Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen im Parteiensystem der Bundesrepublik | APuZ 26/1989 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 26/1989 Artikel 1 Institutionelle Innovationen und neue soziale Bewegungen Die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen im Parteiensystem der Bundesrepublik Die Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre. Themen und Strategien Alternative Ökonomie. Geschichte, Struktur, Probleme

Die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen im Parteiensystem der Bundesrepublik

Franz Urban Pappi

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die GRÜNEN und die SPD sind die Hauptansprechpartner der neuen sozialen Bewegungen im Parteien-system der Bundesrepublik. Das Verhältnis der Bewegungen zu diesen Parteien wird aus der Perspektive der Bewegungsanhänger in der Wählerschaft allgemein untersucht und nicht aus der'Perspektive der Organisationsführungen. Konkret werden die folgenden Einzelbewegungen ausgewählt: die Antikernkraftbewegung. die Friedensbewegung und die Frauenbewegung. Als Bewegungsanhänger zählt, wer sich selbst so bezeichnet. Diese Art der Messung wird in Auseinandersetzung mit dem sozialwissenschaftlichen Bewegungsbegriff und den Methoden der Umfrageforschung gerechtfertigt. Daneben spielt die Präferenz für politische Ziele der einzelnen Bewegungen eine besondere Rolle. Die Übereinstimmung zwischen Zielpräferenz und Anhängerschaft wird als Mobilisierungsindikator der Einzelbewegung interpretiert. Danach ist die Antikernkraftbewegung zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl diejenige mit dem höchsten Mobilisierungsniveau gewesen. Unter den Bedingungen hoher Mobilisierung besteht der engste Zusammenhang mit dem Wahlverhalten. Es zeigt sich, daß die Anhänger der Bewegung ihre Stimmen den GRÜNEN oder der SPD als den Parteien ihrer Wahl geben, wobei sich die Zielpräferenz vor allem zugunsten der SPD auswirkt, während die subjektive Identifikation mit der Bewegung für die GRÜNEN der gegenüber der Zielpräferenz etwas wichtigere Faktor ist. Die Bewegungsromantik schützt die GRÜNEN gegenwärtig vor einer politischen Vereinnahmung durch die SPD auf der Wählerebene. Die empirischen Ergebnisse werden im einzelnen durch eine Analyse einer Bundestagswahlstudie von 1987 belegt.

I. Einleitung

Schaubild: Die Verteilung der Wählermeinung zu ausgewählten Themen (schraffiert) und die wahrgenommene Position der Parteien (Pfeile)

Das lange Jahre stabile Parteiensystem der Bundesrepublik zeigt Auflösungserscheinungen. 1983 wurde das seit 1961 auf Bundesebene stabile Dreiparteiensystem abgelöst durch ein Vierparteiensystem mit den GRÜNEN neben den etablierten Parteien CDU/CSU, SPD und FDP. Die jüngsten Erfolge der Republikaner lassen es denkbar erscheinen, daß sich auf der rechten Seite des Parteiensystems wiederholt, was Anfang der achtziger Jahre auf der linken Seite begann: die Etablierung einer neuen Partei rechts von der CDU/CSU, so wie sich damals eine neue Partei links von der SPD konstituierte. Ein wichtiger Unterschied besteht allerdings zwischen der rechten und der linken Seite des Parteiensystems, der für unser Thema wichtig ist: Die Parteien rechts von der CDU/CSU bedienen sich nicht des Bewegungsbegriffs zur Selbstdarstellung. Wenn hier also die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen im Parteiensystem der Bundesrepublik untersucht werden sollen, können wir uns auf das linke Spektrum konzentrieren.

Die Hauptansprechpartner der neuen sozialen Bewegungen sind in erster Linie die GRÜNEN, in zweiter Linie die SPD, zumindest seit sie in Bonn in der Opposition ist. Das Verhältnis dieser Gruppen zueinander soll hier aus der Perspektive der Wählerschaft und nicht aus der der Organisationen bzw. Organisationsführungen behandelt werden. Dazu ist, im Kapitel II, eine Klärung der Frage notwendig, wie man Bewegungsanhängerschaft auf der Ebene der Wählerschaft am besten mißt. Im Kapitel III werden einige Ziele der Bewegungen daraufhin untersucht, inwieweit sie von der Bevölkerung allgemein und von den Bewegungsanhängern im besonderen geteilt werden und wie die Stellung der Parteien zu diesen Zielen eingeschätzt wird. Nach Klärung dieser Voraussetzungen kann dann geprüft werden, inwieweit und unter welchen Bedingungen den GRÜNEN auf Dauer eine Ausschöpfung des Wählerpotentials des Bewegungssektors gelingt.

II. Der sozialwissenschaftliche Bewegungsbegriff und die Identifikation von Anhängern der neuen sozialen Bewegungen in der Wählerschaft

Tabelle 1: Antikernkraftbewegung: Index der Anhängerschaft und Zweitstimme bei der Bundestagswahl 1987

Unabhängig davon, ob man Bewegungen historisch vergleichend oder im Querschnitt für die Wählerschaft eines Landes untersuchen will, muß man sich zunächst des sozialwissenschaftlichen Bewegungsbegriffs versichern. Was soll als soziale Bewegung verstanden werden? Dann fällt es im zweiten Schritt leichter, an das Selbstverständnis der Anhänger der neuen sozialen Bewegung direkt mit entsprechenden Fragen anzuknüpfen.

Wie immer, wenn man sozialwissenschaftliche Definitionen eines bestimmten Begriffs gegenüberstellt, mag sich zunächst der Eindruck einer relativen Willkür ergeben. Trotzdem kann man mit Charles Tilly wenigstens die Dimensionen festmachen, die zur Definition sozialer Bewegungen herangezogen werden. Diese Definitionen akzentuieren entweder Bevölkerungsgruppen oder kollektive Handlungen oder aber Glaubensüberzeugungen bzw. programmatische Ziele. Die Definitionen unterscheiden sich darin, welcher Dimension Vorrang eingeräumt wird.

Glaubensüberzeugungen und Meinungen sind der entscheidende Referenzpunkt in der Definition von McCarthy und Zaid: „A social movement is a set of opinions and beliefs in a population which represents preferences for changing some elements in the social structure and/or reward distribution of a society.“ Andere Autoren sehen das Besondere sozialer Bewegungen primär in bestimmten Charakteristiken ihrer Organisation als Gruppe oder Grup-2pierung, so in der Definition von Heberle, nach dem soziale Bewegungen unorganisierte Gruppen sind, „für die Ferdinand Tönnies den Terminus . soziale Samtschaften* geprägt hat“ Wichtige Unterdimensionen in der allgemeinen Dimension der Bevölkerungsgruppe oder der Organisation der Gruppe sind nach Tilly zum einen die Möglichkeit der kategorialen Abgrenzung der potentiellen Mitglieder und zum anderen der Umfang, in dem innerhalb der Gruppierung bereits soziale Beziehungen existieren. Tilly spricht hier kürzelhaft von der „catness“ und der „netness“ der Organisation

Der dritte mögliche Einstieg in die Definition ist die kollektive Aktion bzw. das gemeinsame Handeln einer Gruppierung. Diesen Einstieg wählt Raschke, dessen Definition in Kurzform lautet: „Soziale Bewegung ist ein . . . kollektiver Akteur, der . . . das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizufuhren, zu verhindern oder rückgängig zu machen.“

Das Gemeinsame dieser Definitionen kann man also in folgenden Merkmalen sehen: eine Bevölkerungsgruppierung, die nicht formal organisiert ist und trotzdem zusammengehört, weil sie nämlich entweder einen Bezug zu Zielen bzw. einer Ideologie hat, die Gemeinsamkeit stiftet oder diese Gemeinsamkeit in kollektivem Handeln erlebt. Die gesellschaftliche Reform oder Teilreform als Ziel setzt das Erlebnis einer Krise voraus, die von der Bewegung ideologisch bearbeitet wird Welchen Einstieg man konkret in die Begriffsbestimmung vomimmt, ergibt sich auch aus der Fragestellung, die man untersuchen will. Tilly interessiert sich z. B. für kollektive Aktionen und vermeidet es deshalb, diese abhängige Variable bereits in die Begriffsbestimmung der sozialen Bewegung aufzunehmen: „By a social movement we mean a group of people identified by their attachment to some particular set of beliefs." In welchem Umfang derartige Gruppierungen gemeinsam handeln, läßt sich dann als empirische Fragestellung untersuchen. Der eine Freiheitsgrad, den die Definition läßt, ermöglicht überhaupt erst den empirischen Ansatz. In der Literatur wird einzelnen Gruppierungen, die sich selbst als Bewegung verstanden haben, der Bewegungscharakter im sozialwissenschaftlichen Sinn abgesprochen. Keinerlei Dissens herrscht hingegen bezüglich der Einordnung der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert als einer sozialen Bewegung par excellence. Den nicht unmittelbar beteiligten Bürgern mag diese Bewegung zunächst durch ihre kollektiven Aktionen aufgefallen sein, nämlich vor allem durch Streiks und Straßendemonstrationen. Identifizierbar blieb die Gruppierung in ihrem potentiellen Mobilisationsbereich durch das objektive Merkmal der Industriearbeit. Und als Programmatik setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr der Sozialismus durch. Je nach dem, welchen Einstieg man in die Begriffsbestimmung wählt, wird man also die Aufmerksamkeit auf die Formen kollektiver Aktion richten, auf die Industriearbeiterschaft generell oder den Sozialismus und Gruppierungen, die dieses Gedankengebäude unterstützten. Hier sei die Frage erlaubt, wie man anhand dieser drei Kriterien die neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik identifizieren könnte.

Am unproblematischsten erscheint noch die Dimension der kollektiven Aktion. Der sonst nicht weiter betroffene Zeitungsleser und vor allem der Fernsehzuschauer können sich einen Eindruck von der sozialen Wirklichkeit der Bewegungen verschaffen, wenn sie auf die Demonstrationsdichte in bestimmten Städten oder Regionen achten. Auch in der Längsschnittbetrachtung ergeben sich interessante Aufschlüsse: So hat die Friedensbewegung viel von ihrem Elan Anfang der achtziger Jahre eingebüßt, als sich herausstellte, daß die Bundesrepublik den NATO-Beschluß über die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen vollziehen würde und ihn dann tatsächlich vollzogen hat. Auch die Antikernkraftbewegung kann immer dann besonders eindrucksvolle Demonstrationen organisieren, wenn es äußere Anlässe gibt wie die Entscheidung zum Bau einer Wiederaufbereitungsanlage oder ein externes Ereignis wie den Reaktorunfall in Tschernobyl. Schwieriger ist die Identifikation der neuen sozialen Bewegungen über die Dimension der Programmatik. Hier drängt sich dem außenstehenden Beobachter häufig der Eindruck einer gewissen Willkür auf. Man will nicht recht verstehen, was der engagierte Einsatz gegen Kernkraftwerke mit Boykott-Aufrufen zur Volkszählung zu tun hat, wenn diese Forderungen von denselben Gruppen vorgetragen werden. Man kann hier natürlich analytisch versuchen. eine gemeinsame Dimension zu postulieren oder, besser, aus den konkreten Forderungen generalisierend abzuleiten. So sehen manche Autoren,im Anschluß an Inglehart das Gemeinsame der neuen sozialen Bewegungen darin, daß diese Bewegungen vorwiegend ideelle und nicht materielle Betroffenheiten thematisieren Nimmt man bestimmte Forschungsergebnisse wie das von Muller und Opp zur Kenntnis, nach denen z. B. ein aktives Engagement gegen Kernkraftwerke am besten durch allgemeine politische Entfremdung bzw. mangelnde Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik erklärt werden kann, so könnte man das Gemeinsame der Programmatik dieser neuen sozialen Bewegung auch in der Gegnerschaft zum System der repräsentativen Demokratie sehen, so daß Einzelziele wie Boykott der Volkszählung, sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke oder einseitige Abrüstung nur taktischen Charakter hätten. Diese Erklärung hätte auch den Vorteil, daß man so die deutsche Vorreiterrolle bei den neuen sozialen Bewegungen mit einem speziellen Legitimitätsdefizit der westdeutschen Demokratie in Verbindung bringen könnte, das bei manchen jüngeren Deutschen mit höherer Schulbildung u. a. mit ihrer Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zusammenhängt.

Empirische Untersuchungen haben immer wieder erwiesen, daß Angehörige derjüngeren Generation mit höherer Schulbildung die Hauptträger der neuen sozialen Bewegungen sind. Daraus darf man jedoch im Hinblick auf die dritte Dimension, nämlich die Abgrenzung nach Bevölkerungsgruppen und Organisationsformen, nicht schließen, diese Personengruppe sei im selben Sinn Träger der neuen sozialen Bewegungen wie die Arbeiter Träger der Arbeiterbewegung gewesen sind. Denn die neuen sozialen Bewegungen vertreten in der Regel allgemeine Ansprüche und nicht Sonderanliegen einzelner Gruppen. Eine Ausnahme macht hier nur die Frauenbewegung, die z. B. auch von Habermas als Emanzipationsbewegung von den anderen neuen sozialen Bewegungen unterschieden wird. Der feministischen Bewegung gehe es in der Tradition der bürgerlich-sozialistischen Befreiungsbewegungen um die Einlösung der „anerkannten universalistischen Grundlagen von Moral und Recht“. Dies verleihe dem Feminismus die „Schubkraft einer offensiven Bewegung, während alle übrigen Bewegungen einen eher defensiven Charakter haben“

Jenseits der diffusen Programmatik der neuen sozialen Bewegungen sehen viele Autoren das Besondere und Neue in den Organisationsformen. So betont Raschke zusätzlich zu den Merkmalen „Abwesenheit einer einheitlich geschlossenen Ideologie“, „thematische Vielfalt und rascher Issuewechsel" auf der organisatorischen Seite, den geringen Grad organisatorischer Festigung, die Abneigung vor „Bürokratisierung und Zentralisierung in Verbindung mit Führerfeindlichkeit“ und die „Vielzahl autonomer, aber stark vernetzter Teilbewegungen“

Will man die Anhänger oder Mitglieder der neuen sozialen Bewegungen mit den Mitteln der Umfrageforschung erfassen, so drängt sich zunächst eine negative Bilanz auf. Die Ziele seien diffus, die Organisationsformen spontan, und die Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen lasse sich mit einer Querschnittsbefragung der wahlberechtigten Bevölkerung nicht optimal erfassen. Allerdings wird man zugeben müssen, daß dieser negative Eindruck vor allem im Hinblick auf die neuen sozialen Bewegungen als Ganzes entsteht. Für einzelne Bewegungen lassen sich z. B. die Ziele sehr viel exakter bestimmen. Jeder Versuch, die Anhänger und Mitglieder neuer sozialer Bewegungen zu identifizieren, wird deshalb kumulativ vorgehen müssen. Zunächst müssen die Einzelbewegungen bestimmt werden, und erst in einem zweiten Schritt kann empirisch festgestellt werden, inwieweit die Anhänger und Mitglieder dieser Einzelbewegungen mehr oder weniger identisch sind.

Die Auswahl der Einzelbewegungen aus dem Sektor der neuen sozialen Bewegungen hat für die Untersuchung strategische Bedeutung. Diese Einzelbewegungen sollten für den ganzen Sektor repräsentativ sein und gleichzeitig für die Parteien einschließlich der GRÜNEN insofern relevant, als ihre Ziele und Forderungen in Wahlkämpfen als Bezugspunkte aufgegriffen werden. Diese letzte Bedingung umfaßt sowohl die Ablehnung konkreter Forderungen als auch ihre Übernahme; wichtig ist die Thematisierung im Wahlkampf.

Im folgenden werden drei Bewegungen als repräsentativ für den Bewegungssektor herausgehoben: die Antikernkraftbewegung, die Friedensbewegung und die Frauenbewegung. In der neueren Literaturüber neue soziale Bewegungen läßt sich ein gewisser Konsens dahingehend feststellen, daß vor allem diese drei Bewegungen bei einer Untersuchung des Bewegungssektors berücksichtigt werden müssen

Wir verstehen die neuen sozialen Bewegungen nicht als Ganzheit, sondern als Summe von Teilen. Mit der Antikernkraft-, der Friedens-und der Frauenbewegung haben wir das Spektrum dieser Bewegungen im wesentlichen abgedeckt. Die Konzentration auf diese drei erleichtert die Identifikation von Zielen und damit die Abgrenzung auf einer der drei herausgearbeiteten Identifikationsdimensionen. Trotzdem bleibt natürlich auch bei einer Konzentration auf Einzelbewegungen das Problem der spontanen Organisationsformen und der sporadischen Demonstrationen, welch letztere man mit den Mitteln der Umfrageforschung im Rahmen einer einmaligen Querschnittsbefragung kaum in den Griff bekommen kann.

In dieser Situation besinnen wir uns auf die eigentliche Stärke der Umfrageforschung: die Erfassung subjektiver Phänomene. Warum soll es nicht möglich sein, die Befragten direkt danach zu fragen, ob sie sich als Anhänger der Friedensbewegung, der Antikernkraftbewegung oder der Frauenbewegung betrachten? Diese sind Bewegungen zumindest in dem Sinn, daß sie diesen Begriff für sich selbst in Anspruch nehmen. Soweit dies in der Wählerschaft generell auch bekannt ist, ist es möglich, eine psychologische Mitgliedschaft in diesen Bewegungen zu erfassen.

Die Stärke der Umfrageforschung ist die Erhebung subjektiver Phänomene in einer Bevölkerung. In dieser Forschungstradition haben Fragen nach der Selbstidentifikation mit bestimmten Bevölkerungsgruppierungen einen hohen Stellenwert. So wird z. B. die ursprünglich von Centers verwendete Frage der subjektiven Schichtidentifikation noch heute mit guten Ergebnissen in der Umfrageforschung verwendet Das andere berühmte Beispiel ist die in der amerikanischen Wahlforschung entwickelte Frage nach der Parteiidentifikation Bekanntlich sind die amerikanischen Parteien sehr viel loser organisiert als die europäischen, während andererseits die persönliche Zurechnung zu einer Parteigruppierung in den USA wegen der Primär-wahlen auch institutionelle Bedeutung hat. Wenn man die amerikanische Frage nach der Parteiidentifikation nicht einfach auf europäische Verhältnisse übertragen konnte, liegt das sicher auch an solchen institutioneilen Unterschieden.

Centers hat bereits auf drei Minimalvoraussetzungen hingewiesen, die erfüllt sein müssen, damit eine Frage nach der Selbstidentifikation Sinn macht: So muß die entsprechende Gruppierung einen eindeutigen Namen haben und es muß das Bewußtsein, einer Interessengemeinsamkeit der Bevölkerungsgruppe vorhanden sein. Dadurch, daß der Bewegungsbegriff heute verstärkt als politischer Kampf-begriff verwendet wird, dürften Namen wie „Friedensbewegung“, „Frauenbewegung“ oder „Antikemkraftbewegung“ in der Bevölkerung zur Bezeichnung dieser Gruppierungen bekannt sein. Die Interessengemeinsamkeit ergibt sich aus den geteilten politischen Zielen der einzelnen Bewegungen. Als dritter Faktor wirkt sich vielleicht gerade die Abwesenheit klar umgrenzter Organisationen positiv auf die Bereitschaft aus, sich wenigstens subjektiv einer Bewegung zugehörig zu fühlen. Bei den straff organisierten Parteien oder auch den Gewerkschaften besteht dagegen für eine subjektive Identifikation das Problem, daß sich jeder fragen muß, warum er nicht Mitglied wird, wenn er sich subjektiv mit der Organisation identifiziert.

Die eben genannten Voraussetzungen für eine Selbstidentifikation mit den drei ausgewählten Bewegungen sind gegeben. Es macht also Sinn, einfach danach zu fragen, ob man sich als Anhänger oder Anhängerin einer bestimmten Bewegung betrachtet. Diese Selbstidentifikationsfragen sind in der Wahlstudie 1987 gestellt worden, einer Wiederholungsbefragung mit Erhebungszeitpunkten im September 1986, im Januar 1987 kurz vor der Bundestagswahl und im Februar 1987 kurz nach der Bundestagswahl

Die Identifikation mit den drei Bewegungen nahm während des Wahlkampfes etwas ab, bei der Anti- kemkraftbewegung von 22 Prozent im September über 20 Prozent im Januar auf 19 Prozent im Februar (nur Panelfälle). Als Anhänger der Friedensbewegung bezeichneten sich zum ersten Zeitpunkt 27 Prozent, zum zweiten 25 Prozent und zum dritten 23 Prozent. Für die Frauenbewegung wird die Auswertung sinnvollerweise getrennt nach Geschlecht vorgenommen. Die Anhängerschaft der Frauen nahm im Wahlkampf von 15 Prozent auf elf Prozent ab, die der Männer von acht Prozent auf fünf Prozent. Wie auch in anderen Studien festgestellt, hat die Friedensbewegung mehr Anhänger als die Antikemkraftbewegung

Ein Einwand gegen diese Art der Erfassung subjektiver Phänomene ist, daß die Befragten bei wiederholter Messung nicht konsistent antworten — und zwar nicht deshalb, weil sie ihre Einstellung geändert haben, sondern weil diese Einstellung nicht zuverlässig gemessen wurde. Im folgenden werden wir deshalb einen Index der konsistenten Anhängerschaft bilden. Modellrechnungen, die eine Trennung von latenter Einstellung und Reaktion auf aktuelle Stimmungen ohne Konsistenz über die Zeit erlauben, erbrachten das Ergebnis, daß diese latente Einstellung zur Antikemkraft-und Friedensbewegung nur im Befragungszeitraum von Januar bis Februar 1987 stabil blieb, bei der Frauenbewegung aber über den ganzen Zeitraum. Die konsistenten Anhänger der ersten beiden Bewegungen sind also solche Befragte, die sowohl zum zweiten als auch zum dritten Befragungszeitpunkt mit „ja“ antworteten, konsistente Nichtanhängerbezeichneten sich zweimal als Nichtanhänger und die Mittel-gruppe schwankte in ihrem Antwortverhalten. Bei der Frauenbewegung sind die konsistenten Anhänger bzw. Anhängerinnen diejenigen mit dreimaliger Ja-Antwort, die konsistenten Nichtanhänger die mit dreimaliger Nein-Antwort und die Mittelgruppen diejenigen, die entweder einmal oder zweimal mit „ja“ antworteten.

III. Die Unterstützung von Bewegungszielen in der Wählerschaft

Tabelle 2: Anhängerschaft und Präferenz für das Ziel der Antikernkraftbewegung als Determinanten der Wahlentscheidung (% SPD-und Grünwähler, Zweitstimme Bundestagswahl 1987)

Unabhängig von der Frage der Anhängerschaft bleibt die Zieldimension eine der drei zentralen Dimensionen des Bewegungsbegriffs. Die beiden anderen Dimensionen, Aktivität und Organisation, werden in diesem Aufsatz nicht behandelt. Konkrete Ziele der einzelnen Bewegungen sind aus zwei Gründen für unser Thema besonders zentral: Zum einen bieten sie den Einzelbewegungen Mobilisierungschancen, indem zusätzlich zum harten Kern der Anhänger Unterstützung für die Bewegungsziele in breiten Schichten der Wählerschaft gewonnen werden kann. Und zum anderen müssen sich die etablierten Parteien mit diesen Forderungen im Wahlkampf auseinandersetzen. Gerade die Ziele führen zu breiter Diskussion in der Gesellschaft, so daß hier am wenigsten die Gefahr besteht, den Bewegungssektor relativ isoliert zu sehen. Dies ist für die Wahlsoziologie ein wichtiger Gesichtspunkt.

Nach einer Durchsicht von Schriften aus dem Bewegungssektor haben wir für jede Bewegung ein oder zwei relevante Ziele ausgewählt. Die Umsetzung im Fragebogen folgte einem bewährten Format: Formulierung eines Ziels (Skalenwert 1) samt seiner Gegenposition (Skalenwert 7) mit Antwort-stufenvon 2 bis 6 dazwischen, mit denen der Befragte seine Antwort besser abstufen kann. Erfragt wurde zum einen die eigene Einstellung des Befragten und zum anderen die Wahrnehmung der Stellung der Parteien auf dem Kontinuum, das wir als Issue-Kontinuum bezeichnen. Im einzelnen wurden die folgenden Fragen verwendet:

Antikernkraftbewegung: „Sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke“ mit der Gegenposition „Weiterer Ausbau der Kernenergie“.

Friedensbewegung: „Der Frieden kann nur gesichert werden, wenn der Westen beginnt, einseitig abzurüsten“ mit der Gegenposition „Der Frieden kann nur gesichert werden, wenn der Westen dem Osten militärisch überlegen ist“.

Frauenbewegung: Hier wurden zwei Zieldimensionen ausgewählt, deren erste die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs aufgreift und deren zweite Maßnahmen zur Verhinderung von Benachteiligungen von Frauen am Arbeitsmarkt thematisiert. Bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs mußte bei der Formulierung darauf geachtet werden, daß die feministische Position klar zum Ausdruck kommt. Dies sollte mit der folgenden Formulierung erreicht werden: „Es sollte in jedem Fall der Frau überlassen werden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen will oder nicht.“ Die Gegenposition lau-21 tet: „Der Staat sollte Schwangerschaftsabbrüche generell unter Strafe stellen.“

Für das Thema „Gleichberechtigung der Frau im Berufsleben“ stellte sich die Konstruktion einer eindimensionalen Skala als schwierig heraus. Dies hängt damit zusammen, daß eine konservative Position der Art, die Frauen gehörten ins Haus und nicht in den Beruf, heute in der Öffentlichkeit gar nicht mehr vertreten wird, obwohl sie auf Stammtischebene nach wie vor eine große Rolle spielen dürfte. Der „rechte“ Endpunkt der Themen-Skala war deshalb eher als liberale Mittelposition formuliert und das Bewegungsziel als Hinweis auf mögliche Quotenregelungen: „Es muß vorübergehend per Gesetz sichergestellt werden, daß Frauen bei Einstellungen bevorzugt werden.“ Die Gegenposition lautet: „Per Gesetz soll nur sichergestellt werden, daß Männer und Frauen bei Einstellungen gleichberechtigt sind.“

Für die Wahmehmungsdaten ist zu erwarten, daß die GRÜNEN in die Nähe des jeweiligen Bewegungsziels plaziert werden, gefolgt in mehr oder weniger deutlichem Abstand von der SPD, während die CDU/CSU eher mit der Gegenposition identifiziert werden dürfte. Wenn somit aus den Bewegungs-Themen eine Links-Rechts-Ordnung der Parteien hervorgeht, bei der die GRÜNEN als Partei links von der SPD eingestuft werden, stellt sich die Frage, welche Parteienrangfolge bei Streitfragen der „alten Politik“ wahrgenommen wird. Wir haben deshalb eine Streitfrage mit aufgenommen, die für die alte Linke ein knappes Jahr vor der letzten Bundestagswahl von großer Bedeutung war: die Neufassung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz. Die linke Position wurde wie folgt formuliert: „Die Arbeitsämter sollen immer zahlen, wenn die Arbeit eingestellt werden muß, weil in einem anderen Gebiet gestreikt wird.“ Die Gegenposition lautete: „Die Arbeitsämter sollen auf keinen Fall zahlen, wenn die Arbeit eingestellt werden muß, weil in einem anderen Gebiet gestreikt wird.“

Im Schaubild sind die Präferenzverteilungen der Wähler und die von den Wählern wahrgenommenen Positionen der Parteien auf den einzelnen Issuedimensionen eingezeichnet. Gemeinsam ist allen fünf Streitfragen, daß die Rangfolge der Parteien von links nach rechts jeweils der normalen Links-Rechts-Ordnung entspricht mit den GRÜNEN als der neuen Linkspartei. Dies gilt explizit auch bei der Streitfrage um den Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz. Die Position der GRÜNEN wird auch hier links von der SPD wahrgenommen.

Unterschiede ergeben sich zum einen in der Wählerverteilung auf den einzelnen Issuekontinua und in der relativen Position der Parteien zueinander. In der Frage der Kernenergie zeichnete sich bereits zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl ab, daß die Regierungsparteien oder zumindest die CDU/CSU keine Mehrheitsmeinung mehr vertritt. Die Mittelposition, die einer Wahrung des Status quoentspricht, also dem Weiterbetrieb der vorhandenen Kernkraftwerke, ist hier die Mehrheitsmeinung, die von den gegenwärtigen Regierungsparteien durchaus noch mit Beschlag belegt werden könnte. Erwartungsgemäß werden die GRÜNEN mit der Extremposition der sofortigen Abschaltung aller Kernkraftwerke identifiziert, während für die SPD eine deutlich gemäßigtere Position in Richtung Abbau der Kernkraft perzipiert wird.

Auch in der Frage der Friedenssicherung ist die Mittelposition am stärksten besetzt, die man verbal mit einer ausgewogenen Abrüstung im Osten und Westen bezeichnen könnte. Die GRÜNEN liegen hier wieder links außen; man traut ihnen also einseitige Schritte zur Abrüstung zu, die Distanz der SPD von den GRÜNEN ist hier größer als in der Frage der Kemkraft.

In der Frage des Schwangerschaftsabbruchs ist die Position der GRÜNEN heute eine relative Mehrheitsposition. Die etablierten Parteien gruppieren sich um die Mittelposition, die man als die gegenwärtige Praxis der verschiedenen Arten von Indikationslösungen bezeichnen könnte. Wichtig erscheint hier, daß auch die rigorose Position des völligen Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen noch eine Minderheit der Wähler hinter sich hat, die man nicht ganz vernachlässigen kann.

Die Frage der Gleichberechtigung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt war zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl in der Öffentlichkeit noch relativ wenig thematisiert. Die meisten Wähler sprechen sich für eine strikte Gleichbehandlung von Mann und Frau aus und nehmen die etablierten Parteien in dieser Angelegenheit als links von ihnen stehend wahr. Es werden hier keine großen Unterschiede zwischen der SPD, der FDP und der CDU/CSU gesehen. In deutlichem Abstand folgt die Position der GRÜNEN, die allerdings auch nicht völlig auf der Linie des Bewegungsziels wahrgenommen werden. Von allen Streitfragen wird die Stellung der GRÜNEN auf diesem Issuekontinuum am weitesten vom Bewegungsziel weg wahrgenommen.

Zur Frage der Neufassung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz ist noch nachzutragen, daß SPD und GRÜNE hier die Mehrheitsmeinung in der Wählerschaft vertreten. In dieser Frage der alten Linken wird die Position dieser beiden Links-parteien als relativ nahe beieinander liegend wahrgenommen. Aber wie bereits betont, bleibt auch hier die neue Links-Rechts-Ordnung erhalten, wobei man sagen kann, daß die Wähler der GRÜNEN die Position vertreten, die die Parteispitze der SPD einnimmt. Die Wähler der SPD selbst sind in der Frage des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz etwas rechts von der Position der Parteispitze angesiedelt.

Für soziale Bewegungen sind die Mobilisierungschancen, die sie haben, zentral. Manche Autoren machen diese Chancen zu einem Bestandteil ihrer Bewegungsdefinition, so z. B. Rammstedt: „Unter sozialer Bewegung soll ein Prozeß des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse verstanden werden, ein Prozeß, der bewußt getragen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppierung, die nicht formal organisiert zu sein braucht.“ In dem Prozeß det Verbreiterung der Anhängerschaft spielen die Bewegungsziele eine entscheidende Rolle. Die Bewegungen vertreten diese Ziele aggressiv in der Öffentlichkeit und versuchen auf diese Weise, Unterstützung in breiteren Schichten der Bevölkerung zu gewinnen. Wenn man neue Unterstützer der Bewegungsziele gewonnen hat, besteht die Möglichkeit, diese Gruppen auch emotional stärker an die Bewegung zu binden, so daß sie sich vielleicht auf Dauer mit ihr identifizieren. In unseren Untersuchungsplan übersetzt heißt das, daß wir die Korrelation zwischen der Präferenz für Bewegungsziele und der Selbstidentifikation als Bewegungsanhänger als Mobilisierungsindikator auffassen können. Je höher die Korrelation, also die Überein-stimmung von Anhängern und Unterstützern der Ziele, umso höher ist die Mobilisierung zu veranschlagen. Dieser Mobilisierungsindikator ist nicht auf die Bewegungsaktivisten zugeschnitten, für die man die Häufigkeit und Größe kollektiver Aktionen als Mobilisierungsindikator verwenden würde, sondern auf die Verhältnisse in der Wählerschaft allgemein.

Betrachten wir nun diesen Mobilisierungsindikator für die drei untersuchten Bewegungen, so können wir zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl die höchste Mobilisierung für die Antikernkraftbewegung konstatieren (r = 0. 46 zwischen Index der Anhängerschaft und Einstellung zur Kernenergie bei einem maximal möglichen Wert von + 1. 0). Die Übereinstimmung zwischen der subjektiven Identifikation mit der Friedensbewegung und der Einstellung zur Abrüstungsfrage ist mit r = 0. 31 bereits deutlich niedriger. Ausgesprochen gering ist die Mobilisierung der Frauenbewegung auf der Wählerebene. Hier beträgt die Übereinstimmung zwischen der Anhängerfrage und der Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch bei den Männern nur r = 0. 12, bei den Frauen ist sie mit r = 0. 17 etwas höher. Für die Quotenfrage beträgt die Korrelation für beide Geschlechter nur r = 0. 11.

Wir werden im nächsten Abschnitt untersuchen, inwieweit den GRÜNEN die Ausschöpfung des Wählerpotentials des Bewegungssektors gelingt.

Dabei erwarten wir, daß diese Ausschöpfung um so besser gelingt je höher die Mobilisierung ist. Das heißt, wir erwarten für die Antikernkraftbewegung eine größere Ausschöpfung als für die Friedensbewegung oder für die Frauenbewegung.

IV. Die Ausschöpfung des Wählerpotentials des Bewegungssektors durch die GRÜNEN

In Tabelle 1 ist die Frage der Ausschöpfung des Wählerpotentials des Bewegungssektors durch die GRÜNEN für die Antikernkraftbewegung zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl empirisch beantwortet. Die Tabellen für die beiden anderen Bewegungen sind nach demselben Schema aufgebaut, werden aber hier nicht abgedruckt.

Wir fragen zunächst, wie gut der Anhängerschaftsindex die Wahlentscheidung (Zweitstimme) bei der letzten Bundestagswahl voraussagt. Die Stärke dieses Gesamtzusammenhangs bestätigt unsere Mobilisierungsthese. Der Zusammenhang ist umso enger, je größer die Mobilisierung ist; d. h. er ist für die Antikernkraftbewegung am größten, für die Friedensbewegung am zweitgrößten und für die Frauenbewegung am geringsten. Im allgemeinen sind die Männer konsequenter in der Umsetzung von Bewegungsanhängerschaft in Wahlverhalten, dies gilt aber nicht für die Frauenbewegung. Allerdings ist der Unterschied hier zwischen Männern und Frauen relativ gering und würde ganz verschwinden, wenn man nur die Wahlentscheidung für eine der vier im Bundestag vertretenen Parteien betrachten würde, ohne Berücksichtigung der Nichtwähler, der anderen Parteien und der Befragten, die keine Angabe zur Wahlentscheidung machten. Für die Frauenbewegung gilt generell, daß zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl noch kaum von einer Mobilisierung gesprochen werden kann.

Das zweite bemerkenswerte Ergebnis ist, daß die GRÜNEN bei der Ausschöpfung des Wählerpotentials des Bewegungssektors mit einer starken Kon- kurrenz der SPD zu rechnen haben. Immerhin wählen nur 31 Prozent der konsistenten Anhänger der Antikernkraftbewegung die GRÜNEN, aber 50 Prozent die SPD. Bei der Friedensbewegung und der Frauenbewegung beträgt der Anteil der GRÜNEN unter den konsistenten Bewegungsanhängem nur 26 bzw. 27 Prozent, während auch hier die SPD als Partei ihrer Wahl am stärksten von den Bewegungsanhängern präferiert wird. Bei der Frauenbewegung haben sogar zwölf Prozent der konsistenten Anhänger bzw. Anhängerinnen die CDU/CSU gewählt. Geringere Mobilisierung heißt also auch geringere Polarisierung der Wahlentscheidung zwischen Oppositions-und Regierungslager.

Diese Betrachtung kann durch eine zweite Frage ergänzt werden: Wie stark sind die GRÜNEN ihrerseits auf den Bewegungssektor angewiesen, im Vergleich vor allem zur SPD? Diese Frage wird durch die letzte Spalte der Tabelle 1 beantwortet, wo angegeben ist, wieviel Prozent der Wählerschaft einer Partei aus Bewegungsanhängem bestehen. Es zeigt sich, daß 83 Prozent der Grünwähler Anhänger der Antikernkraftbewegung sind, 81 Prozent Anhänger der Friedensbewegung und 47 Prozent Anhänger der Frauenbewegung. Bei der SPD liegen diese Prozentwerte sehr viel niedriger; sie betragen für die Antikernkraftbewegung 38 Prozent, für die Friedensbewegung 42 Prozent und für die Frauenbewegung 24 Prozent. Daraus folgt eindeutig, daß die GRÜNEN sehr stark auf den Bewegungssektor angewiesen sind, daß es ihnen aber andererseits im Vergleich zur SPD nicht optimal gelingt, das Wählerpotential dieses Sektors auch auszuschöpfen.

Diese Feststellung gilt für den Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl. Die interessante Frage ist natürlich die nach den Bedingungen einer höheren Ausschöpfung des Bewegungssektors durch die GRÜNEN. Eine Bedingung haben wir bereits genannt. Es ist die Höhe der Mobilisierung, d. h.der Grad der Übereinstimmung zwischen Bewegungsanhängerschaft und Einstellung zu den Bewegungszielen. Daran kann man die Frage anschließen, ob mehrere Bewegungen gleichzeitig eine hohe Mobilisierung erreichen können. Dies erscheint schwierig. Mobilisierung ist immer auch Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit, und in diesem Kampf kann es nicht beliebig viele Sieger zum gleichen Zeitpunkt geben. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist eine knappe Ressource, die nicht beliebig erhöht werden kann.

Dies wäre dann kein Gegenargument, wenn es sich bei den Anhängern der einzelnen Bewegungen weitgehend um denselben Personenkreis handeln würde. Wir haben hier die drei untersuchten Bewegungen klassifikatorisch als Bewegungssektor bezeichnet. Aus diesem Sprachgebrauch darf nicht geschlossen werden, daß sich die Anhängerschaften der drei Bewegungen tatsächlich so stark überschneiden, daß man von einer einheitlichen neuen sozialen Bewegung sprechen könnte. Ob diese letztere Interpretation richtig ist, muß vielmehr empirisch eigens untersucht werden.

Mißt man die Überschneidung der Anhängerschaften der drei Einzelbewegungen getrennt nach Geschlecht, so zeigen sich höhere Überschneidungen bei den Frauen als bei den Männern. Das allgemeine Muster der Überschneidungen ist aber weitgehend gleich. Die Überschneidung zwischen Antikernkraftbewegung und Friedensbewegung ist hoch, deren Überschneidung mit der Frauenbewegung ist deutlich geringer.

Diese Situation wiederholt sich bei einer Analyse der Übereinstimmung zwischen den Einstellungen zu den Bewegungszielen. Zwischen der Einstellung zur Kernkraft und zur Abrüstung besteht noch ein relativ enger Zusammenhang (r = 0. 47), die Einstellungen zum Thema Abtreibung und zum Thema Gleichberechtigung der Frau auf dem Arbeitsmarkt weisen sowohl miteinander als auch mit den beiden anderen Einstellungen sehr niedrige Übereinstimmungen auf.

Aus diesen Analysen läßt sich ableiten, daß sowohl im Hinblick auf die Anhängerschaft als auch im Hinblick auf die Zieldimension keine einheitliche neue soziale Bewegung existiert. Es ist in erster Linie die Frauenbewegung, die ein neues Element in den Bewegungssektor einbringt, das nicht mehr alle in gleicherweise beurteilen. Strikte Interessen-politik für erwerbstätige Frauen und ideologische Grundeinstellungen zu Problemen der Abtreibung sprechen nicht dieselben Gruppen an. Hier bedürfte es eines Mobilisierungsschubs, der aber momentan nicht beobachtbar ist.

Angesichts der geringen Überschneidung der Anhänger der Einzelbewegungen und ihrer Zielpräferenzen bleibt also das Diktum bestehen, daß die Einzelbewegungen nicht alle gleichzeitig eine hohe Mobilisierung erreichen können. Damit bleibt als letztes die Frage zu klären, nach welchen Bedingungen sich die Rekrutierung des Wählerpotentials bei hoher und bei niedriger Mobilisierung gestaltet. Diese Bedingungen werden in der relativen Erklärungskraft von Anhängerschaft und Zielpräferenzfür die Wahl der GRÜNEN und der SPD gesucht. In der Tabelle 2 wird die Wahl der SPD und der GRÜNEN zusammen von den beiden möglichen Bewegungsdeterminanten vorausgesagt der Anhängerschaft und der Zielpräferenz. Es zeigt sich ein sehr ausgeprägter Zusammenhang. Die Stimmabgabe für beide Parteien hängt von beiden Determinanten in etwa gleich ab. Sowohl die Zielpräferenz als auch die Identifikation mit der Bewegung haben eine eigenständige Wirkung auf die Wahl entweder der SPD oder der GRÜNEN.

Betrachtet man die Wahlentscheidung für die beiden linken Parteien getrennt, fällt aber auf, daß die SPD mehr von der Präferenz für das Bewegungsziel profitiert als die GRÜNEN, für die die Erklärungskraft der Anhängerschaft einen kleinen Vorsprung vor der Erklärung durch die Zielpräferenz hat. Daraus läßt sich ableiten: Unter den Bedingungen hoher Mobilisierung profitiert die SPD als die dem Bewegungssektor am nächsten stehende etablierte Partei am stärksten von den entsprechenden Ziel-präferenzen in der Wählerschaft, die nicht unbedingt an eine Identifikation mit der jeweiligen Bewegung geknüpft sind. Die GRÜNEN dagegen bewähren sich in dem Sinne als Partei des Bewegungssektors, als für sie die emotionale Identifikation mit einer Bewegung die wichtigere Determinante ist, vor dem rationalen Grund der Wahl der Partei, die der eigenen Zielpräferenz am nächsten steht.

Diese Aussage bezieht sich zunächst nur auf die Antikernkraftbewegung. Eine Generalisierung auf andere neue Bewegungen erscheint aber möglich, falls diesen in Zukunft eine höhere Mobilisierung gelingen sollte. Unter Bedingungen niedriger Mobilisierung wirkt sich in erster Linie nur die Identifikation mit der jeweiligen Bewegung als ein die GRÜNEN begünstigender Faktor aus, allerdings auf insgesamt geringerem Erklärungsniveau als unter Bedingungen hoher Mobilisierung.

V. Schlußbemerkungen

Die neuen sozialen Bewegungen lassen sich unter vielen Gesichtspunkten untersuchen. In der Wahl-soziologie steht z. B. oft die Frage im Vordergrund, welche sozialstrukturellen Gruppierungen die Hauptträgergruppen sind, ob es sich bei diesen z. B. um eine neue Klasse handelt Wir haben demgegenüber mehr die politischen Faktoren un-tersucht, die die neuen Bewegungen und die GRÜNEN in der Bundesrepublik begünstigt haben. Dazu gehört zweifellos der sich in den letzten Jahren in breiteren Schichten der Wählerschaft vollziehende Wandel in der Einstellung zur Kernenergie, der von dem Kurswechsel der SPD nach ihrem Ausscheiden aus der Bundesregierung beschleunigt worden sein dürfte. Gleichzeitig ist aber sichtbar geworden, daß die Öffnung der SPD zum Bewegungssektor hin die Chancen der GRÜNEN auch begrenzt. Die GRÜNEN sind in das Parteiensystem integriert worden, sie werden nicht mehr ausgegrenzt, aber sie sind integriert worden zu den Bedingungen dieses Systems. Sie sind eine auf dem Links-Rechts-Kontinuum klar verortete Partei geworden und konnten dem Parteiensystem keine neue politische Konfliktstruktur aufzwingen. In dieser Rolle links von der SPD bleiben sie auf den Bewegungssektor angewiesen. Ihre Bewegungsromantik schützt sie vor einer Vereinnahmung durch die SPD. Auf die Dauer wird dies aber nur gelingen, wenn die Bewegungen ihre Mobilisierungsfähigkeit erhalten und wenn sie die GRÜNEN als Partei des Bewegungssektors weiterhin akzeptieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Charles Tilly, From Mobilization to Revolution, Reading, Mass. 1978.

  2. John D. McCarthy/Mayer N. Zaid. Resource mobilization and social movements: a partial theory. in: American Journal of Sociology, 82 (1977), S. 1212— 1241.

  3. Rudolf Heberle. Hauptprobleme der politischen Soziologie. Stuttgart 1967, S. 11.

  4. Vgl. Ch. Tilly (Anm. 1).

  5. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Frankfurt 1985, S. 77.

  6. Vgl. Ottheim Rammstedt, Soziale Bewegung. Frankfurt 1978. S. 170.

  7. Ch. Tilly (Anm. 1), S. 9.

  8. Vgl. Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, Princeton, N. J. 1977.

  9. Vgl. Max Kaase, Soziale Bewegungen zwischen Innovation und Antimodemismus, in: Peter Flora (Hrsg.), Westeuropa im Wandel, Frankfurt 1989.

  10. Vgl. Edward N. Muller/Karl-Dieter Opp, Rational choice and rebellious collective action, in: American Political Science Review, 80 (1986), S. 471-487.

  11. Jürgen Habermas. Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2., Frankfurt 1981. S. 578.

  12. J. Raschke (Anm. 5), S. 412.

  13. Vgl. z. B. Roland Roth, Neue soziale Bewegungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik — eine vorläufige Skizze, in: Karl-Werner Brand (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA, Frankfurt 1985, S. 20— 82; Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1987 (Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 252); Ulrike C. Wasmuht, Alternativen zur alten Politik? Neue soziale Bewegungen in der Diskussion, Darmstadt 1989.

  14. Vgl. Richard Centers. The Psychology of Social Classes, Princeton 1949, S. 74— 106.

  15. Vgl. Angus Campbell /Philip E. Converse /Warren E. Miller/Donald E. Stokes, The American Voter, New York 1960, S. 120-167.

  16. Vgl. Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität zu Köln, Wahlstudie 1987, Teil 2: Panelstudie (ZA-Nr. 1537) 1987, Projektleitung: Forschungsgruppe Wahlen e. V., Mannheim, in Zusammenarbeit mit Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann, Franz U. Pappi.

  17. Vgl. Nicholas Watts, Mobilisierungspotential und gesellschaftspolitische Bedeutung der neuen sozialen Bewegungen. in: R. Roth/D. Rucht (Anm. 13), S. 53.

  18. O. Rammstedt (Anm. 6), S. 130.

  19. Vgl. Hanspeter Kriesi, New social movements and the new dass in the Netherlands, in: American Journal of Sociology, 94 (1989), S. 1078-1116.

Weitere Inhalte