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Erneuerung aus der Mitte | APuZ 15/1994 | bpb.de

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APuZ 15/1994 Erneuerung aus der Mitte Zukunft gestalten, Bewährtes erhalten, Stabilität sichern Wahl 94. Was tun? F. D. P.: 1994 -Die zweite historische Chance Politik der Reformen und Reform der Politik Erneuerung der Gesellschaft

Erneuerung aus der Mitte

Jürgen Rüttgers

/ 8 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Zäsur der Wiedervereinigung und des europäischen Umbruchs hat das politische Koordinatensystem verändert. Deutschland steht vor neuartigen Herausforderungen. Der Wandel ist bis in die gewohnte Lebenswelt des einzelnen hinein spürbar. Daraus erwächst für viele Menschen ein Gefühl der Unsicherheit. Von der Politik erwarten sie die Wiederherstellung überschaubarer Lebensverhältnisse, also Sicherheit. Um sie zu fördern, muß die Politik bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben auf Anpassungsprozesse drängen, die zugleich eine größere Veränderungs-und Verantwortungsbereitschaft der Bürger einfordern. Die CDU steuert dabei einen Kurs der Erneuerung aus der Mitte -einen Kurs, der sich der Wertegrundlagen einer freiheitlichen Gesellschafts-, Wirtschafts-und Staatsordnung vergewissert und daran die notwendigen Veränderungen in Staat und Gesellschaft ausrichtet. Er zielt auf die Stärkung der persönlichen Verantwortungs-und Gestaltungsräume, verankert in einer solidarischen Gemeinschaft, der gegenüber der Staat subsidiär und seiner friedenssichernden Aufgaben nach innen und außen verpflichtet bleibt. In ihrem Selbstverständnis bleibt die CDU Volkspartei der Mitte, die den Anspruch der Erneuerung an sich selbst richtet und durch Reformen einzulösen versucht, um der Glaubwürdigkeitskrise der Parteien entgegenzutreten.

Politikverdrossenheit -das „Wort des Jahres ‘ 93" ist zu einer Totschlagsvokabel geworden. Die vielfältigen Ursachen des erschütterten Vertrauensverhältnisses zwischen Politik und Teilen der Bürgerschaft bleiben verdeckt. Damit schwinden die Chancen, ihnen zu Leibe zu rücken. Verdrängung nützt keinem -weder den Parteien und Politikern, die sich berechtigter Kritik stellen müssen, noch den Bürgern, an die sich die Frage richtet, ob sie Politik und Parteien immer mit der richtigen Elle messen.

Für die Parteien gilt es, Vertrauen und Zutrauen in ihre Kompetenz zurückzugewinnen: Durch Glaubwürdigkeit der Personen, durch Überzeugungen, für die man geradesteht, durch Problemlösungen, für die man einsteht -auch bei Gegenwind.

Aber nicht allein die Parteien sind gefordert. Die Tendenz, alles bequem bei der Politik abzuladen, ist falsch. Unser Land steht vor Herausforderungen, die sich nicht bewältigen lassen, wenn jeder in alten Gewohnheiten und Ansprüchen verharrt. Bewegung ist notwendig -aber auf allen Seiten.

Die CDU kann für sich selbstbewußt -ohne über Selbstzweifel erhaben zu sein -reklamieren, auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Aus der innerparteilichen Reformdiskussion ist eine Aufbruchstimmung erwachsen, die der Parteienkritik nicht trotzig die Stirn bietet, sondern Auswege eröffnet. Die CDU hat die Zäsur der Jahreswende 1989/90 als Gestaltungsaufgabe angenommen und mit der Verabschiedung ihres neuen Grundsatzprogramms „Freiheit in Verantwortung“ zugleich Kontinuität und Erneuerungswillen, Offenheit und Geschlossenheit bewiesen.

Wandel als Ausgangslage

Daß die CDU als führende Regierungspartei im Zentrum der oppositionellen Kritik steht, gehört zu den demokratischen Regeln, beschreibt aber nur zum Teil die Ausgangslage der CDU. Wichtiger sind eine Reihe „strategischer Dilemmata“, die sich aus der Zäsur 89/90 ableiten. Der Wandel ist bis in die gewohnte Lebenswelt des einzelnen hinein spürbar und zwar in großem Umfang und mit einer kaum noch nachvollziehbaren Geschwindigkeit. Daraus erwächst für viele Menschen das Gefühl der Unsicherheit. Von der Politik erwarten sie die Wiederherstellung überschaubarer Lebensverhältnisse, also Sicherheit. Um sie zu fördern, muß die Politik auf Anpassungsprozesse drängen. Sie mutet den Menschen Veränderungen zu, was das Gefühl der Unsicherheit verstärkt.

Nur der notwendige Wandel aber verbürgt Sicherheit: „Change in time“, nicht „Time for change“. Die CDU hat mit der Wiedervereinigung, mit der gründlichen Inventur und dem eingeleiteten Strukturwandel der deutschen Wirtschaft und mit der Übernahme der von der Völkergemeinschaft erwarteten internationalen Verantwortung bewiesen, daß sie Kontinuität und Erneuerung miteinander zu zukunftsfähigen Antworten verbindet.

Mit der Wiedervereinigung und dem europäischen Umbruch hat sich zugleich der Problemdruck auf die Politik erheblich erhöht. Entsprechend schnell und arbeitsintensiv mußte sie reagieren. Was früher als Jahrhundertwerk galt, wurde in der jetzigen Legislaturperiode binnen weniger Monate umgesetzt: Steuerreform, Rentenreform, Gesundheitsreform, Aufbau Ost, Solidarpakt, Novellierung des Asylrechts, Bahnreform, Postreform. Der gewachsene Entscheidungsbedarf ist dabei zu einem strukturellen Vermittlungsproblem mutiert. Die Vermittlung und Klärung der Reformen mußte in gleichem Umfang abnehmen, wie Anzahl und Schnelligkeit der Gesetzgebungsverfahren und Regierungsmaßnahmen zunahmen.

Zum anderen mußten Maßnahmen durchgesetzt werden, die mit Tabus, wohlbehüteten Gruppeninteressen und Besitzstandsdenken brechen. Obwohl notwendig und sachlich geboten, sind etwa Sparmaßnahmen nicht gerade populär. Zwar werden gemeinhin von der Regierung auch unpopuläre Maßnahmen als Ausweis politischer Führungskraft gefordert. Im Ernstfall aber ist der Argwohn groß. Begründet ist dies vielfach in den unterschiedlichen Erwartungen, was Politik leisten soll und leisten kann. Der Glaube an den Staat als die große Versicherungspolice gegen alle Unwägbarkeiten des persönlichen Lebens ist erschüttert, hat aber eher die Politik ins Halbdunkel der Un- Die These von der Sozialdemokratisierung ist ebenso falsch wie der Vorwurf, die CDU habe die politische Mitte verlassen und damit verloren. Er entspringt dem Versuch der „Linken“, Terrain zu gewinnen. Die Linke fürchtet um ihren Deutungsanspruch und bläst mit dem Vorwurf „Kulturkampf“ (Peter Glotz) zum letzten Gefecht. Sie kämpft dabei zunehmend auf verlorenem Posten. Tatsächlich ist der Auszug aus dem linken Elfenbeinturm, der zum Mausoleum ergraut, längst im Gange.

Vor allem als Reaktion auf die schrecklichen Mordtaten von Mölln und Solingen setzte eine Debatte darüber ein, ob nicht die sichtbar gewordenen Aggressionen und Gewalt Folge einer offenkundigen Wert-und Bindungslosigkeit, des Verlustes von Sinnstiftung, Orientierung, Tugenden und Autoritäten, des Verlustes an Gemeinschaft und an Pflichten gegenüber dem Gemeinwohl sei?

Ohne ein gemeinsames und verbindliches Werte-verständnis zerbricht die Gesellschaft -Leviathan in Lauerstellung. Wolf Lepenies mahnte kürzlich zum Nachdenken über einen Kanon des Wissens und der Werte, über einen Minimalkonsens gemeinsamer Überzeugungen und Haltungen. Claus Leggewie beklagte die Abwesenheit von Erziehung und bekannte sich zum „Plädoyer eines Antiautoritären für Autorität“. Heinz Peter Dürr machte die drastische Enttabuisierung für die zunehmende Gewaltbereitschaft mitverantwortlich. Peter Schneider erinnert in seinem „Plädoyer für eine Erziehung nach Mölln“ an die Natur des Menschen, die eben nicht nur gut sei. Klaus Hartung fordert einen „realistischeren und pragmatischeren Umgang mit den Repressions-und Sanktionsinstrumenten unserer Gesellschaft“; gegenüber der „positiven Anthropologie“ sei der „konservative Wertekanon... nicht zufällig zeitgemäßer“. Der in die Emanzipations-Falle getappten Gesellschaft sei der Begriff des Gemeinwohls abhanden gekommen: „Mithin muß mit der Einschränkung jenes Begriffs von individueller Freiheit gerechnet werden, der es erlaubt, die Verantwortung fürs Allgemeine dem Staat zu überlassen.“ Martin Walser, einer selbstgerechten Priesterschaft den Spiegel vorhaltend, gibt zu bedenken, ob nicht die radikale Tabuisierung des Nationalen die Gegenbewegung provozierte: „Nur mit Verteufelung produziert man Teufel“. Für Hans Magnus Enzensberger ist eine erschreckende Sinnlosigkeit Ursache der schrecklichen Gewalt. Gesine Schwan pflichtet ihm bei: Sinnlosigkeit, weil das Leben gottlos geworden sei, weil gesellschaftliche Differenzierung und Atomisierung es offenbar immer schwerer machen, zuverlässige persönliche Beziehungen aufzubauen und zu erhalten.

Damit nicht genug. Alfred Grosser platzte der Kragen angesichts einer deutschen Linken, die, introvertiert und narzißtisch, erst das SED-Regime mehr hofierte als geißelte und jetzt vor der Aufgabe der Wiedervereinigung versage, die unfähig zur Anerkennung einer Ordnung der Freiheit sei, statt dessen die freiheitliche demokratische Grundordnung herablassend und verächtlich beurteile: „Eine Verachtung, die heute noch mehr als in den 70er und 80er Jahren die Politikverdrossenheit und nun die politische Entwurzelung in den neuen Ländern weitgehend mitverantwortet. Sei es nur durch die dumme Verwendung des Begriffs , konservativ’."

Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Alles finstere Kanzlergehilfen, Vormänner einer geschickten Unionsstrategie? Wohl kaum. Aber ein unvoreingenommener Beleg für die Rückbesinnung und Rückkehr zur Mitte, die an Stimmen und Schattierungen reicher wird. Die CDU ist in guter Gesellschaft. Sie hat die Chance, den Konsens der Mitte zu gründen und die freiwillige Übereinstimmung in den Grundwerten und Institutionen, ohne die eine Gemeinschaft nicht lebensfähig ist, nicht nur einzufordern, sondern entscheidend mitzuprägen.

Die Union war und ist erfolgreich, wenn sie Volkspartei war und bleibt -eine Partei, in der sich unterschiedliche Traditionen, Interessen und Bekenntnisse bündeln. Diese Offenheit macht sie integrationsfähig. Offenheit heißt dabei nicht Beliebigkeit. Klare Grenzziehungen sind ebenso unabdingbar wie feste Grundpositionen.

Parteireform

Über die Zukunft der Volksparteien entscheidet aber nicht allein ihre programmatische Anziehungs-und Überzeugungskraft, sondern auch, wie es ihnen gelingt, Plattform für die Bürgerbeteiligung zu sein und Mitgliederparteien zu bleiben. Die aktuelle Parteienkritik hat dabei auf Schwachstellen hingewiesen, die nicht einfach von der Hand zu weisen sind. In Schlagworten: verhärtete Partei-strukturen, unattraktive Veranstaltungsformen, zu wenig Entscheidungs-und Mitwirkungsmöglichkeiten für die „einfachen“ Mitglieder, Proffessionalisierung zu Lasten des Ehrenamtes, Verlust an Bürgernähe, Überdehnung der Einflußbereiche, Vorteilsnahme. Als Pauschalvorwürfe sind sie falsch, als Forderung an die Parteien, Fehlentwicklungen zu korrigieren, richtig.Für die repräsentative Demokratie sind funktionierende Parteien unersetzbar. Die Parteien müssen aber offener, durchlässiger werden und sich auf das konzentrieren, was ihre eigentliche Aufgabe ist. Die CDU hat dies nicht tabuisiert, sondern eine Reformdiskussion begonnen, die von der Basis quer durch die Landesverbände und Partei-gliederungen geht und dort zu -teilweise sehr weitreichenden -Ergebnissen geführt hat. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen konzentrieren sich die Maßnahmen auf folgende Schwerpunkte und Ziele: -Stärkung der Entscheidungs-und Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder bei Personal-und Sachentscheidungen durch Durchführung der Nominierungsverfahren und Parteitage (auf Wahlkreis-bzw. Kreisebene) als Mitgliederversammlungen sowie durch Einführung des Instruments der Mitgliederbefragung. -Begrenzung der Amtszeiten sowie der Zahl der Ämter und Mandate, die ein Mitglied zeitgleich wahrnehmen kann, um so möglichst viele Parteimitglieder in die aktive Arbeit einzubinden, Verkrustungen vorzubeugen und eine kontinuierliche personelle Erneuerung zu fördern. -Verpflichtung der Parteitage und Gremien, bei Wahlen und Kandidatenaufstellungen stärker vor allem junge Menschen und Frauen (entsprechend ihres Anteils in der Mitgliederschaft) zu berücksichtigen.'-Verpflichtung, Parteiveranstaltungen möglichst öffentlich durchzuführen, um den Interessen und Belangen der Bürger, etwa durch regelmäßig durchzuführende Fragestunden, mehr Gehör zu verschaffen. Parteiveranstaltungen sollen daher auch vorrangig Sachfragen erörtern und offene Gesprächsforen sein, statt starren Tagesordnungen und Satzungsvorschriften zu folgen. Der Dialog muß im Vordergrund stehen: Zuhören statt Monolog. -Erweiterung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger ohne Parteibuch. Viele Mitbürger, • vor allem junge Menschen, sind zu einem projektbezogenen, zeitlich und thematisch begrenzten politischen Engagement bereit. Vielen scheint auch der Eintritt in eine Partei im ersten Anlauf eine „zu hohe Hürde“, die über abgestufte Formen der Mitgliedschaft („Schnuppermitgliedschaft“) gesenkt werden kann. -Selbstbeschränkung der Parteien, etwa bei der Wahrnehmung von Funktionen in Aufsichtsräten und Kontrollgremien öffentlicher Unternehmen; verstärkte Berufung externer Fachleute in öffentliche Aufgaben statt Vergabe von Ämtern nach Parteibuch.

-Verpflichtung aller Mandatsträger zur Offenlegung der politischen, beruflichen und öffentlichen Ämter und Mandate, um den Vorwürfen der unkontrollierten Machtausübung, Verfilzung und Vorteilsnahme offensiv zu begegnen.

Der Katalog ist nicht erschöpfend. Vielfach ziehen die Reformempfehlungen und -beschlüsse den Kreis weiter, plädieren für eine stärkere Wiederbelebung des politischen Ehrenamtes (Landtagsmandate als „Teilzeitmandate“), regen die Festlegung der Diäten durch unabhängige Kommissionen an, fordern Veränderungen des Wahlrechts (Kumulieren und Panaschieren, Direktwahl der Bürgermeister und Landräte), um auf kommunaler Ebene die Entscheidungsspielräume und -vollmachten der Bürger zu verbessern.

Parteireform ist für die CDU keine Zukunftsmusik, sondern eine Debatte, die die Partei kontrovers führt und belebt. Sie ist ein Stück Erneuerung, die an vielen Ecken sichtbar wird: In Baden-Württemberg werden 80 Prozent der CDU-Bundestagskandidaten durch Mitgliederversammlungen nominiert -ein Element mit langer Tradition in der Landespartei. In Niedersachsen waren von den 100 Kandidaten, die sich zur Landtagswahl stellten, 55 erstmals nominiert worden; davon waren elf jünger als 35 Jahre. Die CDU in Nordrhein-Westfalen schickt allein zehn Bundestags-kandidaten im Alter von 26 bis 34 (Stand Anfang Februar 1994) ins Rennen. Sie wurden nominiert auf Mitgliederversammlungen, die bis zu 800 Teilnehmer zählten. Dies alles sind Mosaiksteine, die manchem parteiverdrossenen Kommentator nicht ins Bild passen mögen.

Die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ist vor allem auch eine Geschichte der Leistungen ihrer demokratischen Institutionen, nicht zuletzt der großen Volksparteien. Unser Land wird die ihm gestellten Aufgaben meistern, wenn es sich auf das zurückbesinnt, was es in über vier Jahrzehnten nach vorne gebracht hat: Verantwortungs-und Leistungsbereitschaft, Solidarität und soziale Sicherheit, wehrhafte Demokratie nach innen und außen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Jürgen Rüttgers, Dr. jur., geb. 1951; Mitglied des Deutschen Bundestages; seit 1991 1. Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, stellv. Vorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalen. Veröffentlichungen u. a.; Dinosaurier der Demokratie. Wege aus der Parteienkrise und Politikverdrossenheit, Hamburg 1993; Beiträge zu Fragen der Parteienentwicklung in Deutschland.