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Neue Ansätze zur Wirtschafts-und Sozialpolitik | APuZ 21-22/1988 | bpb.de

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APuZ 21-22/1988 Aussagen der katholischen Soziallehre zu gesellschaftlichen Fragen Positionen und Stellungnahmen der Evangelischen Kirche zu sozialpolitischen Aufgaben Die Zukunft der Sozialpolitik Neue Ansätze zur Wirtschafts-und Sozialpolitik Artikel 1

Neue Ansätze zur Wirtschafts-und Sozialpolitik

Cornelius G. Fetsch

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Diskussion um die Steuerreform, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die steigende Neuverschuldung des Bundes, die Probleme der sozialen Sicherungssysteme Rente und Gesundheit, des nationalen und europäischen Agrarmarktes, der „alten Industrien“ wie Kohle, Stahl, Schiffsbau sowie die Diskussion um den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland verlangen neue Konzeptionen im Rahmen eines marktwirtschaftlichen Gesamtkonzeptes. Es ist deutlich zu machen, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Preis für die Arbeit zu teuer geworden ist. Die Tarifpolitik der letzten Jahre: Immer mehr Lohn für immer weniger Arbeitsplatzbesitzer hat zu einem Lohnniveau geführt, bei dem nicht mehr alle Arbeit finden können. Die Arbeitslosigkeit kann nur wirksam reduziert werden, wenn die Tarifpartner flexible Wege der Tarifpolitik gehen. Im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung ist ein klares, an gesellschaftspolitischen Grundsätzen orientiertes Konzept notwendig. Neben den Prinzipien Solidarität und Subsidiarität muß deshalb zugleich das Prinzip wirtschaftlicher Effizienz gelten. In der zum Teil erheblichen Verminderung der Eigenkapitalausstattung der deutschen Wirtschaft ist auch ein Faktor für die Schwierigkeit der Schaffung neuer Arbeitsplätze zu setzen. Eigenkapitalmangel verleitet zur Beibehaltung veralteter Anlagen. Er lähmt Zukunftsinvestitionen und bedeutet eine zusätzliche Belastung in Zeiten ungünstiger Konjunktur. Politiker und Wirtschaftsvertreter müssen aus diesem Grunde gemeinsam an einem Konzept zur Förderung des Miteigentums am Produktivvermögen in allen Bevölkerungskreisen arbeiten. In der Diskussion um die Sonntagsarbeit kommt es oft zu einer unverantwortlichen Vermischung von Samstags-und Sonntagsarbeit. Vor einer weiteren Inanspruchnahme des Sonntags sollte erst einmal der Samstag als Arbeitstag voll ausgenutzt werden. Wer den Sonntag vom Druck der aus Kostengründen erforderten Erwerbsarbeit entlasten will, der darf nicht den arbeitsfreien Samstag zum Tabu erklären.

In die Wirtschafts-und Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist Bewegung gekommen. Die Diskussion um die Steuer-Reform, die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, die steigende Neuverschuldung des Bundes, die Probleme der sozialen Sicherungssysteme Rente und Gesundheit, des nationalen und europäischen Agrarmarktes, der „alten Industrien“ wie Kohle, Stahl, Schiffbau sowie die Diskussion um den Industriestandort Bundesrepublik verlangen Antworten im Rahmen eines wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Gesamtkonzeptes. Die Bürger und besonders die Wähler der Regierungskoalition fordern von der Regierung, die anstehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme auf dem Boden der Sozialen Marktwirtschaft mit Sachkompetenz und Durchsetzungsvermögen zu lösen.

I. Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

Grundsätzlich gilt, daß wirtschafts-und sozialpolitische Vorstellungen in einem ordnungspolitischen Zusammenhang stehen und daß Lösungsvorschläge auch die Finanzierbarkeit aufzeigen müssen. Arbeitslosigkeit läßt sich nur dann wirksam bekämpfen, wenn akzeptiert wird, daß auch der Arbeitsmarkt ein Markt ist, den einheitliche Monopol-preise, d. h. unflexible Einheitslöhne nur einengen. Es gibt einfach eine Preisgrenze, bei deren Überschreitung Arbeit nicht mehr nachgefragt wird. An diesem Thema zeigt sich besonders deutlich, wie unehrlich von einigen Politikern und Funktionären heute weitgehend Diskussionen über die Sachprobleme geführt werden.

Inzwischen gehen selbst Skeptiker davon aus, daß die wirtschaftliche Entwicklung in diesem Jahr besser verlaufen wird, als noch zu Jahresanfang erwartet wurde. 5 Prozent Wachstum bezeichnen wohl eher die untere Grenze des Erreichbaren. Allerdings befürchten einige Experten einen konjunkturellen Umschwung in der zweiten Jahreshälfte 1989; sie gehen zudem davon aus. daß wir mit einem Sokkel von rund zwei bis 2, 2 Millionen Arbeitslosen in die nächste Rezession gehen 1). 1. Einige wichtige Grundlagen — Trotz der nahezu gleichbleibenden Gesamtzahl von etwa zwei Millionen Arbeitslosen haben wir es nicht mit einem monolitischen Block zu tun. 1988 werden rund sechs Millionen Arbeitsplätze neu besetzt, und die gemeldeten offenen Stellen werden zu 70 Prozent aus dem Bestand der registrierten Arbeitssuchenden aufgefüllt. Da sich die Arbeitsvermittlungen der Bundesanstalt für Arbeit auf ungefähr zwei Millionen belaufen, gibt es insgesamt eine beträchtliche Fluktuation. — Es darf nicht übersehen werden, daß der Anteil der „schwer vermittelbaren Arbeitslosen“ außerordentlich hoch ist. Nach offiziellen Mitteilungen müssen bei etwa drei Viertel der Arbeitslosen Abstriche bei der Eignung gemacht werden. Über die Hälfte der Arbeitslosen hat keine abgeschlossene Berufsausbildung. Für diese Kategorie liegt dann auch die Arbeitslosenquote bei 16 Prozent, während sie bei nachgewiesenen Qualifikationen nur sechs Prozent beträgt. Hier liegt also ein massiver Ausleseprozeß zu Lasten der weniger Qualifizierten vor. — Obwohl sich jeder zehnte Arbeitslose, darunter vor allem Frauen, eine Teilzeitarbeit wünscht, sind entsprechende Angebote relativ knapp. — Vor allem die regionalen Unterschiede der Teil-arbeitsmärkte sind gravierend. In Göppingen zum Beispiel beträgt die Arbeitslosenquote 3, 4 Prozent, in Leer dagegen 22 Prozent. — Auch das Meldeverhalten hat sich in den vergangenen Jahren tiefgreifend geändert. Würde man sich heute in der gleichen Art und Weise arbeitslos melden, wie es in den sechziger Jahren üblich war. wäre die Erwerbslosigkeit um rund ein Drittel oder 700 000 geringer. Diesen soziologischen Wandel, der hinter den Statistiken steht, sollte man bedenken, wenn man die heutige Arbeitsmarktlage mit den angeblich „goldenen sechziger Jahren“ vergleicht. — In der Bundesrepublik gibt es eine blühende Schattenwirtschaft, die schätzungsweise fünf bis acht Prozent des offiziellen Sozialprodukts ausmacht; d. h. die Arbeitslosigkeit würde, rein rechnerisch, fast gänzlich verschwinden, wenn uns die Arbeitslosen-Statistiken ein zutreffendes Bild der Wirklichkeit zeichneten.

Daraus ergibt sich als Folgerung, daß die gegenwärtige Arbeitslosigkeit nicht mit staatlichen Programmen zu beheben ist. Diese würden an den Symptomen herumkurieren und nur eine scheinbare und flüchtige Besserung bewirken. Das belegen die starB ken regionalen, branchenmäßigen und sektoralen Strukturverzerrungen sowie die unterschiedlichen Qualifikationsvoraussetzungen. Die Diskussion um verschiedene Formen der Arbeitszeitverkürzung Aufgrund der strukturellen Unterschiede auf dem Arbeitsmarkt kann eine erfolgreiche Reduzierung der Arbeitslosigkeit nicht in einer pauschalen Verkürzung der Arbeitszeit liegen. Zur Bewertung der Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich hat Oswald von Nell-Breuning schon während des Arbeitskampfes 1984 gesagt: „Das Angebot, fünf Stunden weniger zu arbeiten und trotzdem den gleichen Lohn zu erhalten, ist in keiner Weise mit dem Solidaritätsprinzip zu vereinbaren.“ Diese Haltung sei ein „Hohn“, „ausgesprochener Klassenkampf von oben . . .der Klasse der Arbeitsplatzbesitzer gegen die Klasse der vom Arbeitsplatz entblößten — nur Arbeitslosen“ 2).

Des weiteren ist es volkswirtschaftlich höchst zweifelhaft, ob eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit auch ohne vollen Lohnausgleich überhaupt zusätzliche neue Arbeitsplätze schafft. Im staatlichen Bereich ließe sich vielleicht durch diese Form der Arbeitszeitverkürzung die Lehrerarbeitslosigkeit beseitigen, aber in der privaten Wirtschaft gibt es heute erhebliche Engpässe bei qualifiziertem Personal. Und gerade dies steht nicht zur Verfügung.

Zudem handelt es sich bei all diesen Vorschlägen nur um eine Umverteilung, weil dasselbe Arbeitsvolumen zu denselben Lohnkosten nur auf mehr Menschen verteilt wird. Somit werden lediglich die Erscheinungsformen der Arbeitslosigkeit vertauscht: Alle möchten arbeiten, aber keiner darf soviel arbeiten, wie er eigentlich will. Abgesehen von der falschen Voraussetzung, daß aus dem Arbeitslosenreservoir an jedem Standort der Betriebe die zusätzlich benötigten Fachkräfte ohne Schwierigkeiten bereitstünden, wird nicht berücksichtigt, daß eine verkürzte Arbeitszeit infolge der Fixkosten-Umlage (ohne Neueinstellungen) zwangsläufig zu höheren Stückkosten führt. Heute fahren vier von fünf Unternehmen Überstunden, nicht um Personaleinstellungen zu vermeiden, sondern weil es an Fachkräften mangelt 3. Die Politik der Tarifparteien Als Konsequenz dieser Überlegungen muß der Blick also auf den Arbeitsmarkt, auf die Rolle der Tarifparteien und auf die dort bestehende Verteilung von Rechten und Pflichten gelenkt werden. Zu analysieren ist also das in der Bundesrepublik Deutschland bestehende Tarif-Kartell: Die Tarif-parteien legen einen Mindestpreis für Arbeit fest, der faktisch allgemeinverbindlich ist. Da nahezu jeder Arbeitnehmer die tariflich vereinbarte Lohnerhöhung erhält und nicht nach unten abgewichen werden kann, ist Außenseiter-Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt praktisch ausgeschlossen. Diese Politik wird nicht nur von den Gewerkschaften betrieben, deren Ziel es immer schon war, Arbeit aus dem Wettbewerb zu nehmen, sondern auch von den Arbeitgebern toleriert, für die es beruhigend ist zu wissen, daß die Konkurrenz mit denselben Arbeitskosten kalkulieren muß. Eine solche Tarifpolitik hat immer mehr von dem Lohnniveau weggeführt, zu dem „alle“ Arbeit bekommen können. Hauptbetroffene dieser Fehlentwicklung sind die Arbeitslosen ohne qualifizierte Ausbildung, die bekanntlich über 50 Prozent der heutigen Arbeitslosen ausmachen. Sie wurden durch die Tarifabschlüsse der letzten Jahre (Sockelbeträge plus Wegfall der unteren Lohngruppen) geschädigt mit der Konsequenz, daß Tarifpolitik heute „immer mehr Lohn für immer weniger Arbeitsplatzbesitzer“ bedeutet. Der tarifliche Mindestlohn bildet also gewissermaßen eine Scheidegrenze, d. h. diejenigen Arbeitnehmer fallen unten heraus, die weniger produktiv sind, als das Entgelt erfordert, das für sie vereinbart wurde. In dieser Drittlastigkeit des Tarif-Kartells liegt der eigentliche Grund für den Selektionsprozeß auf dem Arbeitsmarkt und für die Schwierigkeiten, diese Problemgruppen wieder in die Erwerbstätigkeit einzugliedern.

Der entscheidende Fehler im System ist dabei, daß mit der Tarifautonomie weitreichende Rechte gewährt werden, aber keine Pflichten daran geknüpft sind. Insbesondere fehlt die Verantwortung für das Beschäftigungsziel der Volkswirtschaft. Ginge es nach den Gewerkschaften, wäre hierfür der Staat zuständig. Wir stehen somit vor einem akuten „Drinnen-Draußen-Problem". Es geht den Arbeitnehmern vergleichsweise gut, die zum vereinbarten Lohnsatz arbeiten dürfen; obendrein kommen sie in den Genuß zahlreicher sozialpolitischer Segnungen. Aufgrund dieser Tatsachen haben die Ausgesperrten immer geringere Chancen, eine nach Tarif bezahlte Arbeit zu finden. Wir sind damit auf dem Marsch in eine 90-Prozent-Gesellschaft: in ein Zwei-Klassen-System, von Arbeitsplatzbesitzern einerseits und Arbeitslosen andererseits.

Bezeichnend für die Tarifpolitik der Gewerkschaften war das Verhalten der ÖTV und der IG-Metall Ende Februar 1988. Die ÖTV forderte fünf Prozent Lohn-und Gehaltserhöhung bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, und die IG-Metall rief in Rheinhausen ihre Mitglieder gleichzeitig zu Protesten auf sowohl gegen die Schließung des mit hohen Verlusten arbeitenden Krupp-Stahlwerkes als auch für eine fünfprozentige Lohn-und Gehaltserhöhung mit Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Dieses Verhalten kann man nur als „schizophren“ bezeichnen: Einerseits fordern die Gewerkschaften Staat und Gesellschaft auf, nachhaltig etwas für den Abbau der Arbeitslosigkeit zu tun, und andererseits verteuern sie gleichzeitig durch Forderungen, die weit über den Anstieg des Bruttosozialproduktes und des Produktivitätsfortschrittes hinausgehen, die Kostenlage der gesamten deutschen Wirtschaft. An dieser Stelle soll auch darauf hingewiesen werden. daß bei der Einbeziehung des Produktivitätsfortschritts als Maßstab der Tarifpolitik eine Neu-definierung des Produktivitätsbegriffes erforderlich ist; und zwar nicht Bruttosozialprodukt dividiert durch Erwerbstätige, sondern Bruttosozialprodukt dividiert durch Erwerbstätige plus Arbeitslose. Die Kosten-Erlös-Relation Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Entwicklung der Kosten-Erlös-Relation, also der Gewinne der Unternehmen, die der Sachverständigenrat jüngst berechnet hat. Diese haben sich seit 1982 erholt, und die Umsatzrenditen liegen gegenwärtig wieder auf dem Niveau der frühen siebziger Jahre. Allerdings wird ein entscheidender Punkt in der öffentlichen Diskussion übersehen: Diese Verbesserung beruht zu über 90 Prozent auf einem Rückgang der Vorleistungskosten (vor allem bei den importierten Vorprodukten wie Rohöl und Energie). Hinzu kommen zurückgehende Zinsen. Das heißt, während die Produktionsfaktoren, ausländische Vorleistungen und Kapital billiger geworden sind, hat der Produktionsfaktor Arbeit keinen nennenswerten Beitrag zur Verbesserung der Kosten-Erlös-Relation geleistet. Unter Miteinbeziehung der Arbeitgeberbeiträge sind die Arbeitskosten sogar leicht gestiegen 4). Unter diesen Vorzeichen ist es keineswegs enttäuschend, daß seit dem zweiten Quartal 1984 die Beschäftigung nur um rund 600 000 Personen zugenommen hat. Im Gegenteil, es ist sogar erstaunlich, daß überhaupt so-viele Menschen zusätzlich Arbeit finden konnten.

Im EG-Kommissionsbericht von 1986 wird ebenfalls herausgestellt, daß die Arbeitslosigkeit in Europa im wesentlichen auf überhöhte Lohnkosten zurückzuführen ist, genauer: zu vier Fünfteln Eine neuere Untersuchung von Michael Burda und Jeffrey Sachs kommt zu dem Ergebnis, daß die Reallöhne in der deutschen Industrie im Jahre 1985 um 20 bis 25 Prozent über dem Niveau gelegen haben, das mit Vollbeschäftigung vereinbar gewesen wäre 5. Therapievorschläge Die Gewerkschaften wollen höhere Löhne und sichere Arbeitsplätze. Wer wollte das nicht? Aber nach aller Erfahrung ist es unwahrscheinlich, das eine und das andere gleichermaßen zu erreichen. Die Gegenbeispiele der USA und Japan, die bekanntlich eine weitaus bessere und stabilere Beschäftigungsbilanz vorweisen können, beweisen dies: In den USA gibt es feste Löhne, aber nur einen schwachen Kündigungsschutz. In Japan hingegen findet man das lebenslange Beschäftigungsverhältnis, aber keine festen Lohnsätze (das Bonus-System koppelt die Entgelte an die Gewinnlage der Unternehmen, die Extrazahlungen betragen bis zu fünf Monatsgehälter). Nur in der Bundesrepublik Deutschland wird beides gleichzeitig versucht. Wenn wir uns hierzulande einen so hoch entwickelten Kündigungsschutz leisten, wie wir ihn in guter Absicht haben, werden weniger Arbeitnehmer eingestellt. Wenn wir aus guten Gründen die amerikanischen „Hire-and-Fire-Praktiken“ nicht einführen wollen, müssen wir uns bei der Lohnpolitik etwas einfallen lassen. Dazu bedarf es: — Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, damit es Einstiegstarife für klar definierte Gruppen geben kann (Arbeitslose und Berufsanfänger). Dabei könnte vereinbart werden, daß die Löhne und Gehälter spätestens nach drei Jahren dem allgemeinen Tarifniveau angeglichen sein müßten. Den Außenseitern muß das Überspringen der Tarifhürden erleichtert werden. Es ist sozialer, ungelernten und unqualifizierten Menschen auf diese Weise Arbeit zu verschaffen, als sie auf Kosten der Allgemeinheit in die Arbeitslosigkeit „hinwegzutarifieren“. Vorstellbar wäre auch die Überlegung, das jetzige Lohnsystem zugunsten eines Beteiligungssystems aufzugeben — Dezentrale Lohnverhandlungen mit dem Ziel, es in den einzelnen Betrieben und Unternehmen möglich zu machen, in Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Unternehmensleitung in Form von Betriebsvereinbarungen von den tariflichen Abschlüssen in bestimmtem Maße abzuweichen. — Sektorale Abschlüsse, die die Situation der einzelnen Branchen berücksichtigen. Für eine Werft in Hamburg muß nicht — wie es heute in der Metallindustrie aufgrund der Tarifabschlüsse notwendig ist — der gleiche Lohn vereinbart werden wie für eine Automobilfirma in Stuttgart. — Abschluß eines Abkommens zwischen den Tarifpartnern über Grundbedingungen und -daten. Die autonomen Tarifpartner sollten ihren Konsens über ihre gemeinwohlverpflichtete Verantwortlichkeit, den Inhalt der wirtschaftlichen Größe, Einkommen und deren gesamtwirtschaftliche Bedeutung sowie ihre Verständigung darüber, den gesamtwirtschaftlichen Datenkranz und das Sachverständigengutachten oder gemeinsam in Auftrag gegebene Expertisen in ihre tarifautonome Meinungsbildung und Entscheidungsfindung einbeziehen und in einem Grundsatzabkommen veröffentlichen. Sie sollten sich weiterhin während der Laufzeit eines Tarifvertrages darüber verständigen, ob und welche Korrekturen im Rahmen bevorstehender Tarifverhandlungen vorzunehmen sind, wenn die wirtschaftliche Entwicklung der jeweiligen Branche in erheblichem Maße von den Erwartungen, die Grundlage des letzten Tarifvertrages waren, abweicht. — Die Tarifvertragsparteien sollten sich daraufverständigen, eine Begründung für den Tarifabschluß abzugeben und sich der öffentlichen Diskussion zu stellen. Dies bezieht sich auch auf die vorgenannten Korrekturen.

— Fortführung und Ausbau der Qualifizierungsoffensive. Lediglich 20 Prozent der Lehrgangsteilnehmer waren 1986 ein halbes Jahr nach Kursende immer noch arbeitslos

— Wiederbelebung der Konzertierten Aktion oder ähnlicher Aktionen. Es gibt zwar noch viele, die an einen unüberwindbaren historischen Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital ä la Marx glauben, aber mittlerweile sind wir gut hundert Jahre weiter und die Dringlichkeit unserer Probleme verpflichtet uns, diese Voreingenommenheit endgültig ins Panoptikum der Dogmengeschichte zu überweisen und das aktive Aufeinanderzugehen der Tarifparteien zu fördern.

— Einführung eines Systems zur Bildung von Miteigentum am Produktivvermögen in allen Bevölkerungsschichten. Diese Forderung wird im Teil III gesondert behandelt.

— Liberalisierung der Ladenschlußzeiten und Förderung der Wünsche nach Teilzeitarbeit. In der Bundesrepublik Deutschland sind nur 12 Prozent aller Erwerbstätigen teilzeitbeschäftigt, in Norwegen knapp 29 Prozent, in den Niederlanden 24 Prozent und in England 21 Prozent

Als Fazit kann festgehalten werden: Zum effektiven Abbau der Arbeitslosigkeit sind in der Marktwirtschaft die richtigen Anreize wichtiger als wohl-tönende Appelle. Aber über Solidaritätsaktionen hinaus brauchen wir mehr Freiheit für flexible, regional und sektoral unterschiedliche Maßnahmen Auf unserem Arbeitsmarkt liegt insofern ein Systemmangel vor, als Tarifverträge zu Lasten Dritter (nämlich der Arbeitslosen) möglich sind. Die Asymmetrie von Recht und Verantwortung führt zu falschen Anreizen, die ein tarifpolitisches Fehlverhalten provozieren und, was viel schlimmer ist, ungeahndet lassen. Der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland hat die höchsten Löhne, die höchsten Umweltkosten und die höchsten Untemehmenssteuem sowie zusätzlich überhöhte Strompreise, Femmeldegebühren und Frachtraten. Angesichts dieser Tatsachen ist von allen Tarifparteien für die nächsten Tarifabschlüsse Augenmaß gefordert. Das Problem der hohen Arbeitslosigkeit läßt sich nicht länger über Verteilungskonflikte zwischen Kapital und Arbeit lösen.

II. Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

Die Reform der GKV beherrscht seit einiger Zeit die öffentliche Diskussion. Gradmesser für den Zustand des Systems ist die Höhe des Beitrags zur GKV. Mit den beiden Kostendämpfungsgesetzen von 1977 und 1981 ist versucht worden, die besorgniserregende Kostensteigerung unter Kontrolle zu bringen. Diese Versuche sind gescheitert, weil sie lediglich an Symptomen herumkuriert haben, ohne die Ursachen der Entwicklung zu analysieren und zu beseitigen.

Mit einem Ausgabenvolumen von 114 Milliarden DM (1985) sind — bezogen auf das beitragspflichtige Einkommen — die durchschnittlichen Bei-tragssätze der GKV von 8, 2 Prozent (1970) auf 12, 5 Prozent (1987) gestiegen. Die inzwischen erreichte Höhe der Beiträge ist alarmierend. Sie ist für die Versicherten eine unerträglich werdende Belastung und bedeutet zugleich — da sie mit 50 Prozent in die Lohnnebenkosten der Unternehmungen eingeht — eine erhebliche Kostenbelastung der deutschen Wirtschaft, zu der nach Berechnung der BDA noch circa 40 Milliarden Kosten der Lohnfortzahlung bei Krankheit kommen. Schließlich stellen die Beiträge der öffentlichen Hand im Bereich der Krankenhausfinanzierung und der Krankenversicherung der Rentner die öffentlichen Kassen vor immer größer werdende Probleme. Deshalb ist inzwischen auch der Öffentlichkeit klar geworden, daß eine grundlegende Reform, die unter dem Stichwort „Strukturreform der GKV“ diskutiert wird, unerläßlich ist. Die Bundesregierung hat bei der ersten Vorstellung ihrer Reformvorschläge ein äußerst kritisches Echo erhalten. Dies hat zwei Gründe: 1. Ein klares, an gesellschaftspolitischen Grundsätzen orientiertes Konzept ist nicht erkennbar. Dies führt dazu, daß neben durchaus zweckentsprechenden Regelungen auch solche Vorschläge gemacht werden, die aus grundsätzlichen Erwägungen bedenklich sind. Dazu gehören die Festbeträge, die Einforderung eines „Solidarbeitrages der Pharmaindustrie“, der praktisch einer Subvention der GKV gleichkommt, sowie der Vorschlag, die Krankenkassen mit dem finanziellen Pflegerisiko zu belasten. Hinzu kommt, daß für die dringend notwendige Neuordnung des Krankenhauswesens geeignete Vorschläge völlig fehlen.

2. Eine Einschränkung oder nur Bremsung der Kosten der Krankenversicherung erfordert Zugeständnisse von allen Beteiligten. Die Reformen stoßen auf Wiederstand, weil sie viele Interessen berühren. Bislang war unser System so konstruiert, daß zu Recht von einem „Selbstbedienungsladen“ gesprochen werden konnte. 1. Grundsätzliche Überlegungen Leitsatz jeglichen Reformansatzes muß sein: Solidarität und Subsidiarität im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Gesetzliche Krankenversicherung ist ein wichtiger Teil unseres sozialen Sicherungssystems, das im ordnungspolitischen Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft und seinen Interdependenzen verstanden werden muß. Die Marktwirtschaft bewirkt durch das freie Spiel der Kräfte eine Optimierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und damit die Förderung des „Wohlstandes der Nationen“, wie dies schon Adam Smith, der Begründer der Theorie der Marktwirtschaft. vor fast zweihundert Jahren formulierte.

Die Liberale Marktwirtschaft wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik zu einer Sozialen Marktwirtschaft weiterentwickelt. Die soziale Komponente im marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmen sollte der Entstehung sozialer Un-gleichgewichte und Ungerechtigkeiten in einem liberalistisch-individualistisch orientierten Markt entgegenwirken. Eine grundlegende geistige Wurzel der Sozialen Marktwirtschaft ist die Christliche Gesellschaftslehre. Sie ist deshalb auch bei allen Reformüberlegungen im Gesundheitswesen als wichtiges Urteilskriterium heranzuziehen. So liegt es nahe, sich vor der Diskussion von Reformen im Gesundheitswesen die Grundsätze der Christlichen Gesellschaftslehre in Erinnerung zu rufen.

Die beiden wichtigsten sozialen Ordnungsprinzipien der Christlichen Gesellschaftslehre sind das Solidaritäts-und das Subsidiaritätsprinzip. Sie sollen das Gemeinwohl, d. h. das Wohl aller Einzelpersonen in der Gesellschaft, sichern. Sie sind als Entfaltungen des christlichen Menschenbildes zu verstehen, welches jeder Person aufgrund der Gottebenbildlichkeit des Menschen eine unveräußerliche Würde verleiht. Aus diesem Menschenbild leiten sich Rechte und Pflichten für jeden einzelnen in Gesellschaft und Wirtschaft her.

Solidarität bedeutet, daß die Gemeinschaft und ihre Glieder wechselseitig miteinander verbunden sind und füreinander einstehen müssen. Subsidiarität bezieht sich auf das Spannungsverhältnis zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft. Weil der Mensch zunächst für sich selbst die Verantwortung trägt, darf das, was der einzelne aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht vom Staat oder anderen gesellschaftlichen Einrichtungen entzogen werden. Erst wenn das Individuum oder die kleinere Gemeinschaft eine Aufgabe allein nicht bewältigen kann, soll die übergeordnete Gemeinschaft, schließlich der Staat helfen. Es ist aber nicht nur das Recht des einzelnen, die von ihm zu bewältigenden Aufgaben selbst zu lösen, sondern er hat zugleich die Pflicht dazu. Aus dem Subsidiaritätsprinzip folgen also nicht nur Rechte, sondern ebenso Pflichten des einzelnen. Das muß im Zusammenhang mit der Ordnung des Gesundheitswesens ganz besonders betont werden.

Die GKV wird in ihrer heutigen Form beherrscht vom Solidaritätsprinzip, im ausdrücklichen Gegensatz zum Äquivalenzprinzip, das die Eigenleistung honoriert und ein bestimmendes Prinzip der Gesetzlichen Rentenversicherung ist. Dies führt in der GKV zu einer Vernachlässigung des Subsidiaritätsprinzips und damit zu einer Schwächung der Eigenverantwortung der Versicherten. Hierbei wird das Solidaritätsprinzip in doppelter Hinsicht überbeansprucht: Erstens werden der Versichertengemeinschaft Lasten aufgebürdet, die der einzelne sehr wohl selbst tragen könnte, zweitens werden ihr auch noch Fürsorgeleistungen zugemutet, die von der umfassenderen Gemeinschaft, nämlich der Gesamtgesellschaft, zu tragen sind. Im Gesundheitswesen handelt es sich um den Verbrauch von Gesundheitsleistungen. die zu den knappen Gütern gehören. Sie können deshalb nicht beliebig zugeteilt werden, sondern unterliegen den Gesetzen wirtschaftlicher Ressourcen-Allokation, d. h. sie treten in Wettbewerb mit der Zuteilung anderer Güter. Neben den Prinzipien Solidarität und Subsidiarität gilt deshalb zugleich das Prinzip wirtschaftlicher Effizienz.

Grundsätzlich ist nichts dagegen einzuwenden, daß der prozentuale Anteil der Gesundheitsleistungen am Bruttosozialprodukt steigende Tendenz hat. sofern eine solche Inanspruchnahme der volkswirtschaftlichen Ressourcen unter Beachtung der Regeln der Wirtschaftlichkeit erfolgt. Es ist aber wie im gesamten System der Sozialen Marktwirtschaft darauf zu achten, daß die sozialen Elemente, die sich auch aus dem historisch gewachsenen humanitären Charakter von Gesundheitsleistungen (Krankenhauswesen) ergeben, ausreichend zur Geltung kommen. Unter diesen Aspekten ist das gesamte System des Gesundheitswesens zu überprüfen. Dabei handelt es sich nicht nur um die Versicherungsträger und die Versicherten, sondern auch um die verschiedenen Leistungserbringer wie Ärzte, Krankenhäuser, Heilberufe, Heilmittelhersteller und -Verteiler einschließlich der Apotheken. Erst das Zusammenspiel aller Beteiligten ergibt das System der Gesundheits-Wirtschaft, eingefügt in das übergeordnete System einer Sozialen Marktwirtschaft. Vom Gesundheitswesen zu sprechen, mag freundlicher klingen; es verdeckt aber die nüchterne Tatsache, daß auch Gesundheitsleistungen den Gesetzen der Wirtschaftlichkeit unterliegen. Eine sachgerechte und wirksame Reform der Gesundheits-Wirtschaft erfordert also die ausgewogene Durch-B Setzung der drei Hauptprinzipien: Solidarität. Subsidarität und Wirtschaftlichkeit.

Historisch ist die GKV vor über hundert Jahren entstanden zum Schutz wirtschaftlich schwacher, hilfsbedürftiger Gruppen der Gesellschaft, nämlich der Industrie-Arbeiterschaft mit ihren geringen Einkommen. Die wirtschaftlichen Bedingungen unserer Gesellschaft haben sich seitdem aber grundlegend geändert. Der allgemeine Lebensstandard in der Bundesrepublik gehört zu den höchsten der Welt. Trotzdem sind heute fast 90 Prozent der Bevölkerung in der GKV versichert. Generell kann deshalb nicht davon gesprochen werden, daß die GKV in ihrer heutigen Form überwiegend dem Schutz schwacher, hilfsbedürftiger Gruppen dient. Unbestreitbar ist die GKV ein wesentlicher Bestandteil des Systems unserer sozialen Sicherheit; in ihrer derzeitigen Form ist sie jedoch weder sozial gerechtfertigt noch wirtschaftlich tragbar.

Ohne moralisierende Handlungskritik üben zu wollen. kann man, überspitzt ausgedrückt, feststellen, daß die GKV inzwischen zum „Selbstbedienungsladen“ fast aller beteiligten Gruppen geworden ist. Viele Versicherte mißbrauchen sie, weil sie keinen Wirtschaftlichkeits-oder Sparanreiz gibt. Die Versicherungsträger und Krankenhausverwaltungen sind Nutznießer bürokratischer Macht ohne finanzielles Risiko. Ärzte bestimmen weitgehend den Umfang ihrer Leistungen und damit ihr Einkommen selbst, oft ohne Rücksicht auf die durch ihr der Versicherung entstehenden Kosten. Verhalten Ähnliches gilt für die Heilberufe und Verteiler, während die Pharmaindustrie offenbar Nutznießer des mangelnden Kostenbewußtseins der übrigen Teilnehmer des Systems ist.

Diese Selbstbedienungsmentalität durch moralische Appelle ändern zu wollen, ist erfahrungsgemäß aussichtslos. Je weniger moralische Anstrengung ein System vom einzelnen verlangt, um so sicherer wird es funktionieren. Deshalb hilft nur ein dementsprechender Umbau des Systems, d. h. eine konsequente Strukturreform, die auch mehr Wirtschaftlichkeit bewirkt. Durch Weckung von mehr Kostenbewußtsein ist die Eigenverantwortung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips zu stärken. Ziel der Reform muß es sein, eine wirtschaftlich effiziente und sozial ausgewogene Sicherung gegen gesundheitliche Risiken zu schaffen. Diese Sicherung muß dem anerkannten medizinischen Standard entsprechen. Darüber hinausgehende Ansprüche und Sonderwünsche gehören in die private Vorsorge. 2. Konkrete Empfehlungen Eine bessere Ordnung von Mitgliedschaft und Personenkreis Darunter fällt eine Pflichtversicherungsgrenze auch für Arbeiter, eine Begrenzung freiwilligen Verbleibens höher Verdienender in der GKV sowie möglicherweise eine Senkung der Versicherungspflichtgrenze.

Ausschaltung versicherungsfremder Leistungen und deren Zuweisung an andere Träger Trotz des familienpolitisch positiven Effektes ist das Mutterschaftsgeld keine Aufgabe der GKV und sollte deshalb anderen Trägern zugewiesen werden. Die technische Entwicklung verlangt eine Neudefinierung der Abgrenzung zwischen Krankenversicherung und Berufsgenossenschaft. Für Rentner muß der gleiche Beitragssatz in der GKV gelten wie für andere Versicherungsnehmer. Wegen des stark ansteigenden Anteils älterer und damit potentiell pflegebedürftiger Menschen an der Gesamtbevölkerung bildet das Problem der Pflegeversicherung eine zentrale Aufgabe der Sozialpolitik. Die Lösung dieses Problems den Krankenkassen aufzubürden, ist nicht sachgerecht und gefährdet die erstrebte finanzielle Stabilisierung der GKV.

Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Versicherer und deren Wettbewerbsbedingungen Es darf keinen die gute Geschäftsführung bestrafenden Finanzausgleich zwischen den Kassen geben. Bestehende Wettbewerbsvorteile der Ersatz-kassen gegenüber den RVO-Kassen müssen beseitigt werden. Ebenso der Arzneimittelrabatt für die GKV. Durch die Reform ist die Verhandlungsposition der Kassen gegenüber den Leistungsanbietern durch neue Vergütungs-, Vertrags-und Versorgungsformen zu stärken.

Weckung des Kostenbewußtseins der Versicherten Hier ist eine spürbare Beteiligung aller Versicherungsnehmer an Arzneimittelkosten (prozentual) und sonstigen Heil-und Hilfsmitteln (Festbeträge) sowie an den Krankenhausverpflegungs-und Kur-kosten (Tagessätze) zu fordern. Für medizinisch aufwendige Leistungen müssen Härtefallregelungen vorgesehen werden. Grundsätzlich sollten die Kassen Beitragsrückerstattungsmodelle erproben sowie Selbstbeteiligungstarife zu ermäßigten Beitragssätzen. Darüber hinaus sollte jeder Versicherte, also auch der Pflichtversicherte, die Möglichkeit erhalten, zwischen Sachleistungs-und Kostenerstattungsverfahren zu wählen.

Weckung des Kostenbewußtseins der Ärzte und Wirtschaftlichkeit bei der ärztlichen Versorgung der Patienten Die Ärzte müssen über die von ihnen verursachten Kosten besser informiert und in ihrer Verschreibungspraxis durch die Kassen überwacht (Sanktionen gegen „schwarze Schafe“) werden. Die Honorarordnung ist so zu gestalten, daß die Apparatemedizin nicht gegenüber der persönlichen ärztlichen Leistung einschließlich den Hausbesuchen bevorzugt wird. In der Zahnmedizin ist die Honorarordnung zugunsten der Prophylaxe und der Konservierung statt der Prothetik umzugestalten. Neuordnung des Krankenhauswesens durch Schaffung von mehr Markt Es muß der Weg zu einem neuen, monistisch finanzierten System mit Anreizen zu wirtschaftlichem Verhalten gesucht werden. Dies könnte mit dem Verhandlungsmodell erreicht werden, bei dem die Preise das Hauptsteuerungsinstrument sind. Dabei entfällt die überbetriebliche Krankenhausplanung, und die Krankenhausversorgung wird überwiegend mit Hilfe von Preisverhandlungen zwischen Krankenhausträgem und Krankenversicherung geregelt. Ziel ist die Schaffung eines Marktes für Krankenhausleistungen mit gestaffelten Pflegesätzen in Abhängigkeit von Verweildauer und Krankheitsart. Krankenhäuser, die aufgrund unwirtschaftlichen Verhaltens mit den ausgehandelten Preisen nicht auskommen, erhalten keinen besonderen Schutz.

Schaffung einer marktgerechten Ordnung für Arzneimittel Lösungen, die die Forschung und Neuentwicklung von Arzneimitteln gefährden, sind abzulehnen. Ebenso abgelehnt wird ein Solidarbeitrag der Pharmaindustrie zur Subventionierung der Krankenkassen. Wegen der enormen Kosten für Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel wird vorgeschlagen, den effektiven Patentschutz wie in den USA und in Japan 15 Jahre nach Zulassung festzulegen. Unter dieser Voraussetzung ist der deutschen Pharmaindustrie der volle Wettbewerb mit den Generika-Produzenten zuzumuten.

Zur Kostendämpfung: Einschränkung der Werbung für Arzneimittel sowie der kostenlosen Abgaben von Proben außer für patentrechtlich geschützte Neuentwicklungen; zur Vermeidung vorzeitiger Vernichtung von Arzneimitteln wird eine Überprüfung der von den Herstellern anzugebenden Verfalldaten als Teil der amtlichen Zulassung empfohlen. Generell soll es weniger verschreibungspflichtige Arzneimittel geben; dadurch sollen neue Vertriebswege geöffnet werden. Beides führt zur Entlastung der Kassen.

Neuordnung von Arbeitgeberbeitrag und Lohnfortzahlung Da der Arbeitgeberbeitrag praktisch ein Lohnbestandteil ist, aber vom Arbeitnehmer durchweg nicht als eigener Kostenaufwand empfunden wird, soll aus psychologischen Gründen der Arbeitgeber-beitrag in Zukunft unter Beibehaltung des bisherigen Lohnabzugsverfahrens als Lohn an den Arbeitnehmer ausgewiesen werden, wobei allerdings keine steuerlichen Mehrbelastungen der Arbeitnehmer entstehen dürfen. Zur Mißbrauchseinschränkung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfälle soll die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung grundsätzlich für nicht länger als eine Woche ausgestellt werden. Der vertrauensärztliche Dienst soll auch schon während der Lohnfortzahlung bei länger dauernder Arbeitsunfähigkeit ab der zweiten Woche als Kontrollorgan eingeschaltet werden. Kuren sind teilweise auf den Erholungsurlaub anzurechnen. Trotz der Umwandlung der Arbeitgeberbeiträge in auszuweisenden Lohn bleibt die paritätische Mitwirkung der Arbeitgeber in Organisationen der Kassen unberührt, da sie schon durch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle einen hohen Beitrag leisten (1985 — 40 Milliarden DM).

Fazit: Grundsätzlich dürfte außer Frage stehen, daß in das heutige System der GKV Elemente einer stärkeren wirtschaftlichen Verantwortung aller Beteiligten eingebaut werden müssen. In einer Sozialen Marktwirtschaft muß auch die Krankenversicherung den Grundsätzen dieses erfolgreichen und erprobten Systems angepaßt werden.

III. Bildung von Miteigentum am Produktivvermögen in allen Bevölkerungskreisen

In der politischen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland wird insbesondere seit 1980 angesichts der konstanten Abnahme der Eigenkapitalmittel der deutschen Wirtschaft und gleichzeitig stark ansteigender Arbeitslosigkeit der Schwerpunkt der Auseinandersetzung auf die Frage der Bildung von Miteigentum am Produktivvermögen gelegt. Dabei ist die Schwierigkeit des Problems in der praktischen Durchführung deutlich geworden. Als Ergebnis sind meist nur Forderungen allgemeiner Natur erhoben worden. Aus diesem Grunde wurde ein Konzept zur Bildung von Miteigentum am Produktivvermögen mittels regionaler Anlagegesellschaften nach genossenschaftlichem Recht entwikkelt Dabei waren folgende sozialethische, ge-sellschaftspolitische und wirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend. 1. Sozialethische Begründung Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat jeder Bürger das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Privates Eigentum eröffnet der Person einen Freiraum individueller Lebensgestaltung, es stärkt die persönliche Unabhängigkeit und erweitert die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung des einzelnen und der Familien. Es macht zudem unabhängiger von staatlicher Fürsorge. Durch Eigentum und Miteigentum wird der einzelne und die Familie in stärkerem Maße Subjekt der Wirtschaft. Das Miteigentum am Produktivvermögen stärkt zudem die Eigenverantwortung und die Solidaritätsbereitschaft der Person; durch die persönliche Beteiligung am Produktivvermögen wird das Verständnis für die Sachzusammenhänge in der Wirtschaft vertieft und zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein erneuter Versuch zu einer Sinngebung der Sparsamkeit unternommen. Diese ist zudem nicht identisch mit endgültigem Konsumverzicht, sondern bedeutet zeitweiligen Konsumverzicht zugunsten der Sicherung des Arbeitsplatzes, der Alterssicherung und der Hilfe für die nächstfolgende Generation. Kapitalerträge stehen in enger Verbindung mit der Erbringung volkswirtschaftlicher Leistung. Sie gewähren ein Einkommen, welches in der Regel auf Leistungen aus der Vergangenheit beruht. 2. Gesellschaftspolitische Begründung Privates Eigentum ist eine Grundlage unserer freiheitlichen Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung. Eigentum und Miteigentum gewährleisten die nötige Flexibilität für Personen, Gruppen und die Volkswirtschaft. Eine freiheitliche Gesellschaftsordnung kann zudem nur dann mit dem Attribut „gerecht“ bezeichnet werden, wenn jedermann die Möglichkeit hat, Eigentum zu besitzen und Vermögen zu bilden. Nur wer Eigentum bilden kann, wird sich in einer Gesellschaftsordnung, die dieses ermöglicht, heimisch fühlen und sich für die Erhaltung dieser Ordnung einsetzen. Ziel der Bildung von Produktivvermögen in allen Bevölkerungskreisen ist die Minderung sozialer Unterschiede und die engere Einbeziehung aller Miteigentümer in das wirtschaftliche Geschehen. Durch sie kann der teils ideologisch konstruierte und verengt gesehene Gegensatz zwischen „Kapital und Arbeit“ in Richtung auf eine neue Partnerschaft von Kapitalgebern und Kapitalnehmern abgebaut werden. 3. Wirtschaftliche Begründung Eine größere Beteiligung aller Bevölkerungskreise an der Bildung von Produktivvermögen würde zur notwendigen Stärkung des haftenden Kapitals in den Unternehmen der deutschen Wirtschaft beitragen. Bekanntlich ist die Eigenkapitalquote der deutschen Wirtschaft (Eigenkapital in Prozent der Bilanzsumme) seit 15 Jahren im Durchschnitt von circa 30 Prozent auf circa 20 Prozent gesunken. Damit steht die Bundesrepublik heute im internationalen Vergleich der Industrienationen im untersten Teil der Skala (USA 58 Prozent, Großbritannien 48 Prozent, Frankreich 26 Prozent). In der lang anhaltenden Verminderung der Eigenkapitalausstattung der deutschen Wirtschaft ist ein wesentlicher Faktor für die gegenwärtig hohe Arbeitslosigkeit zu sehen. Der Eigenkapitalmangel verleitet zur Beibehaltung veralteter Anlagen und erschwert risikobehaftete Zukunftsinvestitionen. Dies bedeutet eine zusätzliche Belastung in Zeiten ungünstiger Konjunktur. Eine Stärkung der Haftkapitalbasis trägt zur Schaffung neuer und zur Erhaltung produktiver Arbeitsplätze bei, weil sehr viele Einzelinitiativen erforderlich sind, um die Erkundung und Erschließung ungesättigter Märkte zu bewirken. Die Lohn-politik erhält neue Akzente, wenn auch Arbeitnehmer gleichzeitig am Produktivvermögen und seinem Ertrag beteiligt sind.

Grundsätzlich sollte der einzelne in seiner Entscheidung frei sein, ob er sich am Produktivvermögen beteiligen will. Wenn er sich dafür entschieden hat, soll es ihm überlassen bleiben, welche Art der Vermögensbildung er wählt: Ob er sich am Unternehmen seines Arbeitgebers beteiligt, ob er regionale Anlagegenossenschaften bevorzugt oder ob er sich zum Beispiel auf den Aktienmärkten betätigt. Die zwangsweise Anlage in zentralen Fonds ist abzulehnen. Das gilt auch für die Beschränkung auf branchengebundene Anlageformen.

Der Empfänger von vermögenswirksamen Leistungen im Rahmen von Tarifverträgen muß die freie Wahl der Anlagemöglichkeiten haben. Auch der Unternehmer muß in jedem Fall die Freiheit besitzen, an seinem Unternehmen eine Beteiligung von Dritten zuzulassen oder nicht.

Aus diesen Gründen werden neben direkten Beteiligungsformen regionale Anlagegenossenschaften empfohlen, um die anschaulichste Mitwirkung aller Bevölkerungskreise am Wirtschaftswachstum zu ermöglichen und den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht zu vermeiden. Voraussetzung für die Bildung von Produktivvermögen in allen Bevölkerungskreisen ist allerdings die Beseitigung zahlreicher rechtlicher Hemmnisse, insbesondere der steuerlichen Diskriminierung des Haftkapitals. 4. Sinn und Zweck der Anlagegenossenschaft Zweck der Anlagegenossenschaft soll es sein, durch die Ausgabe von Geschäftsanteilen Sparkapital zu sammeln und dieses durch Beteiligungen am haftenden Kapital von Wirtschaftsunternehmen anzulegen. Die Rechtsform der Genossenschaft bietet sich an, weil sie zur Zusammenführung von Personen aus allen Bevölkerungsschichten besser geeignet erscheint als die Aktiengesellschaft. Der Vorschlag zur Bildung von Anlagegenossenschaften beschränkt sich nicht auf die Begünstigung von Arbeitnehmern und geht über die bisherigen gesetzlichen Regelungen, die sich auf einkommenspolitische Zusammenhänge beziehen, hinaus. Der Vorschlag stellt eine Weiterentwicklung der Sparförderungspolitik dar, die erst bei der Einkommensverwendung ansetzt und sich damit auf die gesellschaftspolitische Ebene erstreckt. Der Vorschlag ist vor dem Hintergrund der Partnerschaft von Kapitalgebern und Kapitalnehmem zu sehen. Es wird ein verstärktes Miteinander breiter Kreise der Bevölkerung als Kapitalgeber und der Wirtschaftsunternehmen als Kapitalnehmer angestrebt. Das Zusammenwirken dieser beiden Gruppen hat nichts mit den Kategorien Arbeitgeber — Arbeitnehmer oder Tarifparteien zu tun. Es geht über diese Ebenen weit hinaus und ist von Grund auf eigenständig. 5. Erforderliche Maßnahmen Der Gedanke der Anlagegenossenschaft muß zu einem politischen Programm erhoben werden. wenn er das gesteckte Ziel erreichen soll. Dieses Ziel besteht darin, die weithin vorhandene ideologische Erstarrung: „Kapitalisten“ hier — „einflußlose Abhängige“ dort endlich real und praktikabel aufzuheben. Es Hegen in Wirklichkeit gleiche Interessen vor, die für das Gedeihen des Ganzen gebündelt werden müssen. Die Zeit des weltweiten wirtschaftlichen Strukturwandels, der sich seit einigen Jahren besonders negativ im Ruhrgebiet auswirkt, macht ein Umdenken unabdingbar. Des weiteren ist die Mitarbeit des Gesetzgebers auf folgenden Gebieten erforderlich: Genossenschaftsrecht, steuerliche Förderung der Anlagegenossenschaft, steuerliche Förderung der Beteiligungsunternehmen und steuerliche Förderung der Kapitalgeber (Sparer).

IV. Die aktuelle Diskussion um die Sonntagsarbeit

Die Diskussion um die Sonntagsarbeit flammt immer wieder dann auf, wenn aufgrund des meist durch neue Techniken bedingten wirtschaftlichen Strukturwandels Forderungen nach Ausnahmen von der gesetzlich vorgeschriebenen Sonntagsruhe erhoben werden. In den fünfziger Jahren ging es darum, mit der „gleitenden Arbeitswoche“ die vollkontinuierliche Produktion in der Stahlindustrie zu ermöglichen. Die derzeitige Diskussion wurde wiederum ausgelöst durch eine mit technischer Notwendigkeit begründete vollkontinuierliehe Herstellung bestimmter mikro-elektronischer Produkte. Firmen wie Siemens und IBM argumentieren, daß die Herstellung von Mikro-Chips nur dann ökonomisch vertretbar sei, wenn die chemischen und physikalischen Prozesse, die bei ihrer Produktion ablaufen, nicht unterbrochen werden. Man verweist in der Diskussion auf die Eisen-und Stahlerzeugung sowie auf die Papierherstellung, die vollkontinuierlich betrieben werden. Im Jahre 1957, als die deutschen Bischöfe den Sonntag in Gefahr sahen und befürchteten, daß durch die Entkoppelung von Arbeits-und Betriebszeit im Schichtbetrieb auch der Rhythmus von Arbeit und Freizeit im Laufe der Woche gelöst werde, konnte diese Grenzziehung vorgenommen werden. Dort, wo aus technischen Gründen vollkontinuierlich gearbeitet werden muß, ist der Betrieb vom Verbot der Sonntagsarbeit ausgenommen. Im übrigen betont die Firma Siemens, daß im Unterschied zur chemischen-und zur Stahlindustrie, wo etwa ein Viertel der Beschäftigten am Sonntag arbeitet, für die Mikro-Chip-Herstellung nur 0, 5 Prozent, d. h. 1 300 Mitarbeiter benötigt werden Allerdings wird es immer schwieriger, verläßlich zu bestimmen, wo ein kontinuierlicher Produktionsprozeß aus technischen Gründen vorliegt und wo technische Gründe zwar eine Rolle spielen, aber nicht ausschlaggebend sind.

Welche Größenordnung die unterschiedlichen Ausnahmebereiche haben, geht aus Berechnungen des Instituts der Deutschen Wirtschaft hervor. Danach arbeiteten 1987 3. 85 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik Deutschland an Sonn-und Feiertagen. 1983 waren es noch 3, 6 Millionen. Den höchsten Anteil ermittelte das Institut bei Bund, Ländern und Gemeinden mit 810 000 Erwerbstätigen (22, 5 Prozent), es folgen Industrie und Handwerk mit 795 000 (22, 1 Prozent), Dienstleistungen mit 649 000 (18 Prozent) sowie Verkehr und Post mit 490 000 (13, 6 Prozent). Im Bereich der Kirchen arbeiten rund 250 000 Menschen an Sonn-und Feiertagen (6, 9 Prozent). Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß knapp eine Million Menschen an drei Sonntagen im Monat arbeiten muß. die große Mehrzahl hingegen nur an einem Sonntag im Monat arbeitet

Zur Auseinandersetzung um Ausnahmen von der Sonntagsarbeit ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren eine andere Problematik hinzugekommen, nämlich die der Ausnahmegenehmigungen zur Senkung der Betriebskosten und zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf nationaler und vor allem internationaler Ebene. Von den Firmen mit hochtechnisierten Produktionsanlagen wird argumentiert, man könne ohne Ausweitung der Nutzungszeiten nicht mehr rentabel arbeiten. Eine Ausdehnung der Arbeitswoche auf sechs bzw. sieben Tage ermögliche die kontinuierliche Nutzung der kapitalintensiven Maschinen, schaffe größere Spielräume für flexible Arbeitszeitregelungen und könne gefährdete Arbeitsplätze sichern.

Vor allem die Textilindustrie macht sich für die Einführung der Sonntagsarbeit stark. Die modernen Spinn-und Webmaschinen müßten sieben Tage laufen. wenn der Markt nicht an die europäische und an die asiatische Konkurrenz ganz verloren werden soll. Auf diesem Wege würden sich 70 000 bis 80 000 Arbeitsplätze sichern lassen. Auch würden für die Arbeit an Sonntag nur 6 000 bis 8 000 Arbeitnehmer der rund 250 000 Beschäftigten benötigt

Nach einer vom Verband Gesamttextil erstellten Übersicht darüber, wie lange die Maschinen in den weitgehend automatisierten Betrieben im Jahr laufen, werden in der BundesrepubHk Deutschland 6 624 Stunden (gleich 276 Tage), in den in Europa konkurrierenden Ländern Großbritannien. Portugal, Schweiz, Belgien, Frankreich zwischen 7 992 (gleich 333 Tage) bis 7 776 (gleich 324 Tage), in den ostasiatischen Länder Taiwan, Hongkong und Süd-Korea sogar circa 8 500 Stunden (gleich 354 Tage) pro Jahr gearbeitet Zudem weist man mit Recht darauf hin, daß die Einführung der Sonntagsarbeit in den Textilindustrien in „so katholischen“ Ländern wie Belgien oder Italien nicht auf den Widerstand der katholischen Kirche gestoßen sei.

Die christlichen Kirchen stehen nun vor folgender Situation: Einerseits sind ihnen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen und damit die Sicherung der Arbeitsplätze nicht gleichgültig, andererseits ist heute die Neigung außerordentlich gestiegen, die wirtschaftlichen Interessen und die ökonomische Betrachtungsweise absolut zu setzen und ihnen alle anderen Dimensionen des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens unterzuordnen. Der rein nach wirtschaftlichen und utilitaristischen Gesichtspunkten denkende und urteilende Mensch ist in der Gefahr, nur die kurzfristigen Vorteile, nicht jedoch die auf längere Sicht auch für die Wirtschaft sowie für seine eigene Person selbst zu erwartenden Schäden einzukalkulieren. „Es wäre fatal, würden wir die Ausgaben für die Psychiater und Sozialarbeiter, die wir dann zusätzlich beschäftigen müßten, wenn immer mehr Menschen ihr kulturelles Gleichgewicht verlieren, auch noch als Steigerung des Bruttosozialprodukts in Absatz bringen, wogegen aus wirtschaftlichen Gründen gar nichts einzuwenden wäre.“

Und genau auf diese Art der Verkürzung der Wirklichkeit weist die gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland eindringlich hin: „Wir sollten uns auch fragen, wie der Sonntag als Ruhetag uns wirklich Muße und Erholung schenken kann. Ausruhen von ermüdender Arbeit, so unverzichtbar es ist, darf noch nicht gleichgesetzt werden mit der Muße, mit der Ruhe, mit der Sonntagsruhe. Ausruhen soll verausgabte Kräfte wieder ersetzen; Muße ist eine schöpferische Ruhe von der ständigen Beanspruchung und dem Streß des Alltags. Sonntagsheiligung ist Besinnung und Bewußtwerden des Sinnes unseres Daseins, ist die Hinwendung zu Gott, unserem Schöpfer und unserem Ziel. Wir müssen wieder mehr Zeit für uns und füreinander haben. Dies ist nicht allein eine Frage der äußeren Verhältnisse, sondern auch unserer Einsicht und unserer Entschiedenheit: Wir dürfen nicht uns selbst den Sonntag stehlen.“

Der Verlust des Sonntags würde auf lange Sicht nicht nur dem Glauben und der Kirchlichkeit der Menschen, der Kultur und dem sozialen Miteinander schaden, sondern auch der Wirtschaft selbst, die trotz aller Mechanisierung und Automation auch in Zukunft ein gesellschaftlicher Lebensprozeß bleiben wird. Wird der Sonntag als „Zentralwert unserer Kultur“ immer mehr ausgehöhlt, so hat dies auf längere Sicht auch für die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen sowie für die gesamte Volkswirtschaft negative Auswirkungen. Nicht umsonst hat die Volks-und Betriebswirtschaftslehre in der Vergangenheit immer stärker das „Human-Kapital“, also den Wert der menschlichen Beziehungen in den Betrieben und Unternehmen entdeckt und als mitentscheidenden Faktor des wirtschaftlichen Erfolges betont.

Wie sind auf diesem Hintergrund die Argumente der Industrie zu bewerten? Was die Laufzeit der Maschinen betrifft, so steht eigentlich nichts im Wege, erst einmal auch den Samstag voll in den Produktionsprozeß einzubeziehen. Auf diese Weise käme man auch ziemlich an die Laufzeiten in den übrigen europäischen Ländern heran. Dabei wäre es wichtig, daß bis zur Errichtung des europäischen Binnenmarktes 1992 Vereinbarungen erreicht würden, die die Rahmenbedingungen für die Maschinenlaufzeiten angleichen. Warum die Bundesregierung bisher keinen entsprechenden Vorstoß und auch die deutsche Textilindustrie keine Initiativen in dieser Richtung unternommen haben, ist unverständlich. Rechtlich jedenfalls steht einer Ausdehnung der Samstagsarbeit grundsätzlich nichts im Wege

Weiterhin ist bekannt, daß die Textilindustrie sehr schwele Jahre hinter sich hat und den Strukturwandel ohne Subventionen verkraften mußte. Die Zahl der Arbeitsplätze ist von 470 000 auf 245 000 zurückgegangen. Die massiven Einfuhren aus Billig-ländern, vor allem aus Ostasien und aus den sozialistischen Ländern, bewirkten einschneidende Veränderungen. Aber die Textilindustrie hat diese Herausforderung bestanden. Insgesamt steht sie heute stärker da als vor dem Strukturwandel. Man sollte sich jedoch von der Vorstellung lösen, daß die Einbeziehung des Sonntags die Probleme beseitigen könnte.

Von einigen Verbandsvertretern innerhalb der katholischen Kirche wurde vereinzelt argumentiert, die Kirche könne den Sonntag nur erhalten, wenn sie sich für das freie Wochenende einsetze und mit den Gewerkschaften am gleichen Strang ziehe Bezüglich dieser Aktionen muß festgehalten werden, daß aus christlicher Sicht zwischen dem Sonntag und dem „freien Wochenende“ ein qualitativer Unterschied besteht. Es ist unverständlich und sozialethisch durch nichts zu begründen, daß einige Vertreter katholischer Verbände und Institutionen den religiösen und kulturellen Wert des Sonntags mit der gesellschaftlichen Errungenschaft des freien Wochenendes auf eine Ebene stellen. Daher ist zu vermuten, daß diesen Argumentationen eher parti-kulare Eigeninteressen zugrunde liegen als die tatsächliche Bewahrung des Sonntags. Zudem stellt diese Forderung eindeutig eine Diskriminierung der im Dienstleistungsbereich Beschäftigten dar, von denen selbstverständlich erwartet wird, daß sie samstags und gegebenenfalls auch sonntags arbeiten. Diese klare Unterscheidung traf auch Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch am 2. Mai 1987 in Bottrop: „Für die Christen ist der Sonntag der Ur-Feiertag, an dem wir uns im Gottesdienst versammeln, um das Wort Gottes zu hören und an der Eucharistiefeier teilzunehmen. So ist der Sonntag von hohem kulturellen und religiösem Wert. Er ist wichtig für die christliche Gemeinde, aber auch für die gesamte Gesellschaft. Darum muß der Sonntag auch in Zukunft geschützt bleiben. Er darf durch keinen anderen Tag ersetzt werden. Hierfür bedarf es der Solidarität der Gewerkschaften und der Unternehmer zum Wohle der arbeitenden Menschen und ihrer Familien, zum Wohl des kulturellen Niveaus des ganzen Volkes.“ Sonntagskultur beinhaltet also mehr als nur Sonntagsruhe und Verbot der Sonntagsarbeit. Ebenso wenig erschöpft sie sich in bloßer Freizeit. Kultur ist eine Lebensqualität, die mit den Methoden der angewandten Sozialforschung niemals adäquat erfaßt werden kann. Deshalb ist Vorsicht gegenüber kurzschlüssigen Befunden geboten, die besagen, daß der Sonntag seine Sonderstellung weitgehend verloren habe. Auch wird man sich hüten müssen, die Tatsache, daß eine Mehrzahl der Berufstätigen mit einer flexibleren Regelung der Arbeitszeiten für das Wochenende einverstanden ist, dahingehend zu deuten, daß dies auf Samstag und Sonntag in gleicher Weise zutreffe. Vor diesem Hintergrund sind folgende sechs Schlußfolgerungen festzuhalten: 1. Der Sonntag gilt gemäß der kulturellen, vom christlichen Glauben geprägten Tradition in unserer Gesellschaft als religiöser Feiertag, als Tag der Besinnung, der Mitmenschlichkeit sowie der körperlichen und geistigen Erholung. Es ist deshalb grundsätzlich frei von Erwerbsarbeit zu halten. 2. Ausnahmen hiervon lassen sich generell rechtfertigen. soweit die Aufrechterhaltung der notwendigen Versorgung und der öffentlichen Ordnung (Gesundheitsdienste, Versorgungseinrichtungen, Verkehrs-und Nachrichtenmittel, Feuerwehr, Polizei usw.) sowie die Dienste zur Besinnung und Erholung dies erfordern. 3. Prozeßtechnische Gründe können eine Sonntagsarbeit notwendig machen, wenn ein vollkontinuierlicher Produktionsablauf unvermeidbar ist. Ausnahmegenehmigungen hierfür sollten jedoch nur zeitlich befristet gegeben werden, um neue technische Entwicklungen, die diese Produktionsverfahren überflüssig machen, zu fördern. Sie dürfen keine Wettbewerbsvorteile mit sich bringen.

Wird einem Betrieb eine Ausnahmegenehmigung erteilt, so haben grundsätzlich alle Betriebe mit demselben Produktionsverfahren Anspruch auf gleiche Behandlung. Rein wirtschaftliche Vorteile einzelner Betriebe und Wirtschaftszweige bzw. einzelner Arbeitnehmergruppen können keine Ausnahmegenehmigung rechtfertigen. 4. Es ist allerdings nicht zu übersehen, daß durch die Ablehnung der Sonntagsarbeit bestimmte Unternehmen angesichts der internationalen Konkurrenz aus Ländern, die keine Sonntagsruhe kennen, in eine schwierige Wettbewerbslage kommen können. Dies trifft besonders für die Branchen zu, in denen die Rentabilität der pro Arbeitsplatz stark steigenden Investitionen entscheidend von den Laufzeiten der Anlagen abhängt. Die Vermeidung schwerwiegender Konsequenzen hieraus in Form zunehmender Produktionsverlagerung ins Ausland und der notwendigen Ausgleich der Kosten für Arbeitszeitverkürzungen erfordern generell eine größere Flexibilisierung der Wochenarbeitszeit unter Einbeziehung des Samstags. Daraus folgen weitere Vorteile, wie zum Beispiel mehr (Teilzeit) -Arbeitsplätze, eine Entzerrung beim Gebrauch der Verkehrsmittel sowie der Freizeiteinrichtungen. Wer den Sonntag vom Druck der aus Kostengründen geforderten Erwerbsarbeit entlasten will, der darf nicht den arbeitsfreien Samstag zum Tabu erklären. 5. Der materielle Wohlstand unserer Gesellschaft sowie das daraus resultierende hohe Maß an Freizeit ermöglicht es, den Sonntag wieder stärker seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Der Sonntag sollte wieder mehr den höheren Werten der Religion, der Mitmenschlichkeit und der Gemeinschaft gewidmet werden. Dies bedeutet, daß der Sonntag von jenen Veranstaltungen des Vergnügens und des Massensports befreit werden sollte, die in besonderer Weise die Sonntagsarbeit anderer bedingen. 6. Eine Einschränkung der sonntäglichen Erwerbs-arbeit und eine Rückbesinnung auf den ursprünglichen Sinn des Sonntags ist aber nicht primär die Aufgabe der Wirtschaft. Jeder einzelne sollte sich vielmehr fragen, inwieweit er durch die wachsende und selbstverständliche Inanspruchnahme von Sonntagsdiensten im Bereich der Freizeitindustrie immer mehr Menschen eine sonntägliche Erwerbs-arbeit zumutet. Dies ist in ganz entscheidendem Maße eine Frage der Erziehung und der persönlichen Einstellung. Deshalb kommt den Familien und den Kirchen, dem Staat und den Medien eine besondere Verantwortung zu. Die Wirtschaft kann diesem Ziel am besten dienen, indem sie den Sonntag prinzipiell für unverfügbar betrachtet

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Institut für Weltwirtschaft. Aufschwung läßt nach — konjunkturpolitischer Handlungsbedarf? Thesen zum 37. Kieler Konjunkturgespräch. Kieler Diskussionsbeiträge 138, Kiel 1988, S. 24ff.; Westdeutsche Landesbank Girozentrale, Prognose 92, Düsseldorf 1988.

  2. Stimmen der Zeit. 202 (1984). S. 202 f.

  3. U. Schüle. Strukturdiskrepanzen auf dem Arbeitsmarkt?, Köln 1987, S. 136.

  4. U. v. Suntum. Neue Konzepte des Sachverständigenrates, in: Wirtschaftsdienst, 68 (1988) II, S. 108 f.

  5. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Jahreswirtschaftsübersicht 1985 — 1986; Europäische Wirtschaft Nr. 26, November 1985, S. 108.

  6. M. C. Burda/J. D. Sachs, Institutional Aspects of High Ünemployment in the Federal Republic of Germany, NBER-Working Paper No. 2241, Washington 1987.

  7. Vgl. M. L. Weitzmann. Das Beteiligungsmodell. Vollbeschäftigung durch flexible Löhne, Frankfurt-New York 1987.

  8. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 1987/88, S. 125.

  9. OECD, Unemployment Outlook, Paris 1987; siehe auch: Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft. vom 10. Dezember 1987, S. 1.

  10. Vgl. Ch. Watrin, „Marktversagen“ versus „Staatsversagen“, hrsgg. vom Vorort des Schweizerischen Handels-und Industrie-Vereins, Zürich 1986.

  11. Vgl. BKU-Diskussionsbeiträge, Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung. Köln 1988; Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer e. V., Mehr Marktwirtschaft im Gesundheitswesen — Ein Reformkonzept, Bonn 1987; Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Arbeitgeber zur Strukturreform im Gesundheitswesen — Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit sichern, Köln 1987; Robert-Bosch-Stiftung, Krankenhausfinanzierung in Selbstverwaltung, Kommissionsbericht, 1987.

  12. BKU-Diskussionsbeiträge, Miteigentum am Produktivvermögen, Köln 1987.

  13. BKU-Diskussionsbeiträge. Sonntag muß wieder Sonntag werden, Köln 1987, S. 17.

  14. Die Potentiale der Sonntagsbeschäftigung, in: iwd (1988) 3.

  15. Vgl. A. Rauscher, Christliche Sonntagskultur. Kirche und Gesellschaft, Nr. 148, Köln 1988. S. 8f.

  16. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Januar 1988; vgl. Gesamttextil, Sonntagsarbeit in Europa, Schriften zur Textilpolitik, Heft 5, Frankfurt a. M. 1988.

  17. A. Rauscher (Anm. 15), S. 10.

  18. Gemeinsame Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD, Unsere Verantwortung für den Sonntag, Bonn 1988.

  19. Vgl. Sonntagsarbeit — Zwang zum Umdenken, in: iwd, (1987) 40.

  20. Vgl. Dokumentation des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Aachen, Zur Auseinandersetzung um die Wochenendarbeitszeit, ebenso die Aktion der KAB in der Diözese Freiburg, Sonntag muß Sonntag bleiben! — Den Sonntag bewahren. Den freien Samstag erhalten.

  21. Vgl. BKU-Diskussionsbeiträge (Anm. 14), S. 36 f.

Weitere Inhalte

Cornelius G. Fetsch, geb. 1935; Geschäftsführender Direktor der CANDA International & Co.. Essen: Vorsitzender des Bundes Katholischer Unternehmer e. V.; Mitglied und Berater in zahlreichen Institutionen und Ausschüssen der Wirtschaft und der katholischen Kirche. Veröffentlichungen u. a.: Laborem Exercens — Ein Konzept für die deutsche Wirtschaft, Köln 1982: BKU und Pastoral der Arbeitswelt, in: Lebendige Seelsorge, (1985) 5/6.