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Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Westdeutschland | APuZ 23/1985 | bpb.de

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APuZ 23/1985 Artikel 1 Der Zusammenbruch des deutschen Ostens Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat im Osten und Südosten 1944-1947 Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Westdeutschland

Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Westdeutschland

Falk Wiesemann

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Zusammenfassung

Die Würdigung der Flüchtlingsintegration als eine bewundernswerte gesellschaftliche und sozialpolitische Leistung gehört heute zum festen Bestand bundesrepublikanischer Selbsteinschätzung. Die gelungene Bewältigung des Flüchtlingsproblems hat jedoch gemeinhin die Tatsache verdeckt, daß die Neuankommenden für ihre Einfügung in die neue Gesellschaft große soziale Opfer erbrachten. Erst seit einigen Jahren widmet sich die historische Forschung intensiver den konkreten Vorgängen von Flucht, Vertreibung und Integration. Vom Anfang bis zum Ende der Besatzungszeit verfolgten die Alliierten gegenüber den Flüchtlingen und den Flüchtlingsverwaltungen eine Politik der nicht nur vorübergehenden Aufnahme, sondern der sofortigen und endgültigen Integration, die zu leisten Aufgabe der Deutschen selbst sei. Angesichts des Fehlens einer deutschen Zentralgewalt waren die Besatzungsregierungen darauf bedacht, daß die Flüchtlinge nicht im Widerstreit regionaler Egoismen allein gelassen wurden. Zunächst vermehrten die Flüchtlinge die allgemeine soziale Not, vor allem in den Hauptaufnahmeländern (Bayern, Schleswig-Holstein, Niedersachsen), sie waren in vielfältiger Weise Objekte behördlicher und sozialfürsorgerischer Zuwendungen und Bevormundungen. Doch sehr rasch bildeten sie ein unentbehrliches Arbeitskräftereservoir. Von der erfolgreichen Eingliederung der Flüchtlinge in den Arbeitsprozeß gingen die stärksten Integrationsimpulse aus. Anhand der Flüchtlingspolitik in Nordrhein-Westfalen werden in dem Beitrag Hemmnisse und Antriebskräfte der Integration in den Jahren vor der Gründung der Bundesrepublik skizziert

I. Einführung

Flucht und Vertreibung sind seit Beginn des Zweiten Weltkriegs Massenphänomene, die weltweit der Geschichte und Politik unseres Jahrhunderts ihren Stempel aufprägen -Im Gegensatz zu den zahlreichen ungelösten Flüchtlingsproblemen in anderen Staaten sind — wenn auch zum Teil in einem schmerzlichen Prozeß — die rund 13 Millionen aus dem Ausland, aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus der sowjetisch besetzten Zone bzw. aus der DDR vertriebenen, geflohenen oder zugewanderten Deutschen innerhalb kurzer Zeit in die sich neu formierende Gesellschaft Westdeutschlands eingegliedert worden.

In Anbetracht des raschen Tempos und der erstaunlichen Intensität, in denen sich die Integration vollzog, wurde in Anlehnung an das Schlagwort vom „Wirtschaftswunder" gemeinhin auch von einem „Flüchtlingswunder" gesprochen. Kaum jemand hätte in der unmittelbaren Nachkriegszeit vorherzusagen gewagt, daß innerhalb eines Zeitraums von nicht einmal einer Generation die Eingliederung als im wesentlichen abgeschlossen gelten konnte. Die damals befürchtete Radikalisierung der deutschen Nachkriegsgesellschaft war ausgeblieben, obwohl die soziale Not gerade jener Bevölkerungsteile, die durch die Kriegs-und Nachkriegsereignisse räumlich entwurzelt worden waren, zunächst das allgemeine soziale Elend drastisch vermehrt und eine ungeheure zusätzliche Belastung für den Wiederaufbau dargestellt hatte. Heute hingegen gehört die Würdigung der Flüchtlingseingliederung als bewundernswerte gesellschaftliche und sozialpolitische Leistung zum festen

Bestand bundesrepublikanischer Selbsteinschätzung. Zur Kennzeichnung der Betroffenen wurde und wird noch immer eine sehr uneinheitliche Begrifflichkeit verwendet (Vertriebene, Heimatvertriebene, Flüchtlinge, Ausgewiesene, Umgesiedelte, Neubürger, Sowjetzonen-/DDR-Flüchtlinge, Zugewanderte etc.). Die jüngere Forschung tendiert dazu, für alle von der Massenzwangswanderung erfaßten Menschen den Begriff „Flüchtlinge" zu gebrauchen. In der Alltagssprache, in den Quellen und in der Literatur der frühen Nachkriegsjahre stand dieses Wort häufig synonym für die Bezeichnung aller Menschen, die damals ihre Heimat aufgeben mußten. Es empfiehlt sich jedoch, vor allem die rechtliche, die politische und die soziale Dimension der unterschiedlichen Bezeichnungen im Auge zu behalten. So verweisen die von den Betroffenen und ihren Vertretungen einerseits und den Einheimischen, den Behörden oder der Gesetzgebung andererseits gewählte Begrifflichkeit und ihr historischer Wandel auf Prozesse der Identitätsfindung und der Integrationsbemühungen Die Flüchtlinge bildeten keineswegs eine homogene Bevölkerungsgruppe. Zu unterschiedlich waren ihre Sozialisation und ihre Lebensbedingungen in den einzelnen Herkunftsgebieten gewesen, zu unterschiedlich hatten sie Flucht, Vertreibung, Aussiedlung erlebt.

Außerdem lassen sich zeitliche Phasen der Flüchtlingsbewegung voneinander abheben. Bereits Ende 1944 hatte eine umfassende Flucht-und Absetzbewegung vor der heran-rückenden Roten Armee eingesetzt; in den Gebieten östlich von Oder und Neiße und in Polen kam es bereits vor Kriegsende zu den

In den vorliegenden Text sind zu einem größeren Teil Passagen aus folgenden Beiträgen des Verfassers übernommen worden: Flüchtlingspolitik in Nordrhein-Westfalen, in: W. Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Frankfurt 1985; Die Eingliederung der Flüchtlinge, in: D. Galinski/W. Schmidt (Hrsg.), Jugendliche erforschen die Nachkriegszeit, Hamburg 1984. ersten willkürlichen Vertreibungen. Die offiziellen Aussiedlungsmaßnahmen im Gefolge der Potsdamer Vereinbarungen waren im wesentlichen Ende 1947/Anfang 1948 abgeschlossen. Danach kamen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und aus den Staaten Ost-und Südosteuropas vor allem noch zuvor zurückgehaltene Arbeitskräfte sowie — bis heute andauernd — die sogenannten Spätaussiedler, deren Zuwanderung zuletzt in den Ost-Verträgen rechtlich fixiert wurde.

Mit der Verfestigung der kommunistischen Herrschaft in der sowjetischen Besatzungszone setzte von dort eine Massenabwanderung ein, die zu Zeiten politischer Hochspannung (1947/48, 1953) Höhepunkte erreichte.

Aus der sowjetischen Besatzungszone bzw. aus der DDR kamen in der Regel jüngere Menschen mit höherer Berufsqualifikation. Sie waren aus politischen Gründen oder zur Sicherung und Erweiterung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage über die Grenze nach Westen gegangen. Obwohl die SBZ/DDR-Zuwanderer nicht von Anfang an und nicht in vollem Umfang in den Genuß staatlicher Anerkennung als Flüchtlinge gelangt waren, erleichterte ihre — vor allem im Vergleich zu den Ostflüchtlingen — wesentlich günstigere Alters-und Berufsstruktur die Aufnahme im Westen. Abrupt unterbunden wurde die Zuwanderung aus der DDR durch den Mauerbau in Berlin und die hermetische Abriegelung der DDR-Grenze seit 1961.

II. Zum Forschungsstand

Im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik beschäftigten sich zahlreiche — meist von staatlicher Seite in Auftrag gegebene — wissenschaftliche Arbeiten mit den Flüchtlingen. Es standen dabei vor allem sozialrechtliche, soziologische und volkswirtschaftliche Gesichtspunkte im Vordergrund. Das dreibändige Sammelwerk „Die Vertriebenen in Westdeutschland" aus dem Jahre 1959 markiert einen gewissen Abschluß dieser ersten Phase wissenschaftlicher Erörterung die insgesamt sehr stark durch die emotionale Betroffenheit der Bearbeiter und durch die ideologische Auseinandersetzung mit den östlichen Staaten charakterisiert geprägt ist.

In den darauffolgenden Jahren, als sich die Situation der Flüchtlinge weitgehend entspannt hatte, trat auch das forschende Interesse auffallend zurück. Gemessen an der unbestritten immensen Bedeutung der Flüchtlingsintegration für die bundesrepublikanische Gesellschaft haben die Historiker sich dieser Thematik sehr spät zugewandt. Erst seit kurzem werden die Flüchtlingspolitik und die historische Lebenswirklichkeit der Flüchtlingsexistenz schärfer in den Blick genommen. Für die konkreten Vorgänge und für das individuelle Erleben von Flucht und Vertreibung sind die in den fünfziger Jahren vom Bundesvertriebenenministerium gesammelten Zeugenberichte eine äußerst wertvolle Quelle

Die historisch-demographische Untersuchung, die S. Bethlehem der „Heimatvertreibung" gewidmet hat, setzt leider erst nach der in vieler Hinsicht für die Thematik bedeutsamen Phase, die vor der Gründung der Bundesrepublik liegt, ein Einem gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft bevorzugten Trend entsprechend, bewegen sich neuere historische Publikationen und Forschungsprojekte hauptsächlich im Rahmen regionaler und lokaler Untersuchungsfelder. Bayern ist bislang das einzige Bundesland, für das eine umfassende, aus den Quellen erarbeitete Studie für die Zeit von 1945 bis 1950 existiert Als Fall-beispiele unterschiedlicher lokaler Entwicklung liegen Untersuchungen über einzelne Städte vor

Große Lücken weisen unsere Kenntnisse hinsichtlich der Flüchtlingspolitik der alliierten Regierungen und der Besatzungsadministrationen in den einzelnen Zonen auf Auch die Erforschung von Binnenstrukturen und -prozessen der Integration in beruflichen, konfessionellen, schichtspezifischen, dörflichen oder städtischen Milieus befindet sich noch in den Anfängen In Ergänzung der — meist aufgrund des Quellenmaterials vorgegebenen — administrativen Perspektive werden, wenn auch sehr zögerlich, individuelle und Gruppenerfahrungen von Flüchtlingen unter Anwendung moderner Methoden der Oral History erhellt

III. Rahmenbedingungen

Bei Kriegsende dürfte ungefähr die Hälfte der Menschen, die sich im deutschen Reichsgebiet befanden, „unterwegs" gewesen sein. Sie waren auf der Flucht, wollten als Evakuierte wieder nach Hause oder waren auf der Suche nach Angehörigen. Nach der Besetzung ordneten die Alliierten, um ein vollständiges Chaos zu verhindern, ein allgemeines Verbot des Individualverkehrs an.

Die französische Besatzungsmacht riegelte ihre Zone gegen die Aufnahme der organisierten Aussiedlertransporte strikt ab, und zwar mit dem Hinweis darauf, daß sie an den Potsdamer Entscheidungen nicht beteiligt gewesen sei. Als Lösung des Problems empfahl sie die Massenauswanderung nach Übersee. Frankreich fand sich erst zu einer Kooperation mit den Briten und Amerikanern in der Flüchtlingsfrage bereit, nachdem die Entscheidung zugunsten der Gründung eines deutschen Weststaats gefallen war. Ab 1948 beteiligten sich die Franzosen an einem Bevölkerungsausgleich innerhalb der Westzonen, vor allem im Rahmen der Familienzusammenführung.

Die Einflußnahme der britischen und der amerikanischen Militärregierung ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung nur in den Hauptlinien erkennbar. Obwohl die Briten von allen Alliierten schon während des Krieges die intensivsten Vorplanungen für die künftige Besatzungszeit betrieben hatten, lag nach Abschluß der militärischen Besetzung keinerlei Konzept für die Bewältigung der Flüchtlingsströme vor. Ihre ursprüngliche Absicht, die räumlich entwurzelten Menschenmassen umgehend in ihre Herkunftsorte zurückzuschicken, war völlig undurchführbar. So operierte die britische Militärregierung ebenso wie die amerikanische im Grunde mit Ad-hoc-Maßnahmen.

Der Zustrom der Neuankommenden wurde zunächst in die ländlichen Gegenden abgelenkt, wo sie besser als in den zerstörten urbanen Zentren untergebracht und verpflegt werden konnten. In den Westzonen wurden somit Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern zu Hauptaufnahmeländern. Die Flüchtlinge wurden hier zunächst provisorisch in Lagern oder lagerähnlichen Quartieren untergebracht — für viele ein Zustand, in dem sie sich bereits während des Krieges befanden und den sie häufig noch für weitere Jahre erdulden mußten. Das Lagerleben’ war in der Kriegs-und Nachkriegszeit eine weit-verbreitete Daseinsform gewesen, deren sozialpsychologische Auswirkungen, zumindest im Hinblick auf die Flüchtlinge, noch weithin unbekannt sind. In den Lagern hielten sich auch viele Kinder und Jugendliche auf, die Eltern und Verwandte verloren hatten oder durch die Ereignisse von ihren Familien getrennt worden waren. Ihnen galt die besondere Aufmerksamkeit der Wohlfahrtsverbände und der Kirchen

Neben den großen Auffang-und Durchgangs-lagern gab es in den Kreisen und Städten weitere Lager und Massenunterkünfte. Nach einem zwischen den Besatzungsbehörden und den deutschen Verwaltungen abgestimmten Schlüssel erfolgte je nach Aufnahmefähigkeit die Verteilung auf die einzelnen Stadt-und Landkreise. Die Einweisung in den endgültigen Bestimmungsort konnte jedoch erst geschehen, wenn die Zustimmung des zuständigen Arbeitsamtes und Wohnungsamtes vorlag. Beschlagnahmungen von privatem Wohnraum für die Flüchtlinge riefen hierbei erste und zum Teil heftige Auseinandersetzungen mit der ortsansässigen Bevölkerung hervor. Auch wenn die Flüchtlinge das Glück hatten, Arbeit und Unterkunft zu bekommen, blieben sie in der Regel weiterhin auf die soziale Versorgung und Betreuung durch die Sozialämter und die Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände angewiesen. Herausgerissen aus ihren ursprünglichen Lebenszusammenhängen, wurden sie in vielfältiger Weise Objekt behördlicher und verbandlicher Zuwendungen und Bevormundungen.

Von den Einheimischen wurden die Flüchtlinge in erster Linie als unliebsame Konkurrenten im Kampf um Lebenschancen, um die Verteilung des knappen Bestandes an Arbeitsplätzen, Wohnraum und Mitteln des täglichen Bedarfs empfunden. Zur rechtlichen und wirtschaftlichen Schlechterstellung kam die soziale Diskriminierung von Seiten der Einheimischen, an der die Behörden, da sie üblicherweise mit Einheimischen besetzt waren, mitunter kräftig mitwirkten. Um der oft feindlich eingestellten Umwelt ein Gegengewicht entgegenzusetzen, verstärkten die Flüchtlinge ihre Bindungen an die Familie, an rekonstruierte „Heimatgemeinden" und Pfarrgemeinden. Neben den desintegrativen Faktoren gab es jedoch auch recht wirksame Integrationsmöglichkeiten, wie z. B. Eheschließungen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen, gesellige Vereine, kirchliche Organisationen, Parteien, Schule, Arbeitsplatz. In den großen Städten bestand im allgemeinen ein günstigeres Klima für die Eingliederung als in Dörfern und Kleinstädten mit ihrer fester gefügten sozialen Struktur.

Von Anfang an verfolgten die Alliierten gegenüber den Flüchtlingen eine Politik der nicht nur vorübergehenden Aufnahme, sondern der sofortigen und endgültigen Integration, die von den Deutschen selbst zu leisten sei. Andererseits drohte sich aus dem Flüchtlingselend ein gefährlicher gesellschaftspolitischer Sprengsatz zu entwickeln. Die Alliierten verboten jede separate Organisierung der Flüchtlinge, um revanchistischen (auf Rückeroberung der verlorenen Gebiete ausgerichtete) Tendenzen den Boden zu entziehen.

Im Gegensatz zur sowjetischen Besatzungsmacht lockerten zuerst die Briten, dann die Amerikaner ab 1948 stillschweigend das Koalitionsverbot für Flüchtlinge. Den Briten, die gegenüber der Sowjetunion als erste der Westalliierten einen scharfen Kurs steuerten, kamen die politischen Aktivitäten, namentlich des Hauptausschusses der Ostvertriebenen, nicht ungelegen — bildeten doch die Forderungen nach Rückgewinnung der Ost-gebiete im Zeichen des Kalten Krieges ein Element der permanenten Verunsicherung des Ostens. Dieser ideologische Aspekt in der Auseinandersetzung zwischen den Großmächten änderte freilich nichts an dem Grundsatz von Amerikanern und Briten, den Prozeß der De-facto-Integration der Flüchtlinge voranzutreiben.

Die Flüchtlinge wurden auf die politische Mitwirkung in den bestehenden Parteien verwiesen, die sich ihnen in sehr unterschiedlicher Weise — meist im Vorfeld von Wahlen — öffneten. Politische Radikalisierungserscheinungen bei den Flüchtlingen waren nur temporär oder regional eingegrenzt. Ansonsten hatten für wenige Jahre an den Brennpunkten der Flüchtlingskonzentration Flüchtlingsparteien, die nach Gründung der Bundesrepublik zugelassen waren (z. B.der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten/BHE), oder auch Parteien mit ausgeprägter Anti-Flüchtlingstendenz (wie z. B. die Niedersächsische Landespartei oder die Bayernpartei) größeren Zulauf gefunden. Im übrigen stand politisches Engagement in jenen Jahren weit zurück hinter den Anstrengungen jedes einzelnen, zunächst die elementaren Lebensbedürfnisse zu befriedigen.

IV. Flüchtlingspolitik in Nordrhein-Westfalen

Von der Fähigkeit der Wirtschaft, die Flüchtlinge als Arbeitskräfte zu absorbieren, gingen sicherlich die stärksten Integrationsimpulse aus. Diese wurden zuerst in Nordrhein-Westfalen wirksam, denn hier bestanden dafür wesentlich günstigere Voraussetzungen als in den übrigen Flüchtlingsaufnahmeländern. Im folgenden soll auf die Flüchtlingspolitik in Nordrhein-Westfalen näher eingegangen werden, da diesem Land bei der Lösung des Flüchtlingsproblems in Westdeutschland geradezu eine Motorfunktion zufiel.

Bei Kriegsende wiesen die Wohnungen und Produktionsstätten in den industriellen Zentren an Rhein und Ruhr einen höheren Zerstörungsgrad auf, als dies in anderen Regionen der Fall war. Die Städte waren weitgehend entvölkert. Soweit die Bevölkerung nicht unmittelbar für die Kriegsproduktion und für die Versorgung benötigt wurde, war sie bereits ab 1942 in weniger bombengefährdete Gegenden evakuiert worden. Angesichts der Zerstörungen war aber nach Kriegsende an eine rasche Rückkehr der Evakuierten an ihre ursprünglichen Wohnorte nicht zu denken. Die britische Militärregierung erklärte im August 1945 die meisten Stadt-und Landkreise in den Provinzen Nordrhein und Westfalen zu „restricted areas“. Damit waren die linksrheinischen Gebiete, die rheinischen Städte und das Ruhrgebiet für die Zu-und Rückwanderung gesperrt, und der Flüchtlingszustrom konzentrierte sich auf die Randgebiete, vornehmlich auf Ost-Westfalen.

Für die deutschen Behörden waren die Flüchtlinge zunächst ausschließlich Objekt sozialfürsorgerischer Betreuung. Ein Zwang zu weiterreichender Planung ergab sich dann nach Bekanntwerden des Umsiedlungsbeschlusses des Alliierten Kontrollrats vom 20. November 1945. Nun zeichnete sich der Umfang der künftigen Umsiedlung aus dem Osten deutlicher ab. Die britische Zone sollte eineinhalb Millionen Deutsche aus den polnisch besetzten Gebieten aufnehmen. Mit dem Unternehmen „Schwalbe" gelangten auf diese Weise bis November 1946 rund 700 000 Ausgewiesene nach Nordrhein-Westfalen.

Die Briten legten die Flüchtlingsverwaltung vollständig in die Hände der Deutschen, sie selbst wollten lediglich kontrollierend beobachten Im Rahmen der Militärregierung ressortierten die fürsorgerischen Aspekte der Flüchtlingsangelegenheiten bei der Public Health Branch. Den Transport und die Durchgangslager überwachte die Prisoners of War and Displaced Persons Division. Auf britischer Seite wuchs die Manpower Division bei der Behandlung des Flüchtlingsproblems in eine Schlüsselposition hinein, denn sie legte im Zusammenwirken mit den deutschen Behörden die jeweils gültige Verteilung der Neuankömmlinge auf die einzelnen Kreise fest; sie reorganisierte und steuerte gleichzeitig auch den Arbeitsmarkt.

Zum Teil wurden die Flüchtlinge aus Nahrungsmittelimporten ernährt, die wiederum von Großbritannien auf dem Weltmarkt in Dollar gekauft werden mußten. Dies stellte neben den laufenden Besatzungskosten eine erhebliche Belastung für die britischen Finanzen dar. Um hier einen gewissen Ausgleich, zu schaffen, waren die Briten auf Entnahmen aus der Kohle-und Stahlproduktion ihrer Zone angewiesen. Deshalb räumten sie der Wieder-ankurbelung des rheinisch-westfälischen Industriepotentials höchste Priorität im Rahmen ihrer Deutschland-und Besatzungspolitik ein. Hierfür notwendige Arbeitskräfte wurden zunächst in Kriegsgefangenen-und Flüchtlingslagern rekrutiert. Im Sommer 1945 arbeitete die Militärregierung einen Plan zur weiteren Evakuierung von rund 80 000 nicht unmittelbar für die Produktion benötigten Menschen aus dem inneren Ruhrgebiet nach Ost-Westfalen aus. In die dadurch freiwerdenden Wohnungen sollten zunächst Bergleute, die sich in Schleswig-Holstein in Lagern befanden, mit ihren Familien einziehen. Ihr Abtransport, der Arbeitseinsatz und die gesamte Versorgung wurden von der North German Coal Control in Essen organisiert. In der Folgezeit wurden von den Besatzungsbehörden in Zusammenarbeit mit den deutschen Verwaltungen und den Bergbauunternehmungen zahlreiche „Ruhr Miners Programms" zur Anwerbung von Bergleuten oder zur Umschulung als „Neubergleute" durchgeführt. Die ersten „Schwalbe'-Transporte trafen bereits im November 1945 ein. Sie kamen geschlossen in den Durchgangslagern an und wurden nach wenigen Tagen Aufenthalt von dort unter dem Gesichtspunkt der errechneten Unterbringungskapazitäten in die Aufnahmekreise weitergeleitet. Eine Verteilung nach beruflicher Qualifikation war zum damaligen Zeitpunkt kaum möglich. Von den Polen wurden viele arbeitsfähige deutsche Männer zunächst noch von den Transporten ausgenommen, da sie dort für den wirtschaftlichen Wiederaufbau dringend gebraucht wurden. Außerdem war diese Personengruppe ohnehin zum größten Teil entweder zur Wehrmacht eingezogen oder von den deutschen Behörden beim Zurückweichen der Front frühzeitig evakuiert worden. So ist es zu erklären, daß der Anteil der Arbeitsunfähigen bei den „Schwalbe'-Transporten sehr hoch lag, wodurch die soziale Belastung in den Flüchtlingsaufnahmegebieten noch zusätzlich anstieg. Im Juli 1946, als die Zahl der „Schwalbe" -Aussiedler in der britischen Zone bereits die Zahl von einer Million überschritten hatte, sah der britische Deutschlandminister Hynd einzig in der Wiederbelebung der Industrie in großem Maßstab und in verbesserter Nahrungsmittelversorgung Lösungsmöglichkeiten des Flüchtlingsproblems

Da den Flüchtlingen jede politische Organisierung verboten worden war, gründeten sie zunächst Selbsthilfevereinigungen auf lokaler Ebene. Aber auch diese wurden von der Militärregierung und von den deutschen Behörden größtenteils verboten, teils wurden sie einfach ignoriert, d. h., sie erhielten von dort keine Förderung. Ab 1947 wurden zahlreiche überörtliche Interessengemeinschaften aktiv. Soweit sie berufsständisch orientiert waren, tolerierten und kontrollierten die Briten ihre Tätigkeit.

Mißtrauisch von der Militärregierung wie von den deutchen Behörden und den Parteien beobachtet, entfaltete der aus Schlesien stammende Geistliche Rat Georg Goebel im ostwestfälisch-lippischen Raum — einer Region mit hoher Flüchtlingsdichte — eine äußerst rege Verbandstätigkeit. Unter seiner Führung konstituierte sich im Juni 1947 in Münster ein „Hauptausschuß der Ostvertriebenen", in dem sich 24 berufsständische, landsmannschaftliche und soziale Vereinigungen zusammenfanden. Der Hauptausschuß erhob den Anspruch, Vorläufer eines Repräsentativorgans der Ostvertriebenen zu sein. Goebel versuchte, über von ihm gesteuerte Orts-und Kreisverbände dem Hauptausschuß den Charakter einer populistischen Bewegung — fernab von innerverbandlicher Demokratie — zu verleihen.

Als in der amerikanischen und britischen Zone das „Koalitionsverbot" trotz heftiger Proteste aus Polen und der Tschechoslowakei nicht mehr streng gehandhabt wurde, gründete Goebel zusammen mit dem ehemaligen Oberpräsidenten von Oberschlesien und späteren Bundesvertriebenenminister, Hans Lukaschek, einen „Gesamtverband der Ostvertriebenen", für den Lukaschek im Januar 1949 die Genehmigung der Briten auf Zonenebene erhalten hatte. Immer bestrebt, den politischen Einfluß von Vertriebenenverbänden möglichst gering zu halten, brachte das nordrhein-westfälische Sozialministerium den von ihm abhängigen Landesflüchtlingsbeirat dazu, die Initiative zur Gründung des „Landesverbands der Ostvertriebenen" (später „Landesverband vertriebener Deutscher") zu übernehmen und dort wichtige Positionen zu besetzen. Damit war Goebels politischen Ambitionen im Landesverband weitgehend der Boden entzogen. Seine Nachfolge als Vorsitzender des Landesverbands trat 1950 der Steuerjurist und Fachmann für Lastenausgleichsfragen, Bernhard Geisler, an. Unter Geislers Führung steuerte der Landesverband einen deutlich gemäßigten Kurs. Bis 1951 konnte der Landes-verband rund 21 Prozent der Ostvertriebenen als Mitglieder gewinnen. Das bedeutet, umgerechnet auf Familienmitglieder, daß er die Interessen von mehr als der Hälfte der Ostvertriebenen im Lande vertrat. Zehn Jahre später hatte sich der Mitgliederbestand jedoch halbiert — wohl ein Indiz dafür, welch tiefgreifende Wirkungen von der Lastenausgleichsregelung auf die Verbandsarbeit und auch auf die Integrationswilligkeit der Betroffenen ausgegangen waren Die Stimmenanteile des BHE lagen bei Wahlen in Nordrhein-Westfalen stets weit unter dem Bundesdurchschnitt. Zum Teil schon seit 1945 existierten in der britischen Zone von der Militärregierung angeordnete Flüchtlingsausschüsse. In Nordrhein-Westfalen wurden diese mehr oder weniger zufällig zusammengesetzten Gremien im Jahr 1947 nach einem einheitlichen Ver-fahren gewählt und in Beiräte umbenannt. Als Kontrollorgane der Flüchtlingsämter auf den Ebenen der Regierungsbezirke, der Kreise, Städte und Gemeinden bestanden ein Landtagsflüchtlingsausschuß sowie Kontrollausschüsse bei den Kreistagen und Städten. Ferner erhielten berufsständische Vertretungen einen halboffiziellen Status. Die bedeutendsten waren der Verband der Heimatvertriebenen Wirtschaft, in dem sich selbständige Unternehmer zusammenschlossen, und der Verband der Ostvertriebenen Landwirte. Durch die vielfältige Einbindung von Flüchtlingsvertretern in die Tätigkeit der Verwaltungen sollte, dies war die Absicht von staatlicher Seite, ein Interessenausgleich unter staatlicher bzw. kommunaler Kontrolle herbeigeführt werden. Separatorganisationen mit politischem Anspruch mußten aus dieser Sicht als Störfaktor empfunden werden. Das Sozialministerium stützte sich auf die Beiräte bei den verschiedenen Verwaltungsebenen und stärkte ihre Position gegenüber den Verbänden. Dies konnte um so leichter geschehen, als die Rivalität zwischen dem Landes-verband der Ostvertriebenen und den Landsmannschaften die Durchsetzungsfähigkeit von Flüchtlingsinteressen in diesen Organisationen in vielen Bereichen blockierte.

In Nordrhein-Westfalen wurde kein eigenes Ministerium, Staatssekretariat oder Staats-kommissariat, keine staatliche Sonderbehörde für Flüchtlingsfragen, wie sie in anderen Ländern bestanden, errichtet. Es gab lediglich ein Landesflüchtlingsamt im Sozialministerium unter Leitung eines Ministerialrats und entsprechende Referate im Arbeits-und Wiederaufbauministerium.

Die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein wirkten aufgrund ihrer geographischen Lage gegenüber Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf die Flüchtlingsbewegung als eine Art Auffangbecken und Pufferzone. Dort wurden die ersten Sammellager errichtet. In den Länderverhandlungen um eine ausgewogene Verteilung der Flüchtlingsströme kehrte Nordrhein-Westfalen immer wieder und letztlich mit Erfolg den Vorrang des Aufbaus seiner Industrie als Herzstück der deutschen Wirtschaft hervor. Auch Bayern, das auf eine rasche Rückführung der Evakuierten drängte, mußte sich diesem Argument beugen.

Während Nordrhein-Westfalen permanent seine ihm auferlegten Aufnahmequoten nicht erfüllte und sich — auch gegenüber der Militärregierung — auf die Taktik des Hinhaltens verlegte, verhandelten gleichzeitig Beamte des Sozialministeriums in den anderen Ländern, vornehmlich in Schleswig-Holstein, über die sofortige und unbürokratische Übernahme von Spezialarbeitskräften — nach der Devise, zunächst die infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen und dann erst das „Sozialgepäck" nachzuholen.

Im eigenen Interesse unterstützte die britische Militärregierung die fast ausschließlich am Arbeitsmarkt und am Wiederaufbau orientierte Flüchtlingspolitik Nordrhein-Westfalens. Die Zustimmung fand allerdings ihre Grenze in der sozialen Verantwortung der Briten für die gesamte Zone. Die katastrophalen Zustände in den Gegenden mit hoher Flüchtlingskonzentration gefährdeten die öffentliche Sicherheit, es drohte der Ausbruch von Seuchen. Nach dem Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz vom November 1947, wo Großbritannien und die USA die Weichen der Deutschlandpolitik in Richtung auf die Gründung eines Weststaates stellten, rechnete die britische Militärregierung mit einem Massenexodus aus der sowjetisch besetzten Zone. Um einem dann drohenden Zusammenbruch der deutschen Flüchtlingsverwaltung vorzubeugen, entwickelte die Militärregierung zur Entlastung der Notstandsgebiete einen Plan („Operation Caravan") zur Umverteilung der Flüchtlinge in der britischen Zone und sogar zur direkten Übernahme der Flüchtlingsverwaltung durch die Briten, falls dies notwendig werden sollte. Vor den Deutschen wurde diese ultima ratio der britischen Überlegungen zunächst streng geheim gehalten, denn nur allzu gerne, so argwöhnten die Offiziere der Manpower Division, hätten sich die deutschen Behörden der Verantwortung für die Bewältigung des Flüchtlingselends entledigt. „Operation Caravan" sah unter anderem die Unterbringung von 137 000 Flüchtlingen aus Schleswig-Holstein in Nordrhein-Westfalen vor. Außerdem sollten hierher sämtliche aus der sowjetisch besetzten Zone kommenden Personen direkt weitergeleitet werden, die die Grenze in Schleswig-Holstein überschritten hatten.

Zusätzlich zu diesen Verpflichtungen sah sich Nordrhein-Westfalen einem ständig wachsenden Zustrom „illegaler" Zuwanderer ausgesetzt, die hauptsächlich aus der sowjetischen Besatzungszone ins Land kamen. Ihr Zuzug war für die Behörden äußerst schwer zu kontrollieren, außerdem stellte er jede konkrete Planung in Frage. Teils suchten diese Menschen auf eigene Faust — meist in den größe-41 ren Städten — Unterkunft und Verpflegung, teils meldeten sie sich in den bereits überfüllten Lagern.

Diese „illegalen" Zuwanderer wurden vom nordrhein-westfälischen Sozialministerium in zwei Kategorien eingeteilt: in jene, die aufgrund körperlicher Eignung, beruflicher Qualifikation und Arbeitswilligkeit umgehend in das Wirtschaftsleben eingegliedert werden konnten. An diesem Personenkreis zeigte das Land stärkstes Interesse, denn der Bedarf an Arbeitskräften war „riesengroß" Ihm stand die „asoziale Einwanderung" gegenüber. In diese Kategorie fiel gemäß der Definition des Sozialministeriums (neben Körperbehinderten, Kriegsbeschädigten und Kranken) vor allem die große Gruppe der „angeblichen" Flüchtlinge, „die an sich schon mit unreellen Absichten hierherkommen. Den ersten Eindruck, den man von ihnen hat, wenn man sie herumstehen sieht in den Lägern, ist der, daß es sich um den Typ jener Schwarzhändler handelt, die man in den Großstädten findet... Wir müssen nach Möglichkeit versuchen, diese Leute in Lägern zusammenzufassen. Es muß allerdings noch erreicht werden, ... daß diese Läger mit Polizeibefugnissen ausgestattet (werden) bzw. sich unter Aufsicht der Polizei befinden, damit das unerlaubte Entfernen, wie es in unseren bisherigen Lägern ständig der Fall ist, unterbunden wird ... Ein großer Teil dieser jungen Leute im Alter von 18 bis 28 Jahren ist zweifellos durch die Anwendung geeigneter Erziehungsmittel und durch die Vermittlung einer angemessenen Arbeit wieder zu erziehen und wieder zu ordentlichen Menschen zu machen".

Unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung unerwünschter, d. h. im Arbeitseinsatz nicht „verwertbarer" Zuwanderung gab der zuständige Referent des Sozialministeriums im Flüchtlingsausschuß des Landtags folgende Empfehlung: „Solange die britische Zone nicht wirksamer von der Ostzone abgeriegelt ist als zur Zeit, besteht die Möglichkeit, die Grenze hin und her zu überschreiten. Es müßte ein verstärkter Einsatz von Polizei und wahrscheinlich auch eine Absperrung von unübersichtlichen Strecken erfolgen, damit wir einen kontrollierten Übergang an der russischen Zonengrenze bekommen. Das ist an und für sich aus anderen Gründen bedauerlich. Wir wollen alles tun, um diese unselige Zonenaufteilung zu beenden, aber solange wir aus der russischen Zone einseitig derartige asoziale Elemente herüberbekommen, ist es eine Frage der Selbsthilfe, wie wir uns von diesen Elementen freimachen.“

Sicher überspitzt, aber im Kern doch zutreffend, charakterisierte ein Besatzungsoffizier der Manpower Division die Landesflüchtlingspolitik mit der Bemerkung, das Land habe im Grunde nur ein Interesse an Bergleuten, Stahlarbeitern und Polizisten Den Vorschlag einer strikten Abriegelung der Zonengrenze verwarf die Militärregierung erst nach längerer Diskussion, nachdem klar geworden war, daß London — nicht zuletzt unter dem Druck der öffentlichen Meinung in England — an der bisherigen Politik des „open door"

festhalten wollte, im Gegensatz zu den Amerikanern, die tatsächlich im Jahr 1947 die Grenze vorübergehend schlossen.

An der massenweisen „illegalen" Zuwanderung drohte das nordrhein-westfälische Konzept einer in den wirtschaftlichen Wiederaufbau integrierten Flüchtlingspolitik zu scheitern. Überdies wurde hierbei die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der Landesregierung deutlich. Die Minister für Arbeit und Wiederaufbau gehörten der KPD an, Sozialminister Amelunxen war Mitglied der Zentrumspartei. Eine Kooperation zwischen den Ministerien fand kaum statt. Der SPD angehörende Regierungspräsidenten weigerten sich, Anordnungen der von Karl Arnold (CDU) geführten Landesregierung durchzuführen. Auch CDU-Politiker scheuten sich, insbesondere vor Wahlen, im Lande unpopuläre Maßnahmen zur Linderung der Flüchtlingsnot gegenüber den Einheimischen durchzusetzen.

Die von Kommunal-und Kreisbehörden bis hinauf zur Ebene der Regierungspolitik häufig praktizierte Verweigerung oder gar Obstruktion veranlaßte die Militärregierung, ihre Kontrollfunktion stärker als bisher wahrzunehmen. Im Sommer 1948 drohte der Militärgouverneur von Nordrhein-Westfalen Ministerpräsident Arnold mit Amtsenthebung wegen Mangels an Autorität. Unter Aufsicht des leitenden Offiziers der Manpower Division wurde die Flüchtlingspolitik der drei zuständigen Fachministerien koordiniert und die Militärbehörden in den Kreisen wurden öfter als bisher bei der Lösung der Probleme vor Ort eingeschaltet. Nach der Währungsreform mußten die Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt größere Rückschläge hinnehmen, weil nunmehr häufig ein Austausch von Arbeitsplätzen zugunsten der zurückkehrenden Einheimischen (Evakuierte und Kriegsgefangene) stattfand und weil zahlreiche Schein-Arbeitsverhältnisse gelöst wurden. Als Ersatz für fehlende einheimische Arbeitnehmer waren die Flüchtlinge aber zur Wiederaufnahme und zum Ausbau der Friedensproduktion unentbehrlich geworden.

Staatliche Umsiedlung, Wohnungsbauförderung und Arbeitskräftelenkung waren nach der Währungsreform trotz des Postulats der Marktwirtschaft planerische Elemente der Landespolitik zur Eingliederung der Flüchtlinge Der Militärgouverneur für Nordrhein-Westfalen bekräftigte im Sommer 1949 die Integrationsstrategie der Regierung Arnold, als er nach Berlin schrieb: „Ich glaube, es wäre möglich, die Landesregierung dazu zu überreden, große und weitreichende Pläne zur Aufnahme von Flüchtlingen als Arbeitskräfte anzunehmen, unter der Voraussetzung, daß sie die Möglichkeit erhält, die Flüchtlingsbewegung mit der Beschäftigungslage zu verbinden. Wenn dieser Prozeß verstärkt und weiter entwickelt wird, dann könnte dies, meiner Ansicht nach, wahrscheinlich die Lösung des Flüchtlingsproblems in Deutschland sein."

Kurz vor Abschluß des Besatzungsstatuts legte der Militärgouverneur für die britische Zone in einem längeren, für das Foreign Office in London bestimmten Memorandum grundsätzliche Gedanken zum Flüchtlingsproblem vor. Er ging davon aus, daß dieses Problem in den nächsten zwanzig Jahren noch die britische Politik beschäftigen würde. In seinen Augen konnte nur ein politisch und wirtschaftlich stabiles Westdeutschland, das dafür Lösungen gefunden hatte, die ihm zugedachte zentrale Rolle beim Wiederaufbau Westeuropas und bei der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus spielen

Trotz zu Anfang erheblicher sozialer Belastungen stellten die Flüchtlinge für die Wirtschaft des Landes Nordrhein-Westfalen ein außerordentlich positives Entwicklungsmoment dar. Zugleich entfaltete der Arbeitsplatz seine Kraft als wirkungsmächtigste Integrations-, Agentur".

V. Ergebnisse und Wirkungen

Mit Gründung der Bundesrepublik schieden die Besatzungsmächte aus der Verantwortung für die Flüchtlinge aus. Die wesentlichen Kompetenzen in der Flüchtlingsgesetzgebung gingen nun von den Ländern auf den Bund über, dessen intensive sozialpolitische Ausrichtung, insbesondere in den fünfziger Jahren, zur Entschärfung des gesellschaftspolitischen Konfliktpotentials und zur Förderung des Integrationsprozesses beitrug. Der „Lastenausgleich" führte weder zu einer Änderung der Sozialstruktur, noch tangierte er grundsätzlich die bestehenden Vermögensverhältnisse; dennoch erleichterte er nicht unbeträchtlich die individuelle Eingliederung. Sobald der wirtschaftliche Wiederaufbau in Gang gekommen war, löste er wiederum verstärkende Integrationsimpulse aus. Allerdings geschah dies auf Seiten der Flüchtlinge unter großen sozialen Opfern. Die Integration vollzog sich bis in die sechziger Jahre hinein offenbar als ein „Unterschichtungsprozeß", wie er kennzeichnend auch für herkömmliche Massenmigrationsphänomene ist: Der Einstieg ins Erwerbsleben erfolgte für die Flüchtlinge — und hier vor allem für die älteren Jahrgänge, für die ehemals Selbständigen in Handel und Gewerbe und in der Landwirtschaft — mit gegenüber den Einheimischen zunächst deutlich verminderten Erwerbs-chancen

Neben den Antriebskräften des wirtschaftlichen Wiederaufbaus sowie den staatlichen und kommunalen Hilfs-und Unterstützungsmaßnahmen hat die Eigeninitiative (u. a. Gründung von Selbsthilfeorganisationen, Flüchtlingsansiedlungen und -betrieben) die Eingliederung beträchtlich erleichtert. Der konkrete Vorgang der Eingliederung deckt eine breite Skala von Verhaltensweisen und Einstellungen der Flüchtlinge wie der Einheimischen ab. Die wechselseitigen Prozesse des Zusammentreffens verschiedener Bevölkerungsgruppen konnten graduell abgestufte Ergebnisse hervorbringen: vom völligen Aufgehen und Verschmelzen der Flüchtlinge in der umgebenden Gesellschaft bis hin zur zeitweiligen oder vereinzelt sogar andauernden sozialen Ausgrenzung. In der Regel formten die Flüchtlinge die Gesellschaft, die sie vorfanden, ebenso um, wie diese von ihr geprägt wurde.

In den Ergebnissen der neueren historischen Forschung wird diese Doppelfunktion der Flüchtlingseingliederung für die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft hervorgehoben. Einerseits verstärkten die Flüchtlinge aufgrund ihrer Orientierung an traditionellen Werten und Verhaltensmustern (Versuch der Rekonstruktion des Status quo ante) das restaurative Element. Die Negativerfahrungen von Flucht, Vertreibung, Aussiedlung, Abwanderung formten tiefgreifend ihre eigene Einstellung gegenüber kommunistischen Herrschaftspraktiken und sozialistischen Gesellschaftsentwürfen ebenso wie auch die des Großteils der übrigen Bevölkerung. Auf der anderen Seite war das Verhalten der Flüchtlinge stärker als das der Einheimischen durch eine außerordentlich hohe berufliche und räumliche Mobilität bestimmt, durch Wettbewerbsdenken, große Leistungsund Anpassungsbereitschaft.

Im Zusammentreffen der Flüchtlinge und anderer, ebenfalls neu hinzukommender Bevölkerungsgruppen mit den Einheimischen wurden nicht zuletzt überkommene konfessionelle Milieus und Siedlungsstrukturen aufgelockert. In geradezu idealtypischer Weise scheint sich in dem gelungenen Prozeß der Flüchtlingsintegration eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung widerzuspiegeln, die als „Modernisierungsschub unter konservativen Vorzeichen" charakterisiert worden ist. Insgesamt läßt sich feststellen, daß es weniger eine Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in die Bundesrepublik gegeben hat, sondern daß eher umgekehrt die Bundesrepublik im Grunde selber erst das Ergebnis dieses erfolgreichen Integrationsprozesses ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. P. J. Opitz, Flüchtlingsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/83, S. 33— 45.

  2. F. Engel, Nachweis der Vertriebenen und der aus der DDR zugezogenen Deutschen in der amtlichen Statistik, in: Zeitschrift des Bayer. Statist. Landesamtes, Bd. 112 (1980), S. 25— 38; Vertriebene und Flüchtlinge in Nordrhein-Westfalen, hrsg. vom Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1984, S. 9— 13.

  3. Die Vertriebenen in Westdeutschland, 3 Bde., hrsg. von E. Lemberg/F. Edding, Kiel 1959; s. auch die in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik erschienenen „Untersuchungen zum deutschen Vertriebenen-und Flüchtlingsproblem", hrsg. von Bernhard Pfister, Berlin 1954— 1962, ferner die vom Bundesministerium für Vertriebene herausgegebene Bibliographie zum Vertriebenenproblem, Bonn 1959.

  4. Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, 5 Bde., Bonn 1954— 1963 (Taschenbuchausgabe München 1984).

  5. Heimatvertreibung, DDR-Flucht, Gastarbeiterzuwanderung, Stuttgart 1982.

  6. F. J. Bauer, Flüchtlinge und Flüchtlingspolitik in Bayern 1945— 1950, Stuttgart 1982. Für Nordrhein-Westfalen ist gegenwärtig ein Forschungsprojekt an der Universität Düsseldorf in Bearbeitung; s. F. Wiesemann/U. Kleinert, Flüchtlinge und wirtschaftlicher Wiederaufbau in der britischen Besatzungszone, in: Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet 1945— 1949, hrsg. von D. Petzina/W. Euchner, Düsseldorf 1984, S. 297— 326. Die Integration in Niedersachsen untersucht eine Forschungsgruppe des Arbeitskreises „Geschichte des Landes Niedersachsen nach 1945" (Universität Göttingen); s. D. Brosius/A. Hohenstein, Flüchtlinge im nordöstlichen Niedersachsen 1945— 1948, Hildesheim 1985. Zu Schleswig-Holstein s. D. Vorpahl, Die Segeberger Flüchtlingskonferenz 1947, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, 107 (1982), S. 291— 326.

  7. H. Grieser, Die ausgebliebene Radikalisierung. Zur Sozialgeschichte der Kieler Flüchtlingslager im Spannungsfeld von sozialdemokratischer Landespolitik und Stadtverwaltung 1945— 1950, Wiesbaden 1980; S. Schier, Die Aufnahme und Eingliederung von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Hansestadt Lübeck, Lübeck 1982; N. Baha, Wiederaufbau und Integration. Die Stadt Delmenhorst nach 1945, Delmenhorst 1945.

  8. A. M.de Zayas, Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen, München 1977; K. -D. Henke, Der Weg nach Potsdam. Die Alliierten und die Vertreibung, in: W. Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Frankfurt 1985, S. 49— 69; J. Foschepoth, Potsdam und danach. Die Westmächte, Adenauer und die Vertriebenen, in: ebd., S. 70— 91. Der Verf.des vorliegenden Beitrages arbeitet an einer Studie über die britische Flüchtlingspolitik; s. F. Wiesemann/U. Kleinert (Anm. 5), S. 297— 306.

  9. Z. B. das Forschungsprojekt von M. Roseman (Univ. Birmingham) über Neubergleute im Ruhrgebiet.

  10. In Vorbereitung befinden sich Oral-History-Untersuchungen von U. Lachauer (Mannheim) über die Integration der Flüchtlinge aus dem Memel-land und von A. v. Plato (Fernuniv. Hagen) über Flüchtlinge im Ruhrgebiet.

  11. H. Rudolf, Evangelische Kirche und Vertriebene 1945— 1972, Bd. 1, Göttingen 1984.

  12. F. Wiesemann/U. Kleinert (Anm. 5), S. 297 bis 306.

  13. Memorandum „The Problems of the German Refugee Populations in the British Zone", 26. 7. 1946, Public Record Office/London (PRO) FO 371/55617/C 9507.

  14. J. -D. Steinert, Vertriebenenverbände in Nordrhein-Westfalen 1945— 1954, Phil. Diss., Düsseldorf 1985.

  15. Im folgenden nach dem Protokoll der 1. Sitzung des Landtagsflüchtlingsausschusses vom 16. 7. 1947, Landtagsarchiv, Düsseldorf.

  16. Vorlage vom 27. 9. 1948, PRO FO 1013/774.

  17. Protokolle 1948/49, PRO FO 1013/1709 und 1711.

  18. F. Wiesemann/U. Kleinert (Anm. 5), S. 306 ff.

  19. 8. 6. 1949, PRO FO 1013/368 (engl. Text).

  20. Memorandum „The Refugees an the Demographie Problem presented by Western Germany", 26. 2. 1949, PRO FO 1013/368.

  21. P. Lüttinger, Die Entwicklung der Erwerbs-chancen von Vertriebenen und Flüchtlingen 1939— 1971, Soz. wiss. DiplArbeit, Univ. Mannheim 1984.

  22. P. Waldmann, Die Eingliederung der ostdeutschen Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft, in: Vorgeschichte der Bundesrepublik, hrsg. von J. Becker u. a., München 1979, S. 188.

Weitere Inhalte

Falk Wiesemann, Dr. phil., geb. 1944 in Fürstenfeldbruck; Studium der Geschichte, Germanistik, Soziologie und Politik an der Universität München; 1975— 1978 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München; seitdem Akademischer Rat am Historischen Seminar der Universität Düsseldorf. Veröffentlichungen u. a.: Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/33, Berlin 1974; Mitherausgeber von: Bayern in der NS-Zeit, Bd. I, München 1977; Mitherausgeber von: Die jüdischen Gemeinden in Bayern, München 1979; Mit-verfasser von: Flüchtlinge und wirtschaftlicher Wiederaufbau in der britischen Besatzungszone, in: D. Petzina/W. Euchner (Hrsg.), Wirtschaftspolitik im britischen Besatzungsgebiet 1945— 1949, Düsseldorf 1984; Flüchtlingspolitik in Nordrhein-Westfalen, in: W. Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Frankfurt 1985; Herausgeber von: Zur Geschichte und Kultur der Juden im Rheinland, Düsseldorf 1985.