Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wirtschaft und Ethik | APuZ 30-31/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 30-31/1990 Zur Übertragbarkeit der Sozialen Marktwirtschaft auf Entwicklungsländer Die laufende Uruguay-Runde des GATT und ihre Bedeutung für die Entwicklungsländer Soziale Auswirkungen der Sparprogramme von Weltbank und IWF in Entwicklungsländern Wirtschaft und Ethik

Wirtschaft und Ethik

Wilhelm Korff

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Moderne Wirtschaft ist wesenhaft Innovativwirtschaft. Sie baut sich nach Bedingungen auf, die zu einer immensen Steigerung der Möglichkeiten in fast allen Lebensbereichen geführt haben. Voraussetzung hierfür ist ihre Entwicklung zu einem von der staatlich-politischen Sphäre relativ autonomen Kultursachbereich in den letzten 200 Jahren. Damit verschafft sie dem erwachten technisch-wissenschaftlichen Potential des Menschen gesellschaftliche Effizienz und wird so zum stärksten Promotor einer sich ständig weiter entwickelnden technisch-wissenschaftlichen Kultur. Dies aber schließt zugleich — und hier liegt der Kem des Problems — eine Begrenzung auch ihrer moralischen Zuständigkeiten ein. Von daher erweist sich die Heranziehung ethischer Maßstäbe als zwingend. Moderne Wirtschaft muß sozialverträglich, umweltverträglich und human angemessen sein. Das entscheidende Problem bleibt hierbei, wer für die Durchsetzung dieser Maßstäbe zuständig ist: der Staat, die Wirtschaft selbst, das einzelne Subjekt oder die Gesellschaft als Öffentlichkeit? Letztlich geht es darin um nichts geringeres als um die Grundfrage einer ethisch rechtfertigungsfähigen Wirtschaftsordnung. Für eine solche sind notwendig föderative Verantwortungs-und Zuständigkeitsstrukturen gefordert.

Wie die künftige Welt aussehen wird, hängt wesentlich von den Bedingungen des Wirtschaftens ab, für die man optiert. Der generelle Rückwirkungseffekt des ökonomischen Faktors ist enorm. In diesem Punkte ist Karl Marx zuzustimmen: verändert sich die Produktionsweise, so verändert sich alles. Je mehr der Mensch daran geht, eine Welt zu wollen, die sich ihm in all ihren Möglichkeiten erschließt, um so nachdrücklicher sieht er sich in neue, vorher ungeahnte Verantwortungen genommen. Die Frage der Legitimität der Neuzeit — die Frage der Rechtfertigungsfähigkeit des die Neuzeit bestimmenden und ihr inhärenten Entwicklungsgangs — verdichtet sich zur Frage der ethischen Gestaltung ihrer Ökonomie. Ist es doch diese Ökonomie, die das menschliche Dasein in seinen Entfaltungschancen und Entfaltungsqualitäten auf völlig neue Grundlagen gestellt hat. An der Bewältigung der daraus entstandenen Probleme, zu denen letztlich auch die Entstehung der sogenannten Entwicklungsländer gehört, entscheidet sich am Ende die Stimmigkeit der Welt.

In der zukünftigen Wirtschaft ist kein Platz für Utopien, für ein riskantes, die Realität überspielendes

Moderne Wirtschaft ist wesenhaft InnovativWirtschaft. Darin unterscheidet sie sich von jeder bisherigen geschichtlichen Form menschlichen Wirtschaftens. Ihre innovative Struktur gewinnt diese Wirtschaft aus der methodischen Anwendung und Ausweitung technisch-rationaler Mittel bei der Beschaffung, Herstellung und Verteilung von Gütern, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen sollen. Gleichzeitig vermag sie aus denselben Voraussetzungen fortschreitend neue, bisher unbekannte Güter zu entwickeln und bereitzustellen, mit denen sie zwar an gegebene Bedürfnisse anknüpft, diese aber damit auch ständig fortentwikkelt. Moderne Innovativwirtschaft erweist sich als Konsequenz, aber zugleich auch als Motor eines Kultursystems, das nach seinem Ansatz darauf ausgelegt ist, die Einrichtung und das Wissen des Menschen in methodischer Weise zu mehren. Die Welt, die sich der Mensch auf dieser Grundlage einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Ökonomie zu schaffen vermochte, stellt alles bisher Erreichte in den Schatten. Sie baut sich nach Bedingungen auf, die zu einer immensen Steigerung der Schwärmertum. Aber auch kein Platz für den Zynismus von Technokraten, für einen Machiavellismus, der im Mißbrauch der Gegenwart Zukunft vereitelt. Gefordert ist vielmehr jene ehrliche, un-prätentiöse Haltung, die Wilhelm von Humboldt auf die Formel gebracht hat: Wer in der Gegenwart immer das Richtige tut, im Bereich des Erkennbaren bleibt, leistet den besten Dienst für die Zukunft.

Was aber ist dann das Richtige? Wie hat sich eine Wirtschaft zu verstehen und zu vollziehen, die heute der Welt für morgen gerecht werden will? Das ist die wirtschaftsethische Schlüsselfrage, die einer dezidierten Antwort bedarf. Dabei kristallisieren sich vier Schwerpunkte heraus: 1. Was ist das Spezifikum moderner Wirtschaft? 2. Worin liegen ihre strukturellen Voraussetzungen? 3. Welche ethischen Maßstäbe sind an diese Wirtschaft anzulegen? 4. Wer ist zuständig für die Durchsetzung dieser Maßstäbe?

I. Das Spezifikum moderner Wirtschaft

Möglichkeiten in fast allen Lebensbereichen geführt haben, der Nahrungsmittel-und Güterproduktion, des Gesundheits-, des Verkehrs-und des Bildungswesens, der Kommunikation und schließlich, im Gefolge der Gesamtsteigerung der Ökonomie, des Ausbaus von sozialen Netzen.

Eben dieses auf ständige Ausweitung seiner Einsichts-und Könnensbestände ausgelegte Kultursystem entwickelt entsprechend eine eminent expansive Kraft. Alle wollen an ihm partizipieren. Keine überkommene Kultur vermag sich auf die Dauer seinem Sog zu entziehen, auch nicht in den Entwicklungsländern. Zu seiner Verbreitung bedarf es keiner „Missionare“. Tatsächlich hat es — so Hannah Arendt — eine neue Weltsituation entstehen lassen. Mit der globalen Rezeption der technisch-wissenschaftlichen Kultur und deren mächtigstem Promotor, der modernen Ökonomie, ist die Entstehung des Menschengeschlechts zu einer einfachen Tatsache geworden. Die Entwicklung scheint mit unaufhaltsamer Notwendigkeit zu verlaufen. Wir sind Zeitgenossen einer entstehenden Weltkultur.

II. Strukturelle Voraussetzungen moderner Ökonomie

Fragen wir nach den strukturellen Voraussetzungen dieses Entwicklungsschubs, der die Menschheit auf eine neue Stufe ihrer Geschichte gebracht hat, so stoßen wir auf Zusammenhänge, denen gewöhnlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, von deren Steuerung aber dennoch das Gelingen oder Mißlingen des gesamten weiteren Fortschrittsprozesses abhängt. Hiermit ist die im Zuge dieser Entwicklung immer stärker hervortretende Diversifizierung der menschlichen Handlungssphäre, die Entstehung von autonomen Kultursachbereichen gemeint. zu denen nun schon seit zweihundert Jahren auch die Wirtschaft zählt.

Die Geschichte des neuzeitlichen Fortschritts wird erst zureichend verstanden, wenn sie zugleich als Geschichte des Auseinandertretens und der Verselbständigung von Kultursachbereichen begriffen wird. Wir haben es mit einem Prozeß zu tun, der lange zurückreicht. Er gehört wesenhaft zur Geschichte der westeuropäischen christlichen Kultur. In ihr hat er seinen Ausgang genommen und von dort aus seine ganze heutige Dynamik entfaltet.

Er beginnt mit der Kompetenzabgrenzung der religiösen Sphäre gegenüber der staatlich-politischen. Der Ruf nach der Libertas ecclesiae, der Freiheit der Kirche, im Investiturstreit des 11. Jahrhunderts inauguriert die Autonomie der kirchlich verfaßten Religion gegenüber weltlicher Herrschaft. Gleichzeitig wird politische Macht damit ihrerseits in ihre Selbständigkeit freigesetzt und als laikale Macht begriffen. Der politische und der religiöse, der staatliche und der kirchliche Ordnungsbereich definieren sich als eigenständige, nicht aufeinander rückführbare Kultursachbereiche. Eine solche Trennung hat beispielsweise die islamische Kultur nie vollzogen. Dies hat Folgen bis heute.

Ein Jahrhundert später erringt die geistige Welt der Wissenschaften in der Universität ihre institutioneile Eigenständigkeit und gewinnt so einen von beiden Bereichen unabhängigen funktionalen Stellenwert. Es entsteht ein eigener, vor weltlichen und geistlichen Anmaßungen geschützter Raum für Lehre und Forschung, der von der scientific Community, der Gemeinschaft der Lehrenden und Forschenden, selbst verwaltet wird. Damit grenzen sich bereits drei relativ autonome Kulturbereiche gegeneinander ab, jeder von ihnen mit eigener, undelegierbarer Kompetenz.

Eine weitere Diversifizierung sollte sich als ebenso folgenreich erweisen, nämlich die zwischen Kunst und Technik in der Spätrenaissance. Wurde im Mittelalter Technik als „ars mechanica“ der Kunst subsumiert, so beginnt sie sich jetzt vom ästhetischen Weltverhältnis zu lösen und eine neue synergetische Verbindung mit den aufkommenden Naturwissenschaften einzugehen. Tritt im Verständnis von Kunst immer mehr ihre Subjektvermitteltheit und damit die Autonomie des Werkes und des Künstlers in den Vordergrund, so sind die Hervorbringungen der Technik umgekehrt durch ihre Objektvermitteltheit charakterisiert. Produkte der Technik entstehen auf der Grundlage quantifizierbarer, mit naturwissenschaftlichen Methoden erschlossener Gesetzmäßigkeiten der uns gegebenen Welt. Genau damit aber eröffnet sich eine ganz neue Form von Produktivität. Fortschreitende Erkenntnis der Natur bedeutet zugleich Erweiterung der Möglichkeiten ihrer technischen Nutzung. Menschliches Erfinden gewinnt Methode. Es folgt den Spuren planmäßigen wissenschaftlichen Forschens und vermag sich gleichzeitig, wo immer dies erforderlich ist, in seinen Dienst zu stellen. Wissenschaft wird so zur unverzichtbaren Voraussetzung von Technikentwicklung und Technik ihrerseits wiederum zum Instrument wissenschaftlicher Erkenntnis. Diese neue Zuordnung von Wissenschaft und Technik schafft die Basis für eine Entwicklung, wie sie dann für den weiteren Gang der Geschichte der Neuzeit bestimmend wurde und schließlich zu den gewaltigsten Umwälzungen der Menschheitsgeschichte geführt hat: mit ihr gewinnt die Idee fortschreitender Sicherung und Entfaltung der menschlichen Lebenswelt Realität.

Freilich, die neue Verbindung von Wissenschaft und Technik bildet hierfür nur die notwendige Voraussetzung. Seine eigentliche Dynamik empfängt dieser Prozeß erst über die sich darin auftuenden immensen ökonomischen Möglichkeiten. In dem die Wirtschaft diese neue wissenschaftlich fundierte Technik systematisch in ihren Dienst nimmt und mit ihrer Hilfe innovative Produktionsverfahren zu entwickeln und entsprechend innovative Produktionsziele anzustreben vermag, tritt die lebensweltliche Bedeutung dieser Technik überhaupt erst in den Blick. Die Wirtschaft verschafft dem erwachten technisch-wissenschaftlichen Potential des Menschen gesellschaftliche Effizienz und wird damit zum stärksten Promotor einer sich ständig weiter entwickelnden technisch-wissenschaftlichen Kultur. Sie verwertet, erstellt und vermittelt, was wissenschaftliche und technische Rationalität ersinnen. Sollen Forschungsergebnisse und Erfindungen nicht sozial folgenlos bleiben, müssen sie, sei es unmittelbar oder über indirekt einwirkende Instanzen, in den ökonomischen Prozeß Eingang finden. Erst über die Wirtschaft werden Wissenschaft und Technik sozial produktiv.

Zur Sicherung solcher Innovativwirtschaft ist aber zugleich auch ein politischer Bezugsrahmen erforderlich, der sich von dem einer jeden stationären Wirtschaft grundlegend unterscheidet, wie er heute noch in den meisten Ländern der Dritten Welt vorherrscht. Stationäre Wirtschaften haben sich geschichtlich als agrikulturell bestimmte Wirtschaften entwickelt, die zur Sicherung ihres maßgeblichen Produktionsmittels, des nutzbaren Grund-und Bodens, geburts-und herrschaftsständisch organisiert waren. Familiale, ökonomische und politische Ordnung bilden dabei eine innere Einheit. Ein solches herrschaftsständisches Ordnungskonzept aber wird in dem Augenblick gesamtgesellschaftlich dysfunktional, wo das ökonomische Geschehen dynamisch und innovatorisch verstanden wird. Moderne Wirtschaft ist durch Neuentwicklung von Produktionsmitteln, Neuerschließung von Produktionszielen und somit generell durch Produktivitätssteigerung bestimmt. Sie zielt auf die Freisetzung von Eigen-initiativen, Kreativität und Kompetenzentwicklung. Ihre Ressource ist der Einfallsreichtum von Wissenschaftlern, Technikern und Unternehmern. Damit drängt die Wirtschaft notwendig zur Emanzipation von den Prärogativen politischer Herrschaft. Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts beginnt sie sich in all ihren Segmentierungen als autonomer Kultursachbereich auszuformen. Die Trennung von Wirtschaft und Staat, von ökonomischer und politischer Sphäre erweist sich als zwingend. Erst in relativer Selbständigkeit gegenüber der öffentlichen Hand kann Wirtschaft ihre innovative Kraft entfalten.

Kein Tatbestand beweist die Notwendigkeit, der Wirtschaft einen autonomen Entfaltungsraum zu sichern, deutlicher als der sukzessive Zusammenbruch der kommunistischen Systeme. Planwirtschaft zielt ja gerade auf die Einheit von Staat und Wirtschaft. Was auf dieser Basis zu erreichen ist, bleibt reine Subsistenzwirtschaft, die kaum mehr als Grundbedürfnisse zu befriedigen vermag. Der politische Impetus zur Verplanung trifft nicht nur die Wirtschaft mit ihren Produktionsmitteln, sondern letztlich die menschliche Produktivität überhaupt und damit zugleich alle auf Autonomie angelegten Kultursachbereiche. Hier wurde das Rad der Geschichte um ein Jahrtausend zurückgedreht. Auch der jüngste, erst in unserem Jahrhundert im Zuge der stürmischen Entwicklung der Kommunikationstechnik entstandene neue Kultursachbereich, die Welt der Medien, konnte unter dieser Voraussetzung gar nicht erst zu seiner Eigenständigkeit gelangen, sondern mußte sich im Rahmen eines solchen Systems als staatliches Manipulationsinstrument mißbrauchen lassen. Die Unhaltbarkeit einer solchen Politisierung und Verstaatlichung aller Lebensbereiche hegt auf der Hand.

Fortschritt ist offensichtlich nicht ohne Spezialisierung auf der Erkenntnisebene und ohne Diversifizierung auf der Handlungsebene möglich. Auch die Wirtschaft gewinnt demnach ihre Effizienz gerade aus der Begrenzung ihrer Aufgabenstellung. Dies aber schließt zugleich — und hier Hegt der Kem des Problems — Begrenzung auch ihrer moralischen Zuständigkeit ein. So wird niemand von der Wirtschaft etwa erwarten, daß sie in der Humanisierung der menschlichen Bedürfniswelt ihre Aufgabe er-bückt, oder daß sie für die Lösung der zunehmend diffiziler werdenden Probleme der personalen Beziehungswelt der Menschen unmittelbare Zuständigkeit beansprucht, obschon doch beides im Zusammenhang mit den Entwicklungen der neuzeitlichen Produktionsweise gesehen werden muß. Tatsächlich geht es in der Wirtschaft ja in erster Linie um ganz andere Aufgaben, die sich nur unter Wahrung entsprechender ökonomischer Gesetzlichkeiten und in strenger Rückbindung an deren immanente Zielkriterien lösen lassen.

Wirtschaft hat es mit der Beschaffung, Herstellung und Verteilung von Gütern zu tun. Das aber geschieht mittels Unternehmen. Und hier sind die Zielmargen eindeutig, sie lauten: Rationalität, Produktivität und Rentabilität. Die Unternehmen wiederum sind in Volkswirtschaften eingebunden. Und hier heißen die Zielmargen: Vollbeschäftigung, Geldwertstabilität, Wirtschaftswachstum und außenwirtschaftüches Gleichgewicht. Wir haben also von einer relativen Autonomie der Wirtschaft auszugehen. Diese Autonomie gehört zu ihrer Funktionsfähigkeit. Hinter diese Position dürfen wir nie mehr zurück, auch wenn damit längst nicht alle Schwierigkeiten, denen wir uns heute konfrontiert sehen, automatisch gelöst sind. Die Ausweitung der menschlichen Lebenswelt erfolgt keineswegs unter Bedingungen der Harmonie, sondern zeitigt eine Fülle neuer, gewaltiger Konflikte und Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Insofern holt also die ethische Frage diese moderne Wirtschaft am Ende in einem umfassenden Sinne doch wieder ein. Es geht um Konfliktfelder, die einer ethischen Steuerung unabdingbar bedürfen.

III. Ethische Maßstäbe

Im wesentlichen lassen sich drei große Konfliktfelder ausmachen und voneinander abgrenzen, denen sich ihrerseits drei grundlegende ethische Bestimmungen zuordnen lassen, die menschliches Handeln als ein verantwortüches Handeln charakterisieren, nämlich die Verantwortung des Menschen für seine soziale Mitwelt, die Verantwortung des Menschen für seine natürliche Umwelt und die Verantwortung des Menschen für sich selbst.

Der erste Problemkreis, der die Verantwortung für die soziale Mitwelt betrifft, umfaßt vor allem die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannte Soziale Frage. Im Zentrum stehen hier die Trennung von Kapital und Arbeit, die damit anfänglich verbundenen Formen menschlicher Armut und Ausbeutung, die Entwicklung des Sozialstaatsgedankens, sowie die gegenwärtigen globalen Ausweitungen der Sozialen Frage auf die Länder der Dritten ten Welt. Als ethische Leitprinzipien erweisen sich hier die Forderungen nach universeller sozialer Gerechtigkeit und Solidarität. In einem mittelbaren Sinne sind diesem Problemkreis ferner zuzuordnen: die Fragen der Sozialverträglichkeit der von der modernen Wirtschaft eingesetzten Technologien, die immer neu aufbrechenden Diskrepanzen zwischen der menschlichen Arbeit als Humanpotential und ihrer ökonomischen Organisierbarkeit sowie die bis heute in vielem unbewältigten humanökologischen Folgen der Trennung von ökonomisch verfaßter Arbeitswelt und personaler Beziehungswelt.

Der zweite, umweltethische Problemkreis benennt jene zusätzliche, ebenso komplexe wie bedrohliche Herausforderung, die erst ganz am Ende der neuzeitlichen Entwicklung in ihrem vollen Gewicht hervorgetreten ist: die ökologische Krise. Wirtschaft bedeutet zwar immer schon Eingriff in den Haushalt der Natur, doch über Voraussetzungen zu einer systematischen Erschließung und Nutzung der Natur verfügt erst die moderne Ökonomie. Dies hat zunächst die bekannten Folgen gezeitigt. Die ökologische Krise stellt vielleicht die bisher größte Herausforderung der ökonomischen Rationalität dar. In Wahrheit kann als Fortschritt nur bezeichnet werden, was von den Bedingungen der Natur mit-getragen wird. Als defizitär erweisen sich hingegen die Errungenschaften der modernen Ökonomie dort, wo ihre Nebenwirkungen in Abkoppelung von dem stets mitzuverantwortenden ökologischen Gesamtzusammenhang unaufgearbeitet bleiben. Hier aber — und nur hier — liegt das eigentliche Problem. Die entsprechende Rückbindung dieser unserer technisch-rationalen Welt an das sie ermöglichende Netzwerk der Natur ist bisher keineswegs zureichend geleistet. Der kategorische Imperativ im Hinblick auf eine umweltgerechte Ökonomie lautet: Rückvernetzung, Retinität.

Der dritte Problemkreis, mit dem sich die Frage nach der humanen Selbstverwirklichung des Menschen stellt, hat es mit der im Kontext moderner Ökonomie expandierenden Bedürfniswelt zu tun. Von ihr geht zumindest potentiell eine Bedrohung seiner humanen Kultur aus. Sozio-ökonomische Ursache hierfür ist die sich verselbständigende Produktion, die als eigenständige Größe zwischen Bedürfnisse und Bedürfnisbefriedigung tritt, während vorher die Entstehung von Bedürfnissen und die Produktion von Befriedigungsmitteln in ein und derselben Einheit miteinander verbunden waren. Erst damit wird der bisherige ökonomische Rahmen traditionell vorgegebener Erwartungswelten endgültig gesprengt. Die Frage der menschlichen Bedürfnisse verliert gleichsam ihre Unschuld. Sie beginnt sich von den Möglichkeiten der menschlichen Produktivität selbst her auszulegen. Wurde vorher auf Abruf und Bestellung produziert, so jetzt auf ein offenes Feld sich immer neu auftuender Bedürfnischancen hin. Hier eröffnet sich zugleich ein Eldorado für die „hidden persuaders", die geheimen Verführer. Die entscheidende ethische Frage ist hier, wie sich die Haltung eines bloßen Konsumismus überwinden läßt und der Mensch als offenes Bedürfnissystem der Selbsttranszendenz und der humanen Selbstorganisation seiner Wünsche und Interessen fähig wird.

Was nun aus den drei hier entfalteten Problemfeldern an ethischen Forderungen herauskristallisiert wurde, läßt sich am ehesten in den drei Begriffen der Sozialverträglichkeit, der Umweltverträglichkeit und der humanen Angemessenheit zusammenfassen. Sie sind konsistent und im Prinzip für jedermann einsichtig. Von ihrer Verwirklichung hängt in der Tat die Stimmigkeit der zukünftigen Welt ab. Ihre Durchsetzung ist somit unabdingbar geboten. Es stellt sich die Frage von wem soll hier eigentlich die Initiative zu ihrer Durchsetzung ausgehen?

IV. Moralische Zuständigkeiten

Wenn wir den Gedanken der Autonomie der Wirtschaft und der damit gegebenen Begrenztheit ihrer Zuständigkeit, also auch der Limitierung ihrer moralischen Zuständigkeit und Verantwortung ernst nehmen, wird man jene Initiative gewiß nicht unmittelbar von den Unternehmen erwarten können und dürfen. Unternehmen sind in einer freien Gesellschaft Privatveranstaltungen von Anteilseignern, und die Aufgabe des Leiters eines Unternehmens ist es, dafür zu sorgen, daß das Unternehmen sich weiterentwickelt und wirtschaftlich überlebt. Das ist seine moralische Pflicht, wo immer und solange er damit Menschen in sachgerechter Weise dient. Wirtschaftliche Unternehmen haben notwendig begrenzte Produktionsziele. Ihre Aufgabe kann also sicher nicht sein, für den Bestand und die Produktivität der Menschheit und der Natur insgesamt einzustehen.

Dennoch muß hier genauer differenziert werden. Wenn z. B. zur Sicherung einer funktionsfähigen Umwelt oder zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und der damit angezielten generellen Steigerung der Lebensqualität Rahmenbedingungen notwendig sind, so können diese in der Tat nicht von der Wirtschaft geschaffen werden. Sie zu setzen und durchzusetzen fällt vielmehr in die genuine Kompetenz des Staates, dem allein die Befugnis zukommt, alle wirtschaftenden Subjekte mit den Mitteln des Rechts gleichermaßen in die Pflicht zu nehmen und so für alle dieselben Ausgangschancen zu schaffen. Divergierende Interessen zu koordinieren und zum Ausgleich zu bringen, ist Aufgabe des Sachwalters des Gemeinwohls, des Staates.

Das ist durchaus kein neuer Gedanke, und daß es eine solche übergreifende Sachwaltung gibt, liegt zugleich im Interesse der einzelnen Kultursachbereiche selbst. Gerade daraus aber darf nicht gefolgert werden, daß die Aufarbeitung von Defiziten ausschließlich in die Verantwortung des Staates fiele, insofern nur diesem das Machtmittel des Rechts zur Verfügung steht. In Verantwortung genommen sind auch die Unternehmer und die Unternehmen selbst. In diesem Prozeß bleiben sie keineswegs passiv; hier fällt ihnen vielmehr eine aktive und eigenschöpferische Rolle zu. Dies zeigt sich gerade im Blick auf die ökologische Krise. Umweltschonende Produktionsverfahren und umweltkompatible Produkte werden schließlich nicht in Umweltministerien entwickelt, sondern in Betrieben und Unternehmen. Limitierung moralischer Zuständigkeit, die mit einer bestimmten Aufgabe zwangsläufig gegeben ist, kann also nicht bedeuten, daß die Besonderheit der Aufgabe und die Respektierung der zu ihrer Erfüllung erforderlichen Bedingungen von der moralischen Vernunft des Ganzen abgekoppelt wird. Auch Wirtschaft bewegt sich keineswegs, so wenig wie etwa die Medizin, die Pädagogik oder die Politik, in einem ethikfreien Raum.

Das zeigt sich nicht weniger auch in bezug auf den erstgenannten, in der Sozialen Frage schon einmal geschichtsmächtig gewordenen Problemkreis der Sozialverträglichkeit. Der „homo oeconomicus", den die Wirtschaft hier zunächst voraussetzt, der Mensch als produzierendes und konsumierendes Wesen, als „Arbeitsraupe“ und als „Konsumschmetterling“, ist für sich alleine nicht zu haben. Das aber weiß die Wirtschaft inzwischen. So hat sich z. B. das systematische Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen, wie dies unter frühkapitalistischen Voraussetzungen gängig war, am wenigsten ausgezahlt. Der Kommunismus als geschichtliche Antwort auf solche Zumutung war hier lange genug der viel zu hohe Preis, den die Welt dafür zu zahlen hatte. Und selbst bestimmte Effizienzverfahren unterhalb der Wirtschaftsordnungsfrage wie das Phänomen des Taylorismus gehören einer überwundenen Phase an. Auch die Wirtschaft hat zunehmend gelernt, den Menschen als ein Ganzes zu sehen, als ein Wesen, dessen Bedürfnisse sich keineswegs alle vermarkten lassen, insofern sie ihrer Natur nach nicht im Ökonomischen aufgehen: Freundschaft, Liebe, Familie, das Unverrechenbare seiner personalen Beziehungswelt gehört ebenso dazu wie der daraus erwachsende, sich ins Universelle ausweitende ethische Anspruch, der in der Menschheit erwachende Sinn für Gerechtigkeit, Menschenrechte und Menschenwürde, aber auch das Gefühl des Menschen für die Natur, sein ästhetisches Welt-verhältnis, seine Fähigkeit zu Ehrfurcht vor dem Leben, und schließlich die religiöse Erfahrung seiner Endlichkeit und seines schuldhaften Versagens, das Ringen um den tragenden Sinn seines Daseins.

Eine eigene Überlegung innerhalb der Frage der moralischen Zuständigkeiten erfordert aber auch die Problematik der humanen Selbstwirklichung des Menschen. Welche Funktion kommt hier der Wirtschaft zu, welche dem Staat und welche dem einzelnen Subjekt selbst? Grundsätzlich scheint dies im bezug auf die Wirtschaft ziemlich einfach.

Was für die Wirtschaft zählt, ist der tatsächliche Bedarf sowie dessen Sicherstellung nach Maßgabe der Sozial-und Umweltverträglichkeit. Entsprechend ist die Forderung humaner Angemessenheit mit der Bestimmung des Bedarfs in der Regel abgedeckt. Der Produzent sieht die Verantwortung, die er hier zu übernehmen hat, mit der Bereitstellung des Produkts zunächst in zureichender Weise erfüllt. Der so eingeschränkten Verantwortung in bezug auf die humane Angemessenheit wird er also im strengen Sinne nur dort nicht gerecht, wo er am Bedarf vorbeiproduziert, wo er ohne Not Unter-oder Überkapazitäten schafft oder aber keine Sorge dafür trägt, daß die Qualität des Erzeugnisses den geweckten Erwartungen auch tatsächlich entspricht. Für den Konsumenten hingegen impliziert die Frage der humanen Angemessenheit ungleich mehr. Sie fällt für ihn zusammen mit der Frage seiner Freiheit, seiner Selbstverwirklichung als Individuum und als Mensch. Ihre Beantwortung kann ihm im Grunde niemand abnehmen, er muß sie, und zwar stets neu, allein aus sich selbst treffen. Die Vorstellung vom Menschen als eines der Selbstverfügung und Selbsttranszendenz fähigen offenen Bedürfnissystems schließt im Prinzip jede Bevormundung, jede Reglementierung der Einsicht, jede Enteignung des eigenen Willens durch andere aus. Die menschliche Bedürfniswelt vorwegdefinieren zu wollen und von daher, wie dies in totalitären Systemen geschieht, dem einzelnen vorzuschreiben, was für ihn als human angemessen und was als human unangemessen zu gelten habe, verstößt letztlich gegen dessen Würde. Humane Angemessenheit bedeutet sonach für den Konsumenten zwar noch nicht Beliebigkeit der Wahl, in jedem Falle aber Selbstbestimmung.

Woher aber gewinnt denn nun der einzelne Konsument zur Erkenntnis dessen, was das für ihn human Angemessene sei, das ihm vielleicht zu einem Mehr an Lebensqualität verhelfen könnte, die inhaltlichen Maßstäbe, und bei wem kann er dafür Rat finden? Nun, in der Regel ist er hierzu auf diejenigen verwiesen, die ihm die dafür erforderlichen Güter auch beschaffen und anbieten: die Produzenten. Das Mittel, dessen sie sich zu diesem Zweck bedienen, heißt Werbung. Die Werbung ist zum unverzichtbaren Bestandteil der modernen Innovativwirtschaft geworden und erfüllt hier gleich mehrere Funktionen. Zum einen vermittelt sie Informationen über den Gebrauchswert der angebotenen Produkte. Zum anderen will sie die Bedürfnisse des Konsumenten emotional auf das jeweilige Produkt ausrichten und ihn so zum Kauf bewegen: sie will Bedarf wecken. Zum dritten macht sie auf diese Weise erfahrbar, daß es sich um ein knappes Gut handelt und stellt so den Zustand her, der dem Produzenten die moralische Rechtfertigung für sein Tun gibt, nämlich Knappheit zu bewältigen. Dennoch ist die Werbung darin auch der Möglichkeit des Mißbrauchs ausgesetzt. Sie kann zum Manipulationsinstrument werden, das mit seinen suggestiven Strategien die Fähigkeit des Konsumenten zu einem selbstbestimmten Kaufentscheid korrumpiert. Der Konsumismus-Vorwurf, der gegen eine durch die Raffinessen der Werbung zu ständigem Kauf und Verbrauch angehaltene „Überflußgesellschaft“ erhoben wird, ist in vielen Fällen schwer zu entkräften. Mit ihr sieht sich jeder einzelne, der nach eigener Kompetenz entscheiden soll, was für ihn das human Angemessene sei, in stets neuer Weise gefordert.

Tatsächlich ist Werbung unlösbar mit den sowohl technisch als auch ökonomisch immer anspruchsvoller gewordenen Formen und Zielsetzungen der modernen Produktion verknüpft. Gerade deshalb vermag ihr aber auch umgekehrt eine eminent humane, katalytische Funktion zuzuwachsen. Sie kann zur Wegbereiterin einer gerechteren, erfüllte-ren und angemesseneren humanen Lebensgestaltung werden. Moderne Wirtschaft ist der ihr inne-wohnenden, von menschlicher Kreativität getragenen Dynamik nach eben doch substantiell mehr als eine am bloßen Konsumgedanken orientierte „Bedarfsweckungswirtschaft“. Mit dem Satz von Galbraith: Die Produktion füllt nur eine Lücke aus, die sie selbst erst geschaffen hat, ist diese Wirtschaft, die ihrem Wesen nach Innovativwirtschaft ist, längst nicht zureichend erfaßt. Will man demgegenüber zu einem sachgerechten Verständnis dieser Wirtschaft kommen, so ist hier in jedem Fall die Einsicht notwendig, daß dem, was sie in immer neuen Anläufen bereitstellt, lediglich Instrumentalität, nicht Selbstzwecklichkeit zukommt. Es geht auf allen Seiten um das Erlernen des Gebrauchsnutzens der Dinge. Dieser Nutzen hat eine endliche Logik. Das weiß im Grunde jeder, aber er muß es zugleich emotional erfahren und aufarbeiten, um danach auch handeln zu können. Gerade das aber macht eines nochmals deutlich: staatliche Reglementierung kann am wenigsten dazu verhelfen, diesen Reifungsprozeß aus-zutragen. Sie würde ihn nicht befördern, sondern ersticken. Im Gegensatz zu den Konfliktfeldern Sozialverträglichkeit und Umweltverträglichkeit muß sich der Staat aus den Fragen der humanen Angemessenheit so weit als möglich heraushalten. Menschliche Produktivität, auch im Konsumieren, läßt sich nicht erzwingen. Sie trägt das Stigma der Freiheit.

Es kann gewiß niemand ernsthaft daran interessiert sein, daß die ökonomischen Prozesse aus dem Ruder laufen und am Ende unsteuerbar werden. Aber durch wen und auf welche Weise die Steuerung zu erfolgen hat, das gerade bedarf einer genauen, behutsamen und differenzierten Antwort. Genau betrachtet geht es bei dieser Frage nach den Instanzen der Steuerung unserer Ökonomie um nichts geringeres als um die Grundfrage einer ethisch rechtfertigungsfähigen Wirtschaftsordnung. Für eine solche aber sind notwendig föderative Verantwortungsund Zuständigkeitsstrukturen gefordert. Staat, Wirtschaft und Mensch lassen sich nicht gegenseitig ersetzen.

Wie komplex sich die Dinge in Wahrheit darstellen, zeigt die Tatsache, daß es mit der Klärung der Zuständigkeiten der genannten drei Instanzen immer noch nicht getan ist. Es überlagert sich ihnen eine vierte, nicht weniger wirksame, die Öffentlichkeit. Sie erwächst aus vielfältigen gesellschaftlichen Initiativen, Bewegungen und Organisationen und artikuliert sich heute vornehmlich in den Medien. An dieser Öffentlichkeit aber und dem, was sie bewegt, läßt sich auf die Dauer weder vorbeiregieren noch vorbeiproduzieren. Staat und Wirtschaft haben in all ihrem Vorgehen diesem ebenso wichtigen wie schwierigen „Bewußtseinsamalgam“ Öffentlichkeit Rechnung zu tragen, auch wenn sich dadurch die Dinge oft nicht leichter gestalten. Tatsächlich würden sich Politiker und Unternehmer ohne sie kaum je zu den erforderlichen Aktivitäten aufschwingen. Das galt schon für die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts und das damit verbundene revolutionäre Aufbegehren gegen eine untragbar gewordene Wirtschafts-und Sozialordnung. Und das gilt heute ebenso für die sich verschärfenden Probleme moderner Technik. Fragen der Technikakzeptanz gehören inzwischen längst zu den vorrangigen Diskussionsstoffen der Öffentlichkeit. Das ureigene Instrument der modernen Wirtschaft, die Technik, ist unter Rechtfertigungsdruck geraten. Innovative, technikorientierte Wirtschaft ist permanent und in einem zuvor unbekannten Ausmaß mit Krisenmanagement verbunden. Damit aber werden Technikfolgeabschätzungen zum integrierenden Bestandteil auch der ökonomischen Rationalität selbst. Die Frage nach einer Ethik der Technik rückt ins Zentrum wirtschaftsphilosophischer Reflexion.

Hier aber muß man zunächst über jene sich heute breitmachende, alles lähmende Vorstellung hinauskommen. als ob wir uns mit dem Eintritt in die Welt der Technik in einer bloßen Welt der Übel bewegten. Homo faber ist kein Irrläufer der menschlichen Evolution. Technik gehört zum Wesen des Menschen. Der Mensch paßt sich der Umwelt nicht nur an, sondern gestaltet sie. Insofern ist Technik eine genuine, artspezifische Eigenschaft des Menschen, deren fortwährende Anwendung und Weiterentwicklung anhalten zu wollen genau so unsinnig wäre, wie einem Vogel das Fliegen zu verbieten (Neuweiler). Technik ist von daher etwas prinzipiell Notwendiges, Positives, Gutes. In ihr schafft sich das „Be37 dürfnissystem Menschheit“ seine instrumentelle Form. Dem korrespondiert ethisch die „Regulative Idee Menschenwürde“ und bleibt ihr als humanisierendes Prinzip zuzuordnen. Das Subjekt der instrumenteilen Vernunft ist seiner Natur nach ein moralisches Subjekt. Im Klartext heißt das: Niemand kann und darf beim Betreten seines Unternehmens das Gewissen vor der Tür zurücklassen. Die instrumenteile Vernunft muß sich als Vollzugsweise der Vernunft des moralischen Subjekts Mensch qualifizieren. Wo dies nicht geleistet wird, brechen jene Diskrepanzen auf, denen wir uns heute konfrontiert sehen. Die unbewältigten Nebenfolgen des technischen Fortschritts in bezug auf Umwelt, Arbeits-, Konsum-und Beziehungswelt sind nicht nur physische, sondern moralische Übel.

Um zu sachgerechtem Umgang mit den technischen Möglichkeiten zu gelangen, bedarf es keiner prinzipiell neuen Ethik. Der Mensch ist von Natur verantwortungs-und sittlichkeitsfähig. Er ist seinem Wesen nach moralisches Subjekt. Alle Technik-und Wirtschaftskritik, alle Kritik am Mißbrauch der instrumenteilen Vernunft kann immer nur als Kritik am tatsächlich geübten Verhalten, als Mangel an moralischem Verantwortungsbewußtsein gefaßt werden, nicht aber als Infragestellung der geforderten sittlichen Kompetenz und Verantwortungsfähigkeit des Menschen überhaupt. Der Mensch ist keine Fehlkonstruktion der Natur. Die These, daß er einer ethischen Steuerung des von ihm in Gang gesetzten technischen Fortschritts gar nicht fähig sei, ist ebenso falsch wie gefährlich. Zwischen moralischer und technischer Vernunft des Menschen klafft kein evolutionsgeschichtlich bedingter, unüberbrückbarer Abgrund. Der Mensch hat durchaus die Kompetenz, moralisch verantwortbar mit dem umzugehen, was er instrumentell kann. Dies zu leisten gehört zur Größe seiner Bestimmung. Nur wo wir dies einsehen, haben wir die zureichende Motivation, auch zu je und je besserer Technik zu gelangen oder — wenn notwendig — auf die Anwendung bestimmter Technologien zu verzichten.

Die Überzeugung, daß der Mensch das ihm technisch Mögliche auch moralisch zu steuern vermag, bedeutet jedoch noch nicht, daß damit auch schon jede Technik auf Akzeptanz trifft oder daß sich darüber in jedem Falle ein allgemeiner Konsens herstellen ließe. Auch das ist ein geschichtliches Novum. Erstmals rückt das Pro und Kontra in Fragen der Vertretbarkeit von Technologien auf die Ebene kollektiver Überzeugungskonflikte. Genau dies sollte man nicht zu leicht nehmen. Wo für einen Standpunkt Wahrheit beansprucht wird — und darum geht es hier —, bleiben Zugeständnisse ausgeschlossen. Überzeugungskonflikte lassen im Gegensatz zu bloßen Interessenkonflikten keine Kompromisse zu. Sie entwickeln ihr eigenes moralisches Pathos. Man wird abwägungsfeindlich, tendiert zum Grundsätzlichen, Bekenntnishaften. An die Steile von Sachfragen treten Prinzipienfragen. Hier ist leicht der Punkt erreicht, an dem Toleranz schwierig wird. Dann aber beeindruckt auch nicht mehr der Verweis auf demokratische Spielregeln. Mit der Frage der Akzeptanz stellt sich plötzlich die Frage der politischen Loyalität. Es muß deshalb verhindert werden, daß sich ein Streit um die Technik nicht zu einer neuen Form von Fundamentalpolarisierung der Gesellschaft ausweitet.

Bei allen hier virulenten Konfliktstoffen, die die technische Entwicklung mit sich gebracht hat und wahrscheinlich auch in Zukunft weiter mit sich bringen wird, handelt es sich gewiß nicht um Mysterien, sondern um durchaus aufklärbare und insofern konsensfähige Sach-und Entscheidungszusammenhänge. Jede Beschönigung aber auch jede Aufblähung von Risiken, jede Verharmlosungs-aber auch jede Verteufelungsstrategie, überhaupt jede selektive Informationssteuerung ist hier von Übel. Technik muß konsensfähig sein, weil alle mit ihr leben müssen, am Ende die ganze Menschheit.

Wir sind Zeitgenossen einer entstehenden Weltkultur. Das aber bedeutet: Wir haben es mit einer Entwicklung zu tun, die in einer Vielzahl ihrer Elemente globale Wirkungen zeitigt. Die in Wissenschaft und Technik erschlossenen und über den Transfer der Wirtschaft weltweit rezipierten Möglichkeiten führen zu immer umfassenderen Wechselwirkungen und Verflechtungen. Wie dann aber die künftige Welt tatsächlich aussehen wird, hängt wesentlich von den Bedingungen des Wirtschaftens ab, für die man optiert. An der Bewältigung der sich mit dieser Wirtschaft stellenden Probleme der Sozialverträglichkeit, der Umweltkompatibilität und der humanen Angemessenheit entscheidet sich am Ende die Stimmigkeit der Welt. Im selben Maße, wie das durch die Wirtschaft erschlossene menschliche Anspruchsniveau und der damit erreichbare Standard menschlicher Bedürfnisbefriedigung von allen beansprucht wird, wächst auch die Notwendigkeit, diese moralischen Maßstäbe in allem und für alle zur Geltung zu bringen.

Die Geschichte der Menschheit erweist sich ohne Zweifel bis zur Stunde als eine Geschichte ungeheurer Konflikte, aber sie erweist sich auch als die Geschichte des Aufstiegs ihrer Freiheit und ihrer humanen Form.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wilhelm Korff, Dr. theol., geb. 1926; Ordinarius für christliche Sozialethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Veröffentlichungen u. a.: Theologische Ethik. Eine Einführung, Freiburg 1975; Norm und Sittlichkeit. Untersuchungen zur Logik der normativen Vernunft, Freiburg 19852; Kernenergie und Moraltheologie, Frankfurt 1979; Wie kann der Mensch glücken? Perspektiven der Ethik, München 1985; (Mithrsg.) Handbuch der Christlichen Ethik, 3 Bde., Freiburg 1978— 1982; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.