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Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille | APuZ 11/1993 | bpb.de

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APuZ 11/1993 Krise oder Wandel? Zur Zukunft der Politik in der postindustriellen Moderne Ist die Kritik an den politischen Parteien berechtigt? Abkehr von den Parteien? Dimensionen der Parteiverdrossenheit Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille Rechtsextremismus und Wahlen in der Bundesrepublik

Nichtwahl und Protestwahl: Zwei Seiten einer Medaille

Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gestützt auf Umfragedaten und Ergebnisse der amtlichen Repräsentativstatistik wird gezeigt, daß politische Unzufriedenheit, fehlende Parteibindungen und mangelndes politisches Interesse sowie die An-oder Abwesenheit eines Gefühls, daß Wählen Staatsbürgerpflicht ist, die derzeit wichtigsten Einflußfaktoren der Wahl-enthaltung überhaupt darstellen dürften. Seit 1980 hat der Anteil der Personen mit einer Bindung an eine Partei tendenziell abgenommen, während die politische Unzufriedenheit zugenommen hat. Außerdem neigen politisch Unzufriedene und Personen ohne Parteibindung sowie politisch Uninteressierte heute stärker zum Nichtwählen als früher. Vor allem innerhalb der jüngeren Altersgruppen hat das politische Interesse stark abgenommen, was den überdurchschnittlich hohen Zuwachs an Nichtwählem unter den jüngeren Wahlberechtigten erklären könnte. Für politisch Unzufriedene schließlich scheint die Wahlenthaltung nur eine mögliche Form der Reaktion zu sein. Eine zweite ist die Protestwahl, wovon derzeit generell die GRÜNEN sowie im Westen die Republikaner und im Osten die PDS profitieren.

I. Steigende Unzufriedenheit der Wähler?

Tabelle 1: Wahlentscheidung 1991 innerhalb verschiedener Befragtengruppen

Quelle: Kumulierte Politbarometer West und Ost des Jahres 1991.

In den letzten Monaten erfuhren Begriffe wie „Parteien-und Politikverdrossenheit“ in der deutschsprachigen politischen Publizistik eine unerwartete Renaissance. Ausgelöst wurde die Diskussion durch die Beunruhigung über das deutliche Anwachsen der „Partei der Nichtwähler“ zwischen den Bundestagswahlen 1983 und 1990 und die Zunahme der Unterstützung dritter, dem parlamentarischen System oder dem liberalen Rechtsstaat kritisch gegenüberstehender Parteien in der Bevölkerung. In diesem Zeitraum verdoppelte sich der Anteil der Nichtwähler in den alten Bundesländern von 10, 9 auf 21, 6 Prozent. Hinzu kam in den neuen Bundesländern ein drastischer Rückgang der Wahlbeteiligung zwischen der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit 9, 2 Prozent und der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 mit 24, 5 Prozent Nichtwählern.

Abbildung 5: Der Nichtwähleranteil nach dem Vorhandensein von politischem Interesse zu verschiedenen Zeitpunkten

QUELLE: vgl. Abbildung 3.

Nur geringfügig zeitversetzt verloren also die „etablierten“, das politische System der Bundesrepublik repräsentierenden Parteien CDU, CSU, SPD und FDP seit 1980 in erheblichem Maße an Rückhalt bei den Wahlberechtigten, während gleichze Prozent und der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 mit 24, 5 Prozent Nichtwählern.

Abbildung 6: Der Nichtwähleranteil nach dem Vorhandensein einer Parteibindung zu verschiedenen Zeitpunkten

QUELLE: vgl. Abbildung 3.

Nur geringfügig zeitversetzt verloren also die „etablierten“, das politische System der Bundesrepublik repräsentierenden Parteien CDU, CSU, SPD und FDP seit 1980 in erheblichem Maße an Rückhalt bei den Wahlberechtigten, während gleichzeitig der Anteil der dem Rechts-, Wirtschafts-und Sozialsystem der Bundesrepublik eher distanziert der ablehnend gegenüberstehende Bewegungen von 2 Prozent im Jahre 1980 auf fast 10 Prozent (1990) anwuchs.

Abbildung 7: Der Nichtwähleranteil nach der Zufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien zu verschiedenen Zeitpunkten

QUELLE: vgl. Abbildung 3.

Das ständig wiederholte Leitmotiv der diese Entwicklung erklärenden Diskussion läßt sich wie folgt beschreiben: Die zunehmende Wahlenthaltung (und man könnte hinzufügen: die gleichzeitig erfolgende Abkehr von den etablierten Parteien) sei eine Reaktion auf die steigende Unzufriedenheit mit „den Politikern“, „den (großen) Parteien“, „der Politik“ oder auch „dem politischen System“. So gesehen wären sowohl das Nichtwählen als auch die wachsende Unterstützung von „dritten“ Parteien in der Tat Kehrseiten der gleichen Medaille -nämlich Ausdruck einer Protest-haltung, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte.

Abbildung 8: Der Nichtwähleranteil nach der Unzufriedenheit mit der Regierung und der Opposition zu verschiedenen Zeitpunkten

QUELLE: vgl. Abbildung 3.

Dies ist ein recht einfaches, die Realität vermutlich nur unvollständig abbildendes Modell. Nachfolgend wird daher versucht, dieses Modell durch die Einbeziehung weiterer Ursachen des Nichtwählens einerseits zu relativieren, andererseits zu präzisieren, indem der Frage nachgegangen wird, wie diese Unzufriedenheit im politischen Bereich und die mutmaßlich mit ihr korrespondierende Protest-haltung als Einflußgrößen einzuordnen sind und wie sie sich über die Zeit entwickelt haben.

Tabelle 2: Wahlentscheidung von 1980 bis 1992 innerhalb der Befragtengruppen mit großer bzw. geringer Zufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien (alte Bundesländer)

Quelle: Daten aus den im Text genannten Wahluntersuchungen und einer eigenen Umfrage 1992.

Wie frühere Studien belegen, ist das Ausmaß der Wahlenthaltung normalerweise auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Ursachen zurückzuführen 1. Im folgenden wollen wir zunächst den beteiligungsmindernden Effekt dreier wichtiger Einflußfaktoren untersuchen, und zwar erstens die Politik-, Parteien-und Systemverdrossenheit, zweitens das geringe politische Interesse und drittens die Abwesenheit von Parteibindungen. Diese drei Faktoren weisen nach den weitergehenden, von den Autoren in den vergangenen Monaten durchgeführten Untersuchungen, auf denen die nachstehende Analyse teilweise aufbaut, den stärksten Zusammenhang mit der Wahlenthaltung auf 2.

II. Faktoren der Wahlenthaltung zu Beginn der neunziger Jahre

Abbildung 1: Der Prozentanteil der Nichtwähler in acht Wählergruppen (Sonntagsfrage) in den alten Bundesländern

Daten: Kumulierte Politbarometer 1991, Westdeutschland

Tabelle 1 stellt anhand monatlich durchgeführter Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen aus dem Jahre 1991, die für die Zwecke dieser Analyse zusammengefaßt und wie eine einzige große Umfrage mit mehr als 20000 Interviewten behandelt wurden, den Zusammenhang zwischen diesen Einflußgrößen und der Wahlenthaltungsabsicht dar. In den beiden Wahlgebieten wurden mit rund 1000 Befragten jeweils ca. 12 Befragungen durchgeführt; allerdings wurden einige der unten analysierten Fragen nicht in jeder Umfrage gestellt. Die Erhebungen erfolgten dabei -mit weitestgehend identischen Fragen -in den alten Bundesländern in Form von Telefonumfragen und in den neuen Bundesländern in Form direkter mündlicher Befragungen. a) Politisches Interesse: In Tabelle 1 werden -getrennt nach alten und neuen Bundesländern -die Befragten zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt: in solche ohne politisches und in solche mit politischem Interesse Wiedergegeben ist der Anteil der politisch interessierten und nicht interessierten Befragten, die nach der sogenannten Wahlsonntagsfrage in der Bundestagswahl 1990 die CDU/CSU, die SPD, die FDP usw. gewählt haben oder die sich als „Nichtwähler“ einstuften. Auf diese Sonntagsfrage wird im folgenden immer dann zurückgegriffen, wenn von „Wahlverhalten“ oder „Wahlbeteiligung“ die Rede ist. Erwartungsgemäß finden sich unter den politisch Uninteressierten mehr Nichtwähler als unter den restlichen (mehr oder weniger interessierten) Befragten. Ein deutlich erhöhter Anteil an Wählern möglicher Protest-parteien wie der GRÜNEN (im Osten inklusive des Bündnis ’ 90), der Republikaner oder der PDS ist unter den politisch Uninteressierten nicht festzustellen. Im Gegenteil: Sowohl die GRÜNEN als auch (im Osten) die PDS werden verstärkt von politisch Interessierten gewählt. Über die Republikaner ist aufgrund der geringen Fallzahl -das politische Interesse wurde 1991 von der Forschungsgruppe Wahlen jeweils nur in einer Umfrage mit rund 1000 Befragten erhoben -in dieser Hinsicht keine sichere Aussage möglich b) Parteibindung: Die nicht längerfristig an eine Partei gebundenen Befragten neigen sowohl in denalten als auch in den neuen Bundesländern sehr viel stärker zur Wahlenthaltung als Wahlberechtigte mit Parteibindung. Bei ihnen ist ferner in den alten Bundesländern eine verstärkte Tendenz feststellbar, „andere“ Parteien (d. h. weder die CDU/CSU noch die FDP oder die SPD) zu wählen; in den neuen Bundesländern wird die PDS eher von Befragten gewählt wird, die sich mit einer Partei (in diesem Falle: der PDS) identifizieren. c) Parteien-und Systemverdrossenheit: Aus Tabelle 1 geht weiter hervor, daß sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern Befragte, die allgemein mit der Demokratie in der Bundesrepublik (d. h.dem ganzen politischen System oder mit den Leistungen von Regierung und Opposition im Bundestag) unzufrieden sind, verstärkt eine Neigung zum Nichtwählen zeigen. Daneben wählen solche Befragte häufiger die GRÜNEN und in den neuen Bundesländern die PDS. Auch für die Republikaner zeichnet sich in den alten Bundesländern ein entsprechender, angesichts geringer Fallzahlen allerdings nur mit Vorsicht zu interpretierender Zusammenhang ab. Wie die GRÜNEN und die PDS werden sie offenbar tendenziell eher von den Unzufriedenen gewählt, was sich mit früheren Forschungsergebnissen deckt, nach denen die Republikaner von ihren Anhängern oft als „Partei des kleinen Mannes“ und der Benachteiligten angesehen werden .

Tabelle 3: Die Wahlentscheidung 1992 danach, was man ganz allgemein von den großen Parteien hält

Daten aus einer eigenen Buseinschaltung 1992.

Insgesamt zeigt Tabelle 1 deutliche Zusammenhänge zwischen mangelndem politischen Interesse, einer nicht vorhandenen Parteibindung und Unzufriedenheit mit der Demokratie allgemein sowie dem politischen System und den (gesamten) im Bundestag vertretenen etablierten Parteien auf der einen Seite und der Absicht, sich nicht an Wahlen zu beteiligen, bzw. im Falle politischer Unzufriedenheit: für Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums zu stimmen auf der anderen Seite. Dies gilt sowohl für die alten als auch für die neuen Bundesländer. Gleichzeitig wird deutlich, daß politische Unzufriedenheit -wie zu erwarten -keineswegs die einzige mögliche einstellungsbedingte Ursache des Nichtwählens ist.

Tabelle 4: Die Wahlentscheidung 1992 danach, ob man das Wählen als eine Pflicht des Bürgers ansieht

Daten aus einer eigenen Buseinschaltung 1992.

Als Interpretationsansatz sollen im folgenden die Begriffe Protest und Ausstieg dienen. Wer sich von einem Verkäufer schlecht behandelt fühlt, hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, sein Mißfallen zu zeigen: Er kann sich bei der Geschäftsleitung beschweren oder das Geschäft verlassen ohne zu kaufen. In vielen anderen Lebensbereichen, so auch in der Politik, bestehen funktional gleichwertige Alternativen. Fühlt sich ein Staatsbürger, aus welchen Gründen auch immer, vom politischen System und den tragenden Parteien -gleichgültig, ob in der Regierung oder in der Opposition -nicht gut „bedient“, kann er seinen Protest durch die Wahl einer Partei, die in Opposition zum System steht, oder durch (vorübergehenden oder dauernden) Ausstieg aus der Politik, d. h. durch Stimmenthaltung, äußern. Ersteres bezeichnet man in der Fachsprache der Politikwissenschaft als „voice“, letzteres als „exit“.

Abbildung 9: Der Prozentanteil der Nichtwähler (NW) in sechzehn Wählergruppen (mündliche Repräsentativumfrage 1992, gesamtes Bundesgebiet)

Die Gruppe der politisch Unzufriedenen scheint in der Tat, wie Tabelle 1 zeigt, im Sinne des Voice-Exit-Modells nicht nur zur Nichtwahl (= exit) zu neigen, sondern auch überdurchschnittlich häufig zur Wahl von Parteien wie den GRÜNEN, der PDS und offenbar auch, wenngleich in geringerem Maße, der Republikaner zu tendieren (= voice). In diesem Sinne werden die drei Parteien im folgenden als „Protestparteien“ bezeichnet, obwohl davon auszugehen ist, daß Unzufriedenheit keineswegs die einzig mögliche Motivation für deren Wahl darstellt.

Abbildung 10: Vorhandensein von Unzufriedenheit mit der Demokratie/den Parteien in verschiedenen Altersgruppen 1980, 1987 und 1992

QUELLE: mündliche Repräsentativumfragen; Angaben jeweils Prozentanteil in den Altersgruppen, 92 W: West; 92 O: Ost.

Drei der vier bisher betrachteten Einflußgrößen -nämlich die Parteibindung, die Unzufriedenheit mit Regierungs-und Oppositionsparteien sowie die Unzufriedenheit mit der parlamentarischen Demokratie und dem politischen System -messen möglicherweise sehr eng verwandte Inhalte. Im äußersten Fall stellen sie drei Indikatoren für ein und dieselbe „dahinterliegende“ Größe, etwa die generelle Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien, dar. Eine analytische Trennung der drei Einflußgrößen wäre in diesem Falle wenig sinnvoll. Diese Annahme hält einer empirischen Prüfung jedoch nicht stand, wie die Abbildungen 1 und 2 belegen. Nimmt man die genannten drei Ursachen für das Nichtwählen mit den jeweiligen Ausprägungen „trifft zu“ und „trifft nicht zu“ und teilt die Befragten nach allen möglichen Kombinationen dieser drei Einflußfaktoren auf, so erhält man insgesamt acht Gruppen von „trifft für alle drei Indikatoren zu“ (+ ++) bis „trifft für keinen der drei Indikatoren zu“ (-----). In beiden Abbildungen werden ganz links die Nichtwähleranteile für diejenigen Befragten aufgezeigt, bei denen keine der drei Ursachen zutrifft, bei denen also alle drei Indikatoren „positiv“ ausgeprägt sind. Sie liegen in den neuen und in den alten Bundesländern jeweils unter fünf Prozent. Es folgen drei Gruppen, in denen jeweils eine der drei Ursachen (negativ) auftritt, und drei weitere, in denen jeweils zwei der drei Ursachen (negativ) vorhanden sind. Schließlich sind ganz rechts die Nichtwähleranteile für Befragte, bei denen alle drei Ursachen Zusammentreffen, berichtet. Sie bewegen sich in Ost und West jeweils über 45 Prozent. Die übrigen Anteilswerte rangieren dazwischen, wobei -von einer (neutralen) Ausnahme abgesehen -beim Vorliegen von zwei Ursachen höhere Anteilswerte erreicht werden als beim Auftreten nur eines Einflußfaktors. Dies kann als Indiz dafür gewertet werden, daß alle drei Indikatoren jeweils einen eigenständigen Beitrag zur Erklärung des Nichtwählens leisten.

III. Entwicklungendes Nichtwähleranteils von 1980 bis 1992

Abbildung 2: Der Prozentanteil der Nichtwähler in acht Wählergruppen (Sonntagsfrage) in den neuen Bundesländern

Daten: Kumulierte Politbarometer 1991, Ostdeutschland.

Bisher haben wir ausschließlich Umfragen aus dem Jahre 1991 analysiert, um Faktoren, welche die Höhe des Nichtwähleranteils beeinflussen, nachzuweisen. Im Brennpunkt der derzeitigen Diskussion steht jedoch weniger die Erklärung der Höhe des Nichtwähleranteils als die Erklärung des Anstiegs des Nichtwähleranteils in den letzten Jahren.

Abbildung 11: Unzufriedenheit mit den Führungspersonen in verschiedenen Altersgruppen 1980 und 1992

Quelle: vgl. Abbildung 10

Um dieses Problem zu untersuchen, benötigt man Studien aus unterschiedlichen Erhebungsjahren, die von der Anlage her vergleichbar sind und die über die Jahre identische Frageformulierungen verwenden. Hierfür kann auf die Wahl-Trendumfragen der Forschungsgruppe Wahlen von 1980 mit 12000 Befragten, von 1982/83 mit 5000 und von 1986/87 mit 14000 Befragten zurückgegriffen werden, ferner auf eine Emnid-Umfrage vom Juni und Juli 1992 mit ca. 2500 Befragten. Die ersten drei Umfragen wurden nur im alten Bundesgebiet durchgeführt, letztere auch in den neuen Bundesländern. In den Abbildungen 3 und 4 wird die jeweilige Ausprägung (Prozentanteil unter den Wahlberechtigten) der bisher als mögliche Ursachen des Nichtwählens betrachteten Einstellungen und Haltungen in den Jahren 1980, 1982/83, 1986/87 und 1992 durch Punkte dargestellt; die entsprechende Entwicklung des jeweiligen Indikators über die Zeit ist durch eine Trendlinie gekennzeichnet Zusätzlich aufgenommen wurde eine Frage nach der Zufriedenheit mit den Führungspersonen in der Bundesrepublik.

Abbildung 12: Vorhandensein politischen Interesses in verschiedenen Altersgruppen 1980, 1987 und 1992

QUELLE: vgl. Abbildung 10.

Sowohl die Unzufriedenheit mit der Demokratie, den Parteien und dem politischen System als auch mit den Führungskräften und mit (gleichzeitig) der Regierung und Opposition hat in der Bundesrepublik in den vergangenen zwölf Jahren zugenommen -zum Teil sogar recht deutlich. Damit kommt wachsende politische Unzufriedenheit durchaus als Ursache für den Anstieg der Wahlenthaltung in Betracht. Eine entsprechende Entwicklung nahm auch die Zahl der Bürger mit Parteibindungen, die im Berichtszeitraum insgesamt sank. Auch die Abnahme des Anteils der an eine Partei gebundenen Personen könnte mithin die Zunahme des Nicht-wähler-Anteils mitverursacht haben. Lediglich im Falle des politischen Interesses läßt sich keine derartige Veränderung feststellen. Der Anteil der politisch Interessierten blieb über den von uns betrachteten Zwölfjahreszeitraum hinweg im Aggregat (d. h. als Gesamtzahl) etwa gleich groß. Konzentriert man sich jedoch auf den Zeitraum zwischen 1982/83 und 1992, so ist auch beim politischen Interesse ein leichter Rückgang auszumachen.

Abbildung 13: Vorhandensein einer Bindung zu einer Partei in verschiedenen Altersgruppen 1980, 1987 und 1992

Quelle: vgl. Abbildung 10

Die Vermutung, daß der Anstieg der Wahlenthaltung von der Veränderung der erstgenannten Einflußgrößen verursacht wurde, geht von der stillschweigenden Annahme aus, daß die Stärke des jeweiligen Einflusses über die Zeit hinweg weitgehend unverändert geblieben ist, was nicht unbedingt der Fall sein muß. So könnte der Anteil der politisch Uninteressierten von 1980 bis heute zwar in etwa gleich geblieben sein, gleichzeitig aber ist es vorstellbar, daß sich politisch Uninteressierte heute in weit stärkerem Maße der Wahl enthalten als vor zwölf Jahren. Daraus würde dann -ohne ein Ansteigen ihres Prozentanteils im Elektorat -eine durch die politisch Uninteressierten verursachte Zunahme der Nichtwähler resultieren.

Die Abbildungen 5 bis 8 gehen dieser Möglichkeit nach. In ihnen wird jeweils für Befragte mit und ohne das betreffende Merkmal (politisches Interesse, Parteibindung und politische Unzufriedenheit) der Anteil der Nichtwähler zwischen 1980 und 1992 berichtet. Die Entwicklung über die Zeit wird wiederum mit Hilfe einer Trendlinie beschrieben. Sowohl innerhalb der Gruppe der politisch Uninteressierten als auch bei den nicht Parteigebundenen und den mit der Demokratie, den Par-teien oder der Regierung und gleichzeitig mit der Opposition unzufriedenen Befragten lassen sich über die Jahre hinweg immer mehr Nichtwähler feststellen, wobei der Anstieg bei den politisch Unzufriedenen besonders augenfällig ist.

Dies deutet darauf hin, daß sich bei den oben betrachteten Entwicklungen zwei Effekte überlagern: Erstens ist der Anteil der mit der Demokratie, den Parteien etc. Unzufriedenen unter den Wahlberechtigten im Laufe der vergangenen zwölf Jahre gestiegen (vgl. Abb. 3 und 4); zweitens neigen die Unzufriedenen stärker als früher zum Nichtwählen, was den Nichtwähleranteil zusätzlich erhöht. Entsprechendes gilt für die nicht Parteigebundenen. Auch ihr Anteil steigt über die Zeit, und zusätzlich enthalten sich Personen ohne Parteibindung immer mehr der Wahl (vgl. Abb. 6, 7 und 8). Die politisch Uninteressierten schließlich nehmen zwar anteilsmäßig nicht nennenswert zu, jedoch neigen auch sie etwas stärker als früher zum Nichtwählen (vgl. Abb. 5).

Aber selbst in den jeweiligen Restgruppen -also bei den politisch Zufriedenen, den Parteigebundenen und den politisch Interessierten -hat sich im Lauf der Jahre der Nichtwähleranteil etwas erhöht, wenn auch nicht so stark wie bei den zuerst genannten Gruppen. Diese generelle, für alle Teilgruppen feststellbare Zunahme deutet darauf hin, daß zumindest noch ein weiterer, von uns bisher nicht berücksichtigter Einflußfaktor zum Anstieg des Nichtwähleranteils beiträgt. Welcher Einfluß dies ist, muß vorerst noch offen bleiben; darauf wird in Kapitel IV eingegangen.

Bisher war hauptsächlich von Wahlenthaltung (exit) die Rede. Für die Gruppe derer, die mit der Demokratie, den Parteien und dem politischen System unzufrieden sind, soll für die Zeit zwischen 1980 und 1992 nun noch untersucht werden, inwieweit sie verstärkt „Protestparteien“ wählen (voice).

In den alten Bundesländern ist in der Tat in den vergangenen Jahren ein Anstieg der Wahl „anderer Parteien“ (also nicht der CDU/CSU, SPD oder FDP) durch die Gruppe der Unzufriedenen zu beobachten (vgl. Tabelle 2). Ferner scheint sich der Trend, für „andere Parteien“ zu stimmen, bei den politisch Unzufriedenen über die Zeit mehr zu verstärken als bei den übrigen Befragten, auch wenn der Wert für 1992 nach unten hin „ausreißt“.

Hinter den „anderen Parteien“ verbergen sich bis 1986/87 in erster Linie die GRÜNEN und 1992 zusätzlich die Republikaner. Damit bestätigt sich der in Kapitel II. für das Jahr 1991 festgestellte Protestparteicharakter dieser beiden Bewegungen. Politisch Unzufriedene neigen überdurchschnittlich oft zur Wahl der GRÜNEN und haben dies schon immer getan. Überdies tendiert 1992 im Westen die Gruppe der Unzufriedenen verstärkt zur Wahl der Republikaner als einer möglichen Protestalternative am rechten Rand des Parteienspektrums.

IV. Parteiverdrossenheit und Rückgang von Wahlbeteiligungsnormen

Abbildung 3: Die Entwicklung von Antworten im Zeitverlauf (Teil 1)

QUELLE: mündliche Repräsentativumfragen; Datenpunkte: %-Anteil der betr. Antwort; Linien: Trendlinien.

Im folgenden wird zwei zusätzlichen Punkten anhand einer Mitte 1992 durchgeführten Umfrage des Bielefelder EMNID-Instituts, welche sich auf das gesamte Bundesgebiet (also auch auf die neuen Bundesländer) erstreckte, nachgegangen. Zum einen wurde explizit danach gefragt, was man von den großen Parteien halte. Eine negative Beantwortung dieser Frage dürfte das Vorliegen von Parteienverdrossenheit inhaltlich besser erfassen als die bisher eingesetzte Frage, in der die Parteien nur in Verbindung mit dem politischen System der Bundesrepublik erwähnt sind. Wieder zeigt sich in Ost wie West mit zunehmend negativerer Einschätzung der Parteien eine deutlich wachsende Tendenz zum Nichtwählen (vgl. Tabelle 3). Gleichzeitig werden von den Unzufriedenen erneut die „anderen Parteien“ verstärkt gewählt, d. h. die GRÜNEN sowie -in besonders starkem Ausmaß -im Westen die Republikaner und im Osten die PDS. Damit werden die bisherigen Ergebnisse durch diese neuere, direkter nach der Parteienverdrossenheit fragende Untersuchung nochmals untermauert.

Zum zweiten wurde eine Frage gestellt, die in den weiter oben berichteten Umfragen nicht enthalten war, jedoch für unseren Zusammenhang wichtig ist. Gefragt wurde nach der vom Befragten empfundenen „Wahlnorm“, also danach, ob man es eigentlich für eine Art Pflicht des Bürgers halte, zur Wahl zu gehen. Dabei zeigt sich übereinstimmend in Ost und West ein starker Effekt: Bei Befragten, die dieser Aussage voll zustimmen, liegt der Nichtwähleranteil unter 10 Prozent, bei solBchen, die ihr überhaupt nicht zustimmen, um die 50 Prozent (vgl. Tabelle 4).

Es ist zu prüfen, ob dieser Faktor für das Nicht-wählen zusätzlich zu den bisher schon betrachteten Ursachen nochmals einen eigenständigen Einfluß auf die Tendenz zur Wahlenthaltung ausübt. Dazu werden in Abbildung 9 (analog zu den Abbildungen 1 und 2) wiederum die Befragten je nach dem Vorhanden-oder Nichtvorhandensein von politischem Interesse, Parteibindung und Zufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien in acht Gruppen eingeteilt. Innerhalb der Gruppen wird nun nochmals zwischen Befragten, die eine Wahl-norm empfinden (schraffierte Säulen) und solchen, die dies nicht tun (schwarze Säulen), unterschieden. Die Säulen geben den Prozentanteil der Nichtwähler an und zeigen, daß die Tatsache einer als verbindlich wahrgenommenen oder nicht wahrgenommenen Wahlnorm einen deutlichen zusätzlichen Beitrag zur Erklärung des Nichtwählens leistet, selbst wenn die übrigen Einflüsse bereits berücksichtigt sind.

Das Empfinden oder Nichtempfinden einer Wahl-norm könnte damit die weiter oben bei der Analyse der Zeitverläufe zwischen 1980 und 1992 angesprochene „fehlende“ Einflußgröße darstellen; allerdings kann dies mangels verfügbarer, über einen längeren Zeitraum hinweg konstanter Indikatoren empirisch nicht geprüft werden.

V. Das Alter als Einflußgröße der Wahlenthaltung

Abbildung 4: Die Entwicklung von Antworten im Zeitverlauf (Teil 2)

Quelle: vgl. Abbildung 3

Betrachtet man zum Abschluß die Ergebnisse der amtlichen Repräsentativstatistik, d. h. einer Son45derauszählung der Bundestagswahl 1990 nach dem Alter und dem Geschlecht der Wähler, so fällt auf, daß sich bei dieser Wahl -wie auch schon bei früheren Wahlen -jüngere Wahlberechtigte im Alter zwischen 18 und 30 Jahren besonders häufig nicht beteiligt haben. Allgemein geht die Wahlbeteiligung mit sinkendem Alter zurück, wenn man einmal von dem z. B. schon aufgrund körperlicher Gebrechlichkeit und wachsender gesellschaftlicher Isolierung zu erwartenden hohen Nichtwähleranteil in der Altersgruppe über 70 Jahre absieht Die Unterschiede sind auffallend und in den alten wie den neuen Bundesländern sowohl bei Männern als auch bei Frauen zu beobachten.

Jüngere Personen wählen also im Schnitt seltener als ältere. Da sich die Altersstruktur des Elektorats zwischen 1980 und 1992 nicht sonderlich verändert hat, kann eine Zunahme des Anteils der besonders „wahlmüden“ jüngeren Altersgruppen nicht die entscheidende Ursache für den prozentualen Anstieg der Nichtwähler sein. Dennoch erscheint es sinnvoll, die in Kapitel III untersuchten Entwicklungen noch einmal nach Altersgruppen getrennt zu analysieren. Vielleicht haben sich ja von Altersgruppe zu Altersgruppe wahlrelevante Einstellungen unterschiedlich verändert. Für die Bereiche „Unzufriedenheit mit der Demokratie und den Parteien“, „Unzufriedenheit mit Führungspersonen in der Bundesrepublik“ sowie „Parteibindung“ ist dies kaum der Fall. In allen Altersgruppen steigt die Unzufriedenheit deutlich, während gleichzeitig die Parteibindung tendenziell sinkt, wie man unschwer durch den Vergleich der jeweils ersten drei Säulen in den Abbildungen 10, 11 und 13 erkennen kann. Anders beim politischen Interesse: Es nimmt, wie Abbildung 12 belegt, bei den 18-30jährigen ab, bleibt bei den 30— 45jährigen in etwa konstant und nimmt bei den 45jährigen und Älteren zu. Dies könnte eine Erklärung dafür sein, daß, wie aus den entsprechenden amtlichen Repräsentativstatistiken hervorgeht, der Nichtwählerzuwachs zwischen 1980 (oder auch 1983) und 1990 in der jüngsten Altersgruppe am höchsten und in der ältesten am niedrigsten ausfiel.

Ferner relativieren sich durch die Aufgliederung in Altersgruppen die Ergebnisse aus Abbildung 4. Zwar ist insgesamt der Anteil politisch Uninteressierter zwischen 1980 und 1992 ungefähr gleich geblieben, jedoch ist dies nach unseren Daten in erster Linie offenbar ein Effekt der Überlagerung eines Rückgangs des politischen Interesses in der jüngsten und eines Anstiegs in der ältesten Gruppe. In der vorstehenden Analyse wurde der Frage nachgegangen, welche Motive und Veränderungen von Einstellungen für die wachsende Wahlenthaltung und den Anstieg von Stimmen, die für Protestparteien abgegeben werden, verantwortlich sein könnten. Es zeigte sich, daß erstens die Unzufriedenheit mit den Parteien, dem politischen System, den Führungskräften in der Bundesrepublik, zweitens die nicht vorhandene Bindung an eine Partei und drittens mangelndes politisches Interesse wichtige Ursachen für das Nichtwählen darstellen. Nach von den Autoren durchgeführten weitergehenden, hier nicht im Detail berichteten Untersuchungen dürften diese drei Faktoren sowie die An-oder Abwesenheit eines Gefühls, daß Wählen Staatsbürgerpflicht ist, die derzeit wichtigsten, empirisch nachweisbaren Einflußfaktoren der Wahlenthaltung überhaupt darstellen.

In den Jahren seit 1980 hat überdies der Anteil der Personen mit einer Bindung an (irgend-) eine Partei tendenziell abgenommen, während insbesondere die politische Unzufriedenheit zugenommen ohne Parteibindung sowie politisch Uninteressierte stärker zum Nichtwählen als früher, was den Nichtwähleranteil zusätzlich in die Höhe getrieben hat. Insbesondere innerhalb der jüngeren Altersgruppen hat das politische Interesse stark abgenommen, was den überdurchschnittlich hohen Zuwachs an Nichtwählern unter den jüngeren Wahlberechtigten erklären könnte.

Für politisch Unzufriedene schließlich scheint die Wahlenthaltung nur eine mögliche Form der Reaktion zu sein. Eine zweite ist die Protestwahl, wovon generell die GRÜNEN sowie im Westen die Republikaner und im Osten die PDS profitieren. Angesichts des deutlichen Anstiegs der politisch motivierten Unzufriedenheit während der vergangenen zwölf Jahre und der in Krisenzeiten erfahrungsgemäß größer werdenden Wahrscheinlichkeit, daß weniger Wahlberechtigte ihren Unmut in der Stimmenthaltung und dafür umso mehr in der Wahl von Protestparteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums zu artikulieren suchen, besteht in der gegenwärtigen Situation durchaus Anlaß zur Beunruhigung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann, Der Nicht-wähler -Das unbekannte Wesen, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990 (Arbeitstitel), Opladen 1993 (i. E.). Wo Entwicklungen im Zeitverlauf untersucht werden, geht die vorliegende Untersuchung über diesen Basisaufsatz hinaus und stellt insofern eine Ergänzung dazu dar.

  2. Die Gruppen wurden anhand der Antworten "nein, gar nicht", "ja" bzw. "nicht besonders" auf die Frage nach dem politischen Interesse gebildet.

  3. Interpretiert werden sollten nur klare Differenzen, da es sich um Umfrageergebnisse handelt. Die Interpretation klei-nerer Prozentpunktabweichungen oder die Darstellung von Nachkommastellen bei Prozentangaben wäre wenig hilfreich; denn Umfrageergebnisse stellen stets nur Schätzungen dar, wobei die tatsächlichen Bevölkerungswerte zwar mit einer angebbaren Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten Abstand um den gemessenen Wert liegen, jedoch in aller Regel diesem nicht genau entsprechen.

  4. Vgl. Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann, Die Republikaner, in: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Die Entwicklung der Volksparteien im vereinten Deutschland, München 1992, S. 191-228; Siegfried Schumann, Die Landtagswahl 1990 in Bayern, Akademie-Report der Hanns-Seidel-Stiftung, München 1991; Dieter Roth, Die Republikaner. Schneller Aufstieg und tiefer Fall einer Protestpartei am rechten Rand, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 37-38/90, S. 27-39.

  5. Zu beachten ist dabei eine gegenüber den vorangegange-

  6. Vgl. Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946-1991. Ein Handbuch, München 1991, S. 223.

Weitere Inhalte

Jürgen W. Falter, Dr. rer. pol., geb. 1944; o. Professor für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg, mit H. Rattinger und K. Troitzsch) Wahlen und politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland. Neuere Entwicklungen der Forschung, Frankfurt-Bern 1989; Hitlers Wähler, München 1991; (Hrsg, mit S. Schumann und J. Winkler) Wahlforschung und Wählerverhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1993 (i. E.). Siegfried Schumann, Dr. phil., geb. 1957; wiss. Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Politische Einstellungen und Persönlichkeit. Ein Bericht über empirische Forschungsergebnisse, Frankfurt/M. u. a. 1986; Wahlverhalten und Persönlichkeit, Opladen 1990.