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Welche Lateinamerikapolitik entspricht deutschen Interessen? | APuZ 4-5/1994 | bpb.de

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APuZ 4-5/1994 Welche Lateinamerikapolitik entspricht deutschen Interessen? Die Entwicklung der Demokratie in Lateinamerika Lateinamerikas soziale Schuld Brasilien: Sozio-ökonomische und außenpolitische Perspektiven vor dem Hintergrund eines blockierten Entwicklungspotentials

Welche Lateinamerikapolitik entspricht deutschen Interessen?

Heinrich-W. Krumwiede/Detlef Nolte

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Zusammenfassung

Eine aktive Lateinamerikapolitik liegt im deutschen Interesse. Eine solche Politik läßt sich nicht überzeugend negativ, das heißt unter Hinweis auf Bedrohungen und Gefahren, begründen. Denn von Lateinamerika ist nie eine direkte sicherheitspolitische Gefahr für Deutschland ausgegangen, und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und nach der friedlichen Regelung des zentralamerikanischen Regionalkonflikts kann selbst ein mittelbares (d. h. auf die Interessen der USA gerichtetes) deutsches sicherheitspolitisches Interesse an Lateinamerika nicht mehr konstatiert werden. Auch eine einseitige Konzentration der deutschen Lateinamerikapolitik auf Gefahren bzw. Probleme, die ein erweiterter Sicherheitsbegriff identifiziert (u. a. Umweltschäden, Drogen, Elendsflüchtlinge), läßt sich nicht rechtfertigen. Eine positive Interessen-begründung, die sich nicht nur auf ökonomische Interessen, sondern auch auf Wertinteressen und allgemeinpolitische Interessen bezieht, spricht demgegenüber durchaus für eine aktive deutsche Lateinamerikapolitik. Auch für das allgemeinpolitische Interesse Deutschlands, mehr weltpolitische Verantwortung zu übernehmen, bietet sich Lateinamerika als Partner besonders an. Mehrere lateinamerikanische Staaten haben sich aktiv an Missionen der Vereinten Nationen beteiligt. Zudem weist Lateinamerika im Vergleich zu anderen Entwicklungsregionen einen besonders hohen Grad an regionaler Selbstorganisation auf, so daß Ansprechpartner existieren, die das gesamte Lateinamerika repräsentieren.

Manche sind der Ansicht, Lateinamerika sei für Deutschland gänzlich marginal geworden. Denn nach der Beendigung des zentralamerikanischen Regionalkonfliktes und der Überwindung des Kalten Krieges gibt es kaum noch Schlagzeilen zu Lateinamerika. Ein amerikanischer Autor äußerte vor Jahren, für die USA sei Lateinamerika hauptsächlich von strategischem und sicherheitspolitischem Interesse. Und sarkastisch fügte er hinzu, wenn es den Ost-West-Konflikt nicht gäbe, könne Lateinamerika in den Ozeanen «versinken, ohne daß die USA in größerem Ausmaß dadurch tangiert würden. Wenn diese Meinung richtig sein sollte, kann man fragen: Um wieviel geringer muß dann das deutsche Interesse sein?

Diese Eindrücke und Meinungen zeigen, daß bedauerlicherweise vor allem Krisen und Bedrohungen außenpolitische Aufmerksamkeit erregen und gerne zur Interessenbegründung herangezogen werden. Im Folgenden wird gezeigt, daß eine derartige negative Interessenbegründung im Falle Lateinamerikas nicht zu überzeugen vermag, daß aber mehrere positive Elemente durchaus für ein erhebliches deutsches Interesse an Lateinamerika sprechen. Bei der hier vorgenommenen positiven Interessenbegründung werden nicht nur ökonomische Interessen, sondern auch Wertinteressen und allgemeinpolitische Interessen behandelt. Dabei wird realistisch von der Tatsache ausgegangen, daß Lateinamerika im Rahmen der deutschen Außenpolitik eine nur sekundäre Bedeutung hat, aber zu wichtig ist, um vernachlässigt zu werden. Es soll deutlich werden, warum gerade jetzt eine aktive Lateinamerikapolitik, auf deren mögliche Schwerpunkte verwiesen wird, wünschenswert ist.

I. Sicherheitsinteressen

Lateinamerika ist für Deutschland von äußerst untergeordneter Bedrohungsqualität. Eine direkte, im engeren Sinne militärstrategische Bedrohung ging von Lateinamerika nie aus. Die USA hielten sich aber in Zentralamerika sicherheitspolitisch für bedroht und interpretierten den Regionalkonflikt dort in Kategorien des Ost-West-Konflikts. Um die strategische Aufmerksamkeit und die ihr entsprechenden militärischen Ressourcen der USA für Europa aufrechtzuerhalten und um den wichtigsten Verbündeten von einer für ihn schädlichen Politik abzuhalten, lag es im deutschen Interesse, sich für eine friedliche Konfliktregulierung in Zentralamerika, unter anderem im Rahmen des San-Jose-Prozesses, einzusetzen.

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Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Niederlage der Sandinisten bei den Wahlen in Nicaragua sowie nach dem Abschluß des Friedensabkommens zwischen Regierung und Guerilla in El Salvador können selbst amerikanische „Hardliner“ keine potentielle Sicherheitsbedrohung für die USA mehr in Zentralamerika wahrnehmen. Es ist auch nicht zu erkennen, daß von Kuba eine strategische Bedrohung für die USA ausgehen könnte. Wegen des Fehlens aktueller und potentieller strategischer Bedrohung in Lateinamerika läßt sich auch kein mittelbares (auf die USA bezogenes) sicherheitspolitisches deutsches Interesse an Lateinamerika mehr begründen. Die Tatsache, daß Lateinamerika nicht mehr Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Atlantischen Allianz ist, erhöht den Handlungsspielraum der deutschen Lateinamerikapolitik. Es ist nicht zu erwarten, daß Unterschiede in der Kubapolitik zu ähnlichen Konflikten zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten führen werden, wie dies bei Nicaragua der Fall gewesen ist.

Wendet man den in Mode gekommenen erweiterten Sicherheitsbegriff auf Lateinamerika an, der sich auf Phänomene wie Elendsflüchtlinge, Umweltschäden und Drogenprobleme bezieht, dann lassen sich zwar für Deutschland einige von Lateinamerika ausgehende Bedrohungen konstatieren. So bestimmt Lateinamerika, das im Amazonas-gebiet über das größte zusammenhängende Wald-gebiet der Erde verfügt, auch über das deutsche Klima mit. Welchen Schaden der von Lateinamerika ausgehende Drogenhandel und die dortigeDrogenproduktion auch in Deutschland verursachen, bedarf keines Kommentars. Aber bei diesen Problemen, die nur multilateral gelöst werden können, wird der deutsche Beitrag gering sein. Zudem hat die Bekämpfung der Drogenproduktion und des Drogenhandels gezeigt, daß bisherige Instrumente kaum griffen. Eine Konzentration der deutschen Lateinamerikapolitik auf diese Probleme ließe sich nicht rechtfertigen.

Nüchtern gilt es auch zu konstatieren, daß aus geographischen Gründen vornehmlich die USA von dem Phänomen der lateinamerikanischen Elends-migration betroffen sind. Osteuropa und Afrika haben hier eine ganz andere Bedrohungsqualität für Westeuropa und die Bundesrepublik. Hinsichtlich der lateinamerikanischen Elendsflüchtlinge läßt sich also nur insofern ein mittelbares deutsches Interesse begründen, als man dem wichtigsten Verbündeten anstehende Probleme erleichtern möchte.

II. Ökonomische Interessen

Für die Bundesrepublik Deutschland hat der Außenhandel eine größere Bedeutung als für andere Industrieländer. Zum Beispiel lag nach Angaben der Weltbank in der alten Bundesrepublik (vor der Wiedervereinigung) der Anteil des Exports von Gütern und Dienstleistungen (ohne Faktoreinkommen) am Bruttoinlandsprodukt 1990 mit 32 Prozent wesentlich höher als in Japan (11 Prozent), das gemeinhin als die Exportnation gilt (zum Vergleich USA: 10 Prozent). Im Güterexport pro Kopf übertraf die Bundesrepublik im gleichen Jahr Japan um mehr als das Zweieinhalbfache und die USA um mehr als das Vierfache. Auch die absoluten Zahlen wiesen im gleichen Jahr die Bundesrepublik als wichtigste Exportnation, als Handels-staat aus. Der Wert des Exports der Bundesrepublik (damals 61 Mio. Einwohner) war geringfügig größer als der der USA mit ihren 250 Mio. Einwohnern und übertraf den Japans mit 124 Mio. Einwohnern um mehr als 25 Prozent.

Zu den Grundmerkmalen moderner Handelsstaaten gehören auch hohe Auslandsinvestitionen. Denn Tochterbetriebe im Ausland haben eine wachsende Bedeutung für die konzerninterne Produktions-und Zuliefererstruktur von Großunternehmen. Investitionsfreiheit kann als Korrelat der Handelsfreiheit gelten. Während Auslandsinvestitionen vor allem in Ländern mit hohen Zollmauern als eine Art Exportersatz dienen, können sie in Ländern mit geringen Zöllen auch als Handelsstimulans fungieren. Bei den Auslandsinvestitionen hat die Bundesrepublik einen gewissen Nachholbedarf -das gilt, wie zu zeigen sein wird, aber nicht für Lateinamerika.

Entsprechend dem ökonomischen Profil Deutschlands richtet sich das deutsche Interesse auf Rahmenbedingungen im Ausland, die den Export sichern und nach Möglichkeit erweitern. Dazu zählen unter anderem: weltwirtschaftliche Regelungen, wie sie etwa in den GATT-Abkommen enthalten sind, die den Freihandel begünstigen; offene und aufnahmefähige Auslandsmärkte; ökonomische, rechtliche und politische Bedingungen, die die Offenheit und Aufnahmefähigkeit dieser Märkte für deutsche Waren, Dienstleistungen und Investitionen positiv beeinflussen. Berücksichtigt man, daß Deutschland vorwiegend technologisch anspruchsvolle, Investitionsgüter exportiert und dementsprechend in den letzten Jahrzehnten der Anteil deutscher Exporte in die Industrieländer gestiegen (in den letzten Jahren gingen mehr als 80 Prozent in die OECD-Länder) und derjenige in die Entwicklungsländer gesunken ist (unter Einschluß der ostasiatischen Schwellenländer ca. 10 Prozent), kann man folgern, daß ein genuines deutsches Interesse an der sozio-ökonomischen Entwicklung von Entwicklungsländern besteht, die diese befähigt, mehr deutsche Exportprodukte zu importieren. So bestehen etwa mehr als 90 Prozent der deutschen Ausfuhren nach Lateinamerika aus industriell gefertigten Vor-und Enderzeugnissen, ein Drittel sind Maschinen.

Ein wichtiger Aspekt der ökonomischen Bedeutung Lateinamerikas für die Bundesrepublik ist unter anderem der Außenhandel. Seine relative Bedeutung ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Der Anteil Lateinamerikas an den deutschen Exporten hat sich von 12 Prozent im Jahre 1954 auf 6 Prozent Mitte der sechziger Jahre und auf 3 Prozent Anfang der sechziger Jahre reduziert. Gegenwärtig absorbiert Lateinamerika zirka 2 Prozent des deutschen Exportwesens. Damit entspricht die Bedeutung Lateinamerikas für die deutschen Exporte dem EG-Durchschnitt (2 Prozent). Für den japanischen Außenhandel (Exporte) hatte Lateinamerika 1991 eine doppelt so große (ca. 4 Prozent der Exporte), für die USA sogar eine mehr als siebenmal so große Bedeutung (15 Prozent der Exporte). Von der Exportstatistik werden allerdings Lieferungen von Tochterunternehmen deutscher Multis aus anderen Ländern nach Lateinamerika, zum Beispiel von den USA aus, nicht erfaßt. Wenn man von den historischen Erfahrungen ausgeht, istauch bei optimistischen Zukunftserwartungen nicht damit zu rechnen, daß zum Ende des Jahrzehnts viel mehr als 3 Prozent des deutschen Exports nach Lateinamerika gehen werden. Aber auf Lateinamerika entfällt zirka ein Viertel des deutschen Exportes in die Entwicklungsländer (ohne OPEC-Länder). Der Anteil Deutschlands an den Gesamtimporten Lateinamerikas lag 1991 bei rund 8 Prozent; 7 Prozent der lateinamerikanischen Ex-porte wurden nach Deutschland geliefert. Japan ist für den Außenhandel Lateinamerikas von etwa gleicher Bedeutung wie die Bundesrepublik; bei weitem wichtigster Außenhandelspartner Lateinamerikas sind nach wie vor die USA (über 40 Prozent der Exporte und Importe). Innerhalb der EG ist die Bundesrepublik der bedeutendste Außen-handelspartner Lateinamerikas (1991: 28 Prozent der Importe und 33 Prozent der Exporte).

Relativiert werden die Außenhandelszahlen dadurch, daß Lateinamerika traditionell eine bevorzugte Region für deutsche Investitionen war. Nach Schätzungen übersteigt die Produktion deutscher Tochterunternehmen in Lateinamerika jährlich das gesamte deutsche Exportvolumen nach Lateinamerika um nahezu das Sechsfache. Zu berücksichtigen ist auch, daß Lateinamerika außerhalb Westeuropas die einzige Weltregion ist, in der deutsche Unternehmen in einzelnen Sektoren bedeutende Marktanteile besitzen und zum Teil Schlüsselpositionen einnehmen. In Lateinamerika sind 70 Prozent der deutschen Investitionen außerhalb des OECD-Bereichs konzentriert (Bestand). Man muß dabei berücksichtigen, daß etwa 90 Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen in den letzten Jahren auf Industrieländer entfielen und der Entwicklungsländeranteil kontinuierlich zurückgegangen ist. Die tatsächlichen Investitionsbeträge in Lateinamerika sind aber höher als in den offiziellen Statistiken ausgewiesen (1991: 16 Mrd. D-Mark). Denn in ihnen werden deutsche Direktinvestitionen über Drittländer (USA, Liechtenstein, Luxemburg, Holland, Schweiz etc.) sowie die teilweise beachtlichen Reinvestitionen deutscher Tochterunternehmen und die Finanzierung aus lokalen Quellen nicht erfaßt. Eine Befragung bei deutschen Handelskammern in Lateinamerika hat zum Beispiel für 1988 einen doppelt so hohen Bestand an Direktinvestitionen ergeben, wie von der Bundesbank registriert worden ist.

Es gibt Anzeichen dafür, daß Lateinamerikas Bedeutung innerhalb der konzerninternen Produktions-und Zuliefererstruktur von deutschen Großunternehmen zunimmt. So exportiert VW aus Kostengründen nur noch von Mexiko aus in die USA, Mercedes Benz liefert in Brasilien herge1 stellte Lkws nach Australien, auf die Lieferung von Autoteilen (u. a. Motoren) aus dem mexikanischen VW-Werk an das Mutterhaus in Deutschland ging in den letzten Jahren ein Viertel der Gesamtexporte Mexikos nach Deutschland zurück.

Die in Lateinamerika in Angriff genommenen Wirtschaftsreformen entsprechen voll dem besonderen Interessenprofil Deutschlands. In ganz Lateinamerika -das kommunistische Kuba bildet noch eine Ausnahme -hat man sich von der bisher verfolgten Politik der „importsubstituierenden Industrialisierung“ staatskapitalistischer Natur mit durch hohe Zölle geschützten einheimischen Industrien distanziert und experimentiert mit einer liberalen Wirtschaftspolitik, die unter anderem ihren Ausdruck in Privatisierungsmaßnahmen und einer verstärkten Weltmarktintegration findet. Insbesondere die Zollsenkungen und der Abbau nichttarifärer Hemmnisse begünstigen deutsche Exporte, und neue Gesetze bieten Anreize für deutsche Investitionen. So ist es heute fast überall in Lateinamerika wieder gestattet, rein deutsche Tochterunternehmen zu gründen und einen freien Gewinn-sowie Kapitalrücktransfer vorzunehmen. Wichtig dürfte auch sein, daß die lateinamerikanischen Staaten für eine freihändlerische Weltwirtschaftsordnung eintreten, was durch den Beitritt zahlreicher Staaten zum GATT-Abkommen dokumentiert worden ist. Im Nord-Süd-Dialog nimmt Lateinamerika dementsprechend eine für die deutsche Position aufgeschlossene Haltung ein.

Hinzuweisen ist ferner auf die ökonomischen Integrationsanstrengungen lateinamerikanischer Staaten, etwa in den Andenländem (Anden-Pakt) und im südlichen Südamerika (Mercosur). Die dadurch geschaffenen größeren Märkte dürften bessere Exportchancen bieten und eröffnen deutschen Tochterunternehmen in Lateinamerika Möglichkeiten zur Großproduktion. Die Freihandelszone Nafta (Mexiko, USA, Kanada) würde deutsche Investitionen in Mexiko besonders attraktiv machen. Es bleibt abzuwarten, ob die von US-Präsident Bush 1990 verkündete große Freihandelszone, die von Alaska bis Feuerland reichen soll, Wirklichkeit wird. Allerdings sei vor zu großen Erwartungen gewarnt. 1990 lag der gemeinsame Anteil der Staaten des Mercosur, des Anden-Paktes, des gemeinsamen zentralamerikanischen Marktes und des karibischen Caricom am Welthandel bei knapp über 2 Prozent. Durch die Integration wird insbesondere der Handel zwischen den lateinamerikanischen Ländern in Produktionssparten zunehmen, in denen der deutsche Exportanteil traditionell gering ist. In der Nafta stimmt die Sektorstruktur der mexikanischen Importe aus Deutschland in vielenBereichen mit der Sektorstruktur der mexikanischen Importe aus den USA überein. In den vergangenen Jahren hat die wechselseitige Bedeutung der USA und Lateinamerikas als Handelspartner zugenommen. Die USA haben mit der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten Handelsrahmenabkommen abgeschlossen, die als Instrumente zur Förderung ihrer Exporte nach Lateinamerika dienen.

Es ist unwahrscheinlich, daß die lateinamerikanischen Staaten vom ökonomischen Reformkurs grundsätzlich abweichen und eine Rückkehr zum Entwicklungsmodell der „importsubstituierenden Industrialisierung“ stattfinden wird. Denn dieses Entwicklungsmodell wurde über Jahrzehnte, seit der Weltwirtschaftskrise der zwanziger Jahre, verfolgt und hat sich eindeutig als untauglich erwiesen, die Erwartungen zu erfüllen, die man in es gesetzt hatte. Das gleiche gilt für die mit diesem ökonomischen Entwicklungsmodell verbundene populistische Politik. Keineswegs auszuschließen ist aber, daß der Reformkurs in seiner Radikalität abgeschwächt wird und es zu einer zeitweiligen Rücknahme einzelner Maßnahmen kommt, etwa der angekündigten Privatisierungen im staatlichen Dienstleistungsbereich. Sollten sich die protektionistischen Tendenzen in der EG weiter verstärken, ist nicht auszuschließen, daß auch in Lateinamerika in Zukunft wieder stärker protektionistische Politiken angewandt werden.

Unter den Entwicklungsregionen gehört Lateinamerika ökonomisch zur „Mittelklasse“. In bezug auf sein Pro-Kopf-Einkommen ist es der früheren Sowjetunion vergleichbar. Strittig ist, wie man das Wirtschaftspotential und die wirtschaftlichen Entwicklungsperspektiven Lateinmamerikas einzuschätzen hat. Nach dem ökonomischen Krisenjahr-zehnt der achtziger Jahre -man spricht von der „verlorenen Dekade“ -verzeichnet Lateinamerika wieder positive Zuwachsraten, die Interamerikanische Entwicklungsbank hat die neunziger Jahre gar emphatisch zur „Dekade der Hoffnung“ deklariert. Sie prognostizierte, daß die Region bis zum Jahre 2000 ein durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum von mehr als 4 Prozent erreichen könne, bei steigender Tendenz gegen Ende der Dekade. Auch die Weltbank hält ein durchschnittliches jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von knapp 4 Prozent für möglich. Das Pro-Kopf-Einkommen wäre dann zu Beginn des nächsten Jahrzehnts ungefähr um ein Viertel höher als zehn Jahre zuvor.

Bei derart optimistischen Prognosen sollte man aber Vorsicht walten lassen. Zum einen hängt ihr Realitätsgehalt entscheidend von der Entwicklung der beiden größten Volkswirtschaften, der brasilianischen und der mexikanischen, ab. Zum anderen läßt die internationale Wettbewerbsfähigkeit der lateinamerikanischen Ökonomien noch viel zu wünschen übrig. Schließlich ist das Ausmaß an sozialer Ungleichheit in den meisten lateinamerikanischen Ländern nicht nur größer als in den Industrieländern, sondern auch größer als in anderen Entwicklungsregionen. Die Weltbank schätzt den Anteil der Armen an der Bevölkerung Lateinamerikas, also der Personen, deren Einkommen nicht ausreicht, um Grundbedürfnisse zu befriedigen, auf rund ein Viertel, die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (VN) für Lateinamerika für 1990 auf 46 Prozent und den Anteil der extrem Armen auf 22 Prozent. Zwischen nur „mäßiger sozialer Ungleichheit“ und erfolgreicher sozio-ökonomischer Entwicklung besteht ein Zusammenhang. Dies zeigt sowohl die Entwicklungsgeschichte der heutigen Industrieländer als auch die der ostasiatischen Schwellenländer. Die in vielen lateinamerikanischen Ländern herrschende extreme soziale Ungleichheit kann deshalb als strukturelles Hindernis gelten, das einer erfolgreichen nachholenden sozio-ökonomischen Entwicklung im Wege steht.

Als Handelsstaat kann es sich Deutschland gar nicht leisten, den lateinamerikanischen Markt zu vernachlässigen, auch wenn er begrenzt und seine Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt sein dürften. Auch wenn nur ein Drittel der Lateinamerikaner als Käufer von deutschen Exportwaren und Produkten deutscher Tochterunternehmen in Lateinamerika in Frage käme, wären dies immerhin noch 150 Millionen Menschen. Im genuinen ökonomischen Interesse Deutschlands liegt es, daß krasse soziale Ungleichheiten abgebaut werden und sich in Lateinamerika leistungsfähige soziale Marktwirtschaften entwickeln.

Bekanntlich konzentrieren sich die wirtschaftlichen Aktivitäten der Bundesrepublik auf wenige große und halbgroße lateinamerikanische Länder: Brasilien, Mexiko, Argentinien, Chile, Kolumbien, Venezuela. Zwar werden über 80 Prozent des Handels der Bundesrepublik Deutschland mit Lateinamerika mit diesen Ländern abgewickelt, nahezu 80 Prozent der deutschen Investitionen in Lateinamerika entfallen auf Brasilien (1991: 48 Prozent), Mexiko (1991: 20 Prozent) und Argentinien (1991: 11 Prozent). Im Kontext der Integrationsprozesse wächst aber vielleicht auch die Bedeutung der kleineren Länder.

Deutschland sollte sich für einen Abbau des für Lateinamerika schädlichen Protektionismus ein-setzen. Allerdings sind die Möglichkeiten der Bundesrepublik, Einfuhren aus Lateinamerika zu erleichtern, durch die Einbindung in die Europäische Union (EU) begrenzt. Die EU betreibt bekanntlich gegenüber Drittländern -insbesondere bei Agrarprodukten -eine restriktive Importpolitik. Lateinamerika hat für die EU weder handelspolitisch noch entwicklungspolitisch Priorität. Die entwicklungspolitischen Präferenzen (Entwicklungshilfe, Handelserleichterungen etc.) der EU hegen eindeutig bei den ehemaligen Kolonien Frankreichs und Großbritanniens, in Afrika, der Karibik, im Mittelmeerraum und neuerdings auch in den osteuropäischen Ländern.

III. Wertinteressen

Im deutschen Wertinteresse liegt es, sich weltweit für Frieden, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Eine Argumentation, die sich auf Wert-interessen bezieht, wird gerne als realpolitisch naiv qualifiziert. Aber auch realpolitisch lassen sich gute Gründe dafür anführen, warum es für die deutsche Außenpolitik sinnvoll ist, sich an Wert-interessen zu orientieren: -Wie Umfragen zeigen, wünscht die deutsche Bevölkerung mehrheitlich eine derartige Außenpolitik. Der Realpolitiker par excellence, Henry Kissinger, mußte feststellen, daß die Präferenz der amerikanischen Bevölkerung für eine an Menschenrechtskriterien orientierte Außenpolitik eine reale Größe darstellte, die berücksichtigt werden mußte.

-Das Image der Bundesrepublik in der Welt wird nicht unwesentlich dadurch geprägt, an welchen Normen es seine Außenpolitik orientiert.

Nach der Wiedervereinigung hat dieses Image für Deutschland, das nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen strebt, zusätzlich Bedeutung gewonnen.

Für dieses Image wäre es förderlich, wenn Deutschland weltweit, auch in Lateinamerika, ein klar erkennbares Interesse an der Prävention und friedlichen Regulierung gewaltsamer Konflikte und der Verankerung pluralistischer, rechtsstaatlicher und sozialer Demokratie zeigte.

Lateinamerika stellt einen Partner dar, der sich im besonderen Maße für die Praktizierung einer solchen Politik eignet. Im Vergleich mit anderen Re7 gionen sollte man zunächst generell darauf hinweisen, daß ethno-politische Konflikte eine äußerst geringe Rolle spielen und nirgendwo ein Auseinanderbrechen der Staaten zu erwarten ist.

Lateinamerika zeichnet sich durch die Fähigkeit und Bereitschaft zur friedlichen Regulierung von Bürgerkriegskonflikten aus. Als Beispiele für ein erfolgreiches Konfliktmanagement sind insbesondere Nicaragua (auch wenn es dort zu Gewalttaten demobilisierter Soldaten und ehemaliger Contras kommt) und El Salvador zu nennen. Die Konflikt-regulierung in Nicaragua und El Salvador fand unter der Ägide der Vereinten Nationen statt, sie wurde von ganz Lateinamerika unterstützt. In Kolumbien hat es Versuche gegeben -allerdings bisher nur partiell erfolgreich -, das Guerillaproblem auf dem Verhandlungswege zu lösen. Ein ähnlicher Versuch findet in Guatemala statt. Nur in Peru, dem einzigen lateinamerikanischen Land, das noch mit einer ernsthaften Guerillabewegung konfrontiert ist, ist zur Zeit eine Verhandlungslösung nicht denkbar, schon wegen des Sonder-charakters der dortigen Guerilla.

Es hat sich ein Trend herausgebildet, seit langem bestehende Grenzkonflikte mit friedlichen Mitteln definitiv zu lösen. So akzeptierten El Salvador und Honduras, die 1969 einen Krieg miteinander führten, einen Schiedsspruch des Internationalen Gerichtshofes über den Grenzverlauf. Chile und Argentinien konnten sich über konkurrierende Besitzansprüche im 3eagle-Kanal und weitere strittige Grenzfragen einigen. Guatemala hat Belize, auf das es traditionell Anspruch erhob, als unabhängigen Staat anerkannt.

Argentinien und Brasilien, die sich früher als natürliche Rivalen sahen und ihre Verteidigungsanstrengungen auf einen möglichen militärischen Konflikt untereinander ausrichteten, haben ein Abkommen zur technischen Kooperation auf dem Gebiet der Nuklearenergie geschlossen und 1990 förmlich erklärt, daß sie keine Atomwaffen herstellen wollen, sowie 1991 ihre Nuklearinstallationen internationaler Inspektion zugänglich gemacht. Damit gilt der Atomwaffensperrvertrag de facto für das gesamte Lateinamerika. Das Interesse an einer friedlichen Regimetransformation in Kuba in Richtung auf die Etablierung eines demokratischen politischen Systems wurde bereits erwähnt.

Lateinamerika ist heute weitestgehend eine demokratisch regierte Region. Der Redemokratisierungsprozeß, in dessen Verlauf es zu einer Ablö-sung autoritärer Militärregime kam, erfaßte in den achtziger Jahren nahezu die gesamte Region. Die lateinamerikanischen Demokratien weisen allerdings erhebliche Mängel auf: In mehreren Ländern ist das Militär nach wie vor de facto „stärkste Partei“ und bildet einen Staat im Staate; die Judikative fungiert generell in unzureichendem Maße als unabhängige dritte Gewalt; gravierende Menschenrechtsverletzungen finden nicht nur in Staaten statt, die, mit starken Guerillabewegungen konfrontiert, deren Aktivitäten brutal bekämpfen (Kolumbien, Peru, Guatemala), sondern generell werden gegenüber einfachen Kriminellen elementare Menschenrechte nicht beachtet (besonderes Aufsehen hat der Mord an Straßenkindern in Brasilien durch Todesschwadronen erregt, an denen sich ehemalige und aktive Militärs und Polizisten beteiligen).

Die Mängelliste ließe sich mühelos fortschreiben; beachtet werden sollte aber, daß man für das westliche Verständnis von Demokratie und Menschenrechten in Lateinamerika eine unvergleichlich bessere Aufnahme findet als etwa in islamischen oder asiatischen Regionen. Lateinamerika zeichnet sich gegenüber anderen Regionen der Dritten Welt durch eine große kulturelle Affinität zu Europa aus; es ist die einzige christlich geprägte Entwicklungsregion. Kritik an Strukturdefekten lateinamerikanischer Demokratien braucht deshalb keine Rücksicht auf „latinische“ Mentalität zu nehmen (unter Freunden sagt man sich härter die Wahrheit). Allerdings sollte die Kritik die positiven, wenn auch noch nicht ausreichenden Veränderungen in Ländern ohne demokratische Tradition in Rechnung stellen. Eine konstruktive Kritik kann in Kombination mit konkreten Unterstützungsleistungen -Stichwort „Demokratisierungshilfe“ -einen Beitrag zur Stabilisierung lateinamerikanischer Demokratien leisten.

In Lateinamerika ist ein antiquiertes Souveränitätsverständnis, das sich bei Kritik an Abweichungen von Demokratie-und universellen Menschen-rechtsnormen auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten beruft, im Schwinden begriffen. So hat sich die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die sich als Gemeinschaft demokratischer Staaten begreift, in Peru, Haiti und Guatemala gegen Putschversuche und Putschregime gewandt und im Dezember 1992 ihre Charta dahingehend modifiziert, daß bei einem Staatsstreich die Mitgliedschaft des betreffenden Landes suspendiert werden kann.

Angesichts der Diskreditierung des modernen Autoritarismus (durchaus moderne autoritäre Regime, die sich zu Unrecht selbst als „Entwicklungsdiktaturen“ stilisierten, gingen den gegenwärtigen Demokratien voraus), der systembedingten Schwächen autoritärer Regime, ihres zusätzlichen Legitimationsschwundes im Zeichen der Beendigung des Ost-West-Konflikts und der eindeutigen Präferenz der Hegemonialmacht USA für aus Wahlen hervorgegangene Zivilregierungen ist die Wahrscheinlichkeit äußerst gering, daß sich in Lateinamerika in absehbarer Zeit offen autoritäre Regime wieder etablieren könnten. Nicht ausschließen kann man aber Situationen innenpolitischer Instabilität und die Möglichkeit, daß mit Mängeln behaftete Demokratien zu bloßen Fassadendemokratien mit autoritären Zügen degenerieren. Unseres Erachtens behindert vor allem die in vielen lateinamerikanischen Ländern herrschende extreme soziale Ungleichheit und die bisher mangelhafte Bereitschaft demokratischer Regierungen, sie zu überwinden; die Konsolidierung zu Demokratien westlichen Standards. Zwischen den für eine authentische Demokratie konstitutiven Elementen besteht ein sich wechselseitig beeinflussender Zusammenhang. Wenn ein wesentliches Element, wie die soziale Gerechtigkeit, nicht ausreichend beachtet wird, wirkt sich das negativ auf die anderen Elemente (z. B. Rechtsstaatlichkeit) aus und es kommt allgemein zu einer demokratischen Regression.

Im deutschen Interesse liegt es, sich in Lateinamerika für Demokratien westlichen Standards einzusetzen. Zu ihren Merkmalen gehört mehr als die bloße Existenz eines Mehrparteiensystems und die Bestellung der Regierung in freien Wahlen. Konstitutiv sind daneben Merkmale wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, ein Pluralismus von Interessengruppen, der Primat der zivilen Politik über das Militär und ein von der Bevölkerung als sozial gerecht bewerteter Zustand mäßiger sozialer Ungleichheit. Wenn man diese Kriterien anlegt, können durchaus auch kleine Länder für eine intensive Beziehungspflege in Betracht kommen, wenn sie entsprechende Entwicklungstendenzen zeigen.

IV. Allgemeinpolitische Interessen

Es besteht ein kulturpolitisches Interesse an der Bewahrung und Verbreitung von Kenntnissen der deutschen Sprache und Kultur im Ausland. Schon wegen der fünf Millionen Deutschstämmigen (vorallem in Chile und Brasilien, daneben insbesondere in Argentinien und Guatemala) mißt die deutsche Kulturpolitik Lateinamerika traditionell ein größeres Gewicht bei als anderen Regionen. Davon legen die 39 deutschen Schulen, die 23 Goethe-Institute, die große Zahl von Universitätspartnerschaften sowie die 4000 lateinamerikanischen Studenten in Deutschland ein Zeugnis ab. Deutsche Kulturpolitik kann eine Bildungspolitik unterstützen, die im Idealfall dazu beitragen sollte, das Ausbildungs-und Qualifikationsniveau in den lateinamerikanischen Partnerländern zu verbessern. Gleichzeitig kann sie kulturelle Bindungen mit der Bundesrepublik Deutschland aufbauen, die für andere Politikbereiche möglicherweise (Wirtschaftsbeziehungen etc.) von Nutzen sind.

Unter „allgemeinpolitischen Interessen“ wird hier aber vornehmlich die von deutschen Politikern verstärkt seit der Wiedervereinigung geäußerte Absicht verstanden, weltpolitisch „mehr Verantwortung zu übernehmen“. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Blockkonfrontation bieten vor allem die Vereinten Nationen Zielsetzungen und Instrumente für eine solche Rollenwahrnehmung. Sie sind in der „Agenda für den Frieden“ des Generalsekretärs der Vereinten Nationen beschrieben (Konfliktvorbeugung, friedliche Streit-beilegung, friedensbewahrende, friedensschaffende. und friedenskonsolidierende Maßnahmen). Das deutsche Interesse an einer weltpolitisch aktiveren Rolle kommt in dem Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat zum Ausdruck.

Von allen Entwicklungsregionen bietet sich Lateinamerika wohl am meisten als Partner für eine derartige deutsche Rolle an. Lateinamerika weist ein besonders hohes Maß an regionaler Selbst-organisation auf. Neben der OAS ist vor allem die Rio-Gruppe zu erwähnen, die nicht nur als lateinamerikanisches Konsultativorgan, sondern als Ansprechpartner und Sprachrohr für ganz Lateinamerika fungiert. So finden schon regelmäßige Treffen zwischen EU und Rio-Gruppe statt. Kooperation braucht sich also nicht nur in der traditionellen bilateralen Form zwischen Deutschland und einem lateinamerikanischen Land zu vollziehen.

Die Beziehungen zwischen Deutschland und den lateinamerikanischen Staaten weisen kaum negative Vorbelastungen auf. Deutschland -nicht Spanien -gilt vielmehr als das Land innerhalb der EU, das gegenüber den lateinamerikanischen Anliegen am aufgeschlossensten ist. Das politische und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands bietet keinen Anlaß zu Befürchtungen vor einer übermäßigen Einflußnahme auf die lateinamerikanische Politik. Allerdings setzt eine weitere Partnerschaft mit Lateinamerika auch eine erweiterte Anteilnahme an den Entwicklungen in der Region voraus. In dieser Hinsicht ist es notwendig, daß Deutschland seine Interessen im Hinblick auf Lateinamerika auch innerhalb der EU stärker artikuliert und vertritt. Auf die Bereitschaft Lateinamerikas zur friedlichen Konfliktregulierung innerhalb der Region (Stichwort: Zentralamerika) wurde hingewiesen. Weniger bekannt ist, daß sich einzelne lateinamerikanische Staaten aktiv an Missionen der VN beteiligt haben. Zur Jahresmitte 1993 waren es acht Staaten (Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Honduras, Kolumbien, Uruguay und Venezuela) mit insgesamt 2100 Offizieren und Soldaten. In größerem Umfang entsandten allerdings nur Argentinien und Uruguay Truppen, die anderen Länder beschränkten sich auf militärische Beobachter. Insgesamt kamen 10 Prozent aller Militärbeobachter und 4 Prozent des militärischen Personals bei Missionen der VN aus Lateinamerika. Die Streitkräfte Uruguays hatten bzw. haben mehrere hundert Soldaten und Offiziere in Kambodscha und Mozambique stationiert (seit Mai 1993), Argentinien hat neben kleineren Missionen fast 900 Offiziere und Unteroffiziere nach Kroatien entsandt. Außerdem stellten lateinamerikanische Regierungen, insbesondere die mexikanische und kolumbianische, fast 400 Polizisten für Einsätze der VN zur Verfügung. Das Beispiel Uruguays demonstriert, daß auch kleine, ökonomisch unbedeutende Länder für die deutsche Politik von Interesse sein können. Wenn man sich das breite Interessen-und Aufgabenspektrum deutscher Lateinamerikapolitik deutlich macht, kann der auf deutscher Seite ausgeprägte Pluralismus der Akteure und Ansätze durchaus als Vorteil gelten. Eine vom Auswärtigen Amt strikt formulierte, zentral gesteuerte, von den Botschaften exekutierte Lateinamerikapolitik aus einem Guß, die für alle Akteure verbindlich wäre, ist nicht wünschenswert. Für die deutsche Lateinamerikapolitik ist es eher von Vorteil, daß es neben der offiziellen auch eine „inoffizielle“ der Kirchen und der politischen Stiftungen gibt. Bei einer Bestandsaufnahme aktueller und künftiger deutscher Interessen in Lateinamerika sollte natürlich ein möglichst breiter Konsens über die Ziele deutscher Lateinamerikapolitik angestrebt werden. Es wäre leichtfertig, nicht mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die demokratischen Staatsformen in einigen lateinamerikanischen Ländern zu bloßen Fassadendemokratien degenerieren. In solchen Situationen wäre die Nutzung von Kontakten der Protagonisten „inoffizieller“ Lateinamerika-politik zu oppositionellen Parteien, Gruppen, Institutionen, Organisationen und Bewegungen besonders wichtig. Das halbautoritäre, fassaden-demokratische Peru, wo Präsident Fujimori die Traditionsparteien von der Macht ausgeschlossen hat und eine Art plebiszitär legitimierte Diktatur ausübt, verdeutlicht eine generelle Problematik, die in Zukunft in Lateinamerika wieder von Bedeutung sein könnte.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Heinrich-W. Krumwiede, Dr. phil. habil., geb. 1943; Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Theologie in Heidelberg und Berlin; wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen; Privatdozent für Politische Wissenschaft an der Universität Augsburg. Veröffentlichungen u. a.: Politik und katholische Kirche im gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß. Tradition und Entwicklung in Kolumbien, Hamburg 1980; Demokratie und Menschenrechte in Lateinamerika zu Beginn der 90er Jahre, Arbeitsunterlagen und Diskussionsbeiträge des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Nr. 30, Hamburg 1993; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften. Detlef Nolte, Dr. phil., geb. 1952; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Germanistik an der Universität Mannheim; wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Instituts für Iberoamerika-Kunde in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Rebellion und Integration. Gewerkschaften in der chilenischen Politik, Saarbrücken 1986; (zus. mit Heinrich-W. Krumwiede) Chile: Auf dem Rückweg zur Demokratie?, Baden-Baden 1988; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.