus“ ist vielschichtig und auch vieldeutig -dies zeigen die Auseinandersetzungen um Denkmäler, Museen, Gedenkstätten und Symbole. Im Begriff des Opfers spiegeln sich vielfältige Realitäten der Verfolgung und des Krieges; sie wollen und müssen angesprochen werden, will man nicht der individuellen Relativierung in der Erinnerung jener Vorschub leisten, die sich ebenfalls als Opfer des Krieges und der NS-Zeit fühlen, weil auch sie an Leib und Leben die Folgen verbrecherischer Poli3 tik zu tragen hatten. Die menschliche Erinnerung muß wohl immer und ganz unausweichlich Gleichzeitiges bewältigen. In ihr verbindet sich, was die unmittelbar nach dem Kriege nachwachsende Generation oftmals getrennt hat oder sogar bewußt verdrängen wollte, um sich nicht dem Vorwurf des Aufrechnens auszusetzen. So wurden wichtige Bezugspunkte kollektiver Erinnerung an erfahrenes Leid aus Furcht vor „falschen Reaktionen“ oder dem „Beifall von der falschen Seite“ in den Hintergrund des historischen Bewußtseins geschoben und aus der gemeinsamen Erinnerung der Nation ausgeklammert. Unterhalb dieser Schwelle öffentlicher Wahrnehmung regte sich daher nicht selten Widerspruch -an den Stammtischen ebenso wie innerhalb von Familien, aber auch in den Äußerungen von Verbandspolitikern. Deren Argumente kamen aufgrund der von einzelnen persönlich erlittenen Gefühllosigkeit gegenüber ihrem Leiden nicht selten einer Relativierung entgegen, die sich wiederum als Gefühllosigkeit gegenüber der Tragödie des Völkermords an den Juden artikulierte.

Die Folgen einer Parzellierung bzw. Tabuisierung kollektivgeschichtlich wichtiger Ereignisse werden immer wieder sichtbar -jüngst etwa in der politisch brisanten Debatte über das Verhältnis von Schuld und Verantwortung, Ursachen und Folgen in der deutsch-tschechischen Konfliktgeschichte. Über das Kollektivschicksal gewaltsamer Vertreibung Deutschstämmiger zu sprechen fällt Tschechen augenscheinlich bis heute schwer, obwohl doch zumindest mit der Trennung von Lebens-und Regimegeschichte ein Ausweg offensteht, individuelles Leid nicht in kollektive Entlastung münden zu lassen. Und von der deutschen Seite zu fordern, die Verfolgung und Vertreibung Deutscher aus Böhmen zu beschweigen, müßte bedeuten, eine Debatte zu provozieren, die dann insgesamt an das Verfolgungsgeschehen zu erinnern hätte, das Deutsche traf. Wer aber bisher die Erinnerung an die Vertreibung von Deutschen aus Ostdeutschland sowie aus Ost-und Ostmitteleuropa bewußt nur im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu wekken versucht hat, setzt sich der Kritik derjenigen aus, für die die Vertreibungsopfer nicht NS-Opfer, sondern nur ein Teil der für die NS-Verbrechen verantwortlichen Täter waren. So rückte bisher aber kaum die dramatische Leidensgeschichte auch dieser Millionen von Menschen, die Unrecht und Tod erlitten haben, in das öffentliche Bewußtsein. Wer daran erinnerte, handelte sich den -so unangemessenen wie unmoralischen -Vorwurf der Relativierung ein. Man kann aber nicht „gegen das Vergessen“ des einen Leids sein und zugleich die Erinnerung an das andere Leid als „ewiggestrig“ denunzieren und zu verhindern suchen.

So gesehen ist der 27. Januar als umfassender Gedenktag eine ungeheure Herausforderung für das Erinnerungsvermögen, die Erinnerungskraft und auch den Erinnerungswillen der Deutschen: Denn der Wille zum umfassenden Rückblick, zur Vergegenwärtigung des Vergangenen, von Leid und Verlust entspricht einem menschlichen Grundgefühl, wird zugleich aber durch gruppen-spezifische Verengungen und Reduzierungen des Mitgefühls geprägt. Insofern könnte dieser umfassender ausgreifende „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ das kollektive Erinnern auf eine neue Grundlage stellen. Er sollte die Summe so vieler Leiden, die historisch zwar miteinander verbunden, lebensgeschichtlich aber viel stärker isoliert waren, vor das Auge der Nachlebenden rücken. Diese Sicht könnte die Voraussetzung für die Vergegenwärtigung eines Schmerzes sein, der viele Komponenten und Ursachen hat und gerade darauf dringt, in seiner Komplexität wahrgenommen zu werden: Politisch Verfolgte, aus rassenpolitischen Gründen Entrechtete, Deportierte, Ermordete, KZ-Häftlinge, politische Häftlinge, Flüchtlinge, Vertriebene, Opfer des Bombenkriegs, gefallene Soldaten, Kriegsgefangene -sie alle verkörpern auf ihre Weise die Leidensgeschichte im 20. Jahrhundert.

Mag es in der individuellen Leidensgeschichte auch vorrangig um die eigene Person oder Familie, um die eigene Gruppe und um das eigene Deutungsmuster gehen, so sollte sich jedoch jeder durch Unrecht Bedrängte auch die Fähigkeit zur Empathie, zur Wahrnehmung leidvoller Erfahrungen des einen mit den Augen eines anderen bewahren. Wer sich nicht vorstellen kann, was ein Häftling in einem Vernichtungslager durchleiden mußte, weil sein eigener Schmerz durch die Auslöschung seiner Familie durch Flächenbombardements oder durch Vernichtung von Flüchtlingstrecks geprägt ist, kann nicht erwarten, daß der rassisch Verfolgte die Angst des Bombenopfers oder des Vertriebenen begreift -auch wenn das bedrohte Leben und die Ängste vieler an der „doppelten Front“ von Bomben und Gestapo oft kaum mehr unterscheidbar waren. Wer sich ganz auf seine Erinnerung an Vertreibung und Verschleppung konzentriert, ohne Mitgefühl für diejenigen aufzubringen, die als Gegner oder rassisch Verfolgte des NS-Staates Deutschland verlassen mußten, wird kaum die Möglichkeit haben, glaubhaft zu machen, daß es ihm auch wichtig ist, seine eigene Lebensgeschichte in den Rahmen europäischer Vertreibungen einzuordnen. Wer sich dem Erinnerungsschmerz an seine eigene Kriegsgefangenschaft hingibt und das Mitgefühl für die sowjetischen Kriegsgefangenen, die millionenfach dem Tod preisgegeben wurden, vermissen läßt, wird nicht davon ausgehen können, daß Zeitgenossen, die Mitleid mit ihm empfinden können, dieses Gefühl auch zeigen wollen.

Parzellierung, Selektierung, ja Ausgrenzung von Leidenserfahrungen führt so zur dann nicht selten gewollten, sogar demonstrierten mentalen Blokkade des Mitgefühls. Die Folge dieser Blockade -die einer Verweigerung des erinnernden Mitempfindens gleichkommt -ist eine ganz bewußt vorgenommene Verengung des Gedenkens, die nicht mehr tröstet, sondern verletzt und nicht selten als eine Form „fanatischen Gedenkens“ ausschließlich für die „eigenen“ Opfer wahrgenommen wird. Allgemein scheint so zu gelten, daß die Empathie des Mitleidens, der Wille zum Mitleidenwollen und Mitleidenkönnen, vergleichsweise schwach ausgebildet ist. Daher muß man akzeptieren, daß sich im Gedenken auch die Vielfältigkeiten der Erfahrungen zu spiegeln haben. Deshalb kann Gedenken wohl niemals einmütig und auch nicht einhellig sein. Dies zeigen immer wieder erinnerungspolitische Auseinandersetzungen.

Manche der in den vergangenen Jahren oftmals so heftig ausgetragenen geschichtspolitischen Kontroversen über das „richtige“ Gedenken -vom 8. Mai 1985 über die Bitburg-Zeremonie bis zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 1945 -mögen scheinbar nur unterschiedliche Einschätzungen der Vergangenheit berühren. Dennoch ist unbestreitbar, daß sie unterschiedliche Lebensgefühle und ganz gegensätzliche Erfahrungen der Mitlebenden berühren. Sie sind deshalb auch ein Spiegel von Befindlichkeiten einer Bevölkerung, die sich politisch, kulturell, sozial und regional stärker differenziert. Andere Auseinandersetzungen erklären sich aus umstrittenen Versuchen historischer Würdigung oder prinzipieller Verortung der Gegepwart im Lauf der Zeiten. Offensichtlich neigt die Vergegenwärtigung der Vergangenheit im Bewußtsein der Nachlebenden dazu, im Gedenken zu einer „rückprojizierten Gegenwart“ zu werden -dies hat u. a. zur Folge, daß die längst abgeschlossene Vergangenheit wie ein beliebiges Thema aktueller Politik diskutiert wird. Weil sich lebensgeschichtlich komplexe historische Erfahrungen aber kaum auf eine einzig gültige Deutung reduzieren lassen, weichen die Kontrahenten in der Debatte um die Erinnerung häufig in die Auseinandersetzung um Begriffe aus, die anzeigen sollen, wes „Geistes Kind“ die jeweiligen erinnerungspolitischen Kontrahenten sind. So werden geschichtspolitische Gegner rasch abgestempelt als „Achtundsechziger“ oder „Ewiggestrige“, als „Stahlhelmer“ oder „Kommunisten“. Wer etwa den Begriff „Faschismus“ verwendet, scheint sich ebenso identifizierbar zu machen wie jener, der von „Zusammenbruch“, „Katastrophe“ oder aber von „Befreiung“ spricht. Schnell ist die Grenze überschritten, die geschichtspolitische Auseinandersetzungen nur noch vom Streit um „politische Korrektheit“ trennt. Damit wird aber die Chance des Mitempfindens verspielt, denn der Streit um die Korrektheit macht rechthaberisch, nicht aber sensibel für die lebensgeschichtliche Vielfalt von Erinnerung und Gedenken.

II.

Besonders umstritten sind Behauptungen über die angebliche Verdrängung der Erinnerung an die NS-Zeit. Ein einziger falscher Ton in einer öffentlichen Rede, im mündlichen Vortrag nicht eigens vorgetragene Anführungszeichen können verhängnisvoll sein. Zuhörer identifizieren Reden offensichtlich nicht immer nach dem Inhalt, sondern auch nach dem Kontext, in dem Redner und Gedenksituationen verortet sind. Dies hat Ignatz Bubis verdeutlicht, als er zugab, die so heftig umstrittene Rede des damaligen Bundestagspräsidenten Jenninger wenig später ohne die geringsten negativen Reaktionen seinen Zuhörern selber vorgetragen zu haben. Im Grunde ist dieses Eingeständnis von Bubis nicht nur erschreckend, sondern auch entlarvend. Denn deutlicher läßt sich nicht machen, in welchem Maße die Auseinandersetzungen mit der Geschichte, und mittlerweile selbst das Gedenken, kontext-, situations-, gruppen-und personenbezogen sind.

Gedenken spiegelt also nicht nur die Bemühung um eine aktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, sondern wird auch als ein symbolischer politischer Akt inszeniert und schafft so Identifikationsmuster. Bereits der Augenschein begründet allerdings Zweifel an der häufig vorgetragenen These von der in Deutschland verdrängten, von der angeblich nicht angenommenen zeitgeschichtlichen Vergangenheit. An Mahnmalen fehlt es wirklich nicht, denn hierzulande existieren inzwischen Tausende von Erinnerungstafeln undDenkmälern an die Opfer der NS-Zeit, gibt es eine Reihe bemerkenswerter Bildungseinrichtungen, können konzeptionell vorbildliche Gedenkstätten genutzt werden, darunter nicht wenige von gesamtnationaler Bedeutung. Die Öffentlichkeit richtet das Augenmerk aber nicht auf diese seit Jahrzehnten geleistete Erinnerungsarbeit, sondern auf die aktuell politisch umkämpften Konzepte. Dies war bei der Errichtung der Nationalen Gedenkstätte Neue Wache in Berlin so, dies zeigt auch die endlose Kontroverse um das geplante Berliner Holocaust-Denkmal.

Der Streit um die Aufarbeitung der NS-Zeit berührt in den Kontroversen über das Gedenken nicht nur den Nerv der deutschen Gesellschaft, sondern vor allem auch das Selbstverständnis der Deutschen. Dies beeinflußt durchaus das politische Selbstbewußtsein. Deshalb haben Debatten über das Gedenken auch Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Deutschen, vor allem auf ihr Selbstbild. Diese Verbindung macht die Brisanz geschichtspolitischer Auseinandersetzungen aus.

Die Deutschen standen nach 1945 wohl stets unter dem Vorwurf der Verdrängung, ihrer „Unfähigkeit zu trauern“, ihrer „zweiten Schuld“. Selbst die Problematisierung dieser generellen Interpretationen deutscher „Vergangenheitsbewältigung“ konnte sich zu einer neuen Infragestellung steigern. So hat jüngst Norbert Frei nachzuweisen versucht, daß die Deutschen keineswegs ihre Vergangenheit verdrängten; allerdings hätten sie sich immer damit beschäftigt, die Folgen der Abrechnung mit dem Nationalsozialismus nach 1950 auf eine Weise zu bewältigen, die der Verzeichnung ihrer Vergangenheit und moralischen Verantwortung entgegenkam Dies ist eine mehr als problematische Aussage. Der Nationalsozialismus wurde in Wirklichkeit zum wichtigsten Bezugspunkt des deutschen Selbstverständnisses. Neue wissenschaftliche Teildisziplinen wie die Zeitgeschichte, die Politikwissenschaft und die politisch-historische Bildung entstanden, um gerade die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu intensivieren und zugleich auf ein wissenschaftlich reflektiertes Niveau zu heben. Auch die strafrechtliche Auseinandersetzung schritt voran. Es kam eben trotz der von Frei diagnostizierten Tendenzen einer „Bewältigung der Bewältigung“ nicht zu jenem Schlußstrich, der im Zusammenhang mit dem notorischen „Gnadenfieber“ in den frühen fünfziger Jahren so vehement gefordert worden war. So sind in Deutschland bis in unsere Zeit hinein Zehntausende von Ermittlungsverfahren eingeleitet und viele tausend Strafverfahren gegen NS-Täter geführt worden. Man mag einwenden, dies sei im Vergleich zu den Dimensionen der Verbrechen wenig gewesen -andererseits zeigt sich bis heute immer wieder, wie schwer sich post-diktatorische Gesellschaften mit der Bewältigung ihrer Vergangenheit tun, wenn sie es denn überhaupt tun.

Und selbst in funktionierenden, gar als normsetzend empfundenen Demokratien müssen manche Erinnerungsmale -zumindest im Verständnis der Opfer -nach wie vor äußerst befremdlich erscheinen: erinnern sie doch in heroischer, d. h. letztlich in verherrlichender Weise an das, was das Völker-recht als Kriegsverbrechen bezeichnet. So in den USA die Stätten zur Vorbereitung und Durchführung der Atombombenabwürfe auf die japanische Zivilbevölkerung; in London das Denkmal für „Bomber-Harris“, den Verantwortlichen für den Tod Hunderttausender „Nichtkombattanten“, also Frauen, Kinder, Alte, sowie die nicht militärisch bedingte vollständige Zerstörung zahlloser deutscher Städte, zumal in den letzten Kriegsmonaten.

Für Deutschland gilt: Große Komplexe nationalsozialistischer Gewaltverbrechen sind erst durch systematisch vorbereitete Strafprozesse, wie den Auschwitz-Prozeß, von Staatsanwälten erforscht worden, unter Beteiligung von Zeithistorikern. Diese Gerichtsverfahren zeitigten öffentliche Wirkungen ebenso wie die historisch-politische Bildung. Dies zeigte sich deutlich in den Verjährungsdebatten der Jahre 1965, 1969 und 1979. Sie haben in einem ganz erheblichen Maße dazu beigetragen, daß das Bild der NS-Zeit in der deutschen Öffentlichkeit nicht in der Weise, wie man das gern behauptet hat, verzeichnet oder vergessen wurde. Diese Prozesse fanden einen breiten Niederschlag in der Publizistik, in der Literatur, in der Forschung und haben bewirken können, daß die Realität des Dritten Reiches nicht verleugnet oder verfälscht werden konnte. Zwar gibt es einige Versuche rechtsextremistischer Gruppen zur „Derealisierung der Vergangenheit“ -sie haben aber keinerlei Überzeugungskraft in der deutschen Gesellschaft entfaltet.

Dennoch ist der Streit um die Vergangenheit nicht beendet, wie immer wieder ausbrechende heftige Diskussionen über die Zeitgeschichte seit den siebziger Jahren zeigen. Er manifestierte sich in den achtziger Jahren in den Formen des Gedenkens, in Reden und Feiern, und verlagert sich seitdem zunehmend auf Denkmale und Gedenkstätten. Heute strebt Erinnerung geradezu nach Verdinglichung: Gedenktafeln, Straßennamen, Denkmale halten geschehenes Unrecht fest, provozieren zugleich aber auch Widerspruch. Obwohl sie der Erinnerung dienen sollen, scheinen sie nur aufs neue die These von der deutschen Neigung zur Flucht aus der Vergangenheit zu belegen. Diese Argumente sind nicht ohne Wirkung, aber auch nicht ohne Risiko, denn unbestreitbar ist, daß solche Kontroversen die Substanz des Gedenkens beschädigen, weil Erinnerungen immer häufiger in den Strudel politischer Auseinandersetzungen geraten. Verstärkt wird dieser Trend nicht nur durch den Zeitabstand, sondern auch durch die sozialen Probleme hierzulande und vor allem angesichts der sich immer wieder ereignenden Völkermorde in allen Teilen der Welt, die in der Gegenwart ebenfalls nach einer Bewältigung verlangen und deshalb die Beschäftigung mit der Vergangenheit unvermeidlich relativieren.

Beispiele belegen diesen Eindruck: Der Historikerstreit war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kaum abgeklungen, als 1994 der Streit um die Widerstandsgeschichte entbrannte und er in seinen geschichtspolitischen Frontstellungen zwei Jahre später fast noch einmal in der Goldhagen-Debatte wiederholt wurde. Bei der Bewertung dieser zeitgeschichtlichen Kontroversen darf es nicht allein um die wissenschaftlichen und politisch-pädagogischen Bezugspunkte dieser Debatte gehen, etwa um die Kontroversen, die eine Beschwörung des Endes der Nachkriegszeit nach sich zieht. Im Kern der Debatte ging es vielmehr um die generelle Unterstellung, weite Teile der deutschen Gesellschaft seien geschichtsvergessen und in jedem Fall seien sie an einer Verdrängung zeit-historischer Erfahrungen interessiert.

Diese Thesen spiegeln bestenfalls subjektive Einschätzungen, zumeist aber ein Interesse an Des-information, nicht jedoch die Bemühung um Tatsachen. Denn in keinem anderen Land haben sich so große Teile der Bevölkerung so ernsthaft, so kontrovers und letztlich auch so intensiv um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bemüht und dem Vergessen und Verdrängen widersetzt. Wer schließlich die gegenwärtigen Kontroversen über die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte verfolgt, kann nur Respekt vor der Rigidität mancher Schuld-und Verantwortungsdiskussionen im Deutschland der fünfziger und sechziger Jahre empfinden.

Die zeithistorische Aufklärungsarbeit begann bereits in den fünfziger Jahren, als Bücher wie jene über die „Weiße Rose“, das „Tagebuch der Anne Frank“, aber auch Margaret Boveris mehrbändige Studie über den „Verrat im 20. Jahrhundert“ hohe Auflagen erlebten, ganz zu schweigen von der Dokumentensammlung über den Nationalsozialismus von Walther Hofer. Auch zeitgeschichtliche Spielfilme belegten ein Interesse an der Vergangenheit, das sich gegen die Neigung der „moralisch Anspruchslosen“ (Theodor Heuss) richtete, die Vergangenheit zu verdrängen. Obwohl viele Deutsche den Schlußstrich forderten, wurde er nicht gezogen -im Gegenteil: An wichtigen Orten deutscher Zeitgeschichte entstanden seit den späten fünfziger Jahren die ersten Gedenkstätten. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des NS-Staates ist deshalb nicht zu bezweifeln: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist ein wichtiger Bestandteil der deutschen politischen Nachkriegs-kultur geworden, und gerade Kontroversen haben die Grundstrukturen dieser Erinnerung, die geradezu eine „Erinnerungspolitik“ nach sich zog, gefestigt.

Die Kontroversen um die Deutung der deutschen Zeitgeschichte, die in den vergangenen zehn Jahren geführt worden sind, verraten so vor allem eines: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat immer auch eine politische Dimension. In ihr spiegeln sich politische Prämissen ebenso wie politisierende Absichten der Beteiligten. Wer behauptet, die Deutschen seien geschichtsvergessen, verfolgt damit ebenso ein politisches Ziel wie jener, der den Deutschen unterstellen will, sie seien ausschließlich Opfer ihres „Selbsthasses“ oder ließen sich am „Nasenring“ professioneller Vergangenheitsbewältiger herumführen Unbestreitbar ist dabei die Tatsache, daß die Deutung der Vergangenheit in einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft offensichtlich keinen allgemein akzeptierten „Sinn“ ergibt. Gerade deshalb mag es richtig sein, Gedenken auch bürgerschaftiich zu stärken, also im Zusammenhang mit Gedenkveranstaltungen Vertreter von Gruppen einzuladen, die von ihnen gewünschten Prozesse eines ihnen wichtigen Gedenkens zu initiieren. Deutlich wurde diese bürgerschaftlich organisierte Erinnerungsarbeit in der Vorbereitung der Planung des zentralen Mahnmals zur Erinnerung an den Völkermord an den Juden in Berlin. Zugleich wurden aber auch die Grenzen dieses Verfahrens deutlich, denn nicht selten kommt es zu Auseinandersetzungen um den „Erinnerungsproporz“: Interessengruppen artikulieren ausschließlich ihre Forderungen an das Gedenken, verlangen eigene Denkmale, kommen damit also genau jener Parzellierung der Gesamterinnerung entgegen, die sie vielfach wiederum „den Deutschen“ zugleich selber anlasten, wenn diese auch an eigene nationale Erinnerungsschichten und Ereignisse anknüpfen wollen.

Besonders deutlich wird diese Fragmentierung des Gedenkens derzeit in den Auseinandersetzungen um die Darstellung der Geschichte von Konzentrationslagern vor 1945 und ihrer Geschichte als Internierungslager nach der Befreiung vom Nationalsozialismus. Heftige Kontroversen belasten und beschädigen inzwischen das Bild von Sachsenhausen und Buchenwald, denn ehemalige Internierte können und wollen sich nicht damit abfinden, daß ihr Leiden und der Tod Tausender gering geachtet wird, zumal manche ihrer Kritiker sogar den Eindruck hervorrufen wollen, das Schicksal der Internierten sei verdient gewesen. Einen Ausweg böte der Versuch, KZ-und Lagergeschichte in den Zusammenhang der Geschichte von Diktaturen im 20. Jahrhundert zu rücken und aus der gemeinsamen menschenverachtenden Praxis von Nationalsozialismus und Kommunismus den Respekt vor der Würde des einzelnen Menschen abzuleiten -selbst dieser Ansatz gerät aber in die Kritik, weil er angeblich Unvergleichliches gleichzusetzen versucht. In der Tat übersteigt die Zahl der Opfer des Kommunismus unter Lenins und Stalins Herrschaft (von Mao ganz zu schweigen) bei weitem die des NS-Terrors, wie alle neueren Forschungen belegen. Und wer das Singuläre betont, kann dies erst nach einem Vergleich tun.

Die Vielfalt der Opferdimensionen zu betonen bedeutet deshalb durchaus nicht, einer Relativierung das Wort zu reden. Vielmehr soll sie als Aufforderung zur gegenseitigen Anerkennung von Leid und zur gegenseitigen Auseinandersetzung mit Leidenserfahrungen beitragen. Dies bedeutet aber unvermeidlich, daß sich der Bezugspunkt des Gedenkens ausweitet: Es kann nicht nur um einen einzigen Aspekt des Erinnerns gehen, denn dies würde bei all jenen, die auch ihre eigenen Leidenserfahrungen machen mußten und zu bewältigen hatten, wegen ihres Ausschlusses aus der „Gedenk-und Erinnerungskultur“ zu Blockaden ihrer Mitleidsempfindungen führen. Nur wenn die Gesamtheit der Leidensgeschichten respektiert, zumindest als Herausforderung für ein gemeinsames Erinnern begriffen wird, kann Gedenken wirklich auf eine breite Grundlage gestellt werden, in der sich auch die Bemühung um das Schicksal des anderen wiederfindet. Dies wäre die Voraussetzung für eine Erinnerung ohne Ausgrenzung bestimmter Leidensgeschichten, die sich unter dem Einfluß zweier Diktaturen ereigneten: der Umsiedlungen im Zuge „ethnischer Flurbereinigungen“, der Verschleppungen, der Vertreibungen, der willkürlichen Ausgrenzungen, Verfolgungen, Vernichtungen. Man nehme sich einmal vor, diesen Begriffen einzelne Lebensgeschichten zuzuordnen -dann würde sich aus der Verbindung von Leidenserfahrungen eine Möglichkeit der Vergleichbarkeit und damit des Mitfühlens über die Grenzen von Ethnien oder politischen Orientierungen hinweg ergeben. Ist dies nicht die einzige Möglichkeit, die Isolierung, die Konzentration auf die jeweils eigene Gruppe oder Ethnie zu überwinden, die viele Tragödien unseres Jahrhunderts mit zu erklären vermag -bis hin zu Jugoslawien, der zerfallenen Sowjetunion, Asien und Afrika?

Vielleicht hat man in den fünfziger und sechziger Jahren zu wenig respektiert, daß es verhängnisvoll ist, die Leidenserfahrungen einzelner großer Bevölkerungsgruppen voneinander zu trennen, um sich nicht dem Vorwurf der Relativierung auszusetzen. Der Blick auf die Gleichzeitigkeit eines jeweils ganz spezifischen Leidens hätte es jedoch auch erleichtert, die Erscheinungsformen des Totalitarismus unseres Jahrhunderts im Spiegel der Leidenserfahrungen zu konkretisieren. Denn zur Geschichte unserer Zeit gehören die Millionen politischer Gefangener im Gulag ebenso wie der deutsche und der sowjetische Kriegsgefangene, der Vertriebene und Flüchtling ebenso wie der Emigrant, der ermordete Geisteskranke und seine Angehörigen ebenso wie die von Einsatzgruppen ermordeten Sinti und Roma oder die Millionen in den Vernichtungslagern vergasten Juden. Bei all diesen kaum vorstellbaren Verbrechen gab es -gleichzeitig oder im nachhinein -nicht nur Täter und Opfer, sondern auch immer wieder Opfer, die zu Tätern, und Tater, die zu Opfern wurden. Zwischen 1939 und 1952 hat man etwa 54 Millionen Vertriebene gezählt: Deportierte, Umgesiedelte, Vertriebene und Verschleppte. Zu ihnen gehörten Angehörige osteuropäischer Völker, Juden und Deutsche, evakuierte Bombenopfer und Verfolgte. So haben Menschen trotz ihres gemeinsamen Schicksals in dem Moment Gedenken verweigert, in dem ihr eigenes Leiden nicht ernst genommen, die Erinnerung daran ihnen verwehrt wurde. Es mag an dieser Vielfalt der Ursachen von Leid liegen, daß sich nicht nur die Geschichte, sondern auch die Erinnerung an ihre Opfer nur schwer für eine kollektive Sinnstiftung nutzen läßt.

III.

Diese Geschichte ist im 20. Jahrhundert besonders vielfältig, gegensätzlich und widersprüchlich gewesen. Sie läßt sich weder, wie im 18. und 19. Jahrhundert, durch einen allgemeinen Prozeß -etwa die Durchsetzung des Rechtsstaates, der Gewaltenteilung, der Menschenrechte oder des Parlamentarismus -charakterisieren, noch durch eine allgemeine Tendenz mit dem Fortschrittsgedanken in Verbindung bringen. Das 20. Jahrhundert war vor allem durch den Gegensatz von Diktaturen und Demokratien bestimmt. Am Ende dieser Konfliktgeschichte behauptete sich der freiheitliche Verfassungsstaat. Kennzeichen der Diktaturen war es, die bestehende Wirklichkeit in Übereinstimmung mit einem geschichtsphilosophischen oder ideologisch begründeten Ziel zu bringen und sie mit allen möglichen Mitteln zu verändern: Geschichte sollte gemacht, das utopische Ziel der Geschichte gewaltsam realisiert werden, ohne Rücksicht auf die Menschen.

Unvorstellbare Leiden waren die Folge. Denn Klassen und Schichten wurden zerstört, große Bevölkerungsgruppen vernichtet oder vertrieben. Sie wurden wegen ihrer Herkunft, ihrer Sprache und ihres Glaubens verfolgt, und nicht selten übernahmen demokratische Regierungen Forderungen der Diktaturen, wie im Herbst 1938 im Zuge des Münchener Abkommens. Wenige Wochen später forcierte die deutsche Regierung die Verdrängung der deutschen Juden aus dem Wirtschaftsleben, bereitete ihre systematische Vertreibung aus Deutschland vor und war entschlossen, den gewollten Krieg auch für rassenpolitische Ziele zu nutzen. Die Ermordung Geisteskranker, die Vernichtung von Menschen, die nur als „nutzlose Esser“ galten, bot die Vorahnung eines systematisch betriebenen Massenmordes durch Einsatzgruppen, in Ghettos und Tötungsfabriken. Der Völkermord richtete sich vor allem gegen Juden, gegen Sinti und Roma, machte aber auch vor anderen Menschen nicht halt, die in Osteuropa lebten und bald nur als slawische Untermenschen galten. So wurden mehr als drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene dem Tod preisgegeben.

Zur Geschichte des Leidens gehört auch die zwangsweise Umsiedlung Deutschstämmiger in der Sowjetunion durch Stalin, die Vertreibung von Polen aus dem zwischen Stalin und Hitler aufgeteilten Polen, aber auch von Deutschen aus ihren jahrhundertelang besiedelten Gebieten in Ostmitteleuropa. Diese Leidensgeschichte setzte sich vielfach auch nach 1945 fort und ging in die Geschichte der Vertreibung und der Massenflucht über, die sich schließlich mit der Leidensgeschichte verband, die Folge der deutschen Teilung war.

Wenn nicht zu bezweifeln ist, daß das 20. Jahrhundert durch eine unermeßliche Zahl von Leidenserfahrungen geprägt ist, die alles bis dahin in der menschlichen Entwicklung für möglich Gehaltene in den Schatten stellten, dann muß nach Erklärungen des Scheiterns jener Zivilisation gefragt werden, die sich selbst durch Begriffe bzw. Werte wie „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ charakterisierte und dennoch immer wieder Prinzipien mitmenschlicher Solidarität verletzte. Im Gedenken sollte man deshalb nicht nur nach moralischer Selbstvergewisserung, sondern nach einer Erklärung für die Tatsache suchen, daß Aufklärung, Industrialisierung und Demokratisierung die Grundlagen einer zivilisierten Gesellschaft und internationalen Gemeinschaft keineswegs sicherten.

Nur wenn es gelingt, im gemeinsamen Gedenken die Trennung der. Erinnerungen an Völkermord und Kriegselend, an Massenvertreibungen und Kriegsgefangenschaft, an politische Verfolgungen durch diktatorische Regime und an die Teilung Europas, an ethnich begründete Ausrottungsversuche, die sich vor und nach 1945 bis in unsere unmittelbare Gegenwart hinein aus Nationalitätenkonflikten und Volksgruppenkämpfen entwikkelt haben, zu überwinden, dann besteht eine Chance, im gemeinsamen Respekt auch der Leidenserfahrungen anderer zu gedenken. Es geht nicht nur um die deutsche Geschichte, sondern um die Brüchigkeit unserer Zivilisation, die wir täglich aufs neue erfahren. Es geht auch um die Erinnerung an Kolonialkriege, an Bürgerkriege und soziale Unterdrückungen, an die langfristigen Folgen wirtschaftlicher Ausbeutung -sei es durch die Kolonialreiche, sei es durch Führungsschichten, sei es durch Bürgerkriegsarmeen. Auch die Folgen dieses Leidens sollten bedacht und in den „Blick zurück“ integriert werden, ohne daß dabei die konkrete Verantwortung der later für ihre Verbrechen in der allgemeinen Katastrophengeschichte unterginge.

IV.

In Deutschland ist die Deutung der Vergangenheit nach 1945 stets besonders umstritten gewesen. Dies hing zum einen mit der deutschen Teilungzusammen, die zwei ganz unterschiedliche Traditionen entstehen ließ. Vor allem aber zeigte sich, daß die zeitgeschichtliche Erfahrung der Deutschen ganz unterschiedliche Bezugspunkte hatte, die sich lange Zeit durch einen einzigen Gedenkanlaß nicht verbinden ließen. Dementsprechend vielfältig waren deshalb auch die Anlässe des Gedenkens. Deutlich wurde dies anläßlich des 50. Jahrestages des „Kriegsendes“. Keine historische Zäsur hat die Deutschen unseres Jahrhunderts intensiver beschäftigt als das Jahr 1945. Denn kein Epocheneinschnitt hat sie in den vergangenen drei Jahrhunderten, seit dem Westfälischen Frieden, in ihren ganz persönlichen Lebensverhältnissen tiefer beeinflußt und geprägt als gerade dieses Jahr. Es verkörpert so nicht nur eine weltgeschichtliche Zäsur, sondern fast immer einen tiefen persönlichen Lebenseinschnitt.

Das Jahr 1945 wird so unausweichlich zum Synonym für einen noch in Jahrzehnten spürbaren und deshalb als absolut empfundenen Tiefpunkt, aber auch Wendepunkt deutscher Geschichte. Lebensgeschichte und Politik gingen eine unauflösliche Verbindung ein. Diese Doppelung der Empfindungen prägt die Erinnerung an dieses Datum und wird zur Herausforderung für das Gedenken. Denn dieses muß die Vielfältigkeit der Schicksale, die Gleichzeitigkeit widersprüchlichster Stimmungen, Ängste, Hoffnungen zum Ausdruck bringen. Die Befreiung der Konzentrationslager, die Rettung der Häftlinge, die zu Todesmärschen gezwungen und so dem Tod preisgegeben wurden, steht neben der Erinnerung an neuerliches gewaltsames Sterben, an Vergewaltigungen, an Gefangenschaft und Verschleppung, an Internierung und Vertreibung. Historisch bedeutete die Kapitulation die Befreiung von der nationalsozialistischen Terror-herrschaft und damit von einer schrecklichen Zukunft, aber zugleich auch die Teilung des Landes, den Verlust der Ostgebiete und damit den Verlust einer vielhundertjährigen Kultur und Zivilisation.

Während in den Westzonen bis 1948 die Grundlage für einen parlamentarischen Verfassungsstaat geschaffen worden war, unterstützte die sowjetische Militäradministration den Aufbau einer Parteidiktatur. Millionen Deutsche flüchteten in den folgenden Jahren in den Westen -die Wunde der Teilung ging tief und vernarbte nur langsam. Die Deutschen konnten sie nur akzeptieren, weil sie die Teilung ihres Landes als Konsequenz eines Krieges deuteten, der von deutscher Seite entfesselt worden war und im Völkermord an den Juden kulminierte, als dessen Symbol „Auschwitz“ gilt.

Vor dem Leiden der Juden relativierte sich jeder andere Schrecken des Krieges.

Das Jahr 1945 war aber nicht nur eine Zäsur deutscher Zeitgeschichte, sondern zugleich ein tiefer Einschnitt für die Geschichte Europas, denn dieses Jahr markierte den unwiderruflichen Untergang einer Ordnung, die tief in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit verwurzelt war: Ostmitteleuropa wurde seitdem nicht mehr als Zwischeneuropa empfunden, sondern als Teil des Ostblocks. Die Geschichte des osteuropäischen Judentums war durch den im Osten verübten Völkermord, die „Endlösung“, die durch deutsche Einsatzgruppen, durch Deportation und Ghettoisierung und durch die fabrik-mäßige Ermordung von Wehrlosen in den Vernichtungslagern verübt worden war, an ihr schreckliches Ende gekommen.

Auch andere Volksgruppen Europas, die noch im 19. Jahrhundert nebeneinander in einem Gemeinwesen zu leben vermochten, waren infolge einer menschenverachtenden Übersteigerung des Nationalismus vertrieben, aufgerieben und entwurzelt worden. Das Prinzip des Nationalstaates, das sich im 19. Jahrhundert entwickelt und zur Entstehung vieler Nationalstaaten geführt hatte, war pervertiert worden. Hatte bis dahin gegolten, daß die Größe „dieser einen Menschheit eben doch in ihrer Vielfalt bestünde“, so strebten die Nationen nun nach ihrer ethnischen Homogenität. Eine rettende Alternative wurde allerdings bereits in der Stunde des Niedergangs des „alten Europa“ sichtbar: die europäische Zusammenarbeit und Integration. Das Jahr 1945 wurde so zum Synonym für eine Tragödie, die mit der Geschichte der Nationalstaaten und des Nationalismus begonnen und durch den Nationalsozialismus ihren Kulminationspunkt erlebt hatte -aber auch eines Neubeginns, der sich in der Gründung der Vereinten Nationen verkörperte. Am Ende der Katastrophe -für Deutschland, für Europa und für die Welt -stand so ein neuer Anfang, obwohl der von Hitler begonnene Krieg am 8. Mai 1945 noch nicht beendet war. Vor dem Schweigen der Waffen standen noch unzählige Opfer im Fernen Osten und der Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die Auflösung des vertrauten, im 19. Jahrhundert entstandenen Internationalen Systems war auch im Fernen Osten spürbar und setzte sich in der Entkolonialisierung fort, die in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zur gleichzeitigen Ausweitung und Festigung des Sowjetimperiums stand. Am Ende dieser Dekolonisierung, die fürdie „Kolonien“ eine nationale Befreiung war, wurden Großbritannien und Frankreich immer mehr zu europäischen Mächten -die Sowjetunion und die USA stiegen zu Weltmächten auf. Alle Versuche, die Bedeutung der Zäsur von 1945 zu erfassen, können von diesen weltgeschichtlichen Voraussetzungen und Zusammenhängen nicht absehen.

Noch nach Jahrzehnten bleibt so die weltgeschichtliche wie lebensgeschichtliche Ambivalenz spürbar, die das Ende des Krieges bedeutete. Diese Ambivalenz ist nicht hinwegzureden und hinwegzudeuten, sie ist auszuhalten, denn sie ist real und hat ihren Grund in der Geschichte selbst, die sich niemals auf einen einzigen Strang historisch-politischer Erfahrungen oder auf eine einzige, allgemeine oder gar verbindliche Empfindung reduzieren läßt. Dies aber ist auch eine Funktion des Gedenkens und Erinnerns: eine derart ambivalente, d. h. mehr als vielschichtige Geschichte mit all ihren Brüchen aushaltbar zu machen. Um die Schwierigkeit einer Entscheidung für eine eindeutige Bewertung zu vermeiden, sprachen deshalb damals viele von der „Kapitulation“ oder von der „Stunde Null“ der deutschen Nachkriegsgeschichte, andere betonten eher den Beginn einer „Restauration“, während wiederum andere bekräftigten, das Jahr 1945 sei der Anfang einer Neuordnung, ein „Neubeginn“. Die hier angedeuteten Unterschiede einer Bewertung haben sich mit der Vereinigung Deutschlands keineswegs verändert.

Denn diese unterschiedlichen Bewertungen verstärkten sich im Zuge der Teilung Deutschlands und Europas, weil der sich schon bald abzeichnende Gegensatz zwischen den Systemen auf beiden Seiten auch historisch, durch den Rückgriff auf geschichtliche Legitimationsmuster, gerechtfertigt werden sollte. Durch die Überwindung der deutschen Teilung haben sich diese Schwierigkeiten historischer Bewertung nicht gelöst, sie sind vielleicht noch größer geworden, denn nun müssen ganz unterschiedliche Bewertungen der Vergangenheit miteinander in Einklang gebracht werden. Dies ist eine Herausforderung für die pluralistische Gesellschaft, die keine allgemein verbindliche Sicht der Vergangenheit schaffen kann.

Der fehlende bzw. nicht mögliche Konsens ist ohne Zweifel auch das Ergebnis der deutschen Geschichte selbst. Immer gab es „schwarze und weiße Stränge“ (Helga Grebing) politischer, gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung, die den Nachlebenden erlaubten, sich auf Teiltraditionen deutscher Geschichte zu beziehen. Manche dieser Teiltraditionen begründeten sich vor allem aus dem Anspruch, nicht mit dem „Irrweg der deutschen Nation“ (Alexander Abusch) verknüpft zu sein, der in die „deutsche Katastrophe“ (Friedrich Meinecke) mündete. Diese Katastrophe wurde auf vielfältige Weise beschrieben -als „Zivilisationsbruch“, als „Barbarei“ -und sie bleibt verbunden mit dem Vernichtungslager Auschwitz, dem Ausdruck des Völkermords an den Juden, dem „Menschheitsverbrechen“ im Sinne eines „Verbrechens an der Menschheit“ (Karl Jaspers).

V

Mehr als fünfzig Jahre nach dem Kriegsende ist der Blick aber heute vielleicht auch frei für die Zusammenhänge, die unabhängig von den tages-politisch motivierten Chiffren und Auseinandersetzungen gelten. Denn Gedenken kann auch, so scheint es, die Deutung der Geschichte zur Mode-erscheinung machen. Vergangenheit ist aber nicht nur der Anlaß für politische oder akademische Dispute. In ihr läßt sich auch die Substanz herausarbeiten, aus der die Gestaltung der Gegenwart erwächst. Vergangenheit bleibt ein Problem für jene, die sich an ihr eigenes Leiden, an den gewaltsamen Tod ihrer Angehörigen erinnern -und an jene Schuld, die nicht nur mit den fremden Taten, sondern für manchen bereits mit dem eigenen Überleben verbunden ist. Nicht selten wird die Erinnerung so zu einer Herausforderung für die Mitlebenden, und sie sind es, die die Auseinandersetzung mit der Erinnerung zu einem Problem machen können. Denn die Neigung, Gras über traumatisierende Erlebnisse wachsen zu lassen, ist oft übermächtig -nicht nur bei denjenigen, die Täter oder Zuschauer waren, sondern auch bei jenen, die wissen, daß Verdrängung nicht selten eine Überlebensvoraussetzung ist.

Nicht selten also fügt man mit der Erinnerung anderen Schmerzen zu, indem man Wunden nicht verheilen läßt. Immer geht es dabei um das Spannungsverhältnis zwischen Vergessenkönnen und Vergessendürfen auf der einen und der Notwendigkeit zur Erinnerung auf der anderen Seite. Erinnerung in diesem Sinne ist immer der Ausdruck einer Bemühung, spiegelt eine aktive Form der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sie ist die Voraussetzung des Gedenkens -denn nur was erinnert wird, kann Bezugspunkt des Gedenkens sein. Solches Gedenken -zumal wenn es öffentlich ist -sucht sich Anlässe: Symbole, Jahrestage, Orte. Aus dem Vergessen und Verdrängen aber folgt historische Orientierungslosigkeit. Man weiß dann oft nicht einmal mehr, aus welchen Ursprüngen sich Ordnungen entwickelt haben. Es war Polybios, der in seinem Bild vom Verfassungskreislauf auf die Bedeutung der Erinnerung für ein Gemeinwesen verwies. Wenn die Bürger einer guten politischen Ordnung das Bewußtsein von den Ursprüngen ihres Systems aus einer schlechten Ordnung verlören, dann sei der Boden für den Umschlag einer guten in eine schlechte Verfassungsordnung bereitet. Auch hier wird deutlich, daß keine Mechanismen der menschlichen Geschichte versagen, sondern die Menschen selber. Sie haben Verantwortung für ihr Zusammenleben, und sie verlieren die Chancen guter Lebensgestaltung durch den Verlust ihres Geschichtsbewußtseins.

Erinnerung ist kein Sonntagsgeschäft, denn auch die Geschichte der Menschen vollzog sich vor allem in ihrem Alltag. Wie aber, so ist zu fragen, soll man sich im Alltag an eigentlich unvorstellbare Ereignisse erinnern? Die Antwort ist einfach: im Vorübergehen, durch eine Vielfalt von Erinnerungsbezügen, die das Gedenken nicht monumental überhöhen und sich damit in die Abstraktheit entfernen. Ein Beispiel: Berlin-Mitte, Große Hamburger Straße: Das kleine Erinnerungsmai am Straßenrand zeigt Eltern und ihre Kinder samt ihrem Gepäck vor dem Transport. Hier haben sie gelebt... Es gibt in vielen Orten keine Anknüpfungspunkte mehr für die konkrete Erinnerung. Wenn wir uns aber nicht konkret erinnern, dann werden wir uns auch nicht mehr bewußt machen können, daß wir etwas verloren haben, Menschen, die mit uns gelebt und unsere eigene Identität mitbestimmt haben.

In der Tat lebt die Geschichte aus der Vergegenwärtigung des Konkreten, des gelebten Lebens. Dies macht ihre pragmatische Bedeutung, vielleicht auch ihre geschichtspolitische Brisanz und deshalb manchmal ihre Anstößigkeit aus. Manche Daten und Orte haben zweifellos ein eigenes Gewicht. Dazu gehören die Konzentrationslager, und in Berlin die Hinrichtungsstätte Plötzensee, die Wannsee-Villa, der Bendlerblock, die ehemalige Gestapo-Zentrale. Andere Orte des Gedenkens aber muß man schaffen durch Räume der Erinnerung -und Denkmäler. Vor allem Denkmäler bieten einen Anstoß für die Reflexion. Sie sind ein Stachel im Fleisch der Nachlebenden. Bei aller Eindeutigkeit aber sollten sie das Leid anderer nicht ausgrenzen. Deshalb haben Denkmäler die Vielfältigkeit des Schreckens zu spiegeln, ohne daß man sie deshalb dem Vorwurf der Relativierung aussetzen sollte.

Einem Denkmal kann man nicht ausweichen. Schon diese Unausweichlichkeit rechtfertigt es als eine besondere Konkretisierung des Gedenkens. Denkmäler erschließen das Zurückliegende in seiner politisch-kollektiven Bedeutung. Sie schlagen die Brücke zwischen den Lebensumständen des Individuums in seinem generationsübergreifenden Zusammenhang und dem Allgemeinen der Geschichte. So vermeiden sie, dem befremdlich Anmutenden, dem Schrecken in der eigenen Vergangenheit auszuweichen. Denkmäler stiften Zusammenhänge. Sie fordern Deutungs-, Erklärungs-und Übersetzungsleistungen von denen, die sich der Erinnerungs-Konzentration von Denkmälern aussetzen. So wird das Denkmal zum DenkMal, zum Zeichen des Fragens, vielleicht zum Anlaß für Antworten, zur Deutung von Vergangenheit über Generationen hinweg. Denkmäler wollen also anstößig sein, denn sie stoßen NachFragen an. Und diese betreffen die Vielfalt des Leidens im 20. Jahrhundert, bis in unsere Gegenwart hinein.

Denkmäler zur Erinnerung an die NS-Zeit konfrontieren mit der anderen Seite des Menschseins: mit unserer Fähigkeit zur Destruktivität. Sie eignen sich deshalb nicht zur oberflächlichen moralischen Erbauung oder gar zur Selbstrechtfertigung derjenigen, die diese Denkmäler errichten. Ein solches Denkmal ist immer auch eine Frage nach den wohl stets brüchigen oder gefährdeten Grundlagen unserer politischen Zivilisation: Viele Menschen, Abermillionen starben, weil sie von anderen zum Tode bestimmt waren. Sie konnten ermordet werden, nachdem sie ideologisch als Opfer „präpariert“ worden waren. Ihre Ermordung erschien den Verantwortlichen und den Tätern nicht nur als Auftrag zum Vollzug einer rassenpolitisch gedeuteten Geschichte, sondern geradezu als „historischer Auftrag“. Dies bedeutet aber auch, daß viele schuldig wurden, weil sie -verblendet oder bequem, phlegmatisch oder feige, gefühllos und ichbezogen -Schuldlose ausgrenzten, verfolgten, deportierten und schließlich zu ermorden halfen.

Denken, Gedenken, Denkmal -diese dreifache Dimension hat ein eigenes Gewicht und verträgt keine plakativen Fanfarenstöße des Erinnerns, des lauten Tons, der keineswegs hilfreich für eine gelungene Überwindung des Vergessens ist. Plakatives Bekennen wird leicht zum Ritual, führt aber nicht zu einer Anstrengung, die unmittelbare Konfrontation mit der Vergangenheit voraussetzt.

Merkwürdig bleibt, daß der politische Aspekt des Gedenkens kaum in ein dezidiert antitotalitäresBekenntnis oder in die Verpflichtung zu einer Politik aus den Prinzipien humaner Orientierung einmündet. Zum Politikum wird das Gedenken erst dann, wenn es um die Erinnerung im Zusammenhang mit der „Verarbeitung“ der Vergangenheit geht. Vielfach wird diese als „Bewältigung der Vergangenheit“ oder als „Schuldverarbeitung“ interpretiert und deshalb ebensooft angezweifelt. Nicht selten schreibt man der historischen Reflexion die Aufgabe zu, Vergangenheit bewältigen zu sollen -mit dem regelmäßig zu hörenden Gegen-einwand, Geschichte lasse sich nicht bewältigen im Sinne einer „Erledigung“, sie lasse sich bestenfalls aushalten. Gedenkstätten haben die Funktion, die Deutung der Vergangenheit offenzuhalten, gerade auch für Reflexionen über Schuld und Verantwortung -nicht nur für die Vergangenheit, die abgeschlossen ist, sondern auch für jene Geschichte, die noch nicht vorbei und die auf einen reflexiven Umgang mit ihr durch die Nachlebenden drängt. Gewiß: Die Verengung der Auseinandersetzung um die Zeitgeschichte auf den Schuldkomplex ist mehr als problematisch. Denn zeithistorischer Deutung kann es nicht um ein Bekenntnis zur Kollektivschuld gehen, sondern allein um die bewußte Wahrnehmung der Vergangenheit als Voraussetzung einer inneren Auseinandersetzung mit der Geschichte und insbesondere um die Reflexion der Verantwortung des einzelnen für historische Entwicklungen.

Die Folge von nachdiktatorischen Umbruchsituationen, in denen das Bedürfnis wächst, Gedenkstätten zu schaffen, ist ohne Zweifel aber auch die Proklamation eines neuen Geschichtsbildes oder Geschichtsbewußtseins, das helfen soll, aus dem Schatten der jüngsten Vergangenheit herauszutreten. Dieser Schatten ist schwer -und sein Gewicht zu erkennen verlangt wiederum mehr als nur ein Bekenntnis. Es geht um die Fragen nach der Verantwortlichkeit des einzelnen, von Gruppen und Schichten für die Entwicklungen, die ihre jeweils spezifischen Folgen hatten und bis in die Gegenwart hineinwirken.

Auch Anfang 1997 erinnern mich viele Beschwörungen der Vergangenheit an Verbrechen, die erst kürzlich tagtäglich vor unseren Augen geschahen: in Tusla, Srebenica, Sarajewo und an anderen Orten des Massenmords. Wieder gibt es Sieger und Besiegte, Verfolger und Verfolgte, Täter und Opfer, Militärs und Zivilisten, wieder gibt es die Furcht vor der Vielfalt der Ethnien und Kulturen, gibt es die Ablehnung des Reichtums der Traditionen und Gewohnheiten, gibt es die Flucht in die Armseligkeit der Gewalt. Wir sind Zeitgenossen des Leidens der Unbeteiligten und Kumpane eines Sicherheitsgefühls der moralisch Empörten. Niemals habe ich so gut verstanden wie in den letzten Jahren, warum Europa, warum seine Bewohner, warum die Augenzeugen des Schreckens vor 1945 versagt haben. Kein „Gott sei Dank, wir sind nicht so!“ hilft da weiter, sondern nur ein befreiendes Bekenntnis zum Versagen unserer Vorfahren im Bekenntnis zu unserem eigenen Versagen. Erst wenn wir uns bewußt machen könnten, daß wir offenbar immer unsere Vergangenheit in der Gegenwart verspielen, daß wir dadurch in der Zukunft ärmer werden, dann hätte unser Gedenken eine andere Dimension als nur ein ritualisiertes Erinnern an das Gestrige. Es kommt nicht darauf an, im Gedenken die Flamme zu bewahren -das wäre im Blick auf die Geschichte des Völkermords sogar makaber. Sondern es kommt darauf an, im Gedenken die Selbstverpflichtung zur Respektierung individueller Würde, der Menschenrechte, als eine persönliche und politische Aufgabe zu begreifen. „Wer einen Menschen rettet, der rettet eine Welt.“ Dieser Satz gehört zum geradezu eisernen Bestand unserer Sonntagsreden. Wir müssen lernen, diesen Satz einmal anders auszudrücken, denn er bedeutet auch: „Wer einen Menschen tötet, der läßt eine Welt untergehen!“ Ohne Wenn und Aber, ohne Korrekturmöglichkeit. Wir beschwören immer wieder unsere Verantwortung für die Bewahrung der Welt. Sie ist mehr als Umwelt. Sie ist auch das Miteinander der Menschen. Dieses ist fragil, gefährdet und nicht selten gefährlich -für den Mitmenschen, der als Opfer, als Objekt, als Gegenmensch „präpariert“ wird. Es gibt keinen Sinn, der in der europäischen Geschichte im Zeitalter der Diktaturen liegen könnte -so wenig, wie Auschwitz einen Sinn hatte. Mit dieser Sinnlosigkeit müssen wir zurechtkommen. Vielleicht hilft das Gedenken, die Sinnlosigkeit der Geschichte zu akzeptieren, aber den Blick freizumachen für den Sinn, den wir unserem Zusammenleben geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hermann Weber, Geschichte der DDR, München 1985, S. 8.

  2. Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik: Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 14.

  3. Vgl. Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung: Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München 1995.

  4. Vgl. Armin Mohler, Der Nasenring: Vergangenheitsbewältigung vor und nach dem Fall der Mauer, München 1991.

Weitere Inhalte

Peter Steinbach, Dr. phil., geb. 1948; 1982-1992 Professor für Historische und theoretische Grundlagen der Politik an der Universität Passau; seit 1983 wissenschaftlicher Leiter der ständigen Ausstellung „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ in Berlin, seit 1989 wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin; seit 1992 Professor für Historische Grundlagen der Politik an der Freien Universität Berlin und Leiter der Forschungsstelle Widerstandsgeschichte an der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Nationalsozialistische Gewaltverbrechen in der öffentlichen Auseinandersetzung der Nachkriegszeit, Berlin 1981; (Hrsg.) Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren, München 1984; (Hrsg. zus. mit J. Schmädeke) Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, München 19943; (zus. mit J. Tuchel) Lexikon des Widerstandes, München 1994; Lesebuch des Widerstands, München 1994; Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994; Widerstand im Widerstreit: Die Deutschen und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Paderborn 19962.