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Der Zusammenbruch des deutschen Ostens | APuZ 23/1985 | bpb.de

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APuZ 23/1985 Artikel 1 Der Zusammenbruch des deutschen Ostens Flucht und Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat im Osten und Südosten 1944-1947 Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Westdeutschland

Der Zusammenbruch des deutschen Ostens

Hans Raupach

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Zusammenfassung

Die Größe und Bedeutung der deutschen Einbußen an Land und Volk in Mittel-Osteuropa nach der totalen Niederlage des Dritten Reiches sind vom Geschichtsverständnis kaum zu erfassen. Eine nur zeitgeschichtliche Betrachtung vermag die ganze geschichtliche Dimension des Geschehenen nicht zu begreifen, denn diese reicht in die Antriebskräfte und Ergebnisse der deutschen Ostbewegung seit dem Mittelalter zurück, die neuen Volksboden, neue Stämme und eine veränderte Kulturlandschaft jenseits der Sudeten und Karpaten geschaffen hat. Der soziale und nationalbewußte Aufstieg der zehn benachbarten kleineren Völker im 19. Jahrhundert, die damit einhergehende Schmälerung der deutschen Position, mehr noch aber die schon lange währende, nach den Grenzziehungen von 1919/20 und in der Weltwirtschaftskrise verschärfte Notlage der deutschen Ostprovinzen bedrohten die Existenzfähigkeit des Reiches und/oder einzelner deutscher Volksgruppen. Der in den nationalen Gegensätzen der Habsburger Monarchie aufgewachsene Hitler bündelte in seiner Parteiideologie die Wahnidee neuen Lebensraumes im Osten, die Zerstörung der deutsch-jüdischen Symbiose sowie die Unterdrückung slawischer Völker und führte im Rußlandfeldzug das Reich in die kriegsentscheidende Niederlage. Die nachdrängende Sowjetmacht unterstützte die Vertreibung der Deutschen und errichtete in Ost-Mitteleuropa die seit der Zeit des Panslavismus erstrebte russische Hegemonie. Die Welt hat sich mit diesen Tatsachen abgefunden. Das Selbstverständnis der Deutschen steht davor, mit ihnen ins reine zu kommen.

„Niemand (ist) im geringsten von der Sicherung unserer Zustände überzeugt; das Eroberte kann wieder verloren gehen. Bayern kann sich wieder ganz aufeigene Füße stellen, die Rheinprovinz geht flöten, Ost-und Westpreußen auch, und ein Polenreich (was ich über kurz oder lang für wahrscheinlich halte) entsteht aufs neue... das sind Dinge... die auch fast in jedes Deutschen Vorstellung als eine Möglichkeit leben."

Theodor Fontane, Brief vom 5. August 1893. Aus: Briefe in zwei Bänden, Berlin-Weimar 1980, Bd. If, S. 297.

Die deutsche Katastrophe heißt Verlust etwa eines Viertels des Volksbodens, Flucht, Vertreibung, auch Tötung von 12 Millionen Menschen, allmähliche Assimilierung da und dort verbliebener Reste. Berlin, die nördliche Metropole der Deutschen, liegt heute nach dem Verlust der Ostprovinzen, der Quellen seiner geschichtlichen Existenz und Lebenskraft, am Ostrand der politisch geteilten Nation.

Ein Vorgang von solcher Dimension und Tragweite ist mit vereinfachenden Begriffen der Historie nicht zu fassen und unfaßbar auch für das Geschichtsbewußtsein des einzelnen; bedarf es doch schon einer Gedanken-mühe, sich nur vorzustellen, daß mit der Verdrängung der Deutschen aus dem Osten eine weltgeschichtliche Wende von millenarer Bedeutung sich vollzogen hat. Wie ein Schiebe-gewicht zwischen der atlantischen und eurasischen Macht ist ein Viertel der deutschen Nation zurückversetzt worden, fast bis in ihre Ausgangsstellung zu Beginn der Ostsiedlung im Hoch-Mittelalter. Seither stehen sich die beiden Supermächte an der Elbe unmittelbar gegenüber, und wir leben gleichsam auf einer Erdbebenspalte der Weltpolitik.

Zahlen geflüchteter und ausgesiedelter Menschen und Quadratkilometer aufgegebener Siedlungsräume reichen nicht aus, um die Größe und die Folgewirkungen dieses Verlustes nicht nur für die eigene Nation zu ermessen. Ausgesiedelt wurde ja eine Leistungskraft, die das geistige und materielle Ostmitteleuropa entscheidend geprägt hatte. Ihre Kontinuität beruhte vornehmlich auf den von deutschen Kolonisatoren erschlossenen und kultivierten Siedlungsböden. Stadtbürger kamen und gingen; das bäuerliche Land brachte allein den ständigen Nachwuchs der städtischen und industriellen Schichten hervor. Würden Deutsche in Osteuropa je wieder gebraucht, kehrten sie nicht mehr als Bauern wieder. Das ist das unwiederbringlich Verlorene. über die Entstehung und den Untergang des deutschen Volks-und Kulturbodens in Ost-, Mittel-und Südosteuropa nachdenken heißt, das Blickfeld der politischen Geschichte im engeren Sinne zu verlassen, deren vornehmster Gegenstand das Handeln von Persönlichkeiten ist, die Geschichte machen.

Dieser Entwurf einer vorwiegend sozialgeschichtlichen Erklärung der Ursachen lenkt den Blick auf Bedingungen und Formen der nationalen Existenz, die zwei Generationen zuvor noch weithin bekannt, heute aber von den Trümmern des Zusammenbruchs verdeckt und vergessen sind. Die uns und die Nachkommen bedrückende Frage, ob es so kommen mußte, die Fragen nach dem jeweiligen Grad politischer Entscheidungsfreiheit, nach den Motiven und der Moral der Verantwortlichen sind in dieser Sicht der Dinge freilich nicht zu beantworten.

Die Sozialgeschichte beschreibt das Wirkungsgeflecht der namenlosen Gesamtheiten, die daraus hervorgehenden Wandlungen der Daseinsgrundlagen als wesentliche Bedingungen der politischen Aktionen, ferner soziale Strukturen und Prozesse, die sich als das Ergebnis des Verhaltens und Zusammenwirkens vieler bilden und die vom einzelnen nur gering zu beeinflussen sind; in ihrer Gesamtheit erscheinen sie gleichsam als naturwüchsige Vorgänge. Diese Einsicht veranlaßt wiederum darüber zu reflektieren, ob die Grenzen politischer Handlungsfreiheit in jedem hi3 storischen Moment nicht viel enger gezogen waren, als die Nachlebenden es wahrhaben möchten.

Auf unser Thema bezogen bedeutet das: Erklären wir uns die Katastrophe der deutschen Stellung in Ost-Südosteuropa aus dem Versagen von politischer Führung vor dem Ersten Weltkrieg, als Folge des wahnwitzigen Imperialismus eines Diktators im zweiten oder als das Endergebnis eines sozialen Geschehens, das über lange Zeiträume schon die allmähliche, unabwendbar erscheinende Erosion des deutschen Daseins ostwärts der Oder und jenseits der Sudeten und Karpaten herbeigeführt hat? In solcher Sicht erscheinen dann die Verantwortlichen eher als Rollenträger in einer nationalen Schicksalstragödie.

Durch über ein Jahrhundert tiefgreifender sozialer Wandlungen sowie nationalstaatlicher Bestrebungen vorbereitet, von weltpolitischen Gegensätzen ausgelöst, ist die Katastrophe mit der Ursachenforschung politischer Zeitgeschichte allein nicht zu erklären. Auch das Regime Hitlers, die Personifizierung des nahenden Unheils, ist in seiner Entstehung und Bewegungsrichtung auf dem Hintergründe gesellschaftlicher und volksgeschichtlicher Prozesse zu sehen, die als Schicksalsmächte das Tun oder Unterlassen von Personen und Organisationen ermöglichten oder herbeiführten.

Nach 1945 hat die vordringende Sowjetmacht und ihr Gefolge den deutschen Osten und das Deutschtum in Osteuropa bis auf geringe Reste ausgelöscht. Jedermann weiß, daß die Lawine des Unheils durch den Angriff Hitlers losgetreten wurde. Doch genügt es, diesen epochalen Vorgang, zeitgeschichtlich reduziert, auf Angriff und Gegenstoß, imperialistische Gewalt und Gegengewalt zu erklären? Auch ohne einer Sinngebung des Sinnlosen nachzuspüren, fühlt man sich gedrängt, zu einer Erkenntnis überpersönlicher, langwirkender Ursachen zu gelangen, die jene verhängnisvolle Aktion und Reaktion herbeigeführt haben mögen.

Den Ursachen dieses Geschehens in geschichtlicher Tiefe nachzugehen heißt, die Entstehung der verlorengegangenen Position im Osten als Ergebnis der deutschen Ostkolonisation seit dem Mittelalter zu begreifen. Die große Siedlungsbewegung, getragen von allen sozialen Gruppen jener Zeit, begann im 8. Jahrhundert in den östlichen Alpenländern und lief im Hochmittelalter weit in die seit der Völkerwanderung von den Westslawen, Madjaren und baltischen Völkern bewohnten Gebiete aus. Der Nordosten wurde vom Deutschen Ritterorden in der Art von Kreuzzügen gegen Heiden erobert — vergleichbar mit der etwa gleichzeitigen Eroberung Irlands durch den englichen Ritteradel; darin vergleichbar auch im Rückschlag nach Jahrhunderten. Während sich in Ostpreußen ein deutscher Neustamm in Verschmelzung mit den prussischen Eingeborenen bildete, blieben die Deutschen jenseits der Memel eine Oberschicht ohne bäuerlichen Untergrund. Im Geschichtsmythos der Ostslawen, aber auch im Geschichtsbild der Westeuropäer gelten die Kreuzzüge des Ordens als Typus des deutschen Vordringens nach dem Osten schlechthin.

Die deutsche Ostbewegung — dieser bedeutsamste Vorgang der europäischen Volksgeschichte nach der Völkerwanderung — vollzog sich jedoch ganz überwiegend als friedliche Durchdringung bis dahin ungenutzter Lebensräume. Durch fünf Jahrhunderte kamen die Einwanderer aus allen Altstämmen, auch aus den Niederlanden, in großen Schüben oder in allmählicher Zuwanderung — ein anonymes Geschehen ohne historisches Spektakulum. Eben deshalb entbehrt es der Anschaulichkeit und ist in das Schulwissen der Gebildeten nie recht eingegangen. In westeuropäischen Abhandlungen zur Sozial-geschichte erscheint es nirgends als ein herausragendes Phänomen. Im Selbstverständnis der Völker Ost-Südosteuropas aber wird der Anteil der Deutschen an der Landeserschließung und städtischen Zivilisation verkleinert oder als unerwünschtes Eindringen in angeblich autochthone Siedlungsgebiete dargestellt. In der Propaganda, z. B. in tschechischen Denkschriften zu den Pariser Verträgen (1920) oder in der polnischen Annexionspolitik, wurden diese Thesen höchst wirksam eingesetzt.

Betrachtet man die Ostbewegung frei von nationaler Mythenbildung, die auch auf deutscher Seite manchmal antithetische Übertreibungen zeitigte, so fügt sie sich ein in die Typologie anderer großer Siedlungsströme, die vom nördlichen Europa der Neuzeit ausgingen, insbesondere der Kolonisation Nordamerikas und Sibiriens. Sie wurden ausgelöst vom Bevölkerungsdruck und vom Ausdehnungsdrang technisch-organisatorischer Überlegenheit des Ausgangslandes. In den Prärien Amerikas und den Tundren östlich des Ural ergossen sie sich in dünn besiedelte Gebiete primitiver Stammeskulturen. Dahin-B gegen waren Polen, die böhmischen Länder und Ungarn am Ausgang des Mittelalters schon festgefügte Staaten mit geistlichen und weltlichen Hierarchien, deren Herrscher die Deutschen herbeiriefen, um im Vergleich mit dem fortgeschrittenen Westen offenbare Rückstände ihres Landes aufzuheben.

Der zeitliche Vorsprung des westlichen Europa in der sozialwirtschaftlichen Entwicklung ist allein schon aus seiner begünstigten geographischen Lage zu erklären. Das ozeanische ausgeglichene Klima mit langen Vegetationsperioden begünstigte eine differenzierte Bodenkultur und dementsprechende Agrarordnungen. Die Absatzwege zwischen Stadt und Land waren relativ kurz. Reichgegliederte Küsten und bedeutende Handelsstädte an schiffbaren Flüssen belebten den Fernhandel. Auf den Überbleibseln der von den Römern hinterlassenen städtischen Zivilisation war nach der Völkerwanderung ein wirtschaftlich und rechtlich durchorganisiertes Städtewesen sowie eine frühbürgerliche Gesellschaft entstanden, die ihre Autonomie gegenüber den feudalen Gewalten durchsetzte. Mittels Rodung und Trockenlegung wurden im Landumbau neue Nahrungsflächen außerhalb der Gemengelage der fortschritthemmenden Gewannfluren erschlossen und individuell zu bewirtschaftende Fluren in Langhufendörfern angelegt.

Die Rationalisierung der arbeitsteiligen Wirtschaft der Städte und der eigenverantwortliche Ackerbau waren Voraussetzung und Folge einer rechnenden Geldwirtschaft, die die naturale Tausch-und Abgabenwirtschaft allmählich abzulösen begann und die Bildung stabiler Landesherrschaft ermöglichte. Diese produktiven wirtschaftlichen und rechtlichen Errungenschaften waren die tragenden Elemente der Ostbewegung.

Der Einfluß der deutschen Siedlertätigkeit auf die Herausbildung einer neuen Kulturlandschaft ist am historischen Siedlungsbild Schlesiens deutlich zu erkennen. Die im Landesausbau durch Rodung erfahrenen Ankömmlinge aus dem mittleren Franken, ausgestattet mit eisernem Gerät, legten ihre Waldhufendörfer so an, daß die zu den in Reihen beiderseits eines Bachlaufes gereihten Höfe ihre geschlossene Langflur in genormten Flurgrößen hinter sich hatten. Dadurch wurde eine vom Flurzwang freie Bewirtschaftung möglich. Im schlesischen Flachland überwog die aus der slawischen Agrarverfassung überkommene Gutswirtschaft mit frondienstpflichtigen Kleinbauern, die in der Folgezeit auch die Rechtsverhältnisse der bis zur Bauernbefreiung nur zu gemessenen Diensten verpflichteten Kolonistendörfer beeinflußt hat. Nicht alle Teile der slawischen Vorbevölkerung sind in der Bildung des schlesischen Neustammes aufgegangen. Nördlich der Oder und in Oberschlesien behielt die autochtone Bevölkerung ihre Sprache und Wesensart.

Die Stadtsiedlungen wurden planmäßig nach einem Grundschema rechtwinkliger Straßenzüge angelegt und auch vordeutsche Stadt-siedlungen (Kastellanien) diesem möglichst angepaßt. Mit ihren großen Marktplätzen (Ringe) bildeten diese Städte in ziemlich gleichmäßigen Abständen die zentralen Orte für den Güteraustauschverkehr auch mit dem bäuerlichen Umland. Das deutsche stadtbürgerliche Element durchdrang auch alte und neue Städte ostwärts weit über das geschlossene deutsche Volksgebiet hinaus. Darüber weiter hinausgehend wurde deutsches Recht (Magdeburger, Lübisches, Nürnbergerisches) von den Städten Ostmitteleuropas als Ordnungsform des wachsenden Handelsverkehrs vom Westen bis an den Dnjepr und zum Schwarzen Meer rezipiert.

Ähnlich wirkten die Klostergründungen verschiedener kolonisatorisch begabter Orden an der Verbreitung der in Westeuropa entwickelten Kultur. Die deutsche Ostbewegung war somit der wichtigste, wenn auch nicht einzige Träger der ersten, vom Westen ausgehenden Modernisierung des vordem ganz vorwiegend bäuerlichen Osteuropa. Die wechselseitige Durchdringung und Verschmelzung in allen Sozialschichten der beteiligten Nationen, ein Ferment der sozialen Entwicklung des Ostens schlechthin, ist als Ganzes jedoch nicht mehr zu erfassen.

Jenseits des geschlossenen, erweiterten Volksbodens entstanden isolierte Siedlungen, auch als geschlossene Gebiete, die sich, wie die Siebenbürgener, als sozial vollständige Volksgruppen konsolidierten oder allmählich in anderen Völkern aufgingen.

Im 18. Jahrhundert folgte die zweite große Welle der Ostsiedlung, diesmal von den Habsburgern und von russischen Zaren herbeigerufen, um die von Turkvölkern geräumten Landschaften an der unteren Donau sowie zwischen Dnjepr und Wolga zu besiedeln. Nach 1813 verlockte noch einmal die Aussicht auf Neuland und Militärbefreiung Schwaben und friesische Mennoniten zur Auswanderung nach Bessarabien, dem Süd-ural und vereinzelt bis in den Kaukasus. Gleichzeitig mit dem Umbrechen unbebauter Steppenböden in Nordamerika entstanden so in der Batschka, im Banat und in der Ukraine neue Getreidekammern für die wachsende Industriebevölkerung der nördlichen Welt. Beim Betrachten früher verbreiteter, heute nicht mehr gezeigter Volkstumskarten gewinnt man einen ersten räumlichen Eindruck von der Nachbarschaft und auch von der Gemengelage der zahlreichen, numerisch meist kleineren Völker in Ost-Südosteuropa, mit den Deutschen als der einzigen unter allen beheimateten Nation. Das flächige und statische Kartenbild sagt freilich nichts aus über die nationale und soziale Schichtung und Dynamik in dieser ethnisch, politisch und wirtschaftlich wohl differenziertesten Region der Welt. Eben die Verzahnung in dieser Völker-vielfalt bildete den existentiellen Hintergrund des Aufstiegs und des Niederganges der Deutschen.

Die Dynamik des gesellschafts-und national-politischen Kräftespiels in diesem „Zwischeneuropa" ist nicht einfach zu beschreiben. Aber ebenso wie ihr Ursprung läßt sich die Umkehr der deutschen Ostbewegung auf bestimmende sozialökonomische Umstände zurückführen. Ist ihr Vordringen zurückzuführen auf einen gleichsam mechanisch wirkenden Ausgleich zwischen Auswanderungsdruck und wirtschaftlich-technischer Überlegenheit im Westen einerseits und relativem Entwicklungsrückstand im Osten andererseits, so liegt es nahe, zu fragen, welche vergleichbaren Faktoren analog die Gegenbewegung ausgelöst und schließlich die Katastrophe der deutschen Oststellung herbeigeführt haben mögen.

Meine Antwort: Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts bewirkten Industrialisierung, Bevölkerungsvermehrung und allgemeine Bildung sowohl den Aufstieg nationaler Bürgerschichten als auch die Auflösung der vom Grund-adel, von Heer und Bürokratie noch mühsam zusammengehaltenen übernationalen Monarchien. An diesen sozialen und politischen Prozessen hatten die Deutschen ihren Anteil, wenn auch in unterschiedlichen Ausgangs-und Interessenlagen. Wie kam es aber, daß die Umwälzungen des bürgerlichen Zeitalters zu ihrem Nachteil, schließlich zu ihrer Vertreibung und den großen Gebietsverlusten geführt haben? Die genannten Faktoren betrafen unmittelbar zunächst nur die außerhalb des Deutschen Reiches lebenden Deutschen. Aber als der Aufstand der Nationen die Monarchien der Habsburger und der Zaren zerstört hatte, rückten die Lebensfragen der ehemals in Österreich-Ungarn und der in Polen siedelnden Deutschen dem Reich unmittelbar auf den Leib.

Zehn Jahre darauf erschütterte die Weltwirtschaftskrise die sozialen Strukturen auch Mittel-Osteuropas und daher auch die Ostprovinzen des Reiches. Deren offenkundiger Niedergang signalisierte Gefahr für ganz Deutschland. Die Notstandsgesetze, die vorwiegend auch die Ostprovinzen stützen sollten, ebneten den Weg zur Diktatur. Die Nationalsozialisten glaubten dann in Schicksals-verbundenheit aller Ostdeutschen, die offensichtlich gegen die ganze Nation verlaufenden langzeitlichen Wandlungen mit imperialer Gewalt umkehren zu können und lösten damit die Lawine des Zusammenbruchs aus.

Dieser Zusammenhang der Notlage der Deutschen draußen mit der Strukturkrise des Reiches und der daraus hervorgehenden Politik sei nun an zwei Teilgebieten erläutert, nämlich am Nationalitätenproblem in den böhmischen Ländern und an den wirtschaftlichen Problemen der preußischen Ostprovinzen in der Zeit zwischen den großen Kriegen.

Seit Jahrhunderten siedelten die Deutschen der böhmischen Länder vorwiegend in den Randgebieten und bildeten außerdem die gehobenen bürgerlichen Schichten in den zentralen Orten wie Prag, Pilsen, Brünn und Olmütz, die inmitten des von den Tschechen bewohnten, fruchtbaren Inneren des Landes lagen. Die industrielle Revolution erfaßte zunächst die alten Heimwerkergebiete der deutschen Gebirgsgegenden. Die nachfolgende Schwerindustrie fand ihre naturgegebene Basis von Erz und Kohle im Landesinneren. Durch Zustrom von freigesetztem Landvolk entstand mit den Vorstädten von Prag und Pilsen sowie im Braunkohlengebiet um Brüx das tschechische Industrieproletariat; mit dem aufsteigenden Kleinbürgertum bildete es die Masse der Stadtbevölkerung. Die Deutschen gerieten in eine politisch einflußlose Minderheit. Ihr vielfältiges, mit dem gesamten deutschen Sprachbereich verbundenes kulturelles Leben wurde fortan wesentlich von den jüdischen Mitbürgern getragen, die seit der Emanzipation daran vollen Anteil nahmen.

Waren die Juden schon vor der deutschen Ostwanderung an einigen Knotenpunkten des Ost-West-Verkehrs ansässig gewesen, so verdichteten sich ihre zunächst abgeschlossenen Gemeinden innerhalb der neuen Stadt-gründungen zu Zentren des grenzüberschreitenden Fern-, Kredit-und Geldhandels. Ihre geistig-religiösen Vororte (z. B. Prag) waren gleichzeitig kommerzielle Mittelpunkte. Ihre quantitative Bedeutung verdeutlicht z. B.der jüdische Anteil an der Bevölkerung Prags von 40 v. H. im Jahre 1665 und noch von einem Drittel im Jahre 1702

Während der Ostkolonisation wurden die Juden von den Landesfürsten, gleich den Deutschen, priviligiert und gegen Pogrome geschützt. Ihre Bedeutung für das Steueraufkommen und die Kapitalbeschaffung bewahrte sie auch vor der 1744 durch Maria Theresia bereits verfügten Ausweisung. Im bürgerlich-industriellen Zeitalter eröffnete die Emanzipation den Juden Osteuropas den ihrem Unternehmungsgeist, ihrer Geschäfts-begabung und Sparsamkeit entsprechenden sozialen Aufstieg. So überwog ihre Beteiligung an den freien und akademischen Berufen bei weitem ihren Anteil von etwa 1, 5 v. H.

an der Bevölkerung Böhmens. Der Anteil jüdischer Studenten an der Prager deutschen Universität stieg 1890 auf 27 v. H., an der tschechischen auf nur 1, 8 v. H. Ihr Einflu v. H.

an der Bevölkerung Böhmens. Der Anteil jüdischer Studenten an der Prager deutschen Universität stieg 1890 auf 27 v. H., an der tschechischen auf nur 1, 8 v. H. Ihr Einfluß in allen Wirtschaftszweigen der böhmischen Länder war schlechthin dominierend 3).

Obwohl der Anteil der Juden, die sich nach anfänglicher Zweisprachigkeit zum Tschechischen bekannten, zunahm, gab es um 1900 „eine Generation von Juden, die sich ohne Bedenken, fast problemlos, zu den Deutschen zählten und ein kämpferisches Deutschtum betätigten" 4). Ohne Unterschiede in diesem Verhältnis im übrigen Osteuropa zu berücksichtigen, läßt sich behaupten, daß die Juden im kulturellen und wirtschaftlichen Lebensbereich durch Jahrhunderte und gesteigert im bürgerlichen Zeitalter mit den Deutschen in einer — für sie freilich bis zum Zerreißen leidvoll gespannten — Symbiose verbunden waren 5), deren Zerstörung durch das Regime Hitlers wie eine Vorwegnahme des ostdeutschen Schicksals erscheint.

Der nationale Aufstieg der Tschechen ist die typische Wiedergeburt aller kleineren Völker Ost-Südosteuropas. Die moderne Produktionsweise beförderte die Bildung neuer, mobiler Sozialschichten; überkommene Privilegien und Institutionen des alten Ständestaates schwanden dahin. Die Industrien benötigten allgemeine und höhere Schulbildung auf der Grundlage der Volkssprache. Daran scheiterte der Versuch Joseph II., Deutsch als einheitliche Staatssprache im habsburgerischen Vielvölkerstaat einzuführen Die nationale Bildungsschicht gründete Kulturvereine, baute sich Nationaltheater; 1882 wurde die Carolonische Universität in Prag in eine deutsche und tschechische geschieden. Der Nationalisierung des Kulturlebens entsprach der völkische Korporativismus der Bauern, im Gewerbe und Kreditwesen unter der Parole, nur mit den eigenen Volksgenossen Handel zu treiben.

Es blieb nicht aus, daß die sozial ziemlich homogenen und nationalistisch motivierten Volksgemeinschaften dem überbau eigener Staatlichkeit zustrebten. Die Legitimation dazu war bei den Völkern je nach ihrer Staatstradition verschieden, bei den Tschechen wurde sie mit Berufung auf das kontinuierliche böhmische Staatsrecht begründet. Ihr Anspruch erhielt Auftrieb, als im sogenannten Ausgleich nach 1867 den Magyaren die eigene Staatlichkeit im Verbände der Habsburger Monarchie zugesprochen wurde. Böhmisch und Tschechisch bzw. Ungarisch und Magyarisch lauten in den Nationalsprachen identisch. Andere Völker in diesen Kronländern erschienen dann schon durch die Namensgebung des Staates als minderberechtigt, letztlich zur Entnationalisierung bestimmt.

Welche Sprache sollte für den mündigen Bürger vor Gericht, im Behördenverkehr gelten? In Böhmen erreichte der böhmische Sprachenstreit um 1897 einen Höhepunkt. Das Land sollte in rein-und gemischtsprachige Kantone aufgeteiit werden. Die Tschechen, im Vorteil der Kenntnis beider Sprachen, wollten eine unitarische Lösung. So bildeten sich schon vor der Jahrhundertwende die Fronten zwischen einem deutsch-autonomistischen und dem tschechisch-nationalstaatlichen Konzept. Bei anstehenden Wahlen zum österreichischen Reichsrat neigten die Deutschen fortan zur großdeutsch-antisemitischen Partei Schönerers in Wien.

Die unhaltbare Lage der Monarchie beleuchtet folgendes Zitat: „Regierung und Tschechen stecken unter einer Decke und sind sich über das zu spielende Spiel völlig einig. Es gibt keine objektive Regierung, die über den Streitenden stünde ... Den Deutschen wird zugemutet, daß sie sich fügen. Es kann nicht Wunder nehmen, daß unter solchen Verhältnissen der letzte Rest politischen Sinnes und Rücksichtnahme auf die staatlichen Bedürfnisse verlorengeht... Die Deutschen sind mutlos, weil sich bei ihnen während eines 20jährigen vergeblichen Ringens für die alten österreichischen Regierungsprinzipien die Auffassung eingeschlichen hat, daß die Krone entschlossen ist, in neue Bahnen zu lenken und die Vorherrschaft des Deutschen Elements im Staate fallenzulassen ... Das erklärt den unglaublichen Einfluß der Leute vom bedenklichen Schlage eines Schönerer und Wolf... ich kann nur dann an die Sanierung unserer zahlreichen Staatsgebrechen glauben, wenn den Deutsch-Österreichern diejenige Stellung im Staate zurückgegeben wird, die ihnen durch den Geist der 1867er Verfassung und auch infolge ihrer höheren Kultur zukommt.“

Ein Zeugnis von vielen, das zeigt, wie weit der nationale Zerfallprozeß der Monarchie gediehen war, ehe ihr der verlorene Krieg den Todesstoß gab. Adolf Hitler, ein Nachfolger Schönerers, geprägt von der Angst vor der drohenden Übermacht der Slawen und dem Widerwillen gegen das kommerzielle und intellektuelle Übergewicht der Juden im Wien seiner Wanderjahre ließ diese Gefühle im Reich virulent werden, als man sich nach den Gebietsverlusten des Versailler Friedensdiktats der latenten Bedrohung im Osten erst richtig bewußt wurde.

Die Bedrängnis der Ausländsdeutschen und die Zukunftsangst in den Ostprovinzen des Reiches wurden von den Nationalsozialisten in ihrer Wahnvorstellung vom „neuen Lebensraum im Osten" eingebunden. Fundamental für den Ursprung dieser Partei, aber wenig bekannt ist es, daß ihr Name und ihr Programm als deutsch-bömisches Gegenstück zur antisemitisch kleinbürgerlichen Partei (nrodn socialistickä strana) des Tschechen Väclav Klof entstanden war. Hitlers Ideologie erscheint, so wie er selbst, als ein Zerfallsprodukt der Habsburger Monarchie.

Von allen ausländischen Gruppen standen die Deutschen der böhmischen Länder in ihrer Millionenzahl räumlich und gefühlsmäßig dem Reichsvolk am nächsten. Ihre in der Weltwirtschaftskrise verzweifelte Notlage spürte man unmittelbar. Die vorwiegende Konsumgüterindustrie in den sudetischen Gebirgen hatte frühere Absatzmärkte eingebüßt, während die Schwerindustrie in den tschechischen Landesteilen der Staatsräson halber auch durch Rüstungsaufträge gestützt wurde. Arbeitslosigkeit und Hunger in den Randgebieten nahmen dem Autonomiegedanken der sudetendeutschen Sammlungsbewegung Konrad Henleins die Überzeugungskraft. Er wich einem nationalen und sozialen Irredentismus, als nach 1934 im benachbarten Reich die Arbeitslosigkeit aufhörte.

Auch im übrigen Ost-Mitteleuropa standen die dort siedelnden Deutschen unter dem zunehmenden Druck von Bodenenteignung und anderer Benachteiligung zugunsten der Staatsnationen. Deutschland tat viel, um die Kräfte der Selbsthilfe zu stärken, hütete sich aber aus guten Gründen vor offizieller Intervention. Von der Reichsgrenze bis an die Wolga blieben die Deutschen ihrem Schicksal überlassen.

Die Kleinstaaten, die nach dem Zusammenbruch der drei übernationalen Monarchien vom Baltikum bis zur Donau entstanden — in der Vorstellung der Westmächte auch als Pufferzone zwischen der deutschen und der russischen Macht —, bedeuteten in ihrer militärischen Schwäche und Uneinigkeit für das Reich keine Gefahr, viel eher ein Feld wirtschaftlicher Kooperation.

Die den Osten des Reiches unmittelbar bedrohende Gefahr ergab sich vielmehr aus der benachteiligten Lage und ungünstigen Wirtschaftsentwicklung in den preußischen Ostprovinzen. Sie war durch die Grenzziehung des Versailler Vertrages zugunsten des neu-erstandenen Polen nachhaltig erschwert worden. Die Ursachen der andauernden Krise gingen aber zurück auf tiefgreifende Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Struktur seit Beginn des Industriezeitalters und darin letztlich auf das Offenbarwerden eines naturgegebenen Wohlstandsgefälles vom Westen zum Osten des Reiches: Im Nordwesten gab es die günstige Konstellation von Kohle, Erz, billigem Wassertransport und klimabegünstigter 'Landwirtschaft, im Nordosten fehlten fast völlig industrielle Rohstoffe; über weithin arme Böden (bei vorwiegend kontinentalem Klima) führten lange, z. T. schlecht ausgebaute Landtransportwege zu fernen industriellen Produktions-und Verbrauchszentren.

Im vorindustriellen Zeitalter traten diese Unterschiede in den Wirtschaftsgrundlagen nicht voll in Erscheinung. Ostdeutschland versorgte Schottland, die Niederlande, Norwegen, sogar Oberitalien über See mit Getreide. Noch um 1840 war Preußen ein wichtiges Getreideexportland. Die Erschließung riesiger neuer Getreideanbauflächen in Amerika und Südrußland, niedrige Produktionskosten und billige Seefracht mit Dampfschiffen ließen die Getreidepreise in Preußen von 235 M je to 1871/75 auf 174 M 1886/90 sinken. Um 1900 wurde kanadisches Getreide in Hamburg billiger angeboten als das 180 km mit der Bahn aus Mecklenburg herangeführte. Unter den Anbaubedingungen im nordöstlichen Preußen galten nur Roggen und Kartoffeln als ertragssicher. Aber die Bevorzugung des Weizens, der Absatzrückgang für Kartoffelsprit (Schnaps) bei wachsendem Masseneinkommen führten dazu, daß bereits in den konjunkturell günstigen Jahren 1924— 1927 Roggen nicht mehr wirtschaftlich angebaut werden konnte und Sprit von Staatswegen dem Benzin beizumischen war.

Während der Weltwirtschaftskrise verschlimmerte die Ungunst der Natur-und Verkehrs-bedingungen in Ostdeutschland die Wirkungen von Überangebot und sinkender Nachfrage auf den Agrarmärkten. Für stützende Maßnahmen hatte der Staat immer weniger Geld; strukturpolitische Maßnahmen aber stießen an Grenzen, die von den Betriebsformen und der Agrarverfassung der östlichen Teile Deutschlands gesetzt waren. Die vorherrschenden Großbetriebe standen wegen der Absatzkrise und des Mangels an einheimischen Arbeitskräften („Leutenot") vor Schwierigkeiten, deren volkswirtschaftliche Folgewirkungen die Richtung jeder zu ergreifenden Abhilfe bestimmten. Vorschläge radikaler Lösungen — d. h. Abschaffung der Guts-betriebe — beschworen die Gefahr einer Staatskrise herauf.

Trotz verhältnismäßig geringer Produktivität hatte sich der Großbetrieb als ein den natürlichen Bedingungen entsprechendes System behauptet. Verhältnismäßig kurze Bestellund Erntezeiten mit hohen Arbeitsspitzen erforderten den Einsatz konzentrierter Betriebsmittel und Arbeitskräfte. Das Kontinentalklima, ärmere Böden, die dadurch gegebene geringere Grenzproduktivität von Kapital und Arbeit erzwangen eine extensive und auf wenige Anbauarten beschränkte Boden-nutzung. Das erklärt auch das Vordringen der Großbetriebe nach den Stein-Hardenbergschen Reformen von 1811. Die Regulierung, d. h. Auflösung der bisherigen wechselseitigen Abhängigkeit von Gutsherr und Bauer, die Abwanderung der „nicht-gespannfähigen" Bauern, die freie Verfügung über den Boden schufen zwar die Voraussetzungen einer rationalen Landwirtschaft. Aber in Gebieten mit überwiegend Großbetrieben entstanden schon zu Beginn des Industriezeitalters Probleme, die in Krisenzeiten das sozialwirtschaftliche Gefüge der Ostprovinzen im Ganzen erschütterten.

Von der Hauptsorge, dem Arbeitermangel, waren auch die bäuerlichen Familienbetriebe betroffen. Aber dem Großbetrieb fiel es noch schwerer, einen Arbeiterstamm durch den beschäftigungsarmen Winter zu halten. Er war deshalb auf Saisonarbeit angewiesen. Wanderarbeiter konnte nur der benachbarte Osten mit seiner agrarischen Überbevölkerung stellen. Diese drückten mit ihren geringen Lohn-und Sozialansprüchen auf den Lebensstandard des deutschen Landarbeiters. Die Gefahr der Aushöhlung des ostdeutschen Sozialgefüges wurde erkannt und mit zeitweiliger Sperrung des weiteren Zuzugs bekämpft. Doch handelte es sich hier nur um eine Teil-erscheinung eines langen gesamteuropäischen Prozesses, wie der Massenzuzug polnischer Bergarbeiter ins Ruhrgebiet und nach Nordfrankreich zeigt oder die Anwesenheit von 300 000 ukrainischen Landarbeitern in Frankreich vor 1939. Dieser Drang war durch isolierte Maßnahmen nicht zu bekämpfen, vor allem nicht durch Preisgabe der naturbedingten landwirtschaftlichen Großbetriebsform im Osten.

Die Wirtschafts-und Sozialpolitik der Weimarer Demokratie stand vor diesen Problemen im Zeichen der Zerreißungsschäden der neuen Grenzen und der Weltwirtschaftskrise. Arbeitsrechtliche Sicherung der Löhne und Einschränkungen der Wanderarbeit erhöhten die Arbeitskosten. Das Ausweichen auf Maschinen führte zur rasch wachsenden Verschuldung auf etwa das Doppelte gegenüber dem Westen

1931 wurden 90 v. H.der kurzfristigen Schulden als uneinbringbar bezeichnet Nachfrage-rückgang und Kreditgefährdung bedrohten die gewerblichen Lieferanten und die auf Solidarhaftung gestellten Hypothekenbanken (Landschaften). In steigendem Maße mußten Reichsmittel zur Zinsverbilligung und Umschuldung eingesetzt werden. Diese Stützungsaktionen erfolgten auf dem Höhepunkt der Deflationskrise und Arbeitslosigkeit. Die aufgewendeten Mittel wurden teilweise aus Belastungen der ebenfalls notleidenden westdeutschen Industrie oder über die Staatshaushalte Preußens und des Reiches aufgebracht. Als sie nicht mehr ausreichten, verlangten die Rechtsparteien, gestützt auf Erklärungen des Reichspräsidenten Hindenburg, einen „gesetzlichen Zahlungsaufschub für die Landwirtschaft und ein fünfjähriges Sanierungsprogramm mit einer Mrd. RM".

Die Unerfüllbarkeit solcher Forderungen führte mit zum Sturz des sozialdemokratischen Reichskanzlers Müller. Sein Nachfolger Brüning kündigte „eine durchgreifende, umfassende Osthilfe an. Gesundung der östlichen Landwirtschaft ist Grundlage der nationalen und volkspolitischen Rettung des Deutschen Ostens.“ Doch auch ihm gelang es selbst mit Notverordnungen nicht, die politischen und finanztechnischen Schwierigkeiten der Osthilfe zu überwinden. „Konnten die bedenklichen Aspekte der Ostpreußenhilfe noch als regional und materiell begrenzte Mißstände gelten, so untergrub die Kritik an der vergrößerten (d. h. auf alle Grenzprovinzen) ausgedehnte Osthilfe die Autorität der Regierungen, das Prestige des Präsidenten, der diese Regierungen stützte, und die Geltung der ländlichen Bevölkerungsschichten, die zum Kostgänger staatlicher Subventionen herabsanken. Die Osthilfe, d. h. die Sanierung der ostelbischen Landwirtschaft, war zu einer Schicksalsfrage der deutschen Republik geworden."

Der unter dem Namen „Osthilfe" eingeleitete Lastenausgleich war mit dem Odium belastet, der Stützung des Großgrundbesitzes zu dienen. So kam es, daß der Gedanke bäuerlicher Siedlung als Lösung der Strukturfrage sich einer geradezu romantischen Popularität erfreute. Eine Übersicht der Siedlungsbemühungen muß freilich zu dem Schluß kommen, daß diese Möglichkeit objektiv sehr begrenzt war. Siedlungsland konnte naturgemäß nur dort erworben werden, wo andere Landwirte gescheitert waren. Noch enger waren die Grenzen für eine auskömmliche Kapitalausstattung gesetzt. Wettbewerbsfähigkeit bei Roggen und Kartoffeln war durch die überlegene Leistung schon vorhandener Betriebe kaum erreichbar. Wie sollten dann die Siedler auf den leichten Böden des Ostens mehr als das doppelte einer Zinsleistung hervorbringen, die die Bauern im Westen in eine aus eigener Kraft nicht mehr lösbare Verschuldungskrise gestürzt hatte? Die Voraussetzungen für eine normale „innere Kolonisation" — wie man dieses politisch erstrangige Programm seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nannte — waren eben nicht mehr gegeben. Die Idee der Industrialisierung Ostpreußens, schon im Kronrat Kaiser Wilhelms II. 1891 formuliert, wurde nach der Abschnürung durch den polnischen Korridor von allen Regierungen weiterverfolgt. Umfassende staatliche Stützungsmaßnahmen (Tarif-und Steuer-subventionen, verbilligte Kredite, Lenkung durch staatliche Aufträge, notfalls Verstaatlichung notleidender Betriebe) wurden angesichts des Fehlens marktwirtschaftlicher Antriebe für unerläßlich gehalten -Schon aus wehrpolitischen Erwägungen wurden diese Anstrengungen nach 1933 mit den Mitteln autoritärer Staatsführung noch verstärkt fortgesetzt. Trotzdem beklagte der Gauleiter und Oberpräsident Erich Koch 1938 „die wieder beginnende Abwanderung, die Wirkungslosigkeit des Appells an den Idealismus", verlangte Schutz vor der „Interessenpolitik von Wirtschaftsgruppen im Reich". Am 30. Juni 1939 berichtet das Reichsministerium des Innern: „Im Osten hat die Entwicklung des Jahres 1938 die schweren Gefahren, die sich aus der bevölkerungs-und wirtschaftspolitischen Lage ergeben, noch gesteigert... die Eingliederung der Ostmark (d. h. Deutsch-Österreichs, H. R.) und des Sudetenlandes haben den völkischen und wirtschaftlichen Lebensraum der preußischen Ostgebiete weithin geschmälert ... die bevölkerungs-und wehrpoli-tischen Folgen der Abwanderung für die Ost-gebiete sind ebenso erschreckend wie die wirtschaftliche Aushöhlung." Der Zusammenhang zwischen der nationalsozialistischen territorialen Expansionspolitik und der Strukturschwäche der Ostgebiete wurde so erstaunlich offen dargelegt.

Der industrielle Rückstand Ostpreußens sollte überwunden werden, um eine bedrohliche Strukturschwäche und Krisenanfälligkeit zu mildern. Die Versuche scheiterten an den Nachteilen der geographischen Lage. War Ostpreußen in dieser Hinsicht am schlechtesten gestellt, wie lagen die Dinge in Schlesien, das in den Grenzen und mit den Absatzmöglichkeiten vor 1920 das Bild einer ausgeglichenen Agrar-Industrielandschaft geboten hatte? Es genügt, die Probleme des einzigen schwerindustriellen Kerns Ostdeutschlands, des oberschlesischen Industriereviers, hervorzuheben, die sich wiederum auf allgemeine Standortfragen und die Folgen der neuen Grenzziehung, die Zollschranken und den Verlust nahegelegener Absatzgebiete zurückführen lassen. Die Eisenerzförderung war von ihrem Höhepunkt (1889) mit 800 000 t bis 1920 auf 47 000, einem Siebzehntel, zurückgegangen. Zunächst hatte der Bau des Mittellandkanals die Lage verschlechtert, später kam hinzu die große Entfernung von den noch verbliebenen Absatzgebieten. Weite Streuung der verarbeitenden Betriebe verteuerte die Frachten für Halbfabrikate. Billige Kohle und niedrige Löhne konnten diese Nachteile nicht ausgleichen. Die Weltwirtschaftskrise ließ die Standortnachteile, besonders beim Erzbezug aus dem Ausland, noch stärker hervortreten Schon 1930 stellte H. Rogmann fest, daß die ostdeutschen Gewerbe, von innerdeutschen Märkten zurückgedrängt, an Über-besetzung litten, daß die Arbeitslosigkeit in Schlesien stetig über dem Reichsdurchschnitt lag und das Gewerbe vielfach von der Substanz lebte

Zu der Frage, ob nicht fortgesetzte binnen-wirtschaftliche Anstrengungen der dreißiger Jahre die Strukturkrise Osteibiens hätten lösen können, meine ich, daß die anfänglichen Erfolge der Arbeitsbeschaffungs-und Agrarpolitik der Nationalsozialisten die Probleme des deutschen regionalen Wohlstandsgefälles nur überlagerten, aber nicht lösten. Unter dieser Decke blieben idealistische Strukturveränderer und Landesplaner am Werke, um die ostdeutschen Provinzen etwa dem württembergischen Sozialmodell anzugleichen. Aber als nach erreichter Vollbeschäftigung die Produktionsfaktoren wieder knapp wurden, traten die alten Tendenzen der Abwanderung aus der ländlichen Arbeit, der Westwanderung nach den Arbeitsplätzen mit höherem Einkommen, wieder zu Tage und zeigten an, daß durch die Binnenkonjunktur die regionalen Schwächen Ostdeutschlands nicht zu beseitigen waren.

Ist die hier vertretene Auffassung von den strukturellen Ursachen der Krise des Deutschen Reiches nicht widerlegbar, so wäre zu folgern, daß es in der Lage wachsender Standortnachteile des deutschen Ostens keinen Ausweg mit Mitteln parlamentarischer Haushaltspolitik und freier Marktwirtschaft mehr gab.

Jedenfalls fühlte sich der überzeugte Demokrat Brüning, der letztlich über die Osthilfepolitik („Agrarbolschewismus") gestürzt war, genötigt, mit Notverordnungen eine Art autoritärer Wirtschaftspolitik einzuleiten. Die Nationalsozialisten haben es verstanden, auch dieses Instrumentarium zur Aufhebung der Demokratie zu benutzen. Hitler und seine Satrapen in den Ostprovinzen haben trotz ihres Mißtrauens gegen den Grundadel die bestehende Agrarordnung nicht angetastet, gleich, ob dabei Einsicht in betriebliche Notwendigkeiten oder ein politischer Instinkt mitsprach, die überkommene Agrarverfassung auch in der beabsichtigten Ostexpansion zu nutzen.

Wenn es sich so verhielt, dann läge auch der Schluß nahe, daß die nationalsozialistische Provokation des Zweiten Weltkrieges, von Hitlers Lebensraumideologie abgesehen, als ein Ausbruch aus einer ausweglosen Lage anzusehen wäre. Ausweglos auch deshalb, weil ein Zurück zum regionalen Wohlstandsausgleich im Inneren einen Zwangssparprozeß von spartanischer Härte erfordert hätte. Dazu war aber die NSDAP am allerwenigsten bereit, die ihre Macht mit dem Versprechen der Bereicherung angetreten hatte. Es ist auch nachträglich zu fragen, wie die durch Lohnstopp zurückgestaute Inflation hätte wieder abgebaut wie die wachsenden Kosten der eingeleiteten Autarkiepolitik auf die Allgemeinheit hätten abgewälzt werden können. Deutschland war bei seiner Rohstoffarmut mehr als andere auf Außenhandel angewiesen. In der Verengung der Weltmärkte und angesichts möglicher Boykottmaßnahmen gegen das NS-Regime wurde der Gedanke der äußersten Selbstversorgung den rüstungswirtschaftlich bestimmten Vierjahresplänen H. Görings zugrunde gelegt. Die Erwartungen von Wirtschaft und Publizistik richteten sich dann auf den Donauraum — ein Gedanke, der schon von den großen Nationalliberalen (Fr. List um 1850, Fr. Naumann 1916), österreichischen Marxisten (K. Renner 1915) und 1930 von den Jungkonservativen (Tatkreis, G. Wirsing) gehegt wurde. Die handelspolitische Abschottung der weitgehend autarken Weltmächte während der großen Depression gab dieser Idee neuen Auftrieb.

Aber die Weltwirtschaftskrise hatte vollends offenbart, daß die noch überwiegend agrarischen, kleinbäuerlichen Volkswirtschaften zwischen Deutschland und der Sowjetunion wegen ihrer Dorfarmut ohne ausreichendes Eigenkapital, dem Ausland verschuldet, auf den Weltmärkten nur begrenzt wettbewerbsfähig, untereinander handelspolitisch uneins und mit Rohstoffen schwach ausgestattet, dem Reich keine wirksame außenwirtschaftliche Ergänzung zu sein schienen

Die Strukturkrise der ostdeutschen Landwirtschaft erwies sich als ein weiteres Hemmnis einer konstruktiven Politik im weiteren Mitteleuropa. Denn die aus den gleichen Ursachen leidenden Agrarstaaten Ost-und Süd-Osteuropas erwarteten von der industriellen Vormacht Deutschland die Abnahme gerade der Produkte, die von den deutschen Bauern selbst nicht abzusetzen waren. Schon diese Probleme stellten ein autarkes Mitteleuropa unter deutscher Wirtschaftshegemonie in Frage.

Der Anschluß des notleidenden DeutschÖsterreichs und des exportabhängigen Sudetenlandes vergrößerte die außenwirtschaftlichen Schwierigkeiten. Für vielleicht denkbare, langfristige Lösungen der wirtschaftlichen Probleme des nun faktisch beherrschten Donauraumes nahmen sich die Nationalsozialisten unter dem Druck der inneren Verschuldung und aus rüstungswirtschaftlich-strategisehen Überlegungen keine Zeit. Mit der Besetzung des tschechischen Böhmen wurde die Beschränkung auf den endlich erreichten Nationalstaat aufgegeben und der imperialistische Zug bis zu den Erdölquellen des Kaukasus zur Gewinnung von vermeintlich vorhandenem Lebensraum angetreten.

Aufgegeben wurde auch die konservative Politik der autonomen Bestandserhaltung der deutschen Volksgruppen Die NSDAP betrachtete von nun an die noch draußen gebliebenen Deutschen fremder Staatsangehörigkeit als Stützpunkte politischen Einflusses und schließlich der direkten Machtausübung; der SS dienten sie als Rekrutierungsfeld. Der Ausgang dieses letzten Ausbruchsversuches aus der beengten Lage Deutschlands zwischen den rohstoffreichen Weltmächten Amerika und Rußland, wie sie Fr. Naumann schon 1916 in seiner Schrift „Mitteleuropa und die deutsche Zukunft" voraussah, bestimmt seither unser nationales Dasein. Was nützt eine vorwiegend sozialgeschichtliche Erklärung der Vorgänge, die die größte Katastrophe der deutschen Volksgeschichte herbeigeführt haben? Im Rückblick läßt sich alles Vergangene auf diese oder jene Weise zu Kausalketten verknüpfen und auch meinen, daß bei anders gestellten Weichen die Dinge hätten, jedenfalls nach der eigenen gegenwärtigen Vorstellung, auch günstiger verlaufen können. Das bleibt jedoch in jedem Falle eine nachträglich von Mitverantwortung freie Spekulation.

Mit einem nachträglichen sozialwirtschaftlichen Kalkül läßt sich immerhin der gewesene Spielraum denkbarer Alternativen einigermaßen einengen, indem z. B. erwogen wird, mit welchen sozialen Kosten Maßnahmen zur Strukturänderung einer gefährdeten Provinz durchgeführt, wie die dazu notwendigen Ausgleichslasten besser gestellten Regionen hätten auferlegt werden, und ob in solcher Lage der Staat die erforderliche Umverteilung noch mit demokratischen Mitteln hätte durchsetzen können. An diesem Punkt hat die politische Geschichte das Wort, sofern sie nicht nur Haupt-und Staatsaktionen als solche anvisiert.

Wie stand es aber um eine vorausschauende Betrachtung unseres Problems bei den Zeit-genossen der heute als bedrohlich erkehnba; ren Entwicklung für den deutschen Osten?

Von den vermutlich wenigen, die es laut zu sagen wagten — für die Anonymen sprach Fontane in dem eingangs zitierten Brief —, seien hier nur drei aufgerufen: 1860 liest man in einer politischen Streitschrift: „Die befestigte Stellung der Russen an der Weichsel bedroht Deutschland mehr als alle französischen Festungen zusammengenommen ... Böhmen russisch!... da von Eger bis Lauterburg im Elsaß nur 45 deutsche Meilen sind, so wird Norddeutschland durch den französischen Keil einerseits, und noch weit mehr den russischen andererseits von Süddeutschland getrennt und die Teilung Deutschlands wäre fertig. Der direkte Weg von Wien nach Berlin ginge durch Rußland, ja selbst der direkte Weg von München nach Berlin. Dresden, Nürnberg, Regensburg wären Grenzstädte gegen Rußland, unsere Stellung gegenüber den Slawen wäre (im Süden wenigstens) wie vor Karl dem Großen". (Karl Marx in „Herr Vogt", 1860, S. 81)

Fünf Jahre davor meinte Friedrich Engels (Deutschland und der Panslawismus, in: Neue Oder-Zeitung vom 24. 4. 1855): „der Panslawismus ist eine Bewegung, die nicht nur die Unabhängigkeit anstrebt, sondern auch die Auslöschung dessen, was eine tausendjährige Geschichte geschaffen hat" Angesichts der Gefahren aus dem Osten waren selbst die Väter des internationalistischen Sozialismus an alldeutscher Gesinnung nicht zu übertreffen.

Ein Menschenalter später (in seiner Freiburger Antrittsvorlesung von 1895) sah Max Weber für das kaiserliche Deutschland eine Struktur-und Lebenskrise voraus, die aus den ostelbischen Latifundien und der darauf beruhenden Herrschaftsstruktur hervorgehen würde. Sein Hauptargument war der ständige Zuzug polnischer Landarbeiter, die mit ihrer Anspruchslosigkeit das einheimische Arbeitsangebot unterboten und das Sozialgefüge aushöhlten. Seine Folgerung war: „Großbetriebe, welche nur auf Kosten des Deutschtums zu erhalten sind, sind vom Standpunkt der Nation wert, daß sie zugrunde gehen". Die volkswirtschaftlichen Kosten, letzten Endes das na-tionalpolitische Risiko dieser Operation, hat Weber nicht berechnet.

Derartige Visionen beeindrucken uns Nach-lebende, weil sie sich erfüllt haben, aber wann hätten jemals Mitlebende auf Kassandra gehört? Es liegt im Selbsterhaltungstrieb, daß Voraussagen kommenden Unheils dazu herausfordern, ihm zu begegnen. Tatenlosigkeit wäre nicht zu ertragen und Unterlassen einer Handlung erscheint schlimmer als das Fehl-greifen in der Wahl der Mittel.

Aber den Nachlebenden ist es auferlegt, darüber zu reflektieren, ob alles so kommen mußte, wie es gekommen ist. Die Größe der Verluste im Osten — das folgenreichste Geschehen in der deutschen Volksgeschichte seit tausend Jahren — übersteigt offenbar das Fassungsvermögen unserer zeitgeschichtlichen Orientierung. In einem Sammelband zur Frage der „Identität der Deutschen", einem repräsentativen Querschnitt zur deutschen Frage, wird das Verständnis in den beiden Teilstaaten Restdeutschlands erörtert, ohne daß die verlorenen Ostgebiete als Element des Selbstbewußtseins zu erwähnen waren Kundgebungen der Heimatvertriebenen wekken Aufmerksamkeit als Politikum, aber kaum eine allgemeine staatsbürgerliche Teilnahme. Es ist auch zu bezweifeln, ob in den Schulen die „Ostkunde", in den Lehrplänen der Länder mehr oder minder verankert, das so komplizierte Geschehen in der Vielvölkerzone des vergangenen Osteuropa dem Gedächtnis vermitteln kann. Die Geschichte der deutschen Staaten erfaßt das Thema aber nicht, weil volksgeschichtliche Vorgänge Staatsgrenzen durchdringen.

Für die Welt sind die Gebiets-und Siedlungsverluste der Deutschen im europäischen Osten und Südosten eine vollendete Tatsache. In dem auf drei Staaten aufgeteilten Volk — die Deutschen Österreichs sind als unmittelbar beteiligte hierbei gewiß einzubeziehen — regt sich kein spontanes Interesse an der Vorgeschichte und dem Ausmaß dieser ungeheuren Einbuße an Lebensraum, Vermögen und Geltung.

Jede Wunschvorstellung von Wiederherstellung und Rückkehr, das Beharren auf völkerrechtlichen oder moralischen Grundsätzen sind an sich verständlich und achtbar. Läßt sich aber vom endlichen Erfolg her der fran-zösische Revanchismus nach dem Verlust des überdies deutschsprachigen Elsaß-Lothringen oder das jahrhundertelange Verlangen der Polen nach Restitution ihres Nationalstaates damit vergleichen? Bei jenen ging es „nur" um Revision und Veränderung willkürlich versetzter Staatsgrenzen. Wir hingegen stehen vor dem Verlust von durch Jahrhunderte kultivierten Volksbodens und der völligen Entwurzelung der dort ansässigen deutschen Stämme und Volksgruppen — ein wahrhaft radikaler Unterschied.

In der Welt, wie sie ist, erschiene es schon als unvorstellbar, daß von den jetzigen Bewohnern wieder freizugebende Flächen durch deutsche Bauern oder Kleinstädter wiederbesiedelt werden könnten; woher sollten diese auch kommen? Freizügigkeit in dem erhofften „Europa ohne Grenzen" könnte zwar deutsche Unternehmer, Fachleute, Kapital in den europäischen Osten ziehen, aber Transfer von Wissen und Kapital ist nicht gleich Bevölkerung. Das einstige Vordringen von Deutschen und Niederländern nach dem Osten war — abgesehen von den Kreuzzügen nach Nordost — das Ergebnis eines natürlichen West-Ost-Gefälles von Wirtschaftskraft, organisatorisch-technischem Vorsprung sowie Bevölkerungsüberschuß und wurde politisch ausgelöst vom landesherrlichen Wunsch nach Modernisierung zurückgebliebener Territorien

Den Gegenstoß bewirkten gleichfalls säkulare Kräfte des demographischen, sozialen und nationalbewußten Aufstiegs der zum industriell-bürgerlichen Weltstand strebenden Völker in der östlichen Nachbarschaft, den das Hitler-Regime durch einen besinnungslosen Gegen-schlag zu überwältigen gedachte. Die den deutschen Osten verheerende Gewalt jener Gegenbewegung verband sich schließlich mit der russisch-eurasischen Macht, die nach einem Menschenalter nachholender Industrialisierung imstande war, traditionelle, ehedem auch panslawistisch begründete Expansionsziele in Ostmitteleuropa zu erreichen. Ohne ein Bedenken dieser in der neueren Geschichte einzigartigen Dynamik der beschriebenen sozialwirtschaftlichen Vorgänge als dem Hintergrund des politischen Geschehens kann über unsere nationale Vergangenheit und Zukunft nicht nachgedacht werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der südlichen deutschen Metropole Wien widerfuhr ähnliches nach 1918, doch ohne Verlust eines nationalen Vorlandes und bei Fortbestehen einer relativ offenen Nachbarschaft zu den Völkern des Donauraumes.

  2. W. Brosche, Das Ghetto von Prag, in: Die Juden in den böhmischen Ländern (Vorträge des Collegium Carolinum), München — Wien 1983, S. 87 ff.

  3. Vgl. Chr. Stölzl, Kafkas böses Böhmen. Zur Sozialgeschichte eines Prager Juden, München 1975.

  4. H. Raupach, Der tschechische Frühnationalis mus, Essen 1938, Nachdruck Darmstadt 1969.

  5. Aus einem Schreiben des österr. -ung. Botschafters in St. Petersburg A. L. v. Aehrental vom 20. 8. 1899, in: E. Rutkowski, Briefe und Dokumente zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, München-Wien 1983, S. 716.

  6. S. H. Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, Wiesbaden 1984, S. 198 und an anderen Stellen.

  7. Dazu und zum folgenden H. Raupach, Interregionaler Wohlfahrsausgleich als Problem der Politik des Reiches, in: W. Conze und H. Raupach (Hrsg.), Die Staats-und Wirtschaftskrise des Deutschen Reiches 1929/33, Stuttgart 1967.

  8. D. Hertz-Eichrodt, Politik und Landwirtschaft in Ostpreußen 1919— 1930, Köln—Opladen 1969, S. 337.

  9. Alle wesentlichen Dokumente bei F. Richter, Industriepolitik im agrarischen Osten. Ein Beitrag zur Geschichte Ostpreußens zwischen den Weltkriegen, Wiesbaden 1984.

  10. K. Seidl, Deutschlands verlorene Montanindustrie. Die Eisen-und Stahlindustrie Oberschlesiens, Stuttgart—Köln 1955.

  11. H. Rogmann, Ostdeutschlands große Not. Zahlen und Tatsachen, Berlin 1930.

  12. Für Hitler war eine auf fast 400 Mrd. RM angewachsene Reichsschuld durch „Einschaltung von 20 Millionen billiger Arbeitskräfte (aus den eroberten Ostgebieten) in den deutschen Wirtschaftsprozeß, mit Jahreslöhnen um 1 000 RM, ein nach dem Siege leicht zu lösendes Problem". — S. H. Picker (Anm. 8), S. 140.

  13. H. Raupach, The Impact of the Great Depression on Eastern Europe, in: Journal of Contemporary History, London 1969.

  14. H. J. Jacobsen, Hans Steinacher, Boppard 1970. — Ein Lehrstück: W. Greiff, Das Boberhaus in Löwenberg/Schles. 1933— 1937. Selbstbehauptung einer nonkonformen Gruppe.

  15. Fr. Engels stritt den kleinen Völkern des Ostens jede Daseinsberechtigung ab: „Ihre ganze Existenz überhaupt ist ja schon ein Protest gegen eine geschichtliche Revolution ... ihr Verschwinden vom Erdboden ist auch ein Fortschritt." (Neue Rhein-Zeitung, 1849; MEW 6, S. 172).

  16. W. Weidenfeld (Hrg.), Die Identität der Deutschen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 200), Bonn 1983.

  17. Das historische Gegenstück dazu ist die russische Kolonisation Mittel-und Nordasiens, hier allerdings mit dem Ergebnis imperialer Dauerherrschaft.

Weitere Inhalte

Hans Raupach, Dr. iur. habil., geb. 1903, o. em. Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Osteuropas an der Universität München, Direktor des Ost-Europa-Instituts München 1962— 1975. Veröffentlichungen u. a.: Der tschechische Frühnationalismus, 1938 u. 1967; Geschichte der Sowjetwirtschaft, 1964; System der Sowjetwirtschaft, 1965; Wirtschaft und Politik in Osteuropa. Aufsätze und Vorträge, 1968; Wirtschaft und Gesellschaft Sowjetrußlands 1917— 1977, 1977; Das wahre Bildnis des Joh. Seb. Bach, 1984.