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Wertwandel und politische Bildung | APuZ 50/1984 | bpb.de

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APuZ 50/1984 Artikel 1 Politikvermittlung in der Demokratie Zwischen kommunikativer Sozialtechnik und Bildungsauftrag Systemeinverständnis und gesellschaftliche Leitbilder von Jugendlichen Systemaversionen bei linksorientierten Jugendlichen Die neuen sozialen Bewegungen als Herausforderung des politischen Unterrichts Wertwandel und politische Bildung

Wertwandel und politische Bildung

Heinrich Oberreuter

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Politische Bildung ist stets im Zusammenhang mit einer konkreten politischen Ordnung und deren politischer Kultur zu sehen. Beide Beziehungsmuster werfen die Frage nach den Werten auf. Der von empirischen Analysen konstatierte Wertwandel hin zu „postmaterialistischen“ Orientierungen ist an sich noch kein kritisches Phänomen. Aber die Herausforderung für die politische Bildung durch diesen vielbeschworenen Wertwandel liegt in dem Entstehen einer Gegenkultur und Gegengesellschaft als Minderheitsphänomen. Drei Konfliktzonen tun sich auf: 1. Die hohe Empfindlichkeit im Bereich „diffuser Legitimität", 2. die anti-institutionellen Affekte und 3.der Rückgang der Achtung vor Recht und Gesetz. Der Autor plädiert mit anderen dafür, diesen Bewußtseinswandel ernst zu nehmen und sich mit ihm kritisch auseinanderzusetzen. Eine weitere wichtige Aufgabe ist die Konfrontation mit bewußten Tendenzen zur Verschärfung von Spannungen und Gegensätzen. Primäre Ansatzpunkte politischer Bildung angesichts der geschilderten Herausforderungen müssen sein: Wertbindung und Legitimität, die Ethik des Pluralismus und Institutionen. Es gilt zu zeigen, daß auch neue Wertorientierungen im Rahmen der bestehenden Institutionen verarbeitet werden können. Die keineswegs wertneutrale Staatsidee der Bundesrepublik bietet die Chance dafür. Auch das alles andere als wertneutrale Pluralismuskonzept bildet als formales Strukturprinzip die unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung von Werten. Pluralismus wiederum kann nicht praktiziert werden ohne die Kardinaltugend Toleranz. Sie weist darauf hin, daß die plurale Demokratie nicht existieren kann ohne die Basis einer fundamentalen Gemeinsamkeit Dieser Basiskonsens umfaßt den gesellschaftsstiftenden Wertkodex. Für die politische Bildung, ist ferner die Rückläufigkeit des praktischen Institutionsverständnisses von Bedeutung, weil sich alles Wissen über Politik und alle politische Erfahrung in der Ausformung politischer Institutionen ausdrückt Der vielfach zu Unrecht geschmähte institutioneile Ansatz bietet die Chance, die empirische Beobachtung der Politik wieder in die Analyse der Werte zu integrieren. Institutionen sind aber nicht über-lebensfähig, wenn ihr Sinn im Bewußtsein der Bürger nicht mehr präsent oder sogar nicht mehr akzeptiert ist Angesichts der Interdependenz von Wertorientierung, Wertverwirklichung und institutioneller Ordnung ist auf zwei Probleme hinzuweisen: freivagabundierende Wertvorstellungen mit anti-institutioneller Stoßrichtung führen eben nicht zur ständigen Rekonstruktion freiheitlicher Ordnung. Zum anderen tangiert der Verlust an Sinnerkenntnis einer solchen Ordnung unmittelbar auch ihre normativen Prämissen — wie sich gegenwärtig an den Erosionsprozessen von Pluralismus und Toleranz zeigt.

Politische Bildung setzt stets innerhalb einer konkreten politischen Ordnung an und steht — wohl zu Recht — in aller Regel auch in deren Pflicht Zugleich ist politische Bildung unauflöslich verwoben mit der politischen Kultur. Politische Ordnung und politische Kultur werfen die Frage nach den Werten auf.

Zum einen erscheint nämlich die Verpflichtung zumindest öffentlich veranstalteter politischer Bildung auf die politische Ordnung nur dann akzeptabel, wenn diese Ordnung auf Menschenwürde und Freiheit gründet: Genau daraus gewinnt auch politische Bildung ihre Entfaltungsfreiheit, genau daraus gewinnt sie ihre Chance für „Pluralität, Liberalität, Rationalität, Dialog und Diskussion, und zwar sowohl gegen eine eventuelle Einengung durch staatlich verordnete Richtlinien als auch gegen parteiische Indienstnahme durch partikulare Kräfte

Zum anderen ruft natürlich auch das Stichwort politische Kultur die Frage nach den Werten auf den Plan. Politische Kultur — in Wirklichkeit ein recht unbestimmter Begriff — meint erstens das schwer aufzulösende Geflecht politisch relevanter Meinungen, Einstellungen und Werthaltungen, zweitens die Wechselbeziehungen zwischen diesem Geflecht und dem politischen System samt seinen institutioneilen Ausprägungen und drittens die historische Herkunft, den gegenwärtigen Zustand und den zukunftsbezogenen Wandel der beiden genannten Dimensionen. Politische Kultur ist also ein Prozeß und nicht nur die vielleicht gegenwärtig bestimmbare Identität einer Gesellschaft: Gemeint ist also immer auch die Herausbildung und Tradierung der politischen Kultur im Wandel. So erübrigt sich jeder Rechtfertigungsversuch für die Frage nach der politischen Bildung in diesem Prozeß, der sich politische Kultur nennt. Ihre Bedeutung ist evident, weil sie in diesem Prozeß ein wichtiger Faktor politischer Sozialisation ist — wenigstens sein könnte, solange ihr zumindest die organisatorischen und materiellen Chancen kontinuierlicher Entfaltung eingeräumt sind. Jedenfalls könnte man politische Bildung geradezu als

überarbeitete Fassung eines Vortrages anläßlich des 30jährigen Bestehens der niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung am 13. September 1984.

den Versuch definieren, individuelle Entwicklungsprozesse mit dem Prozeß politischer Kultur zu verknüpfen: Gerade die Tradierung und der Wandel von Werten weisen auf dieses Problem hin; denn letztlich geht es stets um ein Mindestmaß gesellschaftlicher Integration: Wenn wir von politischer Kultur sprechen — die Terminologie legt es nahe —, meinen wir zumindest in der Tendenz ein Ganzes, Unteilbares.

Die Forschung ist sich im übrigen grundsätzlich einig, daß soziale Einstellungen, Verhaltensdispositionen und Verhaltensweisen von Wertorientierungen gesteuert werden. Das gilt insbesondere auch für die Einstellung zu Rechtsnormen und für die Bereitschaft, sie zu befolgen, und es gilt für politische Einstellungen und Verhaltensdispositionen. Wenn eine gemeinsame, d. h. keine fragmentierte politische Kultur bestehen soll, so ist dafür ein grundsätzlicher Wertkonsens und eine aus ihm abgeleitete soziale Verhaltensethik Voraussetzung. Werte sind nicht „immer schon" vorgegeben. Sicher lassen sie sich philosophisch und anthropologisch begründen. Aber in die Wirklichkeit treten sie dadurch, daß Menschen werten — wobei zu hoffen ist, daß sie ethisch informiert werten. Das heißt aber: Werte beinhalten Erfahrung und Verarbeitung von Erfahrung. Das erinnert an historische Bedingtheiten sowie an die Offenheit für Wandlungsprozesse. Es erinnert aber auch an die Notwendigkeit ständiger Aneignung: Auch der Wertkonsens ruht nicht statisch in sich, sondern ist im Grunde ein dynamischer Prozeß, an dessen Gelingen auch politische Bildung Anteil haben sollte.

Das Thema soll nun — gewiß ganz unvollkommen — in drei Fragestellungen entfaltet werden. *

I.

Die erste Frage lautet folglich: Wo liegt eigentlich der für politische Bildung spezifische und brisante Punkt, wo liegt die Herausforderung des vielbeschworenen Wertewandels? Man kann nicht für Wandlungsoffenheit plädieren — und gleichzeitig hoffen, daß sich nichts ändert. Mit anderen Worten: Weder generell noch punktuell ist Wandel eo ipso ein kritisches Phänomen. Selbst für die zumindest sektoral um sich greifende Akzeptanzkrise der industriellen Hochzivilisation lassen sich respektable Gründe angeben — und keineswegs alle alternativen Zielprojektionen stehen grundsätzlich im Gegensatz zu herkömmlichen politisch relevanten Wertorientierungen. Dies gilt etwa für die gesteigerte Sensibilität gegenüber möglichen schädlichen Folgen der technisch-ökonomischen Entwicklung oder für den gewachsenen Bedarf an politischer Partizipation. Auch die Problematisierung des politischen Systems und die Befragung von Autoritäten können demokratischer Skepsis entspringen und müssen keineswegs von vornherein die Bestreitung demokratischer Prinzipien implizieren. Ebensowenig sind sämtliche Entwicklungstendenzen, die sich gegenwärtig beobachten lassen, überhaupt im engeren Sinn politisch; folglich fielen sie eigentlich aus dem Gegenstandsbereich genuin politischer Bildung heraus — wie z. B. die Ausprägung neuer Lebensstile und Lebenseinstellungen in der Gesellschaft.

Natürlich ist gerade diese These, so richtig sie systematisch sein mag, höchst angreifbar, weil z. B.der narzistisch-hedonistische Ansatz — also das Lustprinzip — aufgrund seines privatistischen Charakters als gesellschaftliches Gestaltungsprinzip höchst untauglich erscheint; denn die „Tyrannei der Intimität“ führt zum Verfall des öffentlichen Lebens Ähnlich verhält es sich mit der wachsenden Distanz zur Rationalität und der neuen Betonung des Gefühls und auch der Angst, die nicht nur als Ausweis besonderer Qualität des Menschseins, sondern auch als Ausweis von Modernität gilt — während sie doch Struktur-und Steuerungsprinzipien der modernen Gesellschaft entschieden widerstreitet.

Die Befunde scheinen nicht frei von Widersprüchen — z. B. Partizipation und Privatismus —, und ihre trennscharfe Einordnung be-reitet Schwierigkeiten. Darüber hinaus wandeln sich auch diese Befunde, da Zeiten und Medien Meinungen und Einstellungen rasch zu verändern scheinen — wenigstens global und statistisch betrachtet. Obgleich sich angesichts der unterschiedlichen methodischen Anlage entsprechender Untersuchungen Vorsicht empfiehlt, legt solch globale Betrachtung aufgrund einer noch spärlich publizierten Datenbasis den Schluß nahe, daß Jugend '84 sich von Jugend '81 hinsichtlich der Zufriedenheit mit ihren Lebensumständen und dem politischen System sowie ihrer Einstellung zu Zukunft, Arbeit, Leistung und materiellen Gütern unterscheidet — und zwar konventionell unterscheidet Zweifel sind jedoch erlaubt, ob der Schlüssel für unsere Fragestellung in solch globalen Ansätzen liegt Allzu global und deterministisch ist auch das populär gewordene Erklärungsmodell von der „stillen Revolution“. Gerade in der internationalen Diskussion trifft es zunehmend auf Kritik, obgleich es einen säkularen Trend zutreffend erkennt, nämlich die neue Attraktivität „postmaterialistischer" Orientierungen, die aus der weitgehenden Sättigung der materiellen Bedürfnisse erwächst. Dieses postmaterialistische Wertprofil bilden ideelle Werte und Zielsetzungen wie pesönliche Selbstverwirklichung, Mitwirkung an Entscheidungsprozessen, Lebensqualität, Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und so fort. Dagegen treten materielle Orientierungen wie wirtschaftliche Stabilität, Einkommen, Besitz, Tradition und Ordnung nicht nur zurück: Die „stille Revolution" als Konzept besteht vielmehr darin, daß diese Orientierungen in einem kontinuierlichen, undramatischen Prozeß des Wertwandels gänzlich abgelöst werden, während die postmateriellen Verhaltensmuster allgemeine Verbindlichkeit gewinnen

Nun ist es im Grunde nicht einsichtig, warum eine gewiß spannungsreiche Synthese beider Orientierungen nicht möglich und erstrebenswert sein soll. Sie würde sicher dem allgemeinen Konsens eher entsprechen als eindimensionale Optionen — und auch in der Praxis spricht vieles dafür, daß „alte" und „neue" Werte — wie neu sind sie wirklich? — „bei der Mehrheit der Bundesbürger eine Art widersprüchliche Wertharmonie bilden"

Der Determinismus der . „stillen Revolution“ sieht diesen denkbaren Spannungsbogen nicht vor. Für R. Inglehart, den Vater des Konzepts, sind Menschen, die materialistische und postmaterialistische Werte in sich vereinigen, nur Misch-und Übergangstypen — dazu verdammt, sich letztlich doch für den Postmaterialismus zu entscheiden. Damit ist bereits im Konzept „die gesinnungsbehaftete Verabsolutierung eines bestimmten Strangs der Entwicklungs-und Veränderungsrealität" perfekt Der Praxis sind Stichworte geliefert, welche die „stille Revolution" zu einem lautstarken Ereignis werden lassen können; denn wenn die Möglichkeit der Synthese geleugnet wird, geraten die beiden Orientierungen zu scharf kontrastierenden Wertkonzepten, und der Wertwandlungsprozeß wird in hohem Maße konfliktträchtig Die bewußten Träger des neuen Werteprofils befördern diesen Konflikt, indem sie traditionelle Orientierungen zu Unwerten erklären, die Platz zu machen hätten für die Alleinherrschaft des Neuen, das Anspruch auf Verbindlichkeit anmeldet: Verlangt wird z. B.der förmliche Bruch mit der alten und eine ausschließliche Richtungsentscheidung zugunsten einer neuen Werthierarchie, die sich nicht ausbalancieren lassen soll. Es gibt nur ein Für oder ein Gegen sie. Jeden Widerspruch „gilt es, mit dem Schwerte der unzweideutigen politischen Prioritätsentscheidung aufzulösen"

Damit nun nähern wir uns der Aufklärung des für politische Bildung brisanten Punktes, denn: Die Antwort dieses Konzepts und seiner politischen Umsetzung ist einseitig und inkomplett. In ihrem dualistischen Fehlverständnis deckt sie noch nicht einmal alle Dimensionen und Alternativen der Wertentwicklung ab, für die jüngst Helmut Klages und Willi Herbert die Begriffe „Wertsynthese", „Wertverlust" und „Wertumsturz" vorgeschlagen haben. Synthese, Vereinigung von alt und neu, führt zur Ausweitung der Einstellungs-und Verhaltensspielräume der Menschen. Verlust meint das „Herausfallen des Menschen aus jeglicher eindeutigen Wertbindung", so daß Einstellungen und Verhaltensweisen stark situationsabhängig, stark änderungs-und anpassungsoffen werden. Umsturz heißt engagierte Verdrängung tradierter Werte durch ein Kontrastprogramm. Die aktuelle Diskussion konzentriert sich vornehmlich auf die Dimension Umsturz, in der natürlich auch der brisante Punkt liegt; dies bedeutet aber nicht, daß Gesellschaft und politische Bildung nicht auch durch Synthese und Verlust gefordert wären: Synthese bedeutet Streß, Herausforderung und Chance, wobei die Problematik und Gefahren des Wertverlusts in einer wertgebundenen Ordnung evident sind.

Klages und Herbert gelingt es, mit einem erheblich feineren Meßverfahren, als Inglehart es entwickelt hat, differenzierte Typen der Wertdisposition in unserer Gesellschaft herauszuarbeiten, die cum grano salis den Dimensionen des Wertwandels — Verlust, Synthese, Umsturz — zugeordnet werden können. Zusätzlich identifizieren sie als immerhin noch größte Gruppe der eindeutig Zuordbaren ein Fünftel der Befragten, die Tradition und konventioneller Disposition verpflichtet sind. Um diesen Kern kristallisieren sich größere Teile der Bevölkerung, die überwiegend noch von Konvention und Tradition geprägt sind, wenngleich sich die innere Konsistenz dieser Prägung abschwächt.

Wichtig erscheint zudem ein fundamentaler Widerspruch zur Zwangsläufigkeit der „stillen Revolution", in dem ein Ansatz für die Über-windung der Gefahren des dualistischen Fehlverständnisses liegen könnte: Eine nicht gerade kleine Gruppe von 15% schafft offensichtlich die Synthese und sendet „Signale des mündigen Staatsbürgers" aus 11). Gemeint ist ein Bürgertyp, der nur die Extreme ausklammert, der politisch aktiv ist, zugleich aber auch die Identifikation mit den Grundstrukturen des politischen Systems vollzieht: einerseits Interesse, Kritik, Konfliktbereitschaft — jedoch ohne Militanz; andererseits auch hohes Anspruchsniveau an Werterfüllung. Das heißt ein selbstbewußter, keineswegs bequemer, aber stets kooperativer Bürger, wie ihn „die Demokratietheorie von Anfang an als Idealfigur und als notwendige Entsprechung zu den Institutionen der parlamentarischen Demokratie im Auge gehabt hat"

Gleichwohl verlangt vor allem der „Wertumsturz“ Aufmerksamkeit, denn auch diese vielseitige und keineswegs deterministische Analyse macht einen Riß, eine Hauptspannungslinie sichtbar, die unsere politische Kultur durchzieht und Tendenzen der Spaltung offenbart: ein Riß zwischen „alten“ und „neuen“ Wertdimensionen, denen entsprechende politische Verhaltensdispositionen folgen. Es wäre falsch, diese Kluft nur deswegen zu unterschätzen, weil sich am neuen Ufer Minderheiten versammeln. Nicht umsonst wurde eingangs auf die Bedeutung der gemeinsamen politischen Kultur für die Identität des Gemeinwesens hingewiesen. Wir kehren damit zur Konfliktträchtigkeit einer akzentuierten Gegenkultur zurück, die sich durch ausgesprochene Reaktionsbereitschaft auszeichnet Die spezifische Brisanz aktueller Entwicklungen liegt in dem Entstehen einer Gegenkultur und Gegengesellschaft als Minderheitsphänomen. Drei wichtige Konfliktzonen seien kurz genannt: 1. Die hohe Empfindlichkeit im Bereich „diffuser Legitimität“, also im Bereich affektiver Bindung und verfassungspolitischen Grundvertrauens. Die entsprechenden Einstellungen gegenüber dem politischen System sind bei dieser reaktionsbereiten Minderheit ohnehin schwächer ausgeprägt. Nur von „Restbeständen der Legitimitätsgewährung" ist die Rede.

2. Die anti-institutionellen Affekte, die in einem Partizipationsbegehren Ausdruck finden, das weitgehend als Selbstverwirklichung gegen die als grundsätzlich einzwängend empfundene Verfassungsordnung verstanden wird. Die individualistische Ungeduld des hic et nunc will die eigene Position stets schneller und an den institutionalisierten, Spontaneität zwar blockierenden, aber eben Verantwortlichkeit, Kontrollierbarkeit und Verbindlichkeit gewährleistenden Verfahren politischer Willensbildung vorbei verwirklichen. Partizipation bedeutet daher keineswegs immer Akzeptanz des Systems. Sie erfolgt vielmehr des öfteren „von außen“ und in gewisser Weise „wider-" oder „gegenständig".

3. Der Rückgang der Achtung vor Recht und Gesetz, die als konventionell und als Ausdruck bloß „formaler" Regeln und Ordnungen gelten. In dieser Erosion des Rechtsstaatsbegriffs unter Berufung auf ein höheres Wertbewußtsein, dessen Kehrseite zugleich ein riskanter Gewaltbegriff (oder ein riskanter Begriff dessen, was gewaltfrei sei) ist, liegt eine fundamentale Bezweiflung der klassischen Legitimitätsdoktrin des demokratischen Staates. Es wurde nun bewußt versucht, das Thema in den Kernbereich des Politischen zu drängen, auf das politische Bildung jedoch nicht unbedingt begrenzt werden soll. Aber sicher liegt dort ihre spezifische Kompetenz — vielleicht, in der Vergangenheit auch ihr spezifisches Defizit

II.

Die zweite Frage, die sich in aller Knappheit entfalten läßt, lautet nun: Was tun?

Mit Kurt Sontheimer lassen sich zwei Strategien empfehlen, die sich zu widersprechen scheinen, in Wahrheit aber ergänzen. Die erste Strategie besteht darin, nicht nur diese brisante politische Zuspitzung, sondern den Bewußtseinswandel im allgemeinen ernst zu nehmen — ernst zu nehmen als tiefgreifenden gesellschaftlichen Prozeß, der zwar intellektuell intensiv gefördert worden sein mag, aber durch den rapiden sozialen Wandel der westlichen Industriegesellschaft auch ganz wesentlich selbst geschaffen worden ist. Ängste und Entfremdungserfahrungen sind Ausdruck einer Krise unseres Selbstverständnisses. Sie abzubauen „setzt vor allem eine Erziehung zu nüchterner Wirklichkeitserkenntnis und zum verantwortungsbewußten Gebrauch unserer Freiheit voraus, beides Dinge, in denen wir Deutschen nicht besonders bewandert und erfahren sind" Die zweite Strategie ist die der kritischen Auseinandersetzung. Ängste und Emotionen sind nicht tabu; sie gehören auf den Prüfstand der Rationalität. Ebensowenig angemessen erscheinen eindimensionale Politikoptionen; sie gehören auf den Prüfstand komplexer Herausforderungen, die uns bedrängen. Das Feld der Bewußtseinsbildung darf nicht allein den Positionen überlassen bleiben, „die die Bewußtseinskrise unserer Gesellschaft zum Teil unter Mißachtung der Vernunftregeln bewußt verschärfen" um Gegensätze zwischen Bewußtsein auf der einen und Werten und Institutionen auf der anderer Seite zu erzeugen.

Eine realitäts-wie wertbezogene Politik für die Zukunft muß dem Grundgesetz aller Politik, die wirklich den Menschen dient, treu bleiben: nämlich die immateriellen Werte und ihr materielles Fundament zugleich zu verwirklichen. Folglich liegt die epochale Herausforderung nicht in einem der regelmäßig wiederkehrenden romantischen Rückfälle, in der kulturkritisch motivierten Ächtung der Industriegesellschaft, sondern in ihrer Humanisierung und Domestizierung zugunsten der Lebenschancen von Mensch und Natur. Eine wichtige, integrationsstiftende Aufgabe wird es sein, diesen Zusammenhang bewußt zu machen und beide Wertprofile miteinander zu versöhnen.

Eine weitere, gleichgewichtige Aufgabe im Rahmen dieser Strategie ist es, bewußten Tendenzen zur Verschärfung von Spannungen und Gegensätzen entgegenzutreten. Zu zeigen ist, daß im Rahmen des bewährten Koordinatensystems liberaler und rechtsstaatlicher Demokratie auch die Antwort auf die neuen Fragen nach der Humanisierung der Industriegesellschaft, nach der Verbesserung der Chancen politischer Mitbestimmung, nach der Verwirklichung von Werten jenseits der materiellen Fundamente gefunden werden kann; zu zeigen ist ferner, daß auch neue Wertorientierungen im Rahmen der bestehenden Institutionen verarbeitet werden und daß auch „neue“ Probleme und ihre Lösung in die Kontinuität der keineswegs wertneutralen Staatsidee der Bundesrepublik eingebracht werden können.

III.

Damit stellt sich schon die dritte Frage: Wo liegen primäre Anknüpfungspunkte spezifisch politischer Bildung?

Diese Antwort wird etwas umfassender ausfallen müssen, wobei insbesondere die Stichpunkte Wertbindung und Legitimität, Ethik des Pluralismus und schließlich Institutionen wichtig sind. 1. Wertbindung und Legitimität Der klassische, hochformalisierte, auf Legalität und nicht auf Legitimität abstellende Verfassungsbegriff erfaßt heute die rechtliche und politische Wirklichkeit unserer Verfassungsordnung nicht mehr. Die Verfassungsgeber hatten von Beginn an als Antwort auf den Weimarer Wertrelativismus und auf die Wertvernichtung des Nationalsozialismus gegenteilige Intentionen: nichts lag ihnen ferner als die Errichtung einer Verfassung lediglich formaltechnischen Inhalts und Verständnisses. Betont wurde vielmehr ihre sinn-und integrationsstiftende Funktion. Gestaltet wurde sie als wertgebundene Ordnung. Das Grundgesetz inkorporiert bewußt ethische Maximen, es erkennt vorstaatliche Rechte an und versucht sogar, sie in die Verfassung hereinzuholen, ihnen damit einen zusätzlichen und selbständigen Geltungsgrund verleihend. Eine solche Verfassung ist, wie Klaus Stern ausführte, als höchstrangige, normative Aussage über die Grundprinzipien der Herr-Schafts-und Wertordnung im Staat zu verstehen Dies soll nicht bedeuten, daß das Wertproblem in Staat und Gesellschaft gänzlich identisch zu behandeln wäre, aber angesichts der zeitgeschichtlichen und der aktuellen Problemdimension ist es erstaunlich, heute wieder auf ein defizitäres Staatsverständnis zu stoßen, welches dem Staat die Formalien, sich selbst aber den Bereich der Werte zuschiebt. Staat und Ethik lassen sich nicht gänzlich auseinanderrücken — in der Grundwertediskussion seit Mitte der siebziger Jahre ist nachhaltig daran erinnert worden. Verfassungsgeschichtlich war eine der Wurzeln der Idee, staatliche Macht und Gewalt einzuschränken, neben dem Naturrecht die klassische Lehre von der individuellen Persönlichkeit und ihrer Freiheit — ihrer Freiheit, die es mit Herrschaft zu versöhnen galt. Die Bonner Verfassungsväter haben bewußt versucht, an diese Tradition anzuknüpfen. Das Bundesverfassungsgericht beschwört daher mit dem Menschenbild des Grundgesetzes keineswegs einen Gemeinplatz, wie einmal gesagt worden ist Im Licht der klassischen Tradition wird klar, daß die Menschenwürde nichts ist, was man einerseits aus der Hand der Volksgemeinschaft — um die rechte Ideologie zu zitieren — oder andererseits aus der Hand des Kollektivs empfangen kann — um die linke Ideologie nicht zu vergessen. Eine Verfassung, die anders gemeint ist, kann man nicht auf das formaltechnische Prokrustesbett spannen. Ebenso sind Versuche, sich als Wertelite gegen sie zu profilieren, logisch zürn Scheitern verurteilt

Daraus folgt jedoch nicht, daß alles Formale sich inhaltlich zu legitimieren habe. Vielmehr nimmt der moderne Staat die inhaltlichen Bindungen zurück, ohne sie — jedenfalls nach dem hierzulande herrschenden Verständnis — gänzlich abzustreifen. Das Fazit ist oft gezogen worden: Der um der Humanität und Freiheit willen weltanschaulich neutrale Staat ist keineswegs wertneutral. Was als Dimension des Wertverlustes bereits angesprochen worden ist, wäre, überträgt der Wertverlust sich auf den Staat, nichts anderes als dessen Entlassung aus dieser Wertbindung. Im Interesse des Bürgers könnte das nicht liegen.

Wer nach verallgemeinerungsfähigen Interessen, nach verallgemeinerungsfähigen Werten sucht, um Normen rechtfertigen zu können, könnte sie dort finden, wo das Bundesverfassungsgericht die obersten Grundwerte angesprochen hat — bezeichnenderweise erfolgte dies, als es sich zum ersten Mal genötigt sah, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu definieren. Was dort angesprochen ist, ist einerseits konstitutiv für eine humane Gesellschaft; andererseits bleibt es so allgemein, daß der nötige Freiraum zur Wertverwirklichung von unterschiedlichen politischen Positionen aus und damit auch die weltanschauliche, freiheitsermöglichende Neutralität des Staates gesichert bleibt. Welchen als epochal empfundenen Herausforderungen der Gegenwart könnte nicht von dieser Wertebasis her begegnet werden? Kein „Ernstfall''scheint auch ernst genug, um auch nur eine dieser Voraussetzungen eines humanen Staates preiszugeben. Ein solcher Wert-konsens ist weder orientierungslos noch willkürlich, noch verhindert er Wertverwirklichung in pluralistischer Spannung. Vielmehr räumt er mehr, als bloße Verfassungstechnölogie es vermöchte, dem Bürger Identifikationsmöglichkeiten mit der Grundordnung ein und eröffnet dieser die Chance, Konsens zu stiften und jenes unerläßliche Maß an Integration zu bewirken, dessen auch die Gesellschaft bedarf — dies freilich nur unter der Voraussetzung, daß er im Bewußtsein und in Geltung gehalten bleibt Auf dem Hintergrund der skizzierten Herausforderungen gilt es, die These zu vermitteln, daß die wertgebundene Ordnung, die sich nur auf einen schmalen Basiskonsens und nicht auf politische Entscheidungen im Detail bezeihen kann, den Sitz ihrer Legitimität gleichsam in sich selbst hineinverlagert. Dies ist unproblematisch, wenn diese Ordnung empirisch gesättigt in unbezweifelbaren, gesellschaftsstiftenden und humanen Prinzipien gründet Insofern verdient Martin Kriele Zustimmung, der kürzlich schrieb: „In Wirklichkeit bedeutet Achtung vor dem Recht der Demokratie Achtung vor der Demokratie und Mißachtung des Rechts Mißachtung der Demokratie. Es gibt hier und heute keine höhere Legitimität als die Legalität." Dem ist hinzuzufügen: zumindest solange die Legalität der Verfassungsordnung nicht widerspricht. Die Feststellung darüber kann aber nicht beliebig, sondern nur im Rahmen dafür vorgesehener Verfahren getroffen werden. 2. Ethik des Pluralismus An der Wiege des Verfassungsstaats der Neuzeit steht nicht zuletzt die Einsicht, um der Würde des Menschen in Freiheit willen die inhaltlichen Bindungen zurückzunehmen. Diese Einsicht findet in der weltanschaulichen Neutralität des Staates ihren Ausdruck, dessen inhaltliche Legitimation dann in der Tat nur auf verallgemeinerungsfähige Werte abstellt. Die große Offenheit des Pluralismus-konzepts ist durchaus nicht —-wie kurz-schlüssig oft angenommen wird — ohne normative Widerlager. Wenn es sich gegen den Herrschaftsanspruch von politischen Heilslehren oder partikularen Zielentwürfen wendet, verabschiedet es nicht schlechthin das Gemeinwohl; dieses bleibt Handlungsmaxime zumindest der politischen Entscheidungsträger und strukturiert als „regulative Idee" den politischen Prozeß: Ebensowenig leidet die Integrität der Wahrheit Schaden, wenn sie sich politischer Indienststellung und politischen Definitionsversuchen entzieht. Nach Jaspers ist sie nie im ganzen verfügbar, sondern bleibt eine stets zu suchende, sich in Kommunikation, im Austausch der existentiellen und geschichtlichen Perspektiven ereignende. Sie hört auf mit dem Abbruch der Kommunikation, blindem Wahrheitsfanatismus und intoleranter Machtausübung. Politischer Prozeß und gesellschaftlicher Diskurs unterscheiden sich aber gerade in dem, was der kritische Rationalismus den . Abbruch des Verfahrens" oder die Systemtheorie den Abbruch des Lernprozesses" nennt. In den beiden genannten Bereichen besitzt die Diskussion unterschiedliche Reichweite. Politik unterliegt stets Entscheidungszwängen, welche den Abbruch der Diskussion erforderlich machen. Das koppelt sie einerseits ab vom Wahrheitsvollzug; sie bleibt stets unabgeschlossen, angreifbar, verbesserungsfähig. Andererseits verdeutlicht der Entscheidungszwang die Tatsache, daß letzte Wahrheitsfragen ihr Gegenstandsbereich nicht sein können, weil dort Kommunikation nur abgebrochen werden darf, wenn ein Zustand von Wahrheit erreicht ist — ein Fall, der nie eintritt Insofern wäre Politik, die ihre Grenzen überschritte, politikunfähig — weil entscheidungsunfähig; oder aber die Bewahrung politischer Handlungsfähigkeit müßte die Integrität der Wahrheit tangieren, weil politische Entscheidung die Suche nach ihr zumeist abbricht.

Am allerwenigsten gerechtfertigt sind Versuche, Pluralismus als wertneutral oder wertrelativistisch darzustellen. Gewiß ist er ein formales Strukturprinzip; aber geht man von der Freiheit des Individuums und der Gruppen in einer offenen Gesellschaft aus, dann offenbart das formale Prinzip eine eigentümliche Dialektik: Indem es den unterschiedlichsten Interessen und Wertvorstellungen Artikulations-und Entfaltungsspielraum gewährt, eröffnet es überhaupt erst einem breiten Spektrum normativer Orientierungen die Chance zur Inwertsetzung. Das Formale bildet also eine unabdingbare Voraussetzung für die Entfaltung von Werten. Freiheit wiederum hängt unmittelbar von der Geltung eines solchen formalen Strukturierungsprinzips gesellschaftlichen und politischen Handelns ab. Je mehr ein derartiges Prinzip inhaltlich gefaßt werden soll, um so mehr werden solche Entfaltungsspielräume, um so mehr wird Freiheit eingeschränkt.

Ob sich nun Individuen oder Gruppen in diesen Prozeß der Ziel-und Wertverwirklichung begeben — sie machen stets die Erfahrung, auf Konkurrenz zu stoßen. Hier offenbart sich eine zweite Dialektik: Freiheit, die geteilt ist werden muß, immer auch die Freiheit des Andersdenkenden. Die richtig verstandene Freiheit des Andersdenkenden macht es in der Realität (wie die empirische Beobachtung politischer Diskussionen erweist) oft schwer, Pluralität zu ertragen; denn jede Position — in der Regel subjektiv ja stichhaltig begründet — neigt erfahrungsgemäß dazu, sich selbst und ihren Durchsetzungsanspruch zumindest dominant zu interpretieren, wenn nicht sogar dazu, sich zu verabsolutieren.

Da die Tendenz besteht, die Freiheit, eingeräumt durch Pluralitätsgarantien, zur Beschneidung konkurrierender Entfaltung eben dieser Pluralität zu benutzen, kann der angeblich wertfreie Pluralismus nicht praktiziert werden ohne die Kardinaltugend Toleranz, die in der Tat nur zu herrschen vermag, wenn die Ziele einer humanen Gesellschaft offen-bleiben. Wenn Toleranz ihre philosophische Basis in der Erfahrung des Irrtums, im Zweifel an der bisherigen Erkenntnis, in der (nie abgeschlossenen) Suche nach Wahrheit und in der Bereitschaft, von anderen zu lernen hat dann weist sie über bloßes Ertragen weit hinaus: sie schließt vielmehr normativ Anerkennung ein sowie die Aufforderung an Individuen und Gruppen, ihre Positionen profiliert in den pluralistischen Wettbewerb einzubringen. Insofern läßt sich Pluralismus auch als Aufforderung verstehen, Freiheit in Anspruch zu nehmen.

Gerade Toleranz weist darauf hin, daß die plurale Demokratie nicht existieren kann ohne die Basis einer fundamentalen Gemeinsamkeit, die allen Kontroversen und Konflikten vorausliegt. Dieser Basiskonsens umfaßt den gesellschaftsstiftenden Wertkodex, der von den Diskussionen um Wertwandel in zweifacher Hinsicht tangiert wird. Zum einen wird seine Tauglichkeit für die Lösung der neuen Probleme bestritten und zugleich seine alternative inhaltliche Anfüllung propagiert, was im Klartext ein anderes Legitimationsprogramm und das Postulat zur Außerkraftsetzung des überkommenen bedeutet. Zum anderen wird — ganz auf dieser Linie — die Forderung erhoben, Legitimität erneut und erweitert qualitativ, inhaltlich, zu begründen:

auf das Programm einer „richtigen" Politik im Detail, die für sich Gewißheit über „das wirklich Bessere" beansprucht. Zu erinnern ist hier an die Auseinandersetzung um das Mehrheitsprinzip, in der vehement für die Privilegierung angeblich besser ausgewiesener Minderheiten eingetreten wird 3. Institutionen Als drittes für politische Bildung relevantes Themenfeld wurden eingangs die Institutionen genannt. Dort gibt es eine kritikbedürftige Paradoxie Einerseits war das praktische Institutionenverständnis rückläufig, andererseits wächst aber auch angesichts der sozialstaatlichen Entwicklung und der Versorgung der Bürger mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen die Abhängigkeit von diesen Institutionen. Gerade der vielfach festgestellte hohe Erwartungsdruck, den die profilierten Träger neuer Wertorientierungen an den Staat richten, während sie zugleich politisches Handeln im institutioneilen Rahmen gering schätzen, verschärft diese Paradoxie.

Von Bedeutung ist dieser Verständnisverlust, weil sich alles Wissen über Politik und alle politische Erfahrung in der spezifischen Ausformung politischer Institutionen ausdrückt. Politisches Handeln ist traditionsgemäß wesentlich Handeln innerhalb institutioneller Bedingungen und Schranken; darin liegt der Unterschied zu sozialem Handeln.

Oft wird der Vorwurf erhoben, der institutioneile Ansatz sei starr und formal, er mißachte die Realitäten, in denen Regeln und Prozeduren sich entfalteten. Und er enthalte kein kritisches Potential. Eine Notwendigkeit, bei einer derart formalen Betrachtungsweise stehenzubleiben, gibt es allerdings nicht; die Theoriegeschichte kennt dafür eine Fülle von Beispielen. Darüber hinaus ist der Einwand schon im Ansatz falsch.

Diese Formalismuskritik ist falsch, weil sie die normative Dimension der Institutionen verkennt. Institutionen sind niemals in sich selbst begründete politische Erscheinungen, sondern Ausdruck politischer Vorstellungen und Ziele: Ausdruck der zentralen Ordnungswerte, die in Gesellschaften vorherrschen, Repräsentanten auch des Sinnzusammenhangs einer Gemeinschaft. Institutionen und Werte sind also eng aufeinander bezogen. Damit wird für Analysen und Bildungsprozesse selbstverständlich auch die Frage wichtig, inwiefern die tatsächliche Verfassung von Institutionen den ihnen zugrundeliegenden normativen Orientierungen gerecht wird und inwiefern ihr Funktionieren in der Praxis der Verwirklichung dieser Orientierungen dient oder nicht. Beschränken sich Fragen also auf die Formalien, so liegt das nicht am Gegenstand, sondern an einer falsch programmierten Analyse. Wenn Institutionen Ausdruck historisch entwickelter Wertorientierungen sind, dann bietet im Gegenteil der institutioneile Ansatz die Chance, die empirische Beobachtung der Politik wieder in die Analyse der Werte zu integrieren, wie es der älteren politikphilosophischen Tradition entspricht

Der zu beobachtende neue Aufbruch zu weithin alten Werten schlägt stattdessen den Irrweg antiinstitutioneller Spontaneität ein, der eher in Richtung subjektive Willkür weist und in der Überindividualisierung und Entformalisierung ethischer Orientierungen keineswegs immer sozialverträglich erscheint In Wirklichkeit geht es gar nicht um den Gegensatz zwischen traditionellem Herrschaftsgehorsam und Funktionsgehorsam, zwischen Sachzwängen und Sinnfrage, denn unabhängig von den inhaltlichen Antworten, die Politik heute erteilt, fragt sie seit langem verstärkt nach Sinn und normativer Orientierung — und dies im Rahmen einer institutioneilen Ordnung, die ihr diese Orientierung aufgibt und selbst eine Voraussetzung dafür darstellt. Darin liegt geradezu der spezifische Beitrag der Institutionen zur politischen Integration und Kooperation einer Gesellschaft Der Staat — zumindest dieser Staat des Grundgesetzes — war niemals nur „technischer Dienstleistungsbetrieb" oder auch bloß wertneutral. Entsprechende Einwände scheinen heute überwiegend von solchen Positionen auszugehen, denen die Wertbindung nicht tief, weit und „eindeutig“ genug geht (und die damit gegen die Ethik des Pluralismus verstoßen), oder von solchen Positionen, die nach gegensätzlicher Wertbindung streben (und damit die gültigen normativen Prämissen der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie grundsätzlich in Frage stellen).

Würde ein Sprung aus der institutioneilen und für alle in gleicher Weise verbindlichen Verfassung von Ordnung und Verfahren tatsächlich legitimiert, so wäre die Freiheit des einzelnen rasch der Willkür von einzelnen geopfert. Politik hat mit verbindlicher Entscheidung zu tun. Theorie der Politik kann den in der Soziologie vielfach behaupteten Gegensatz von Freiheit und Institution nicht nachvollziehen: Könnte sie es, wäre sie keine Theorie der Politik mehr. Deren Gegenstand ist vielmehr seit langem die Frage, wie dieser Gegensatz aufgehoben und auf eine Weise versöhnt werden kann, die durchaus ethisch verankerte Legitimität begründet. „Werden Autonomie und Freiheit nur als Negation institutioneller . Einbindung'verstanden, zerstöB ren sie das Fundament, auf dem sie allein erwachsen können. Autonome Innerlichkeit und . Moralität'des einzelnen allein halten die Gesellschaft nicht zusammen. Sie selbst vermögen sich ohne institutionellen . Rückhalt’ weder herauszubilden noch zu behaupten. Sittliche Überzeugung, Reflexion und Kritik-fähigkeit sind höchst bedeutsame Staatsbürgertugenden. Ohne Recht und Institutionen aber können sie weder entstehen noch bestehen. Die moralisch begründete und . zurechnungsfähige'Freiheit des einzelnen setzt eine sie verbürgende und institutionell absichernde politische Ordnung voraus. Ohne eine solche Ordnung wäre Freiheit nicht von Willkür zu unterscheiden. Die politische Freiheit. die der Verfassungsstaat ermöglicht, ist keine Freiheit nur des spontanen, selbst ursprünglichen Bewirkens, keine Freiheit grenzenloser Willkür ... Der demokratische Verfassungsstaat entgeht den Antinomien des totalen Freiheitsdenkens, indem er Toleranz neben die Freiheit stellt. Toleranz aber bedeutet stets, daß Freiheit und sittliches Handeln des einzelnen über Institutionen vermittelt sind und in diesen ihre Wirklichkeit haben."

Wenn die Institutionen relativ wirksam funktionieren, zugleich aber ihr Sinn in Vergessenheit gerät, wenn es sogar eine Kluft gibt zwischen ihrer Stabilität und der Krise des Bewußtseins, dann liegt natürlich die Frage nahe, ob politische Bildung und Politikunterricht in der Vergangenheit versagt haben. Dafür gibt es sicher einige Indizien: der früher durchaus verbreitete Ansatz kruder Institutionenkunde, die zu den normativen Orientierungen und damit auch zum dynamischen und kritischen Potential nicht vordrang; die in der Theorie politischer Bildung mächtige Abneigung gegen institutionelle Orientierungen; die dort ebenso stimmführende Anlehnung an im Endeffekt antiinstitutionelle Ansätze in den siebziger Jahren, wie sie hier kritisiert worden sind. Alle drei Ansätze sind deswegen gefährlich, weil sich auf diesem Felde natürlich die Prozeßperspektive der Erziehung mit der Zukunftsperspektive der Gesellschaft und des politischen Systems durchdringt. Bedeutsamer fast als die direkte Herausforderung und Verleugnung der Institutionen, die sich direkt bekämpfen läßt, sind sicher Ignoranz, Orientierungslosigkeit und mangelnde Sensibilität für die Sinnfrage. Institutionen können kaum überlebensfähig sein, wenn ihr Sinn im Bewußtsein der Bürger nicht mehr präsent oder sogar nicht mehr akzeptiert ist. Angesichts der Interdependenz von Wertorientierung, Wertverwirklichung und institutioneller Ordnung ist auf wenigstens zwei Probleme hinzuweisen: Zum einen führen freivagabundierende Wertvorstellungen mit antiinstitutioneller Stoßrichtung nicht zur ständigen Rekonstruktion freiheitlicher Ordnung — im Gegenteil; zum anderen tangiert der Verlust an Sinnerkenntnis einer solchen Ordnung unmittelbar auch ihre normativen Prämissen — wie sich gegenwärtig relativ deutlich an jenen Erosionsprozessen zeigt, denen die Ethik der Toleranz und des Pluralismus unterliegen.

Der Grundsatzstreit um die Institutionenkunde, in den siebziger Jahren vehement ausgefochten, wird von da aus schwer verständlich. Streiten kann man mit guten Gründen lediglich wider eine verengte, nämlich der normativen Dimension beraubte Analyse, die sich mit formaler Organisation begnügt. Sich mit den Institutionen zu beschäftigen, bedeutet aber keineswegs, es in dieser verengten Weise tun zu müssen. Dagegen ist es wohl eine billige Forderung an politische Bildung in der freiheitlichen Demokratie, sich in un-verkürzter Weise damit zu beschäftigen — zumindest solange der Konsens darüber fortbesteht und auch nicht kryptisch in Zweifel gezogen wird, daß diese Ordnung der Würde des Menschen gemäß sei und ihre Identität in die Zukunft hinein verlängern soll.

Im übrigen ist diese Ordnung — um zum Anfang zurückzukehren — auch die Voraussetzung für die Freiheit politischer Bildung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. B. Sutor, Verfassung und Minimalkonsens, in: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 155. Der hier angesprochene Zusammenhang ist schon in der Vergangenheit mehrfach aufgelöst worden; er wird es auch heute wieder: . Allgemeinverbindliche Werte, die das Handeln strukturieren und dem Einzelnen wie dem Ganzen Sinn verleihen, gibt es nicht mehr und noch nicht wieder; ...“ (so B. Claußen, Entwicklungen der politischen Sozialisation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 35— 36/84, S. 41). Tatsache und Reichweite der Wertbindung unseres politischen Systems lassen sich nicht stärker mißverstehen — oder vergessen.

  2. Vgl. M. Hättich, Leben ohne Grundwerte?, München 1984.

  3. R. Sennet, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt 1983.

  4. Vgl. einerseits: H. -J. Veen, Mit den Risiken wächst die Zuversicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. 5. 1984, S. 9; andererseits: Jugend '81. Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, Hamburg 1981.

  5. R. Inglehart, The Silent Revolution, Princeton (NJ) 1977.

  6. SINUS-Institut, Die verunsicherte Generation. Jugend und Wertewandel, Opladen 1983, S. 16. Im übrigen sind Zweifel an Ingleharts Indikatoren erlaubt. Würde man heute „Inflation“ gegen . Arbeit“ austauschen, sähen die Ergebnisse anders aus. Mit anderen Worten: Die „stille Revolution“ ist konjunkturabhängig. Die realen Widersprüche in den Orientierungen ergeben sich aus widersprüchlichen Entwicklungstendenzen der Industriegesellschaft. Einerseits bewirkt sie ihren Wohlstand durch Leistungsorientierung. Andererseits erfordert die Absatzorientierung Genuß und Konsum. Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt-New York 1976, hat bereits auf die Unterhöhlung der Kapitalistischen Zivilisation, auf die Zerstörung der protestantischen Ethik durch Überfluß und Permissivität aufmerksam gemacht und beides als Kontrastelemente innerhalb des gleichen Systems dargestellt.

  7. H. Klages/W. Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt-New York 1983, S. 118.

  8. Vgl. H. von Recum, Dimensionen des Wertewandels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/84,

  9. B. Guggenberger, Umweltschutz und neue Parteibewegung, in: Chr. Graf v. Krockow (Hrsg.), Brauchen wir ein neues Parteiensystem?, Frankfurt 1983, S. 95.

  10. H. Klages/W. Herbert (Anm. 7), S. 113f. ") Ebd., S. 110.

  11. Ebd., S. 112.

  12. Ebd., S. 106.

  13. K. Sontheimer, Zeitenwende? Die Bundesrepublik Deutschland zwischen alter und alternativer Politik, Hamburg 1983, S. 44ff.

  14. Ebd., S. 44.

  15. Ebd.

  16. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, München 19842, S. 78.

  17. M. Kriele, Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/83, S. 23.

  18. Th. Ebert, Toleranz und Konfliktfähigkeit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 38/77. S. 16.

  19. Vgl. dazu jetzt B. Guggenberger/C. Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984, insbes. die Beiträge der beiden Herausgeber. Zur Kritik: H. Oberreuter, Parteien - zwischen Nestwärme und Funktionskälte, Zürich-Osnabrück 19842, S. 80ff.

  20. N. Johnson, The place of institutions in the study of politics, in: Political Studies, 23 (1975) 2/3, S. 149— 161.

  21. B. Guggenberger, Die . vergessenen“ Institutionen, in: Die . vergessenen“ Institutionen. Eine Analyse der Institutionen im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland (= Handbücher der Politischen Akademie Eichholz, Bd. 8), Melle 1979, S. 45.

Weitere Inhalte

Heinrich Oberreuter, Dr. phil, geb. 1942; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau. Veröffentlichungen u. a.: Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, Hamburg 1975 (Hrsg.); Parlament und Regierung. Ein Vergleich dreier Regierungssysteme, München 1977 (mit E. Hübner); Kann der Parlamentarismus überleben? Bund — Länder — Europa, Zürich 19782: Parlament und Parlamentsreform, München 19792 (mit Hans Maier u. a.); Freiheitliches Verfassungsdenken und politische Bildung, Stuttgart 1980 (Hrsg.); Pluralismus — Grundlegung und Diskussion, Opladen 1980 (Hrsg.); Parlamentsreform. Probleme und Perspektiven in westlichen Demokratien, Passau 1981 (Hrsg.); Übermacht der Medien, Zürich 1982; Machtverfall und Machtergreifung, München 1983 (Hrsg.); Parteien — zwischen Nestwärme und Funktionskälte, Zürich 19842.