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Aussagen der katholischen Soziallehre zu gesellschaftlichen Fragen | APuZ 21-22/1988 | bpb.de

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APuZ 21-22/1988 Aussagen der katholischen Soziallehre zu gesellschaftlichen Fragen Positionen und Stellungnahmen der Evangelischen Kirche zu sozialpolitischen Aufgaben Die Zukunft der Sozialpolitik Neue Ansätze zur Wirtschafts-und Sozialpolitik Artikel 1

Aussagen der katholischen Soziallehre zu gesellschaftlichen Fragen

Josef Homeyer

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Soziale in der katholischen Soziallehre stellt auf das Verhältnis von Person und Gesellschaft ab, und zwar unter Betonung des Vorrangs der Eigenverantwortung des Menschen auf der Grundlage von Freiheit und Gerechtigkeit. Die soziale Gestaltung gesellschaftlicher Lebensbedingungen ist vornehmlich Aufgabe einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, in der Markt und Wettbewerb gemeinwohlorientierten Rahmenbedingungen unterworfen sind — eine Aufgabe, die sich jedoch nicht aufdie Verteilungsproblematik reduziert. Die Enzyklika Sollicitudo rei socialis von Papst Johannes Paul II. hebt zum Beispiel neben der besonderen Verpflichtung der Industrienationen gegenüber den ärmeren Völkern die Notwendigkeit hervor, in den Entwicklungsländern selbst leistungsfähige Volkswirtschaften aufzubauen. Die Anerkennung des Eigenwertes und der gesellschaftlichen Leistungen der Familie ist für die Kirche stets eine Forderung sozialer Gerechtigkeit gewesen. Unter dem Eindruck der negativen Bevölkerungsentwicklung, vor allem der künftigen Probleme der Alterssicherung, scheint die Bereitschaft zu einem umfassenderen Familien„leistungsausgleichu zu wachsen. Reformen im Alterssicherungssystem selbst können auf Dauer nur tragfähig sein, wenn sie in einer wirksamen Familienpolitik ihr zweites Fundament finden. Eine weitere soziale Herausforderung stellt die Arbeitslosigkeit dar. Bei nicht ausreichender Wirtschaftstätigkeit müssen auch über Arbeitszeitverkürzungen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies kann nur gelingen, wenn zugleich die zugehörigen Einkommen geteilt werden. Der Staat wäre überfordert, würde ihm allein das Vollbeschäftigungsrisiko aufgebürdet. Daher bedarf es der Abstimmung zwischen allen, die wirtschaftspolitisch das Beschäftigungsniveau beeinflussen. Die zum Teil in der Arbeitslosigkeit spürbar werdenden außenwirtschaftlichen Verschiebungen sind ebenso Ausdruck weltweiter Verflechtungen wie das Ökologieproblem. Um den Erfordernissen von Umwelt und Ressourcen nachzukommen, muß das ökologische Ziel in den Zielkatalog der Sozialen Marktwirtschaft aufgenommen werden. In der verantwortlichen Nutzung der Natur konkretisiert sich schließlich auf ihre Weise die universale, allen Menschen zugedachte Verfügbarkeit über die Erdengüter: Solidaritätspflichten gegenüber den Menschen in der Dritten Welt und gegenüber kommenden Generationen.

I. Die personale Prägung des Sozialen

Ob und mit welchen Mitteln gesellschaftliche Verhältnisse verändert werden sollen, was überhaupt als korrekturbedürftig oder als „soziales“ Problem definiert werden muß. ist eine Frage der Wert-und Zielorientierung auf der Grundlage eines gesellschaftlichen Leitbildes.

Angesichts der Pluralität der Auffassungen und Indikatoren des Sozialen, wie sie in der Diskussion um die Zukunft des Sozialstaates oder auch schon um die künftige Leistungsfähigkeit der Sicherungseinrichtungen zutage tritt, soll zunächst aufdie konstitutiven Aspekte des Sozialen in der Lehre der Kirche eingegangen werden; unter dieser Vorgabe werden anschließend einige soziale Fragestellungen erörtert, bei denen es sich im gegebenen Rahmen nur um eine Auswahl von Schwerpunkten handeln kann.

Jede Ordnung und jede Gestaltung der Gesellschaft sind in ihrem Leitbild, in ihren Zielen und Regeln von einem mehr oder weniger ausdrücklichen Menschenbild geprägt. Daß der Mensch von Gott geschaffen und in Christus erlöst ist, begründet für die kirchliche Soziallehre seine unverlierbare Würde. Der Mensch ist Person, ausgestattet mit Erkenntnisfähigkeit und freiem Willen. Person meint jedoch anderes als den isolierten einzelnen, das auf sich selbst gestellte Individuum, für das die Gesellschaft allenfalls eine Nutzveranstaltung ist. Sie umschließt neben der Individualnatur gleich wesentlich die Sozialnatur des Menschen. Der Mensch ist angelegt auf Gemeinschaft, in seiner Existenz und Entfaltung auf Mitmenschen verwiesen, worin sich nicht nur Begrenztheit, sondern ebenso Fülle und Reichtum des Lebens ausdrücken.

Diese seinshafte Gemeinschaftsverbundenheit ist der erste konstitutive Aspekt des Sozialen. Ins Sozialethische gewendet (Solidaritätsprinzip), ergibt sich daraus die sittlich-rechtliche Grundnorm solidarischen Verhaltens, die wechselseitige Verpflichtung, das Wohl aller zu fördern. Dies geschieht im gegenseitigen Beistand oder in Selbsthilfe, als besondere Verantwortung des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren oder als Beitrag zum umfassenden Gemeinwohl.

Der zweite Aspekt des Sozialen wird am Prinzip der Subsidiarität sichtbar, an der Kompetenzregel zum Aufbau des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, die in der Enzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XL ihre klassische Formulierung gefunden hat: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung.“ Im Personprinzip findet diese Kompetenz ihren nächsten Bezugspunkt, daß nämlich „der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein (muß). Und zwar der Mensch, sofern er von Natur aus auf Mit-sein angelegt und zugleich zu einer höheren Ordnung berufen ist, die die Natur übersteigt und diese zugleich überwindet“, wie dies Papst Johannes XXIII. in Mater et Magistra ausgedrückt hat

Die bisher genannten Aspekte des Sozialen fließen in das Gemeinwohlprinzip der kirchlichen Sozial-lehre ein. Gemeinwohl als Ziel und Regulativ aller Politik schließt erstens die Integrität der Person ein, die Anerkennung und den Schutz der in der menschlichen Würde verankerten Rechte. Das gilt vor allem für die Freiheit des Menschen, selbst darüberzu befinden, nach welchen Werten, Zielen und Interessen er sein Leben gestalten will. Das Gemeinwohl zielt zweitens aufeinen gesellschaftlichen Zustand, auf solche realen Lebensbedingungen, die es dem Menschen ermöglichen, für sich und in Gemeinschaft mit anderen sein Leben nach seinen wert-und sinngebenden Vorstellungen tatsächlich zu gestalten. „Das Gemeinwohl . . . begreift in sich die Summe aller jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die den einzelnen, den Familien und gesellschaftlichen Gruppen ihre eigene Vervollkommnung voller und ungehinderter zu erreichen gestatten“, heißt es in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils

Diese drei Aspekte bestimmen das Soziale als ein prinzipiell personal geprägtes Verhältnis von Einzelwohl und Gemeinwohl. Das Soziale bemißt sich demnach beispielsweise noch längst nicht nach der Sozialleistungsquote, der Größe des Sozialbudgets oder dem spezifischen Umfang von Transferleistungen. Es besteht ebensowenig in der Subsistenz aus öffentlichen Mitteln, wenngleich es durchaus gesellschaftliche Randlagen gibt und immer wieder geben wird, in denen Menschen nur auf diese Weise geholfen werden kann. Nicht Versorgung, sondern eine die Freiheit des einzelnen respektierende und seine Verantwortung stärkende Wohlfahrt ist die erste legitime Aufgabe des Sozialstaates. Zur äußersten Denaturierung des Sozialstaates durch Übersteigerung seiner Kompetenz käme es, würde dieser das Gemeinwohl als Auftrag mißverstehen, auf möglichst direkte Weise „Glück“ zu vermitteln, würde er kraft einer „höheren“ Vernunft den Anspruch auf eine überlegene Einsicht in die wahren Bedürfnisse und richtigen Interessen des Menschen erheben. Vor solcher Überspannung warnt unter anderem die Kritik an jener Anspruchsmentalität, die — weit über Schutz-und Sicherungsbedürfnisse hinaus — den Wunsch nach Partizipation an sozial-staatlichen Leistungen mit der Erwartung verknüpft, daraus unmittelbar einen Zuwachs an innerer Lebensqualität, an Sinn gewinnen zu können und die daher auch Unzufriedenheit wegen Enttäuschung solcher Erwartungen dem Sozialstaat anlastet. Das Soziale in der Lehre der Kirche, eingebunden in das Verhältnis von Person und Gesellschaft, bezieht sich einmal auf die Lebenslage des einzelnen (der Familie; einer Gemeinschaft), zum andern auf die — der Gerechtigkeit entsprechende — „Glaubwürdigkeit“ der Abstände zwischen verschiedenen Lebenslagen. Die Lebenslage umschreibt den Spielraum tatsächlicher Möglichkeiten der Entfaltung in der ganzen Vielfalt menschlicher Anlagen.

Fähigkeiten, Ziele und Interessen. Ihre Bedeutung reicht in alle menschlich-gesellschaftlichen Wertbereiche hinein; sie spiegelt sich in dem wider, was die jüngste Enzyklika Sollicitudo rei socialis Papst Johannes Pauls II. mit dem Begriff der Entwicklung erläutert. Es wäre eine ökonomistische Verengung, diesen Begriff auf ein bestimmtes Maß an Gütern und Dienstleistungen zu fixieren und seinen „ethischen und kulturellen Charakter“ zu übersehen. Entwicklung heißt vielmehr ganzheitliche Entfaltung des Menschen, die die „Rücksicht für die soziale, kulturelle und geistige Dimension des Menschen“, seine religiöse Bindung und Offenheit für die Transzendenz einschließt; so bezeichnet die Enzyklika auch die „Leugnung oder die Einschränkung der Menschenrechte“ als eine Form der Armut

Die Frage nach der sozialen Qualität gesellschaftlicher Verhältnisse oder einer Ordnung richtet sich erstens darauf, ob es dem Menschen in seiner gesellschaftlichen Situation gelingt, aus eigener Kraft in befriedigender Weise selbst für sich und die ihm Anvertrauten zu sorgen. Was dabei die Ausstattung mit Gütern und Dienstleistungen angeht, so ist nicht aufdas physische, sondern aufein menschlich-kulturelles Minimum abzustellen, das als Konvention des Zumutbaren vom allgemeinen Wohlstands-niveau und dessen Veränderung abhängt. Zweitens kommt es auf die Verhältnismäßigkeit verschiedener Lebenslagen oder der Beteiligung an den Vorteilen und Lasten des Gemeinschaftslebens an — eine an Recht und Gerechtigkeit zu orientierende Gestaltungsaufgabe.

II. Rückblick auf Rerum novarum

In dem vorgezeichneten Verständnis des Sozialen hatte schon Papst Leo XIII. in der Enzyklika rerum novarum 1891 die Arbeiterfrage als Störung einer wahrhaft sozialen Ordnung behandelt. Die Enzyklika geht in umfassender Weise die Lage der Arbeiterschaft an und brandmarkt deren proletarischen Lebenszuschnitt als Verletzung menschlicher Würde; physische und psychische Ausbeutung, herrschaftsähnliche Abhängigkeit, unzureichender Lohn, existentieller Zwang zu Frauen-und Kinder-arbeit verstoßen gegen Rechte ds Menschen. Dem strengen Anspruch des Rechts folgt denn auch die Forderung zum Beispiel nach gerechtem Lohn oder nach Entproletarisierung durch Eigentumsbildung. Die Hebung der Lebenslage der Arbeiter und ihrer gesellschaftlichen Integration wird ebenso gefordert wie die Verbesserung ihrer Arbeitsverhältnisse in allen Bereichen, die die Systematik der Sozialpolitik in Rerum novarum kennzeichnen: im Arbeiter-schutz, in der Vorsorge gegen Risikofälle und in der Arbeits-und Betriebsgestaltung.

In Rerum novarum stehen Freiheit und Gerechtigkeit als Paradigma für das kritisch-bewertende und zielbestimmende Soziale: Dem Menschen kommt Freiheit zu aufgrund seiner Würde und seiner Rechte als Subjekt eigenverantwortlicher Lebensgestaltung; ihm ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ihn in angemessener Weise an den Vorteilen und Lasten des Gesellschaftslebens, am Gemeinwohl zu beteiligen, ist Sache der Gerechtigkeit, Gebot subsidiärer Hilfe und Politik. Freiheit und Gerechtigkeit als soziales Grundthema bestimmen in gleicher Weise die auf Rerum novarum folgenden Verlautbarungen der Kirche bis in die Gegenwart hinein.

In der Gesellschaft heute hat sich die Gestaltung des Sozialen nach Aufgabenfeldern, Zielen und Mitteln längst — über die auf die Lebenslage der abhängig Beschäftigten abhebende Sozialpolitik hinaus — zur „Gesellschafts“ politik ausgeweitet. Es waren auch die Erfolge der Sozialpolitik, die zu diesem Wandel beigetragen haben. Arbeitnehmer-fragen sind heute, bei allem Gewicht, das ihnen in einer „Arbeitnehmergesellschaft“ zukommt. Teil einer umfassenderen Aufgabe, einer gesellschaftlichen Ordnungspolitik, die auch andere Gesellschaftsschichten, ja die Lebensverhältnisse aller ins Blickfeld rückt.

III. Soziale Gestaltung der Marktwirtschaft

Gesellschaftspolitik ist in erheblichem Maße eine Aufgabe ordnungspolitischer Gestaltung der Wirtschaft, sind doch die Lebensbedingungen aller über eine weitgefächerte Arbeitsteilung und ein dichtes Netz wechselseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeiten miteinander verflochten. Der Ordnungspolitik obliegt es, die komplexen Vorgänge und Funktionen aufeinander abzustimmen und dafür Sorge zu tragen, daß — auch bei tiefgreifenden Veränderungen und Instabilitäten des Wirtschaftslebens — die Zuträglichkeit der Lebenslagen gewahrt wird. Es sei daran erinnert, daß für Rerum novarum die Arbeiterfrage nicht nur eine Notlage im Sog der industriewirtschaftlichen Expansion war; mehr noch war sie eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung, ein Systemfehler der liberal-kapitalistischen Ordnung, unter dessen Vorzeichen jene Entwicklung ihren Anfang genommen hatte.

Die Kirche sah sich immer wieder genötigt, in ihren Stellungnahmen zu alten und neuen sozialen Problemen und zu den verschiedensten Erscheinungsformen sozialer Schwäche auch auf Fragen der Wirtschaftsordnung einzugehen. Ebenso oft mußte sie ihre eigenen Vorstellungen von unvereinbaren Auffassungen abgrenzen: Die Wirtschaft „ist weder ausschließlich dem Automatismus des Tuns und Lassens der einzelnen Wirtschaftssubjekte noch ausschließlich dem Machtgebot der öffentlichen Gewalt zu überantworten. Sowohl die Lehren, die unter Berufung auf eine mißverstandene Freiheit notwendigen Reformen den Weg verlegen, als auch solche, die um einer kollektivistischen Organisation des Produktionsprozesses willen grundlegende Rechte der Einzelpersonen und der Gruppen hintansetzen, sind daher gleicherweise als irrig abzulehnen.“

Die Äußerungen der Kirche zur Gestaltung des Wirtschaftslebens durch die Jahrzehnte hindurch führen in ihren leitenden Ideen zu einer prinzipiell freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Der Mensch muß „Träger, Schöpfer und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen sein“ daher der Schutz der Privatautonomie, der Vorrang der Einzelinitiative, die Freiheit der Unternehmerinitiative, das Privateigentum an Produktionsmitteln, die Freiheit für Konsumenten und Produzenten. In der Anerkennung solcher Elemente liegt die ordnungspolitische Grundentscheidung für eine dezentrale, unmittelbar von den Wirtschaftssubjekten ausgehende Koordinierung und Steuerung der Wirtschaft.

Im Zusammenspiel der vielen Aktivitäten ist die Wirtschaft aber kein mechanisches „natürliches“ Geschehen, das im Gewährenlassen der freien Kräfte des Marktes schon das beste aller Ergebnisse erreichen könnte. Sie ist vielmehr ein gesellschaftlich-sittlicher Lebensbereich, in dem die „Kulturfunktion menschlicher Unterhaltsfürsorge“ erfüllt werden muß. Es gilt eine ausreichende Versorgung und die Wohlfahrt aller sicherzustellen, die zugleich Grundlage des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens sind, sowie personale Entfaltung zu ermöglichen.

Wirtschaft und Markt sowie der Wettbewerb als deren wichtigstes Steuerungsmittel bedürfen eines humanen Leitbildes, bedürfen der Rückbindung an das Gemeinwohl, an das Soziale, indem ihnen Rahmenbedingungen gesetzt werden. Diese Ordnungsaufgabe fällt dem Staat als Letztverantwortlichem für das Gemeinwohl zu. Seine Kompetenz erstreckt sich jedoch auch auf Korrekturen der Abläufe und Ergebnisse der Wirtschaftsprozesse, wann immer solche Eingriffe geboten sind, „um in der rechten Weise die Wohlstandssteigerung zu fördern, so daß mit ihr zugleich ein sozialer Fortschritt verbunden ist und sie so allen Bürgern zustatten kommt“ Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe bedarfes durchaus eines starken Staates, der beispielsweise in seinen Entscheidungen nicht einfach dem Machtgefälle organisierter Interessen folgt.

In den skizzierten Grundzügen der kirchlichen Vorstellungen zur Wirtschaftsordnung zeichnet sich das Leitbild einer sozialen Marktwirtschaft ab. Was das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft unserer Gesellschaft angeht, so ist festzuhalten, daß an ihrer Ausgestaltung auch Ideen der katholischen Sozial-lehre und das Engagement der christlich-sozialen Bewegung großen Anteil gehabt haben.

IV. Widerspruch gegen unberechtigte Ansprüche des Marktes

Die Notwendigkeit eines Ordnungsrahmens, zumal für den Wettbewerb, läßt sich mit dem Vorbehalt umschreiben, daß der Markt nicht in allem das letzte Wort haben darf, daß der Wettbewerb nicht das oberste regulative Prinzip der Wirtschaft sein kann Die zugrundeliegende sozialethische Problematik zeigt sich heute beispielsweise im Zusammenhang mit den technischen Möglichkeiten der modernen Human-

Genetik. Hier seien nur die Stichworte „Embryohandel“ und „Leihmütter“ genannt. Das kompromißlose Nein der Kirche gegen solche Praktiken gilt der Versuchung, die fälligen Wertentscheidungen dem Clearing des Wettbewerbs und den ökonomischen Verwertungschancen zu überlassen. Andere vergleichbare Einwände richten sich gegen die — häufig als immanentes Ziel der Wirtschaft ausgegebene — Maximierung der Leistungserstellung oder gegen ein Kalkül, das im Vollzug der Wirtschaft auf das Menschsein keine Rücksicht nimmt. Zwar hat die Sozialpolitik viel zur Humanisierung, zur menschengerechten Ge5 staltung der Arbeitswelt beigetragen, aber das Thema bleibt aktuell. Dies zeigt etwa die Forderung nach weiteren Ausnahmen vom Sonntagsarbeitsverbot zwecks höherer Wirtschaftlichkeit, die durch intensivere Nutzung moderner Produktionsanlagen und neuer Techniken in Verbindung mit einer stärkeren Flexibilisierung der Arbeit erreicht werden soll.

Widerspruch gegen einen sich selbst überlassenen Markt gibt es schließlich, weil seine (originären) Verteilungsergebnisse nicht in jeder Hinsicht schon der Gerechtigkeit entsprechen, zum Beispiel unter Berücksichtigung des Familienbedarfs. Dieser kritische Ansatzpunkt bedarf einer Erläuterung, um einer weit verbreiteten Fehleinschätzung entgegenzutreten.

Es wäre sachlich unangemessen und höchst einseitig, wirtschaftsethische Fragen mit der Verteilungsproblematik gleichzusetzen. Demgegenüberwird in den kirchlichen Texten die Seite der Produktion und der dem Markt und dem Wettbewerb zu verdankenden Produktivität mitbedacht; der wirtschaftliche, dem ganzen Menschen dienende Fortschritt findet eine positive Würdigung Das mag exemplarisch an den Aufgaben der Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik dargelegt werden.

V. Entwicklungshilfe: Förderung der produktiven Kräfte

Sollicitudo rei socialis erinnert an „das kennzeichnende Prinzip der christlichen Soziallehre . . Die Güter dieser Welt sind ursprünglich für alle bestimmt.“ Vor das „schwere Problem ungleicher Verteilung der lebensnotwendigen Mittel“ gestellt, ergibt sich für die stärker entwickelten Nationen die nicht minder schwere Verantwortung, den Entwicklungsländern beizustehen, weltweite Solidarität zu üben, „die feste und beständige Entschlossenheit, sich für das . Gemeinwohl'einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind“ Den Armen zu helfen, Elend. Hunger. Wohnungsnot, Krankheit und Analphabetismus zu bekämpfen, Überleben und Leben zu sichern, zumal aus christlicher Nächstenliebe, ist eine strenge Pflicht.

Solche, aber auch darüber hinausgehende Hilfen, zu denen wir nicht nur aus dem „Überfluß“, sondern auch aus dem „Notwendigen“ verpflichtet sind, können jedoch das Problem der Entwicklung nicht lösen, sofern sie lediglich eine andere Verteilung zwischen dem Zuviel an Reichtum hier und dem Zuwenig an Lebensnotwendigem dort vornehmen wollen. Um die Güter dieser Welt ihrer ursprünglichen Bestimmung gemäß allen Menschen verfügbar zu machen, müssen Entwicklungshilfe und -politik sehr viel größere Anstrengungen unternehmen, die produktiven Kräfte in den Entwicklungsländern selbst zu fördern, und zwar als Hilfe zur Selbsthilfe im Aufbau einer leistungsfähigen Volkswirtschaft. So hatte Papst Paul VI. bereits betont: , Jedes Volk muß mehr und besser produzieren.“ Zahlreiche Hinweise in Sollicitudo rei socialis unterstreichen Dringlichkeit und Erfordernisse der Aufgabe, den „wirtschaftlichen Rückstand der armen Völker . . . aufzuholen, sie mit Infrastrukturen zu versehen und ihnen beim Prozeß der Industrialisierung zu helfen“. Das nächste Ziel der Entwicklung muß sein, „eine gewisse Selbstversorgung in der Ernährung oder eine Stufe der Industrialisierung zu erreichen, die es ihnen gestattet, in Würde zu überleben und der aktiven Bevölkerung Arbeitsplätze zu beschaffen“, unter anderem durch die „Bereitstellung von Kapitalien“ seitens der Industrieländer. Ohne die Verantwortung der Industrieländer abzuschwächen, macht die Enzyklika auf Hindernisse und Mängel in den Entwicklungsländern selbst aufmerksam, auf schwerwiegende Unterlassungen der wirtschaftlich und politisch Verantwortlichen. In manchen Regionen der Dritten Welt wird das „Recht auf unternehmerische Initiative“, auf „Initiativen im wirtschaftlichen Bereich“ oder „das Recht, am Aufbau der Gesellschaft teilzunehmen“, unterdrückt. „Die Entwicklung erfordert auf Seiten der betroffenen Länder selbst vor allem Unternehmungsgeist . . . Jedes Land muß den Raum der eigenen Freiheit, soweit wie möglich, entdecken und ausnutzen. Jedes sollte sich die Fähigkeiten verschaffen zu Initiativen, die den eigenen sozialen Bedürfnissen entsprechen.“ Solidarität bindet auch die Schwächeren, „selbst (zu) tun. was ihnen zukommt“, „unter sich selbst und mit den am meisten betroffenen Ländern“

Alle wirtschaftliche Entwicklung aber ist kein nur auf sich selbst bezogener Prozeß. Sie ist konstitutives Element für das „Recht jedes Volkes auf seine Identität, auf seine Unabhängigkeit“ und Gleichheit, eine „Gleichheit, die das Fundament des Rechtes aller aufTeilnahme am Prozeß einer vollen Entwicklung ist“. Der Weg der Entwicklung muß zur gleichberechtigten Partnerschaft in der Weltwirtschaft und in der Völkergemeinschaft führen. Unser Bekenntnis zu weltweiter Solidarität und zur Entwicklungspolitik wäre inkonsequent, wären wir (und die EG) nicht bereit, den Entwicklungsländern eine faire Chance in der internationalen Arbeitsteilung und im Welthandel zu geben und ihre Konkurrenz — zumal in Märkten, auf denen sie ihre Vorteile haben — nicht durch protektionistische Praktiken abzuwehren.

VI. Gerechtigkeit für die Familie

Unter den Forderungen der Gerechtigkeit in der Einkommensverteilung stand und steht für das christlich-soziale Denken die Rücksicht auf die Familie im Vordergrund. Als personale Lebensgemeinschaft hat sie einen Eigenwert mit dem Recht auf Entfaltung ihres Gemeinschaftslebens und auf Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie hat ebenso ein Recht auf angemessene wirtschaftlich-soziale Lebensbedingungen, auf ein familiengemäßes Einkommen, das ausreichend ist, damit Mütter nicht aus ökonomischen Gründen einer außerhäuslichen Erwerbs-arbeit nachgehen müssen. „Der notgedrungene Verzicht“ auf die Aufgabe der Pflege und Erziehung von Kindern „um eines außerhäuslichen Verdienstes willen ftt im Hinblick auf das Wohl der Gesellschaft und der Familie unrecht“, betont Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika Laborem exercens

Die Familie ist zugleich gesellschaftliche Ordnungsinstitution. Sie ist die wichtigste Erziehungs-und Bildungsgemeinschaft, Ort der Persönlichkeitsentwicklung und der Vermittlung sittlicher, geistig-kultureller und religiöser Werte. Wenngleich als „unvollkommene“ Gemeinschaft in vielerlei Hinsicht auf die Gesellschaft angewiesen, ist ihre fundamentale Bedeutung für Sozialisation und Integration der Menschen in den verschiedensten gesellschaftlichen Lebensbereichen sowie für Wohlfahrt und Lebensqualität der Gesellschaft nicht zu übersehen. Krisenerscheinungen in der heutigen Familienwirklichkeit widersprechen dem nicht generell, ist doch davon auszugehen, daß sie zu einem nicht unerheblichen Teil in der mangelnden Anerkennung der Familie durch die Gesellschaft ihre Ursache haben.

In dieser Hinsicht hat die Diskussion um Verständnis und Bewertung der Arbeit und um die teils diagnostizierte, teils postulierte Ablösung der traditionellen Hierarchie der Bewertung von Beruf und Leistung im Gesamt menschlicher Lebensgestaltung zu einem Bewußtseinswandel geführt. Arbeit, so wird auch in der politischen Öffentlichkeit betont, ist mehr als nur die formalisierte, Einkommen erzielende Erwerbstätigkeit, die nach herkömmlichen Kriterien allein als Wertschöpfung in das statistisch ausgewiesene Sozialprodukt eingeht. Außerhalb dieses Sektors umfaßt sie auch als gesellschaftlich wichtige Leistung die Arbeit in der Familie, Dienste der Betreuung und Pflege sowie „die Mühe und die Verantwortung des Haushalts und der Kindererziehung“

Die Aufgabe des Aufziehens und Erziehens von Kindern fällt zuvörderst in die Verantwortung der Eltern, stellt aber zugleich eine unverzichtbare Leistung für die Gesellschaft dar. Zu lange ist der Familie eine ausreichende Gegenleistung versagt geblieben, obwohl die Gesellschaft wie selbstverständlich von ihren Vorleistungen lebte, nicht zuletzt von ihren Aufwendungen für Unterhalt, Erziehung und Ausbildung der Kinder. Um eine naheliegende Parallele zu ziehen: Das für das Marktgeschehen typische Gegenseitigkeitsprinzip von Leistung und Gegenleistung wurde auf die Familie nicht angewandt. Erst unter dem Eindruck der negativen Bevölkerungsentwicklung, des sich künftig vermindernden Anteils der Erwerbspersonen bzw.der steigenden „Altenlast“ ist die Bereitschaft gewachsen, die Leistungen der Familie anzuerkennen und zu honorieren. In dieser familienpolitischen Perspektive geht es um mehr als nur um einen „Lastenausgleich“, der die Familie am unteren Wohlstandsniveau vor sozialer Deklassierung bewahrt. Es handelt sich um eine nachhaltigere Reform zu einem Familien„leistungsausgleich“, wie er beispielsweise neben steuerlichen Entlastungen und Kindergeld mit dem Erziehungsgeld angestrebt wird.

VII. Dienst an der älteren Generation

Zwei mit der demographischen Entwicklung verknüpfte Probleme unterstreichen die Dringlichkeit, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundlagen der Familie zu stärken.

Mit den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung, dem wachsenden Anteil der älteren Generation zeichnet sich ein zunehmender Bedarf an sozialen und spezifisch pflegerischen Diensten ab. Angesichts der Diskussion um Leistungsfähigkeit und Grenzen des Sozialstaates gewinnen Solidarität und Subsidiarität neues Gewicht, und zwar im Blick nicht allein — wie so oft — auf gesellschaftliche Großorganisationen und Staat, sondern mehr noch auf die nächste Umgebung des Hilfebedürftigen.

Diesem Aspekt muß die familienpolitische Förderung Rechnung tragen durch Stärkung der Eigenverantwortung und der Selbsthilfe. Denn die Professionalisierung im sozialen Dienstleistungsbereich hat ihre Grenze erreicht. Allerdings wird es notwendig sein, die Dienste der Familie mit den Diensten zu verbinden, die von Einrichtungen freier gesellschaftlicher Kräfte, zum Beispiel von Sozialstationen oder von kommunalen Einrichtungen, im Sinne ergänzender Hilfe erbracht werden. Das zweite, den Familienleistungsausgleich betreffende Problem ist die Frage nach der Zukunft der sozialen Sicherung im Alter. Die gesetzliche Rentenversicherung verdankt ihre bisherige Leistungs-fähigkeit wesentlich ihrem internen Aufbau nach dem Versicherungsprinzip und den Prinzipien der Beitrags-und Leistungsbezogenheit, wie sie unter maßgeblicher Beteiligung christlicher Sozialpolitiker 1957 in die Formel der dynamischen Rente eingegangen sind. Von den bewährten Elementen Abstand zu nehmen, besteht kein Anlaß, wenngleich es unabweisbar geworden ist, ein Versäumnis, einen Strukturmangel der letzten drei Jahrzehnte aufzuholen: Die Zwei-Generationen-Solidarität zwischen Erwerbstätigen und älterer Generation, auf die allein sich die bisherige Rentenformel bezog, muß zur Drei-Generationen-Solidarität erweitert werden, die auch die nachwachsende Generation einbezieht. Mit der Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, also der Anerkennung einer anspruchsbegründenden Leistung, ist im Zuge dieser Fortentwicklung innerhalb der Alterssicherung bereits begonnen worden.

Was auch immer im Interesse der langfristigen Leistungsfähigkeit der Alterssicherung sich als notwendig oder wünschenswert erweisen mag — es erscheint geboten, vor allen reformpolitischen Entscheidungen eine Reihe grundsätzlicher Gesichtspunkte zu bedenken:

— Soziale Sicherung kann ihre Ressourcen immer nur dem jeweiligen Sozialprodukt entnehmen. Der über Sozialabgaben erzwungene Konsumverzicht der Erwerbstätigen ermöglicht den Konsum bzw. das Einkommen der Rentner. Es kann der Bilanz-wahrheit und -klarheit nur dienen, den Finanzierungsmodus so direkt wie möglich an diesen volkswirtschaftlichen Kreislauf anzuschließen (Umlege-verfahren). — Stets obliegt es den Erwerbstätigen, für den Unterhalt sowohl der älteren als auch der noch nicht erwerbstätigen jungen Generation zu sorgen. Es ergibt sich die sozialethische Frage, welches Maß an Belastungen die heute und künftig Erwerbstätigen auf sich nehmen können und wollen; was ist ihnen zumutbar? Einseitige Belastungen und ein Übermaß an Opfern müßten vermieden werden. Da es sich bei der ungünstigen Bevölkerungsentwicklung um ein gesamtgesellschaftliches Risiko handelt, können die erforderlichen Anpassungen nicht auf die gesetzliche Rentenversicherung beschränkt bleiben. Es erscheint gerechtfertigt, zum einen alle Einrichtungen der Alterssicherung auf die Vergleichbarkeit von Leistungen und Ansprüchen hin zu prüfen, zum anderen über die Grenzen der Sicherungssysteme hinaus auch den Staat wie bislang in Verantwortung zu nehmen.

Alle Reformen innerhalb der Alterssicherungssysteme können aber nicht zu ihrer auf Dauer gestellten Funktionsfähigkeit führen, wenn nicht der gesamte Leistungszusammenhang der Alterssicherung berücksichtigt wird. Die soziale Sicherung im Alter muß ihr zweites Fundament in einer wirksamen, die gesellschaftliche Leistung der Familie anerkennenden Familienpolitik finden. Im ersten Schritt ist dieser Bezug mit der Anrechnung von Erziehungszeiten im Rentenrecht hergestellt — Ausdruck der prinzipiellen Gleichwertigkeit von Beitragszahlungen und Kindererziehung.

VIII. Abbau der Arbeitslosigkeit

Eine der größten Herausforderungen der Sozialen Marktwirtschaft stellt die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit dar. Sie erscheint als unvereinbar mit dem ordnungspolitischen Vorrang persönlicher Initiative und Verantwortung und verletzt das Recht auf Arbeit. Arbeitslosigkeit schließt von der aktiven Teilnahme an der Mitgestaltung eines wichtigen gesellschaftlichen Lebensbereichs aus; sie beeinträchtigt das Selbstwertgefühl der Betroffenen und bringt für sie und ihre Familien psychisch-soziale Belastungen mit sich bis zur Gefahr gesellschaftlicher Isolierung. Es ist keine Antwort auf diese Herausforderung, sich an sie als einen mit Mitteln der sozialen Sicherung aufzufangenden Versorgungsfall zu gewöhnen oder Arbeitswillige de facto in den informellen Bereich der Schattenwirtschaft oder in die Schwarzarbeit abzudrängen. Alle Veränderungen in der Bewertung und Einstellung zur Arbeit, sei es im formellen, nach herkömmlicher Weise gewerbsmäßig oder arbeits-und sozialrechtlich geregelten Sektor, sei es im informellen Sektor, haben bislang nicht zu einer spürbaren Entlastung des Beschäftigungssystems geführt. Arbeitslosigkeit ist nicht ein Mangel an irgendwelchen Betätigungsmöglichkeiten, sondern nach wie vor ein Mangel an Erwerbsgelegenheiten, vorab ein Mangel an Ar-beitsplätzen auf dem Arbeitsmarkt, das „Gegenteil einer gerechten und geordneten Situation“

Mit der — auf die Würde und die Freiheit der Person rückbezogenen — Entscheidung für eine grundsätzlich freiheitliche Wirtschaftsordnung wird verständlich, warum das Recht auf Arbeit keinen direkten Anspruch auf einen Arbeitsplatz begründet, weder privat-noch öffentlich-rechtlich; die Alternative würde zum Beispiel voraussetzen, dem Staat die volle Dispositionsmacht über den Arbeitsmarkt und — soll überhaupt etwas bewirkt werden — außerdem über die gesamte Produktionsorganisation der Volkswirtschaft einzuräumen. Das Recht aufArbeit muß demgegenüber umgesetzt werden in eine Politik der Vollbeschäftigung. Für sie tragen alle „direkten“ und „indirekten“ Arbeitgeber, alle Personen, Organisationen und Institutionen (bis in internationale Verflechtungen hinein) Verantwortung, die mit ihren wirtschaftspolitischen Entscheidungen Einfluß auf das Beschäftigungsniveau ausüben Arbeitslosigkeit abbauen heißt zunächst, auf die Voraussetzungen hinarbeiten, daß zusätzli-ehe Arbeitsplätze entstehen können; das betrifft Investitionen und Wachstum.

Bei aller Entschiedenheit einer wachstumsorientierten Politik in den verschiedensten Sektoren ist nicht zu erwarten, daß diese in einer tolerablen Frist Vollbeschäftigung verwirklichen kann. Dazu reichen die gegebenen und absehbaren Wachstumsraten nicht aus, abgesehen davon, daß Wachstum, sofern es nicht gänzlich verneint wird, Konditionen des „Angemessenen“, der „Lebensqualität“ oder der „sozialen Verträglichkeit“ unterliegt.

Neben der Ausschöpfung qualitativer Wachstums-felder, die zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, erscheint eine allgemeine tarifliche Arbeitszeitverkürzung — mit einem am Lebenshaltungskostenindex orientierten, gestaffelten und nicht vollen Lohnausgleich — unausweichlich, solange eine wachsende Produktion mit einem sinkenden Arbeitsvolumen bereitgestellt werden kann. Die zur Zeit diskutierten Modelle einer Arbeitszeitverkürzung und gleichmäßigen Verteilung entsprechen nicht immer dem Gebot der Beteiligungsgerechtigkeit. Häufig werden gerade diejenigen Gruppen, die im Betrieb und auf dem Arbeitsmarkt schwächere Positionen einnehmen (Ältere, Jugendliche, Frauen, Ausländer), benachteiligt.

Der Konflikt um die Verteilung von Arbeit und Einkommen ist in der gegenwärtigen Konstellation zuerst zwischen den Beschäftigten und den bislang Arbeitslosen auszutragen, nicht im Spannungsbogen von „Arbeit und Kapital“. Solidarität mit den Arbeitslosen kann nicht in der Bündelung von Forderungen an andere bestehen. Neue Arbeitsplätze über Arbeitszeitverkürzungen entstehen nicht, wenn lediglich Arbeit bei gleichem Lohn geteilt wird. Es geht um eine weniger leichte Probe der Solidarität: Arbeitsplatzbesitzer müssen mit den Arbeitszeiteinheiten auch auf den dazugehörigen Lohn verzichten. Denkbar ist, Härten in unteren Lohngruppen dadurch abzumildem, daß von der Bundesanstalt für Arbeit Zuschüsse gezahlt werden, sind doch deren aus Sozialabgaben aufgebrachte Mittel, volkswirtschaftlich betrachtet, Lohn.

Die Lösung im Großen muß eigentlich jenen kleinen Schritten folgen, die vielfach schon praktiziert werden, beispielsweise im Bereich der kirchlichen Dienste und der Caritas — Aktivitäten, die zu einem Teil aus Haushaltsmitteln, zu einem anderen Teil eben auch aus dem Gehalt Hauptamtlicher und aus Solidaritätsfonds bzw. Spenden finanziert werden. Die „Arbeitslosigkeit ist heute nur erfolgreich zu bekämpfen, wenn alle weniger von Solidarität und Gerechtigkeit reden, dafür aber sie mehr üben.“

Um der Arbeitslosigkeit wirksam zu begegnen, ist verschiedentlich von Seiten der Kirche ein Sozial-pakt gefordert worden zwecks Abstimmung des wirtschaftspolitischen Verhaltens aller Beteiligten. Die Tarifparteien, die als „indirekte Arbeitgeber“ mit ihren Abmachungen das Beschäftigungsniveau mitbestimmen, dürfen auf keinen Fall das Vollbeschäftigungsrisiko auf den Staat abschieben. Eine „gemeinsame Kraftanstrengung ähnlich wie in der Nachkriegszeit ist nötig, wenn die Tragfähigkeit unseres sozialen Leistungssystems, der soziale Friede und die von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bestimmte Ordnung . . ., erhalten werden sollen“

Unter den vielen Problemgruppen des Arbeitsmarktes gibt es eine nahezu ausgegrenzte Gruppe hart Betroffener, auf die hier besonders hingewiesen sei, nämlich die schwer Vermittelbaren, die wegen irgendwelcher Behinderungen die heute auf dem Arbeitsmarkt gefragten Qualifikationen nicht erreichen können. Auch sie haben Anspruch auf einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz, sei es in „öffentlichen oder privaten Unternehmen ....sei es in sogenannten . beschützten* Unternehmen oder Werkstätten“ -Mit dem Appell, für diesen schutzbedürftigen Personenkreis mehr als bisher zu tun, ist natürlich auch die Kirche in die Pflicht genommen.

IX. Umwelt und Ressourcen

In der heutigen Arbeitslosigkeit schlägt sich unter anderem der Einfluß außenwirtschaftlicher Strukturverschiebungen wie die zunehmende Konkurrenz der Schwellenländer nieder. Sie sind ebenso Ausdruck intensiver weltwirtschaftlicher Verflechtungen wie das weltweit gewordene Ökologiepro-blem. Ökologische Fehlentwicklungen, häufig Gegenstand der Kritik am technisch-wissenschaftlichen und materiellen Fortschrittsdenken, zählen zu den säkularen Herausforderungen, die ein Umdenken und eine sorgsame Beachtung dieser Problematik in der Wirtschafts-und Ordnungspolitik erfordern.

Der Sachverhalt selbst ist hinreichend bekannt. Ökologische Güter wurden in der Vergangenheit nahezu wie frei verfügbare kostenlose Güter behandelt. An ihrer Nutzung waren alle mit ihren Lebens-gewohnheiten beteiligt, sie gehörten zum unbefragt selbstverständlichen Verbrauchsstandard. In den Umweltschäden, wie sie durch übermäßige Belastungen von Boden, Luft und Wasser mit Schad-stoffen hervorgerufen wurden, rächt sich der allzu leichtfertige Umgang mit der Natur.

Die Erfahrung, daß Umweltschäden die Lebensqualität beeinträchtigen, hat mittlerweile zu einem Bewußtseinswandel geführt. Dasselbe gilt für die Erkenntnis, daß manche Ressourcen — so die nichtregenerierbaren Energieträger — begrenzt sind und daß ein übermäßiger Verbrauch in den Industrieländern die Verbrauchsmöglichkeiten der Dritten Welt schmälert. Die Anerkennung der Schöpfung und des göttlichen Kulturauftrags verlangen „ohne Zweifel Grenzen für den Gebrauch der sichtbaren Natur. Die vom Schöpfer dem Menschen anvertraute Herrschaft ist keine absolute Macht, noch kann man von der Freiheit sprechen, sie zu . gebrauchen oder zu mißbrauchen'oder über die Dinge zu verfügen, wie es beliebt.“

Das gewachsene Bewußtsein für die Zusammenhänge innerhalb des Ökosystems und für die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur müßte es erleichtern, den Anforderungen einer lebenswerten Umwelt und der Sicherung von Ressourcen auf Dauer ökonomisch gerecht zu werden, und zwar nicht durch nachträgliche Korrekturen, sondern durch Vorsorge, durch andersartige Konditionen des Wirtschaftsprozesses. Das ökologische Ziel gehört in den wirtschaftspolitischen Zielkatalog. Neben staatlichen Interventionen, Vorgaben und Kontrollen ist eine konsequente Behandlung der ökologischen Güter als Knappheitsgüter notwendig. Diese müßten kosten-und preiswirksam werden, damit sich die dynamischen wirtschaftlichen Kräfte gezielter auf den schonenden Umgang mit Ressourcen und Umwelt richten. Mit der Erweiterung der Rahmenbedingungen der gegebenen Ordnung zu einer „ökologisch verpflichteten Marktwirtschaft“ wird unterstrichen, „daß die Marktwirtschaft nur auf der Grundlage einer intakten Umwelt funktionieren kann und deshalb die ökologische Aufgabe durchaus ein genuines Ziel wirtschaftlicher Bemühungen sein muß“

Eine ökologisch orientierte Politik ist schließlich auf ihre Weise eine Konkretisierung der universalen Bestimmung der Güter dieser Erde: Sie müssen allen Menschen zugute kommen. Die behutsame, verantwortliche Nutzung der Ressourcen entspricht wesentlich Solidaritätspflichten gegenüber den Mitmenschen, gegenüber kommenden Generationen, über deren Lebenschancen heute mitentschieden wird, und gegenüber den Menschen in der Dritten Welt. Den entwickelten Industrieländern kommt eine besondere Verantwortung zu. Aufgrund ihrer Wirtschaftskraft sind sie zu einem wirksameren und schnelleren Handeln in der Lage und daher verpflichtet, eine Führungsrolle in der internationalen Ökologiepolitik zu übernehmen.

X. Ausblick

Jede Ordnung muß sich in den Herausforderungen ihrer Zeit bewähren. Gesellschaftliche Veränderungen, so hat es die kirchliche Soziallehre immer wieder betont, bedürfen des Doppelschritts von Zustände-und Gesinnungsreform. Unsere Gemeinwohlordnung in Gesellschaft und Staat stellt sich im Gefüge ihrer Institutionen und Regeln als eine recht eindrucksvolle Erscheinung dar. Sie für die Erfordernisse der Gegenwart und Zukunft offenzuhalten, ist eine bleibende Aufgabe. Die Schwächen liegen heute jedoch eher in dem Zögern, den Problemen wirtschafts-und gesellschaftspolitisch entschieden zu begegnen. Zu viele Verkrustungen und das Besitzstandsdenken stehen im Weg, vor allem jene Mentalität, die zwar die Vorzüge von Freiheit und Wohlstand in Anspruch nimmt, zugleich aber darauf bedacht ist, Belastungen zu vermeiden oder sie auf andere, auf den Staat abzuschieben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Quadragesimo anno, Nr. 79.

  2. Mater et magistra, Nr. 219.

  3. Gaudium et spes, Nr. 74.

  4. Sollicitudo rei socialis, Nr. 15.

  5. Gaudium et spes, Nr. 65.

  6. Mater et magistra, Nr. 219.

  7. Ebda., Nr. 52.

  8. Quadragesimo anno, Nr. 88.

  9. Gaudium et spes, Nr. 64.

  10. Sollicitudo rei socialis, Nr. 42.

  11. Ebda., Nr. 38.

  12. Populorum progressio, Nr. 48.

  13. Sollicitudo rei socialis, Nr. 44.

  14. Ebda., Nr. 45.

  15. Laborem exercens, Nr. 19.

  16. Ebda., Nr. 9.

  17. Ebda., Nr. 18.

  18. Ebda., Nr. 18/19.

  19. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Arbeitslosigkeit — Erklärung der Gemeinsamen Konferenz und Stellungnahme des Beirats der Gemeinsamen Konferenz vom 5. November 1982, Bonn 1982, S. 7.

  20. Ebda., S. 9.

  21. Laborem excercens, Nr. 22.

  22. Sollicitudo rei socialis, Nr. 34.

  23. Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, Köln 1985, 81 f.

Weitere Inhalte

Josef Homeyer, Dr. phil., geb. 1929; Studium der Theologie und Philosophie in Münster und Innsbruck Priesterweihe 1958; 1972 bis 1983 Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz; seit 1983 Bischof von Hil desheim. Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und sozial-karitative Fragen der Deutscher Bischofskonferenz. Veröffentlichungen u. a.: Zum Begriff der Arbeit. Arbeitslosigkeit als pastorale Sorge der Kirche, in Gemeinsam für die Zukunft — Kirchen und Wirtschaft im Gespräch, Köln 1984; Die Lebensräume, in Priesterliche Lebensform, Arbeitshilfen Nr. 36. hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz Bonn 1984.