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Auf dem Weg in die postfamiliale Familie Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft | APuZ 29-30/1994 | bpb.de

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APuZ 29-30/1994 Auf dem Weg in die postfamiliale Familie Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft Die Stadt, das Individuum und das Verschwinden der Familie Wertewandel und Familie. Auf dem Weg zu „egoistischem“ oder „kooperativem“ Individualismus?

Auf dem Weg in die postfamiliale Familie Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft

Elisabeth Beck-Gemsheim

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Während in der vorindustriellen Gesellschaft die Familie vorwiegend Notgemeinschaft war, durch einen Zwang zu Solidarität zusammengehalten, tritt zur Gegenwart hin immer deutlicher die Logik individueller Lebensentwürfe hervor. Die Familie wird eher zur Wahlgemeinschaft, zum Verbund von Einzelpersonen, die ihre je eigenen Interessen, Erfahrungen, Lebenspläne einbringen, auch je eigenen Kontrollen, Risiken, Zwängen ausgesetzt sind. Wo man bisher auf eingespielte Regeln und Rituale zurückgreifen konnte, beginnt heute eine Inszenierung des Alltags, eine Akrobatik des Abstimmens und Ausbalancierens. Aus vielen Anstrengungen, Sehnsüchten, Versuchen, Irrtümern, aus gelungenen und manchmal mißlungenen Experimenten entsteht ein neues Spektrum des Privaten. Das heißt nicht, daß die traditionelle Familie verschwindet. Aber offensichtlich verliert sie das Monopol, das sie lange besaß. Ihre quantitative Bedeutung nimmt ab, neue Lebensformen kommen auf und breiten sich aus, die nicht auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art (z. B. ohne Trauschein oder ohne Kinder; Alleinerziehende, Fortsetzungsfamilien und Lebensabschnittsgefährten). Es entstehen mehr Zwischenformen und Nebenformen, Vorformen und Nachformen: Das sind die Konturen der „postfamilialen Familie“.

Prolog: Stationen einer kontroversen Diskussion

In den westlichen Industriegesellschaften der fünfziger und sechziger Jahre wurde das Hohelied der Familie gesungen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde sie im Grundgesetz verankert und unter den besonderen Schutz des Staates gestellt; im Alltag war sie das anerkannte und allgemein angestrebte Lebensmodell; der vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Theorie galt sie als notwendig für das Funktionieren von Staat und Gesellschaft. Dann aber kamen -in den späten sechziger, beginnenden siebziger Jahren -Studenten-und Frauen-bewegung, brachten den Aufstand gegen die traditionellen Strukturen. Die Familie wurde entlarvt als Ideologie und Gefängnis, als Ort alltäglicher Gewalt und Unterdrückung. Was, im Gegenzug, dann diejenigen auf den Plan rief, die zur „Verteidigung der bürgerlichen Familie“ antraten, sie als „Hafen in einer herzlosen Welt“ wiederentdeckten. Der „Krieg um die Familie“ war entbrannt. Jetzt war mit einem Mal auch nicht mehr klar, wer oder was Familie ausmacht: Welche Beziehungsformen sind als Familie zu bezeichnen, welche nicht? Welche sind normal, welche abweichend, welche sind der staatlichen Förderung würdig, welche sollen finanzielle Unterstützung erhalten?

Heute, im proklamierten Jahr der Familie, ist die Diskussionslage weiter verworren. Manche Wissenschaftler sehen massive Umbrüche, vielleicht gar das Ende der traditionellen Familie; andere wenden sich, gegen das, was sie das dauernde Krisengerede nennen, und halten dagegen: die Familie lebt, die Zukunft gehört der Familie; die dritten bewegen sich irgendwo dazwischen, sprechen vor­ zugsweise von Pluralisierungstendenzen -wobei, was die Debatte besonders reizvoll macht, sich alle Parteien auf empirische Daten, insbesondere auf demographische Statistiken, berufen.

Im folgenden werde ich mich zunächst mit zwei Deutungen befassen, die Kontinuität und Stabilität der Familie behaupten In der Auseinandersetzung mit ihnen will ich zeigen, daß die SchwarzWeiß-Alternativen „Ende oder Zukunft der Familie“ untauglich sind. Statt dessen muß man die vielen Grauzonen, nein besser: die vielen Bunt-töne dazwischen betrachten, die Vielzahl der Lebensformen, diesseits wie jenseits der traditionellen Familie, die sich heute in den Nischen des Privaten einnisten. Diese signalisieren -so der Grundgedanke, den ich in den darauffolgenden Abschnitten entwickle -mehr als nur Pluralisierung und Nebeneinander, mehr als nur Buntheit, zufällig durcheinandergewürfelt. Vielmehr wird hinter und in aller Buntheit doch eine historische Grundrichtung erkennbar: Ein Trend in Richtung Individualisierung setzt sich durch, kennzeichnet zunehmend auch das Binnenverhältnis der Familienmitglieder. Auf Stichworte gebracht: Aus Not-gemeinschaft wird Wahlverwandtschaft. Im Ergebnis löst sich die Familie nicht auf, aber sie gewinnt eine historisch neue Gestalt. Paradox zusammengefaßt: Die Konturen einer „postfamilialen Familie“ zeichnen sich ab.

L Die Konstruktion von Normalität

1. Vom Umgang mit Zahlen

In einer angesehenen Tageszeitung erschien vor kurzem ein Leitartikel zum Jahr der Familie. Die Überschrift, programmatisch gemeint, lautet „Die Familie ist kein Auslaufmodell“, und gleich der erste Satz nimmt diese Aussage auf: „Manchmal ist es der Normalfall, der den Beobachter verblüfft: 85 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 18 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland wachsen in vollständigen Familien, mit ihren leiblichen, in erster Ehe verheirateten Eltern auf.“

In der Tat, die Zahl überrascht. Deshalb lohnt es sich, sie genau anzuschauen: Wie kommt sie zustande? Was ist die Basis der Rechnung? Drei Bestandteile fallen ins Auge. Erstens: Die genannte Statistik macht die Kinder und Jugendlichen in so-genannten vollständigen Familien zum Bezugspunkt. Damit ist das Bild von vornherein verzerrt, weil es diejenigen ausschließt, die sich gegen Familie entscheiden. Es fehlen die Männer und Frauen, die gar nicht erst heiraten, und ebenso die, die kinderlos bleiben -also zwei Gruppen, die in den letzten Jahren deutlich angewachsen sind Zweitens: Nach Angaben der Autorin stammt die Statistik aus dem Jahr 1991. Tatsächlich aber umfaßt der untersuchte Zeitraum die Jahre von 1970 bis 1987 Und bereits innerhalb dieses Zeitraums, erst recht in den Jahren danach, hat sich ein deutlicher Wandel hin zu nichttraditionalen Lebensformen durchgesetzt. So ist seit 1970 der Anteil der nichtehelich geborenen Kinder kontinuierlich gestiegen und bei den ehelich geborenen Kindern hat sich kontinuierlich das Risiko erhöht, daß sie eine Eheauflösung der Eltern erleben Drittens: Demographische Statistiken, die familiale Lebensverhältnisse abbilden, sagen nichts darüber aus, wie gewollt oder ungewollt, freiwillig oder unfreiwillig die Menschen in diesen Lebensverhältnissen leben. Sie sagen damit auch nichts darüber aus, welche Dynamik sich hinter diesen Zahlen verbirgt. Deshalb muß auch nach der subjektiven Bedeutung der objektiven Daten gefragt werden. Dann wird relevant, was einschlägige familiensoziologische Untersuchungen praktisch durchgängig zeigen In vielen Partnerschaften werden teils offene, teils unterschwellige Auseinandersetzungen um häusliche Arbeitsteilung und den Lebensentwurf der Geschlechter geführt, wobei die traditionellen Arrangements noch immer überwiegen, aber gleichzeitig auf seiten der Frauen die Unzufriedenheit wächst. Kurz, unter der Oberfläche der Normalität wird ein erhebliches Konfliktpotential sichtbar.

Also: Ausblendung der nicht ins Normalitätsbild passenden Gruppen (der Ledigen, der Kinderlosen); Nichtberücksichtigung des zeitlichen Trends, der eine Abnahme der traditionellen Normalfamilie anzeigt (mehr nichteheliche Geburten, mehr Scheidungen); schließlich Nichtberücksichtigung des Konfliktpotentials, das in den sogenannten normalen Familien enthalten ist. Diesen drei Bestandteilen der Rechnung ist offensichtlich eines gemeinsam: Sie alle führen zu einem Bild, das die Kontinuitätsanteile betont und die des Wandels systematisch unterschätzt. Vorgeführt wird nicht Normalität, sondern Normalitätskonstruktion.

2. Umdefinition und Immunisierung

In einem Aufsatz mit dem Titel „Familie im Auflösungsprozeß?“ wendet sich der Familiensoziologe Laszlo Vascovics pointiert gegen Diagnosen, die Umbrüche im Bereich der Familie betonen. Er sieht hier nur längst bekanntes Krisengerede: „Krise und Auflösung der Familie wurden im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte immer wieder , festgestellt'und prognostiziert.“ Und gezielt setzt er dagegen: Die „Familie als Kern-oder Gattenfamilie hat ihre Dominanz bis in unsere Gegenwart erhalten... Im... postulierten , ganz nor-malen Chaos der Liebe zeichnen sich weiterhin ganz klare und dominante Muster der Partnerschaften ab, die... in den meisten Fällen zu einer ganz normalen Familie führen.“

Für die Einschätzung dieser Diagnose ist es wichtig, wie Vascovics die „ganz normale Familie“ definiert. Um es kurz zu machen: Er definiert praktisch alles hinein. Ob „mit oder ohne Trauschein, temporär oder lebenslänglich, einmalig oder sukzessiv“ -alles wird unterschiedslos unter den Begriff der Kernfamilie gefaßt. In diesem Bezugsrahmen werden auch die Alleinlebenden global als „partnerschaftsorientiert“ definiert, und zwar deshalb, weil sie nach Vascovics eine eheliche oder nichteheliche Partnerschaft nicht prinzipiell ausschließen, teilweise auch anstreben. Zu den nicht-ehelichen Partnerschaften heißt es, die meisten seien „zumindest auf eine mittelfristige Perspektive angelegt“. Und sollten diese Paare sich trennen, so kann man doch annehmen, „daß sie früher oder später mit einem anderen Partner eine nicht-eheliche Lebensgemeinschaft eingehen werden“. Zwar wird ein Geburtenrückgang verzeichnet, aber auch der ändert nichts an der ganz normalen Familie: „Elternschaft als Lebensziel ist ungebrochen bedeutsam bei jungen Frauen und Männern.“ Erst recht lassen Entwicklungen wie späte Elternschaft nichts Neues erkennen: „Warum sollte... die späte Elternschaft anders bewertet werden als die frühere, die kürzere Dauer anders als die längere Familienphase? Es liegt in der Natur der Sache: Eine Familie wird im Laufe der Lebensgeschichte irgenwann gegründet und irgendwann aufgelöst.“

Bei dieser Begriffswahl hat Vascovics zweifellos recht: Die ganz normale Familie lebt und gedeiht. Dies freilich vor allem dank einer Serie von Um-definitionen, in deren Verlauf das meiste systematisch beiseite geräumt wird, was bis vor kurzem den selbstverständlichen Kernbegriff von Ehe und Familie ausmachte (Trauschein, Verbindlichkeit, Dauer usw.). Wenn man alles wegläßt, was einen massiven Wandel signalisiert, dann gelangt man freilich zu dem Ergebnis, daß keiner stattgefunden hat. Es ist wie beim Wettlauf zwischen Hasen und Igel: Die ganz normale Familie ist immer schon da. Eine Widerlegung ist praktisch unmöglich, weil alles, was anders ausschaut, anders ausschauen könnte, einfach mit dazugezählt wird. Das ist, was man in der Wissenschaftstheorie als Immunisie­ rung bezeichnet: Erklärungen, die widerlegungsresistent sind, aber eben deshalb auch wenig aussagefähig.

Der Effekt ist, daß die zentralen Fragen systematisch ausgespart bleiben. Zum Beispiel: Es ist aus vorliegenden Untersuchungen durchaus bekannt, daß weiterhin die meisten Männer und Frauen Elternschaft als ein Lebensziel nennen. Interessant ist von daher die Frage: Warum wird in der jüngeren Generation dieses Ziel häufiger als früher nicht verwirklicht? Wo sind die Barrieren, die Widerstände? Oder haben andere Lebensziele heute mehr Anziehungskraft? -Ebenso ist kaum überraschend, daß die meisten Alleinstehenden nicht prinzipiell jede Partnerschaft ablehnen. Weitaus spannender ist: Warum leben sie in der Praxis allein? Welches sind hier die Widerstände bzw. konkurrierenden Ziele? -Gegen die Aussage, daß jede Familie irgendwann gegründet und irgendwann aufgelöst wird, ist wenig zu sagen. Sie ist ebenso richtig wie trivial. Aber durchaus nicht trivial ist: Wann wird die Familie gegründet, und vor allem auch, wie wird sie beendet, durch Tod oder durch Scheidung? Wie viele gründen noch eine Familie, wie viele lassen es bleiben, wie viele gründen mehrere Familien nacheinander?

Wenn man solche Fragen nicht stellt, statt dessen praktisch alle privaten Lebensformen unter dem Dach der „ganz normalen Familie“ versammelt (mit oder ohne Partner, mit oder ohne Trauschein, mit oder ohne Dauer, alles unterschiedslos), dann verschwimmen die Merkmale, die Konturen lösen sich auf. Ein Wandel? Ist qua Optik nicht vorgesehen, gerät deshalb auch nirgends ins Blickfeld. Die Diagnose steht vorgängig fest: „Nichts Neues unter der Sonne.“

II. Familie und Individualisierung: Stationen des historischen Wandels

Den Deutungen, die Kontinuität der Familie verkünden, soll im folgenden eine Perspektive gegenübergestellt werden, die bewußt die Anteile des Neuen ins Zentrum rückt. Und zwar wird, um das Neue greifbar zu machen, die Diskussion um Individualisierung zum Bezugsrahmen genommen. Damit wird der Blick zunächst einmal auf die historischen Veränderungen gelenkt, die sich im Lebenslauf des einzelnen ausmachen lassen. Individualisierung wird verstanden als ein historischer Prozeß, der den traditionellen Lebensrhythmus von Menschen -das, was Soziologen Normalbiographie nennen -zunehmend in Frage stellt, ja tendenziell auflöst. In der Folge müssen immer mehr Menschen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenbasteln -ohne den Kompaß fraglos vorgegebener Glaubenssätze, Werte und Regeln, dafür freilich im Netzwerk der institutionellen Kontrollen und Zwänge, die die Moderne kennzeichnen (Sozialstaat, Arbeitsmarkt, Bildungssystem usw.) Pointiert zusammengefaßt: Aus Normalbiographie wird Bastei-Biographie. Wenn man diese Diagnose auf den Bereich der Familie überträgt -was folgt dann daraus? Wie ist das Verhältnis von Familie und Individualisierung zu begreifen, und vor allem, was ist das Neue daran?

1. Zwang zur Solidarität

Es empfiehlt sich, zum Einstieg mit einem Blick auf die vorindustrielle Familie zu beginnen. Diese war, wie sozialhistorische Studien durchgängig zeigen, vor allem eine Arbeits-und Wirtschaftsgemeinschaft. Darin hatten Männer und Frauen, Alte und Junge einen je eigenen Platz und Aufgabenbereich. Aber gleichzeitig waren ihre Tätigkeiten eng aufeinander abgestimmt und bezogen, einem gemeinsamen Ziel unterstellt, nämlich dem Erhalt von Hof bzw. Handwerksbetrieb. Von daher waren die Familienmitglieder zumeist ähnlichen Erfahrungen und Bemühungen ausgesetzt (Rhythmus der Jahreszeiten, Ernte, Unwetter usw.), durch gemeinsame Anstrengungen verbunden. Es war also eine enge Gemeinschaft, in der freilich wenig Raum blieb für persönliche Neigungen, Gefühle, Motive. Nicht die Einzelperson zählte, sondern die gemeinsamen Zwecke und Ziele. In diesem Sinne war die vorindustrielle Familie eine „Notgemeinschaft“, durch einen „Zwang zur Solidarität“ zusammengehalten: „Familie, Haus-und Dorfgemeinschaft machten den Besitz erst zu produktiven Gütern, ließen die vielen Mühen nicht ganz zur Sisyphusarbeit werden, ermöglichten halbwegs Wohlergehen und Sozial-prestige und versprachen einige Sicherheit bei Not, Krankheit und im Alter. Ohne Einbindung in eine Familie, in Verwandtschaft und Dorfgemeinschaft war der Mensch nahezu ein Nichts, ein Ohnmächtiger und dazu noch ein sozial Degradierter... In diesem Geflecht von Abhängigkeiten standen die materiellen Interessen der eigenen Familie, des Hofes und des Dorfes im Vordergrund, nicht die Freiheit des einzelnen. Auf Gedeih und Verderb war jeder an diese Gemeinschaft gefesselt; sie war ihm Rettungsanker und Bleigewicht zugleich. “

Wie viele historische Dokumente bezeugen, waren auch damals die Familienmitglieder einander nicht nur in Zuneigung und Liebe verbunden, vielmehr gab es nicht selten Spannungen und Mißtrauen, auch Haß und Gewalt. Aber dennoch blieb als Grunderfahrung die der wechselseitigen Abhängigkeit; ihr hatten sich im Konfliktfall die persönlichen Wünsche wie Abneigungen unterzuordnen. Der Radius für individuelle Ausbruchsversuche war eng begrenzt. Eigene Wege zu gehen war (wenn überhaupt) nur möglich um den Preis hoher persönlicher Kosten. Man betrachte dazu folgendes historisches Beispiel einer Scheidung: „Anfang des 18. Jahrhunderts erschienen im Gebiet Seine! Marne in Frankreich vor dem zuständigen Kriegsgericht zwei Leute: Jean Plicque, Weinbauer in Villenoy, und Catherine Giradin, seine Frau. Sieben Monate vorher hatten sie wegen absoluter Unverträglichkeit mühsam eine Trennung von Tisch und Bett durchgesetzt. Jetzt kommen sie wieder und erklären, daß es für sie nicht nur besser, sondern vor allem , viel vorteilhafter und nützlicher sei, sich zusammenzutun, als getrennt zu bleiben‘. Die Einsicht dieses Paares ist typisch für sämtliche ländlichen und städtischen Wirtschaften: Mann und Frau waren aufeinander angewiesen, weil und solange es jenseits der familialen Gesamtarbeit keine Nahrungs-und Erwerbsmöglichkeiten gab. “

Mit der Industrialisierung kam der wesentliche historische Einschnitt: Die Familie verlor ihre Funktion als Arbeits-und Wirtschaftsgemeinschaft, statt dessen begann ein neues Verhältnis -das zwischen Arbeitsmarkt und Familie. In einer ersten Phase waren es vorwiegend die Männer, die einbezogen wurden in außerhäusliche Erwerbsarbeit. Für sie galten nun die Imperative der Leistungsgesellschaft, wo nicht mehr die Gemeinschaft zählte, sondern die Einzelperson. Die Frauen dagegen wurden zunächst einmal auf Heim, Haushalt und Kinder, auf den sich neu herausbildenden Raum des Privaten verwiesen (so jedenfalls das Leitbild des aufstrebenden Bürgertums, das in Rechtsprechung, Bildungswesen, Philosophie usw. institutionell abgesichert wurde). Im Rahmen dieses Ge-Schlechterverhältnisses, das vom Prinzip her auf eine „halbierte Moderne“ angelegt war, ergab sich eine neue Form der wechselseitigen Abhängigkeit: Die Frau wurde abhängig vom Verdienst des Mannes; er wiederum brauchte, um zu funktionieren und einsatzbereit zu sein, ihre alltägliche Hintergrundarbeit und Versorgung. Der Zwang zur Solidarität, der die vorindustrielle Familie kennzeichnete, setzte sich in modifizierter Form fort.

2. Der Sozialstaat und die Logik individueller Lebensentwürfe

Ein neues Stadium in der Geschichte von Familie und Individualisierung begann, als der Sozialstaat ansatzweise entwickelt und allmählich ausgebaut wurde, also gegen Ende des 19. Jahrhunderts und vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit dem Ziel, die Härten des Marktes abzupuffern, wurden schrittweise Sicherungsleistungen verschiedenster Art eingeführt (Altersrente, Unfall-und Krankenversicherung usw.). Um mehr soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, wurden für sozial schwächere Gruppen materielle Unterstützungen eingeführt (Sozialhilfe, Ausbildungsbeihilfe, Wohngeld, Bausparprämien usw.). Ein Ergebnis solcher Maßnahmen ist, daß der einzelne -auch dann, wenn er auf dem Arbeitsmarkt nicht oder nur eingeschränkt funktionsfähig ist -unabhängiger wird von der Familie, von Wohlwollen und persönlichen Gunstbeweisen. Wo kollektive Unterstützungsleistungen beginnen, wird ein Existenzminimum jenseits der Familie greifbar. Die einzelnen Familienmitglieder sind nicht mehr bedingungslos auf Einordnung und Unterordnung verwiesen, sie können im Konfliktfall auch ausweichen. Insgesamt wird die Logik individueller Lebensentwürfe gefördert, die Bindung an die Familie gelockert: „Insoweit der Staat Individuen zu Empfängern seiner Gaben macht und nicht die Familien, zu denen sie gehören, wird es wahrscheinlicher, daß Jugendliche mit Ausbildungsbeihilfen ihre Familien verlassen, daß größere Haushalte mehrerer Generationen sich aufspalten, daß erwerbstätige Verheiratete sich scheiden lassen. Indem der Staat ökonomische Restriktionen mindert, erhöht er individuelle Handlungschancen und individuelle Mobilität. Er erhöht damit aber auch die Wahrscheinlichkeit, daß sich der individuelle Lebenslauf aus kollektiven Kontexten herauslöst. “

3. Frauen: der Anspruch und Zwang zum „eigenen Leben“ beginnt

Einen weiteren wichtigen Einschnitt bringt der Wandel der weiblichen Normalbiographie, der ebenfalls gegen Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und sich vor allem ab den sechziger Jahren dieses Jahrhunderts in beschleunigtem Tempo fortsetzt. Um die Entwicklung aufs knappste zusammenzufassen Immer mehr Frauen werden durch Veränderungen in Bildung, Beruf, Familienzyklus, Rechtssystem usw. aus der Familienbindung zumindest teilweise herausgelöst; können immer weniger Versorgung über den Mann erwarten; werden -in freilich oft widersprüchlicher Form -auf Selbständigkeit und Selbstversorgung verwiesen. Das „subjektive Korrelat“ solcher Veränderungen ist, daß Frauen heute zunehmend Erwartungen, Wünsche, Lebenspläne entwickeln -ja entwickeln müssen -, die nicht mehr allein auf die Familie bezogen sind, sondern ebenso auf die eigene Person. Sie müssen, zunächst einmal im ökonomischen Sinn, ihre eigene Existenzsicherung planen, gegebenenfalls auch ohne den Mann. Sie können sich nicht mehr nur als „Anhängsel“ der Familie begreifen, sondern müssen sich zunehmend auch als Einzelperson verstehen mit entsprechend eigenen Interessen und Rechten, Zukunftsplänen und Wahlmöglichkeiten.

Im Ergebnis wird die Macht der Familie, vor allem die des Mannes, weiter beschränkt. Frauen sind heute nicht mehr, wie die meisten Frauen der Generationen zuvor, um der ökonomischen Existenzsicherung und des Sozialstatus willen auf Ehe verwiesen. Sie können -vielleicht nicht frei, aber doch freier als früher -entscheiden, ob sie heiraten oder allein bleiben wollen; und ob sie, wenn die Ehe nicht ihren Hoffnungen entspricht, gegebenenfalls lieber die Scheidung beantragen als dauernde Konflikte ertragen. Das heißt, auch in der weiblichen Normalbiographie setzt sich allmählich die Logik individueller Lebensentwürfe durch, der Zwang zur Solidarität wird weiter gebrochen.

Auf theoretischer Ebene wird diese Entwicklung inzwischen von der Frauenforschung aufgegriffen und thematisiert, womit neue Kategorien, Begriffe, Blickwinkel sich ausbilden. Wo die traditio-nelle Familiensoziologie Familie immer als Einheit begriff, Homogenität der Interessen und Lebenslagen unterstellte, wird im Gegenzug jetzt die Differenz der Geschlechter herausgearbeitet. Wo früher nur „die Familie“ ins Blickfeld geriet, werden jetzt Männer und Frauen sichtbar, die je unterschiedliche Erwartungen und Interessen mit Familie verbinden, unterschiedliche Chancen und Belastungen erfahren, kurz: innerhalb der Familie zeigen sich jetzt die Konturen spezifisch männlicher und spezifisch weiblicher Lebensverläufe.

III. Individualisierung und die Inszenierung des Alltags

Als Ergebnis der historischen Entwicklung tritt also ein Trend in Richtung Individualisierung hervor. Er kennzeichnet zunehmend auch das Binnen-verhältnis der Familienmitglieder, erzeugt dabei eine Dynamik eigener Art. Was sich nun abspielt, soll im folgenden an Beispielen analysiert werden. Vorweg auf ein Stichwort zusammengefaßt: eine „Inszenierung des Alltags“ setzt ein. Um die auseinanderstrebenden Einzelbiographien zusammen-zuhalten, wird immer mehr Abstimmung nötig. Familie wird auf vielen Ebenen zum alltäglichen „Balanceakt“ zum dauernden „Bastel“ -Projekt Die Folge ist, daß sich der Charakter des Familienalltags allmählich verändert. Wo man früher auf eingespielte Regeln und Muster zurückgreifen konnte, werden jetzt mehr und mehr Entscheidungen fällig. Immer mehr muß ausgehandelt, geplant, in eigener Regie hergestellt werden. Nicht zuletzt rücken auch Fragen der Ressourcenverteilung, der Gerechtigkeit zwischen den Familienmitgliedern ins Zentrum: Welche Belastungen sind wem zuzumuten? Wer hat welche Kosten zu tragen? Welche Ansprüche haben Vorrang, wessen Wünsche müssen zurückgestellt werden?

1. Divergierende Zeitrhythmen und Aufenthaltsorte

In der vorindustriellen Gesellschaft waren es die Anforderungen der familialen Arbeits-und Wirt-Schaftsgemeinschaft, die direkt den Ablauf des Alltags vorgäben. Da Hof oder Handwerksbetrieb den zentralen Ort des Geschehens darstellten, bewegten sich die Familienmitglieder meist innerhalb eines überschaubaren Radius. Da die Verteilung der anfallenden Aufgaben seit Generationen ein-geübt war, folgte sie einem vertrauten Rhythmus, war zeitlich eng abgestimmt und koordiniert.

Im krassen Gegensatz dazu steht der Ablauf des Familienalltags, der die hochindustrialisierten Gesellschaften kennzeichnet. Die meisten Männer sind außerhäuslich berufstätig, immer mehr Frauen sind es auch. Die Kinder gehen zur Schule, verbringen immer mehr Freizeit im Rahmen organisierter, wiederum außerhäuslicher Aktivitäten (z. B. Sportverein, Malkurs, Musikunterricht), in den neuen Formen der quer über die Stadt verteilten „verinselten Kindheit“ Der Alltag der Familienmitglieder findet also nicht mehr an einem gemeinsamen Ort statt, sondern ist auf ganz unterschiedliche geographische Punkte verteilt. Erst recht gibt es nicht mehr einen gemeinsamen zeitlichen Rhythmus, statt dessen die Vorgaben der verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen, die strukturierend in den Familienalltag eingreifen -also die Zeitregelungen von Kindergarten, Schule und Jugendorganisationen, die beruflichen Arbeitszeiten von Mann und Frau, die Öffnungszeiten der Geschäfte, die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel usw. Vor allem die Flexibilisierung der beruflichen Arbeitszeiten greift direkt in den Familienalltag ein, gibt zeitliche Bedingungen vor -und zwar immer mehr in wechselnden und unregelmäßigen Formen, die nicht den Anforderungen des Zusammenlebens (also Kontinuität, Stabilität, wechselseitige Abstimmbarkeit) entsprechen.

Heute haben nur noch 27 Prozent aller Arbeitnehmerinnen in der (alten) Bundesrepublik Deutschland »normale 6 Arbeitszeiten. Die anderen drei Viertel leisten Wochenend-oder Schichtarbeit, haben regelmäßige Überstunden oder „normale“ verlängerte Arbeitszeiten, sind von Kurzarbeit, Arbeit auf Abruf oder sonstigen Formen flexibler Arbeitszeitgestaltung betroffen, sind teilzeitbeschäftigt usw. Für viele Beschäftigte gelten mehrere dieser Merkmale (z. B. Wochenend-und Schichtarbeit) gleichzeitig. Die Ausnahme ist heute deijenige, der in seiner Lebensführung unserer Normalvorstellung entspricht: der jeden Tag morgens um sieben aus dem Haus geht und abends nach einem Achtstundentag nach Hause kommt, immer im gleichen Rhythmus Montag bis Freitag, Monat für Monat, Jahr für Jahr

Entsprechend schwierig wird es, die Fäden der verschiedenen Tagesabläufe noch zu verknüpfen. „Zusammenfügen, was auseinanderstrebt“ heißt die Devise. Familienalltag wird derart zum „Puzzle“ -freilich nicht Spiel. Immer wieder von neuem müssen die einzelnen Bestandteile, die zeitlichen und örtlichen Arrangements gesammelt, verglichen, abgestimmt werden. Dies belegen eindringlich die Ergebnisse einer detaillierten empiri• sehen Untersuchung Die Lebensbereiche der einzelnen Familienmitglieder mit ihren unterschiedlichen Rhythmen, Aufenthaltsorten und Anforderungsstrukturen passen nur selten von sich aus zusammen. Viel häufiger ergeben sich Unstimmigkeiten und in der Folge viele Versuche des Ausgleichens und Ausbalancierens. Ein aufeinander abgestimmter Alltag als Familie ist demnach eine „voraussetzungsvolle Leistung“ die einen Jongleur der Terminpläne, einen Familien-Koordinator verlangt. Es sind in der Regel die Frauen, die diese Leistung erbringen, unter erheblichem physischen und psychischen Aufwand, oft unter Einsatz ganzer Netze von Mithelferinnen (Oma, Au-pair-Mädchen, Tagesmutter usw.). So wird in wachsendem Maß Planen, Organisieren, Delegieren gefordert, Familie wird zum Kleinunternehmen: „Elemente von Rationalisierung und kalkulatorische Überlegungen ziehen in das Privatleben ein.“ Meine, deine, unsere Zeit wird zum Thema, der Kampf um eigene Zeit versus die Suche nach gemeinsamer Zeit. Nicht selten kommt es dabei zu Irritationen und widerstreitenden Ansprüchen, vor allem zwischen Männern und Frauen: Wer übernimmt was, wann und wie lange? Wessen Zeit-bedürfnisse gehen vor? Wer hat wann frei?

2. Freie Partnerwahl

Wenn in der vorindustriellen Gesellschaft ein Mann und eine Frau die Ehe eingingen, so gab es zwischen ihnen fast immer ein relativ breites Repertoire an Gemeinsamkeiten, an selbstverständlich geteilten Erfahrungen, Werthaltungen, Lebensweisen usw. Denn zum einen waren damals die Lebenswelten weit geschlossener als heute, und zum anderen war der Radius der Heiratsmöglichkeiten eng durch die Kriterien der Herkunft begrenzt (von Stand und Besitz bis zu ethnischer Zugehörigkeit und Religion). Demgegenüber ist die alltägliche Lebenswelt heute viel stärker durchmischt, Menschen aus unterschiedlichen Milieus, Schichten, Regionen begegnen einander -und manche von ihnen heiraten auch. Denn die früher vorhandenen Barrieren (von rechtlichen Restriktionen bis zum Widerstand des Familienverbandes) sind zwar nicht völlig verschwunden, aber sie sind doch weit weniger mächtig als , früher: Das Prinzip der freien Partnerwahl setzte sich durch. Deshalb sind diejenigen, die sich heute (mit oder ohne Trauschein) verbinden, qua Herkunft oft weiter voneinander entfernt. Oder wie es Peter L. Berger/Hansfried Kellner in einem klassisch gewordenen Aufsatz beschreiben: Kennzeichen der modernen Partnerwahl ist, daß zwei Fremde einander begegnen. „Die Ehe ist in unserer Gesellschaft ein dramatischer Vorgang, bei dem zwei Fremde aufeinander-treffen und sich neu definieren... (Dabei beinhaltet) der Begriff, Fremde'natürlich nicht, daß die Ehekandidaten aus stark unterschiedlichen Gesellschaftsschichten stammen -tatsächlich zeigen die SD. aten auf, daß das Gegenteil der Fall ist. Die Fremdheit beruht vielmehr auf der Tatsache, daß sie, anders als die Heiratskandidaten früher Gesellschaftsformationen, aus unterschiedlichen , face-toface'-Bereichen kommen... ‘

Die Ehebeziehung gewinnt damit neue Bedeutung, erfährt freilich auch neue Belastungen. Denn das, was die große Chance der persönlich gewählten Gemeinsamheit ist, die Schaffung einer gemeinsamen Welt jenseits der Vorgaben von Familie, Verwandtschaft und Sippe, fordert den beiden Beteiligten auch enorme Eigenleistungen ab. Im modernen Heiratssystem dürfen die Partner nicht nur, nein: sie müssen auch ihre Gemeinsamkeit selber entwerfen. „Früher waren Ehe und Familie fest in einem Netz von Beziehungen verankert, die sie mit der größeren Gemeinschaft verbanden... Es gab nur wenige Schranken zwischen der Welt der Einzelfamilie und der der größeren Gemeinschaft... Ein und dasselbe soziale Leben pulsierte durchs Haus, Straßen und Gemeinde... In unserer Gegenwartsgesellschaft hingegen konstituiert jede Familie ihre eigene segregierte Teilwelt... Diese Tatsache erfordert einen viel größeren Einsatz der Ehepartner. Ungleichfrüheren Zeiten, in denen die Gründung einer neuen Ehe nur einen Zuwachs an Differenzierung und Komplexität zu einer bereits bestehenden sozialen Welt bedeutete, finden sich die Ehepartner heute vor der oftmals schwierigen Aufgabe, sich ihre eigene private Welt, in der sie leben werden, selbst zu schaffen. “

3. Multikulturelle Familien

Dies gilt um so mehr für binationale bzw. bikulturelle Paare, wo die Beteiligten aus unterschiedlichen Ländern oder Kulturkreisen kommen. Solche Verbindungen hat es zwar auch in früheren Epochen gegeben, doch ist zur Gegenwart hin ihre Zahl deutlich gestiegen. Durch Arbeitsmigration, politische Umbrüche und politische Verfolgung, durch Freizeittourismus und Auslandsaufenthalte für Ausbildung und Beruf: Bereits jede achte Ehe, die heute in den alten Bundesländern geschlossen wird, ist eine gemischt-nationale Was Berger/Kellner als Kennzeichen der Ehe in der Moderne beschreiben, gilt hier in gesteigertem Maß: In gemischt-nationalen Ehen sind die Fremden „fremder und die Unterschiede der Sozialisationserfahrungen größer“

Nun müssen in jeder Ehe unterschiedliche Lebensweisen, Werte, Denkweisen, Kommunikationsformen, Rituale und Alltagsroutinen zu einer Ehe-und Familienwelt zusammengefügt werden. Im Fall der binationalen/bikulturellen Ehe heißt dies, die beiden Beteiligten müssen die „Konstruktion einer neuen interkulturellen Wirklichkeit“ leisten, eine „interkulturelle Lebenswelt“ bzw. „binationale Familienkultur“ schaffen. Sie bewegen sich in einem Raum, der kaum vorstrukturiert ist, da zwei unterschiedliche Welten Zusammentreffen. In dieser Situation, für die es weder eine Vorberei­ tung noch spezifische Regeln gibt, müssen die Partner ihre eigenen Arrangements entwickeln

Vieles, was sich sonst mehr bis minder selbstverständlich einspielt, ohne alle Fragen einfach geschieht, muß hier entschieden, abgewogen, ausgewählt werden: Wo wollen wir leben, in deinem Land oder in meinem, vielleicht auch in einem dritten, wo keiner den Heimvorteil hat? Wollen wir für immer hier bleiben oder später in dein Heimatland ziehen? Wer hat wo welche Chancen, wer muß wo welche Belastungen tragen, wer lebt wo ungeschützt, was Rechtsstatus, Arbeitsmarkt, Alterssicherung angeht? In welcher Sprache findet die Verständigung statt, in deiner oder in meiner, vielleicht auch in einer dritten, vielleicht je nach Gelegenheit wechselnd? Welche Feste und Feiertage wollen wir feiern, wie halten wir s mit Familienbesuchen und dem weitverzweigten Familienverband, wie mit der Arbeitsteilung in der Familie? Mit welchen Erziehungsnormen sollen die Kinder aufwachsen, wollen wir sie in deiner Religion erziehen oder in meiner, mit deiner Sprache oder mit meiner? Welche Vornamen wollen wir wählen, an welche Herkunft wollen wir damit erinnern?

Für all diese Entscheidungen gibt es, wie gesagt, keine Vorbilder. Jedes Paar geht seinen eigenen Weg, sucht seine eigenen Formen. Ob sie sich dazu entschließen, ganz der einen Kulturtradition zu folgen oder ganz der anderen; ob sie Mischformen suchen, Elemente aus beiden Traditionen zusammenmixen; ob sie mehrfach probieren, vielleicht auch flexibel wechseln -dies alles hängt ab von der persönlichen Lebensgeschichte, dem gegenwärtigen Aufenthaltsort und den zukünftigen Plänen, auch von den kulturellen Präferenzen und Diskriminierungen der jeweiligen Umwelt. So lebt jedes binationale Paar seine eigene Geschichte, seine ganz eigene Version der binationalen Familienkultur.

Nicht zuletzt hat auch jeder der beiden Partner seine je eigene Geschichte. Wer aus einem anderen Land kommt, ist hier der/die „Fremde“. Je nach Herkunftsland und Biographie hat er vielleicht Armut und Hunger erlebt, vielleicht Flucht, Verfolgung und Folter, kurz: er ist durch ganz andere Erfahrungen und Ängste gegangen als die Menschen seiner neuen Umgebung. Er/sie lebt (mehr bis minder weitgehend) abgeschnitten von seinen eigenen kulturellen Wurzeln, seiner Sozialisationsgeschichte, seiner Sprache. Er/sie lebt (wenn Ausdrucksweisen, Gebärden, äußere Erscheinung auffallen) mit dem Stigma des „Anderen“ Er/sie erfährt demütigende Behandlung und Mißtrauen von seiten der Gerichte und Ämter, auch bei Vermietern und Arbeitgebern. Er/sie lebt ungeschützt, wenn der rechtliche Status unsicher ist, Entzug der Arbeitserlaubnis, vielleicht gar Abschiebung drohen. Von all dem bleibt der deutsche Partner zwar nicht unberührt, aber er ist dennoch in der vergleichsweise sicheren Position, indirekter betroffen, kann sich auch eher zur Wehr setzen. Dabei ist durchaus offen, was Angriffe von außen für die Dynamik der Paarbeziehung bedeuten -sie mögen das eine Paar in die Zerreißprobe treiben, das andere um so stärker verbinden. Aber davon unabhängig gilt, daß das Verhältnis innerhalb der Paarbeziehung, strukturell gesehen, ein typisches Gefälle aufweist: Der eine ist mehr ausgesetzt als der andere. Dadurch entstehen unterschiedliche Lebenslagen zwischen den Partnern. Ein Un-gleichgewicht -mehr bis minder ausgeprägt -der Chancen und Gefährdungen besteht.

Schließlich bringt die binationale/bikulturelle Ehe für die beiden Beteiligten auch eine Konfrontation mit ihrer je eigenen Herkunft, bis hin zu einem paradoxen Effekt: Wer in der Beziehung zum ausländischen Partner auch den Reiz des „Anderen“ suchte, entdeckt mit einem Mal die „deutschen“ Anteile im eigenen Ich. „Man erlebt, wie tief das eigene Wertsystem verankert ist, ja, man erlebt es in mancher Hinsicht zum ersten Mal.“ Insbesondere der Blick auf die Zukunft der Kinder läßt Erinnerungen aufsteigen, bringt eine Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Sozialisation und Geschichte, mit den eigenen Wertvorstellungen und Wünschen -mit der eigenen Identität. Im Verlauf der binationalen Ehe stellt sich die Frage „Wer bin ich, was will ich?“ neu, führt zu Entscheidungen der Art: Was will ich bewahren, was kann ich aufgeben, was ist mir wichtig?

4. Scheidung und Scheidungsfolgen

Im Lauf des 20. Jahrhunderts ist die Zahl der Scheidungen drastisch gestiegen. Nach einschlägigen Schätzungen wird in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig fast jede dritte Ehe geschieden, in den USA jede zweite und in wach-sender Zahl sind auch Kinder betroffen. Eine deutsche Untersuchung, die 1960 geborene Kinder mit 1980 geborenen Kindern vergleicht, kommt zu folgendem Ergebnis: „In den zwanzig Jahren hat sich das Risiko, im Kindesalter von einer Ehelösung der Eltern betroffen zu werden, mehr als verdreifacht.“

Wo das Ereignis Scheidung eintritt, entwickeln sich die Lebenslagen -von Männern und Frauen, Eltern und Kindern -in unterschiedliche Richtungen. Zunächst einmal im direkt geographischen Sinn: Einer zieht aus (fast immer der Mann), in eine andere Wohnung, vielleicht auch in eine andere Stadt (um einen neuen Anfang zu machen). Zurück bleiben Frauen und Kinder, aber in der Folge ziehen nicht selten auch sie um (in eine billigere Wohnung, in die Nähe der Großeltern usw.), das heißt dann Wechsel der Umgebung, der Schule, der Nachbarn. Erst recht entstehen neue ökonomische Lagen, in der Regel ein Einkommensgefälle, im Ausmaß differierend je nach den rechtlichen Regelungen der jeweiligen Länder: In den USA sinkt der Lebensstandard von Frauen und Kindern drastisch ab, dagegen kann sich der der Männer nicht selten verbessern (weil sie oft keinen Unterhalt zahlen) In Deutschland herrscht eher eine Umverteilung des Mangels, auch die Männer haben meist finanzielle Einbußen zu tragen, aber auch hier sind Frauen und Kinder meist deutlich schlechter gestellt

Darüber hinaus wird nach der Scheidung auch eine neue Alltagsorganisation nötig. Sie muß ausgehandelt, nicht selten erkämpft werden zwischen denen, die vorher ein Paar waren: Wer bekommt die Wohnung, welche Teile des Hausrats, welche Erinnerungsstücke? Wieviel Unterhalt muß gezahlt werden für wen? Und vor allem, wer bekommt die Kinder, wie soll das Sorgerecht aussehen? Mann versus Frau: Ansprüche und Forderungen werden geltend gemacht, Rechte und Pflichten umverteilt. Neue Vereinbarungen werden gesucht, oft auch erstritten. Statt gemeinsamen Alltags und gemeinsamer Wohnung nun Separatzeiten, Besuchsregelungen genannt, für den Vater. Wann darf er kommen, wie lange? Wieviel Kind steht ihm zu an Wochenenden, Feiertagen und Ferien? Und im Extremfall holt man/frau sich das Kind mit Gewalt: Auch die Zahl der Kindesentführungen steigt.

Familientherapeuten, Scheidungsanwälte und Richter erleben tagtäglich, wie in der Nach-Scheidungs-Phase zwischen Expartnern Verletzung und Bitterkeit, Wut und Haß eskalieren. Aber auch wenn das Trennungsgeschehen vernünftig und friedlich verläuft, wird durch den Akt der Scheidung unweigerlich ein neues Verhältnis zwischen Mann, Frau und Kindern konstituiert. Viel deutlicher als zuvor stehen sich jetzt Einzelpersonen gegenüber, wollen je eigene Interessen und Lebenswege, Wünsche und Rechte behaupten. Die Expartner haben nicht nur differierende Zukunftsvorstellungen, sondern auch differierende Bilder von der früheren gemeinsamen Zeit, vielfach auch differierende Schuldzuweisungen und Wahmehmungsmuster (er hat schon immer mit anderen Frauen geflirtet, sie hat immer das Geld rausgeworfen).

Dazwischen stehen die Kinder Sie haben in dieser Situation ihre eigenen Wünsche: Wie Untersuchungen zeigen, hoffen die meisten, daß die Eltern sich wieder versöhnen. Aber vergeblich -die Eltern gehen ihren eigenen Weg, auch gegen die Wünsche der Kinder. Diese müssen nun lernen, mit gespaltenen Loyalitäten zu leben. Wo Kämpfe ausgefochten werden um ihren Verbleib, werden vor Gericht auch die Kinder befragt, ob sie bei der Mutter oder beim Vater leben wollen; wie behutsam auch immer man vorgeht, hier wird dem Kind eine Aussage gegen den einen oder anderen abverlangt (und in den weniger behutsamen Fällen erlebt das Kind direkte Beeinflussungsversuche und Manöver der Eltern). Wo Besuchsregelungen durchgesetzt werden, aber die Expartner von ihren Verletzungen nicht loslassen können, werden die Kinder in den Nach-Scheidungskampf einbezogen, werden ausgehorcht über den Lebensstil und den Neuen/die Neue des Partners, mit Verwöhnung bestochen, als Informationsträger zwischen den feindlichen Fronten benutzt. Hinzu kommen weitere Trennungsereignisse: In einigen Familien werden die Kinder aufgeteilt zwischen den Eltern, also auch die Geschwister auseinanderdividiert. Weitaus häufiger bricht nach der Scheidung die Beziehung zum Vater schnell ab, er verschwindet aus dem Gesichtskreis der Kinder. Auch die Bezie-hung zu den Großeltern väterlicherseits wird dünner, gestaltet sich schwierig, wird von der Mutter zum Teil auch bewußt unterbunden, um alle Bezüge zum Vater zu tilgen

Umstritten ist, was solche Ereignisse für die heranwachsenden Kinder bedeuten. Nach manchen wissenschaftlichen Untersuchungen sind Kinder empfindlich und verletzlich, tragen oft lebenslange Störungen davon, wenn frühe Bindungen abgekappt werden In anderen Interpretationen erscheinen Kinder eher flexibel, robust, durchaus anpassungsfähig; demnach ist zwar die Nach-Scheidungs-Phase eine Zeit dramatischer Krisen, aber in der Regel erholen die Kinder sich wieder, richten sich in den neuen Bedingungen ein Vielleicht sind beide Interpretationen zwar nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig, vielleicht bleiben beide zu eng. Ich möchte hier, den bisherigen Überlegungen folgend, eine dritte Deutung Vorschlägen. Demnach beinhaltet die Serie von Trennungsereignissen eine Sozialisation eigener Art -auf den Kern zusammengefaßt: eine individualistische Botschaft. Wenn es Kindern gelingt, sich mit wechselnden Familienformen zu arrangieren, so heißt dies, sie müssen lernen, Bindungen aufzugeben, mit Verlust fertig zu werden. Sie lernen früh, was Verlassenwerden und Abschied bedeuten. Sie erfahren, daß die Liebe nicht ewiglich währt, daß Beziehungen enden, daß Trennung ein Normalereignis im Leben darstellt.

5. Fortsetzungsehen und Wahlverwandtschaften

Nun heiraten viele der Geschiedenen wieder oder leben ohne Trauschein zusammen, wobei der neue Partner oft selbst schon verheiratet war, vielleicht auch eigene Kinder mitbringt. In der Folge wachsen immer mehr Kinder mit einem „nicht-biologischen“ Elternteil auf. Betrachtet man solche Stieffamilien genauer, so fällt zunächst einmal auf, daß sie in gewissem Sinn eine Version der bikulturellen Familie darstellen. Sie sind, so der Befund einer einschlägigen Studie, ein „interessantes Beispiel für die Verknüpfung und Mischung von Organisationen. Sie binden zwei Familienkulturen zu einem gemeinsamen Haushalt zusammen.“ Auch hier gilt: Es müssen differierende Werte, Regeln, Routinen, differierende Erwartungen und Alltagsabläufe ausgehandelt und abgestimmt werden -von Tischmanieren und Taschengeld bis zu Fernsehauswahl und Schlafenszeiten. Darüber hinaus wandern manche der Kinder besuchsweise zwischen ihren verschiedenen Familienwelten, zwischen dem sorgeberechtigten „Alltags-Elternteil“ mitsamt neuem Partner und dem nicht-sorgeberechtigten „Wochenend-Elternteil“ mit ebenfalls neuer Familie. Unter diesen Bedingungen entstehen Querverbindungen und komplexe Beziehungsnetze, kurz: komplizierte Verhältnisse, die sich nur noch in verzweigten Diagrammen abbilden lassen. „Beirats-und Scheidungsketten“ „Fortsetzungsehen“ „Mehrelternfamilien“ „Patchwork-Familien“ -all dies sind Begriffe, um die neuen Familienformen faßbar zu machen. Freilich ist dabei ein entscheidendes Merkmal, daß gar nicht mehr klar ist, wer zur Familie gehört. Eine einheitliche Definition gibt es nicht mehr, sie ist im Rhythmus der Trennungen und Neuverbindungen irgendwo untergegangen. Statt dessen hat jetzt jeder der Beteiligten seine eigene Definition, wer zu seiner/ihrer Familie gehört: Jeder lebt seine eigene Version der Patchwork-Familie

In dieser Konstellation sind es nicht mehr die traditionellen Zurechnungsregeln (Abstammung und Heirat), die Verwandtschaft konstituieren. Entscheidend ist vielmehr, ob die sozialen Beziehungen, die daraus entstanden, auch in der Nach-Scheidungs-Situation fortgesetzt werden. Wo diese sozialen Beziehungen abgebrochen werden oder allmählich versickern, da ist es am Ende auch mit der Verwandtschaft vorbei. Was sich in anderen Familienkonstellationen der Moderne ansatzweise zeigt, tritt hier ganz deutlich hervor: Das AufrechterhalteA der Beziehung ist kein selbstverständlicher Akt mehr, sondern eine freiwillige Handlung. In der Nach-Scheidungs-Situation sortieren sich die Familienverhältnisse neu, den Gesetzen der persönlichen Zuneigung folgend: Sie nehmen den Charakter von „Wahlverwandtschaften“ an. Da diese nicht mehr schicksalhaft vorgegeben sind, bedürfen sie in stärkerem Maße der Eigenleistung, der aktiven Pflege. Wie eine Studie über Patchwork-Familien feststellt: „Front the huge universe of potential kin, people actively create kin by establishing a relationship -by working at becoming kin. And they have wide latitute in choosing which links to activate.“ Manche der angeheirateten Verwandten aus der Erstehe gehören weiterhin „zur Familie“, manche der qua Zweitehe angeheirateten Verwandten kommen hinzu, andere bleiben draußen oder fallen heraus.

Was am Ende herauskommt, steht nicht von vornherein fest. Denn wo gewählt wird, immer mehr persönliche Präferenzen zum Maßstab werden, zieht jede Person ihre eigenen Grenzen. Selbst Kinder, die im selben Haushalt aufwachsen, haben jetzt nicht mehr notwendigerweise dieselbe Definition dessen, wer zur Verwandtschaft gehört Das alles zusammengenommen bedeutet, die Fortsetzungsehe „vergrößert die Beweglichkeit unseres Verwandtschaftssystems, das jetzt schon die individuelle Entscheidungsfreiheit stärker betont als gegenseitige Verpflichtungen“ Das Ergebnis stellt alle Beteiligten vor neue Fragen, setzt neue Entscheidungsprozesse in Gang: Neue Solidaritätsund Loyalitätsregeln werden nötig. „Es wird außerordentlich interessant sein, Veränderungen der relativen Stärke blutsverwandtschaftlicher und durch (Wieder-) Verheiratung hergestellter Bindungen in den Familien zu beobachten, deren Mitgliederkreis sich durch aufeinanderfolgende Heiraten vergrößert hat. Wie etwa werden Großeltern ihr Erbe aufteilen zwischen biologischen Enkeln, die sie kaum kennen, Stiefenkeln, die sie früh im Leben bekamen, oder Stiefenkeln, die sie über ihre zweite Ehe erhielten und die geholfen haben, sie im Alter zu pflegen? Sind biologische Väter eher dazu verpflichtet, ihre biologischen Kinder, die von einem Stiefvater großgezogen wurden, auf ein College zu schicken, als ihre Stiefkinder, die sie selbst erzogen haben?“

Wo sich solche Beziehungsnetze konstituieren, bringt Scheidung für die Kinder im Nettoeffekt eher eine Ausdehnung der Verwandtschaftsgrenzen als eine Verengung. Allerdings verändert sich unter der Hand der Charakter der Bindungen: Diese werden, da nicht mehr selbstverständlich, nun dünner, fragiler, mehr von persönlichem Zutun, auch von äußeren Umständen (z. B. Ortswechsel) abhängig. Diese Bindungsform enthält Chancen, aber auch Risiken eigener Art. Auf der einen Seite ist der Nutzen von schwachen Bindungen, die dafür ein weites Netzwerk von Verwandten umfassen, nicht zu unterschätzen. Aber gerade für Kinder gilt auch: „This thinner form of kinship may not be an adequate substitute for the loss of relatives who had a strenger stäke in the child's success.“ Über Scheidung und Wiederverheiratung sind die Menschen heute zwar mit mehr Personen als früher verwandt, aber der Verpflichtungscharakter der Bindungen nimmt stetig ab.

Während in der vorindustriellen Gesellschaft die Familie vorwiegend Notgemeinschaft war, durch einen Zwang zur Solidarität zusammengehalten, tritt zur Gegenwart hin immer deutlicher die Logik individueller Lebensentwürfe hervor. Die Familie wird eher zur Wahlgemeinschaft, zum Verbund von Einzelpersonen, die ihre je eigenen Interessen, Erfahrungen, Lebenspläne einbringen, auch je eigenen Kontrollen, Risiken, Zwängen ausgesetzt sind.

Wie die exemplarisch dargestellten Situationen aus dem Familienalltag der Gegenwart zeigen, wird damit weit mehr Aufwand als früher nötig, um die verschiedenen Einzelbiographien noch zusammen-zuhalten. Wo man in der Vergangenheit auf eingespielte Regeln und Rituale zurückgreifen konnte, beginnt heute eine Inszenierung des Alltags, eine Akrobatik des Abstimmens und Ausbalancierens. Im Ergebnis wird der Familienverbund fragil, ist vom Auseinanderbrechen bedroht, wo die Abstim-

IV. Ausblick: Welche Zukunft?

mungsleistungen nicht gelingen. Da auf der anderen Seite Individualisierung auch die Sehnsucht nach der Gegenwelt fördert, nach Intimität, Geborgenheit, Nähe werden dennoch, jedenfalls in absehbarer Zukunft, die meisten Menschen weiter in Bindungen leben. Aber, das ist das Neue, diese Bindungen sind nun anderer Art, was Umfang, Verpflichtungscharakter, Dauer angeht. Aus vielen Anstrengungen, Sehnsüchten, Versuchen, Irrtümern, aus gelungenen und manchmal mißlungenen Experimenten entsteht ein neues Spektrum des Privaten. Im Entscheiden, Auswählen, Aushandeln, in der täglichen Kleinarbeit der Beziehungs-Bastler und -Bastlerinnen wächst ein „ganz normales Chaos“ -der Liebe, des Leids, der Beziehungsvielfalt vor allem.

Das heißt nicht, die traditionelle Familie verschwindet, löst sich auf. Aber offensichtlich verliert sie das Monopol, das sie lange besaß. Ihre quantitative Bedeutung nimmt ab, neue Lebensformen kommen auf und breiten sich aus, die nicht oder jedenfalls nicht allgemein auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art: z. B. ohne Trauschein oder ohne Kinder; Alleinerziehende, Fortsetzungsfamilien oder Partner desselben Geschlechts; Teilzeitgemeinschaften und Lebensabschnittsgefährten; Leben mit mehreren Haushalten oder zwischen verschiedenen Städten. Es entstehen mehr Zwischenformen und Neben-formen, Vorformen und Nachformen: Das sind die Konturen der „postfamilialen Familie“.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Brigitte Berger/Peter L. Berger, In Verteidigung der bürgerlichen Familie, Reinbek 1984.

  2. Christoph Lasch, Haven in a Heartless World: The Family Besieged, New York, 1977.

  3. Brigitte Berger/Peter L. Berger, The War over the Family, Garden City-New York 1983 (amerikanische Originalausgabe von Berger/Berger 1984).

  4. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Hans Bertram in diesem Heft, in dem der Autor sich mit den von James Coleman und Ulrich Beck vertretenen Thesen über die zunehmende Brüchigkeit von Ehe und Familie und über die zunehmende Beliebigkeit von familialen Beziehungen auseinandersetzt.

  5. Von „postfamiliärer Familie“ spricht Leopold Rosenmayr in: Showdown zwischen Alt und Jung?, in: Wiener Zeitung vom 26. Juni 1992, S. 1.

  6. Elisabeth Bauschmid, Familie ist kein Auslaufmodell, in: Süddeutsche Zeitung vom 4. 1. 1994, S. 4.

  7. In beiden Teilen Deutschlands geht die Zahl der Ehe-schließungen seit 1950 tendenziell zurück (BiB-aktuell. Beilage zu BiB-Mitteilungen [Informationen aus dem Bundes-institut für Bevölkerungsforschung], [1992] 4, S. 1). Diese Entwicklung ist zum einen zurückzuführen auf eine Zunahme der Singles, zum anderen auf eine Zunahme der nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Die Zahl der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften in der (alten) Bundesrepublik ist von 1972 bis 1988 um das sechsfache gestiegen, nämlich von etwa 140000 auf etwa 820000. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Familien heute. Strukturen, Verläufe, Einstellungen, Stuttgart 1990, S. 21. -Zwischen 1972 und 1990 hat der Anteil der Ehepaare mit Kindern an allen Kern-familien von gut 57 auf rund 51 Prozent abgenommen, dagegen ist der Anteil der Ehepaare ohne Kinder von knapp 34 auf 38 Prozent angewachsen (BiB-Mitteilungen, [1992] 3, S. 11); vgl. auch Rosemarie Nave-Herz, Kinderlose Ehen, Weinheim-München 1988.

  8. Die Zahlen, die Bauschmid zitiert, stammen offensichtlich aus der Untersuchung von Bernhard Nauck, Familien und Betreuungssituationen im Lebenslauf von Kindern, in: Hans Bertram (Hrsg.), Die Familie in Westdeutschland, Opladen 1991, S. 389-428. Diese Untersuchung wurde 1988 durchgeführt (und dann 1991 veröffentlicht). Die familialen Lebensformen, um die es geht, betreffen den Zeitraum von 1970 bis 1987.

  9. Im Jahr 1992 wurden im Westen Deutschlands 11, 6 Prozent der Kinder nichtehelich geboren (Auskunft des Statistischen Bundesamts Wiesbaden, April 1994). Damit hat sich hier seit 1968 die Zahl mehr als verdoppelt (von 4, 8 Prozent). Im Osten wurde bereits 1968 jedes neunte Kind außerehelich geboren (11, 4 Prozent). Im Jahr 1992 waren es mit 41, 8 Prozent fast viermal so viele.

  10. Vgl. B. Nauck (Anm. 8), S. 427.

  11. Vgl. zusammenfassend Elisabeth Beck-Gernsheim, Arbeitsteilung, Selbstbild und Lebensentwurf. Neue Konfliktlagen in der Familie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (1992) 2, S. 273-291.

  12. Laszlo Vascovics, Familie im Auflösungsprozeß?, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Jahresbericht 1990, München 1991, S. 186-198; dort S. 186 und S. 197.

  13. Ebd., S. 188-194; vgl. hierzu auch den Beitrag von Hans Bertram in diesem Heft.

  14. Zu einem Überblick über die aktuelle Individualisierungsdiskussion siehe Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1994 (i. E.).

  15. Peter Borscheid, Zwischen privaten Netzen und öffentlichen Institutionen -Familienumwelten in historischer Perspektive, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Wie geht’s der Familie?, München 1988, S. 271-280; dort S. 272f.

  16. Ebd., S. 271 f.

  17. Gisela Bock/Barbara Duden, Arbeit aus Liebe -Liebe als Arbeit, in: Frauen und Wissenschaft, Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen, Berlin 1977, S. 126.

  18. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 179.

  19. Karl Ulrich Mayer/Walter Müller, Lebensverläufe im Wohlfahrtsstaat, in: Ansgar Weymann (Hrsg), Handlungs-spielräume. Untersuchungen zur Individualisierung und Institutionalisierung von Lebensläufen in der Moderne, Stuttgart 1989, S. 58.

  20. Zu einer ausführlicheren Darstellung siehe Elisabeth Beck-Gernsheim, Vom „Dasein für andere“ zum Anspruch auf ein Stück „eigenes Leben“ -Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang, in: Soziale Welt, (1983) 3, S. 307-341.

  21. Maria S. Rerrich, Balanceakt Familie. Zwischen alten Leitbildern und neuen Lebensformen, Freiburg 1988.

  22. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Nicht Autonomie, sondern Bastei-Biographie, in: Zeitschrift für Soziologie, (1993) 3, S. 178-187; Ronald Hitzier/Anne Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: U. Beck/E. Beck-Gernsheim (Hrsg.) (Anm. 14).

  23. Siehe hierzu Helga Zeiher, Kindheitsträume. Zwischen Eigenständigkeit und Abhängigkeit, in: U. Beck/E. Beck-Gernsheim (Hrsg.) (Anm. 14).

  24. Vgl. Maria S. Rerrich, Zusammenfügen, was auseinanderstrebt: Zur familialen Lebensführung von Berufstätigen, erscheint in: ebd.

  25. Ebd.

  26. Maria S. Rerrich, Puzzle Familienalltag: Wie passen die einzelnen Teile zusammen?, in: Jugend und Gesellschaft, (1991) 5/6.

  27. Vgl. Karin Jurczyk/Maria S. Rerrich (Hrsg.), Die Arbeit des Alltags, Freiburg 1993.

  28. Maria S. Rerrich, Gemeinsame Lebensführung: Wie Berufstätige einen Alltag mit ihren Familien herstellen, in: ebd., S. 311.

  29. Ebd., S. 322.

  30. Peter L. Berger/Hansfried Kellner, Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit, in: Soziale Welt, (1965) 3, S. 220-235; dort S. 222.

  31. Ebd., S. 225.

  32. So die neuesten verfügbaren Zahlen, die aus dem Jahr 1992 stammen (Basis: Auskunft des Statistischen Bundesamts Wiesbaden, April 1994). Sie verweisen auf eine schnelle Zunahme dieser Ehen -noch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre war erst jede zwölfte Ehe, die in der Bundesrepublik Deutschland geschlossen wurde, eine gemischt-nationale. Vgl. hierzu Donata Elschenbroich, Eine Familie -zwei Kulturen, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Wie geht’s der Familie?, München 1988, S. 364.

  33. Irene Hardach-Pinke, Interkulturelle Lebenswelten. Deutsch-japanische Ehen in Japan, Frankfurt am Main 1988, S. 116.

  34. Ebd., S. 217.

  35. Petra M. Scheibler, Binationale Ehen, Weinheim 1992, S. 87 ff.

  36. Vgl. ebd., S. 45.

  37. Vgl. ebd., S. 44ff.

  38. Vgl. hierzu Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt am Main 1967.

  39. D. Elschenbroich (Anm. 32), S. 368.

  40. Für aktuelle Zahlen zur Scheidungshäufigkeit in Deutschland vgl. BiB-Mitteilungen, (1993) 3, S. 13; zur Scheidungshäufigkeit in den USA s. Andrew J. Cherlin, Marriage, Divorce, Remarriage, Cambridge/USA 1992, S. 7 und S. 24.

  41. B. Nauck (Anm. 8), S. 427.

  42. Vgl. A. J. Cherlin (Anm. 40), S. 73f.

  43. Vgl. Doris Lucke, Die Ehescheidung als Kristallisationskem geschlechtsspezifischer Ungleichheit, in: Peter A. Berger/Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990, S. 363-385.

  44. Zur Situation der Kinder vgl. z. B. A. J. Cherlin (Anm. 40); Frank F. Furstenberg/Andrew J. Cherlin, Divided Families. What Happens to Children when Parents Part, Cambridge/USA 1991; Judith Wallerstein/Sandra Blakeslee, Gewinner und Verlierer -Männer, Frauen, Kinder nach der Scheidung, München 1989.

  45. Vgl. Andrew J. Cherlin/Frank F. Furstenberg. The New American Grandparent, New York 1986, Kapitel 6: Grandparents and Divorce, S. 136ff.

  46. Vgl. J. Wallerstein/S. Blakeslee (Anm. 44).

  47. Vgl. A. J. Cherlin (Anm. 40); F. F. Furstenberg/A. J. Cherlin (Anm. 44).

  48. F. F. Furstenberg/A. J. Cherlin (Anm. 44), S. 83.

  49. Der Begriff „Scheidungsketten“ stammt von dem Anthropologen Paul Bohannan und wird übernommen z. B. bei A. J. Cherlin (Anm. 40), S. 83.

  50. Frank F. Furstenberg, Fortsetzungsehen. Ein neues Lebensmuster und seine Folgen, in: Soziale Welt, (1987) 1, S. 29-39.

  51. Anneke Napp-Peters, Mehrelternfamilien -Psychosoziale Folgen von Trennung und Scheidung für Kinder und Jugendliche, in: Neue Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Erziehungshilfe, (1993) 49, S. 12-26.

  52. Vgl. A. J. Cherlin (Anm. 40), S. 81.

  53. F. F. Furstenberg/A. J. Cherlin (Anm. 44), S. 93.

  54. Vgl. Ebd.

  55. F. F. Furstenberg (Anm. 50), S. 37.

  56. Ebd.

  57. F. F. Furstenberg/A. J. Cherlin (Anm. 44), S. 95.

  58. Vgl. Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim. Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990, passim.

Weitere Inhalte

Elisabeth Beck-Gernsheim, Dr. phil., Dr. rer. pol. habil.; Studium der Soziologie in München; Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg. Letzte Buchveröffentlichungen: (zus. mit Ulrich Beck) Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt am Main 1990; Technik, Markt und Moral, Frankfurt am Main 1991; (Hrsg. züs. mit Ulrich Beck) Riskante Freiheiten -Individualisierung in der Moderne, Frankfurt am Main 1994 (i. E.).