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Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Zeidler zur Begründung des Urteils des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 — 2 BvE 1-4/83 — | APuZ 8-9/1983 | bpb.de

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APuZ 8-9/1983 Im Namen des Volkes Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Zeidler zur Begründung des Urteils des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 — 2 BvE 1-4/83 — Abweichende Meinung des Richters Dr. Rinck zu dem Urteil des Zweiten Senat vom 16. Februar 1983 — 2 BvE 1-4/83 — Abweichende Meinung des Richters Dr. Rottmann zu dem Urteil des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 — 2 BvE 1-4/83 — Artikel 1

Abweichende Meinung des Vizepräsidenten Zeidler zur Begründung des Urteils des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 — 2 BvE 1-4/83 —

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Wohl dem Ergebnis der Entscheidung, nicht aber allen Teilen ihrer Begründung vermag ich zuzustimmen.

1. Zu Recht wird festgestellt, daß die Verfassung dem Bundespräsidenten hinsichtlich der ihm im Verfahren nach Art. 68 GG abverlangten Entscheidung außerordentlich weite Befugnisse einräumt. Dies gilt für die ihm aufgegebene Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine Auflösung des Bundestages gemäß Art. 68 GG vorliegen, ebenso wie für die anschließend zu treffende Entscheidung, ob er von dieser Möglichkeit Gebrauch machen will. Seine Entschließungen können vom Bundesverfassungsgericht nur darauf hin überprüft werden, ob der Bundespräsident die im Grundgesetz statuierten tatbestandlichen Voraussetzungen verkannt oder die im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte evident falsch gewertet hat. Inhalt, Zweck und Grenzen seines Entscheidungsfreiraumes sind dadurch gekennzeichnet, daß dem Bundespräsidenten im Regelungssystem des Art. 68 GG ausnahmsweise eine politische Führungsrolle mit weitreichender Entscheidungs-und Gestaltungsmacht übertragen worden ist; er ist derjenige, der hier in erster Linie als Hüter und Wächter der Verfassung eingesetzt ist. Daraus folgen als Leitlinie und Programm für sein Handeln vorrangig zwei Zielorientierungen: die Wahrung der verfassungsrechtlichen Lauterkeit und die Gewährleistung der politischen Sinnhaftigkeit des Verfahrens.

2. Der dem Bundesverfassungsgericht unterbreitete Vorgang wird zunächst dadurch gekennzeichnet, daß er auf dem vielseitig, wiederholt und nachdrücklich bekundeten Willen der politischen Führungskräfte beruht, in Abkürzung der Legislaturperiode zu vorzeitigen Neuwahlen des Deutschen Bundestages zu kommen.

a) In der Mitteilung über die Koalitionsgespräche zwischen CDU/CSU und FDP vom 23. September 1982 (Informationsdienst der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Union in Deutschland, Bonn) heißt es u-a.: „Die Partei-und Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU und FDP... halten baldige Neuwahlen zum Bundestag für erforderlich.

Helmut Kohl erklärt, daß er als gewählter Bundeskanzler noch in diesem Jahre den Zeitpunkt für das In-Gang-Setzen des verfassungsmäßigen Verfahrens bekanntgeben wird, damit am ersten Sonntag im März Neuwahlen zum Deutschen Bundestag stattfinden können."

Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Dregger, hat am 14. Dezember 1982 im Deutschen Bundestag hinsichtlich der am 1. Oktober 1982 erfolgten Wahl eines neuen Bundeskanzlers von einer „zeitlichen Begrenzung des Regierungsauftrages" gesprochen und sinngemäß hinzugefügt, daß der Antrag nach Art. 68 GG eingesetzt werden solle, um die Voraussetzungen für Neuwahlen zu schaffen (StenBer 8578 D, 8579 A).

Für die Fraktion der FDP, der anderen die neue Regierung tragenden Partei, hat der Abgeordnete Hoppe ausgeführt, sie habe einen „begrenzten Auftrag" erhalten, „den sie in begrenzter Zeit zu erfüllen hatte". Der für das verabredete Regierungsprogramm ausgestellte Vertrauensbonus sei „aufgebraucht" (StenBer 8595 B).

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hat der Bundesminister des Innern diese Äußerungen zitiert und ergänzend bestätigt, die neue Koalition bereits im Herbst 1982 einen in mittlerer Zukunft liegenden Wahltermin für Neuwahlen ins Auge gefaßt habe. „Die Partner der Koalition halten also — wie dargelegt — aus zwingenden politischen Gründen vor einer Erneuerung des Regierungsprogramms eine Erneuerung ihrer politischen Legitimation und Bestätigung ihres jeweiligen Auftrages durch den Wähler für erforderlich."

b) Damit haben sich die Partner der neuen Regierungskoalition dazu bekannt, aus freien Stücken, nur auf der Grundlage ihres Willens-entschlusses, die Legislaturperiode verkürzen zu wollen. Hierbei bewegen sie sich außerhalb der Verfassung. Nach Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG dauert die Legislaturperiode vier Jahre. Dies ist zwar nicht unumstößlich, wie sich aus der Existenz von Vorschriften ergibt, die eine vorzeitige Auflösung des Bundestages ermöglichen (Art. 63 Abs. 4, 68 GG). Ordnungsgefüge und Sinnzusammenhang der Verfassung lassen aber erkennen, daß diese Auflösungsmöglichkeiten nicht nach freiem Belieben erweitert werden können.

Das Grundgesetz geht davon aus, daß mit der Wahl eines Bundeskanzlers implizite der .Ausspruch des Vertrauens" verbunden ist, wie eine Gesamtschau der Bestimmungen in Art. 63, 67 und 68 GG erweist. Das Phänomen eines sektoral oder temporär eingeschränkten Vertrauens ist dem Grundgesetz fremd. Die Mentalreservation bei der Kanzlerwahl, das mit der Wahl ausgesprochene Vertrauen in der einen oder anderen Richtung nur als begrenzt gelten lassen zu wollen, ist verfassungsrechtlich daher unbeachtlich.

Der dem Bundesverfassungsgericht unterbreitete Vorgang läuft darauf hinaus, daß sich politische Führungskräfte des Rechtes berühmen, nur auf der Grundlage ihrer eigenen Vorstellungen von politischer Zweckmäßigkeit und darauf beruhender Willensentschließung nach Belieben die Dauer der Legislaturperiode verkürzen zu können. Dies zielt auf eine punktuelle, stillschweigende Durchbrechung der Verfassung, die die Verfassungsväter aus wohlerwogenen Gründen, gestützt auf die gerade in dieser Beziehung besonders reichhaltigen Erfahrungen unter der Weimarer Verfassung, durch die Bestimmung des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG verhindert wissen wollten. Der Wille der Parteien „als solcher" konnte das eingeschlagene Verfahren danach nicht legitimieren.

Greift in einer solchen Lage ein Bundeskanzler zu dem Instrument des Art. 68 GG, um durch eine unechte Vertrauensfrage mittels eines von vornherein vereinbarten Abstimmungsergebnisses die formalen Voraussetzungen einer Bundestagsauflösung und damit von Neuwahlen zu schaffen, verfehlt er damit den dem Art. 68 GG innewohnenden Leitgedanken, Regierung und Parlament so lange wie nur irgend sinnvoll möglich in Funktion zu halten. Er unterläuft die Entscheidung des Grundgesetzes, das — anders als die meisten Landesverfassungen — eine Selbstauflösung des Parlaments unter keinen Umständen vorsieht 3. Aus den vom Bundeskanzler und den Parteien bekundeten Argumenten durfte mithin eine Auflösung des Bundestages nicht erfolgen. Dem Bundespräsidenten standen als Grundlage seiner Entscheidung jedoch noch weitere und andersartige Gründe zur Seite, unabhängig davon, ob diese von den Beteiligten erkannt oder geltend gemacht worden sind, so daß er gleichwohl aus den nachfolgenden Erwägungen in der gegebenen Situation den Bundestag auflösen durfte. Dabei gilt vorrangig folgendes:

a) Seit Schaffung des Grundgesetzes haben Rolle und Funktion des Bundeskanzlers einen Bedeutungswandel erfahren. Während die Mitglieder des Parlamentarischen Rates noch von dem Vorstellungsbild geleitet waren, über die Person des Kanzlers werde erst nach erfolgter Wahl im Parlament entschieden, hat sich in der Wirklichkeit des politischen Lebens unter dem Grundgesetz eine immer stärker wirksame personalisierte plebiszitäre Komponente durchgesetzt. Das begann bereits in den 50er Jahren mit der herausragenden Persönlichkeit Adenauers, dessen Verbleiben im Amt die Bundestagswahlen thematisch beherrschte. Am Ende der Großen Koalition 1969 wurde der Wahlkampf dominiert von dem Slogan Auf den Kanzler kommt es an". Der letzte Bundestagswahlkampf im Herbst 1980 stand im Zeichen einer besonderen Polarisierung zwischen Kanzler und Kanzlerkandidat. In diesem Spannungsfeld hatte der Vorsitzende der FDP versprochen: „Wer FDP wählt, garantiert, daß Helmut Schmidt Bundeskanzler bleibt", und damit zugleich eine eindeutige Koalitionsaussage gemacht. b) Der Bundespräsident war von Verfassungs wegen nicht gehindert, dieseTatsachen. die im Laufe der Jahrzehnte allgemein zu einer Veränderung im Verständnis vom Kanzleramt geführt haben, in seine Einschätzung einzubeziehen. Dem steht nicht entgegen, daß es sich beim Grundgesetz um eine Verfassung nach den Grundsätzen der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie handelt. Das Bundesverfassungsgericht hat schon frühzeitig entschieden, daß Verfassungsbestimmungen einen Bedeutungswandel erfahren können, „wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen...“ (BVerfGE 2, 380 [401]).

Siehe ferner BVerfGE 3, 407 [422]; 33, 199 [203f]; 39, 169 [181ff. ]; 41, 360 [369f]; 45, 187 [227, 229]; 54, 11 [36ff. ]; 56, 54 [78f. ]; 59, 336 ] 356f. ];

Ernst Benda, Konsens, Meinungsforschung und Verfassung, DÖV 1982, 877ff. [880]: „Die tragenden Verfassungsprinzipien sind... zu einem gewissen Grade offene Begriffe.“ Zum Begriff einer sog. „Living Constitution“ vgl. W. Zeidler, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 16. Cappenberger Gespräch, 1980, S. 53.

Aus den Äußerungen in der Literatur siehe z. B. Laband, Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, 1895;

P. Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, in: Festgabe für Th. Maunz, 1971, S. 285 ff. -, K. Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, in: Festschrift für U. Scheuner (hrsg. von H. Ehmke/J. H Kaiser/W. Kewenig/K. M. Meessen/W. Rüfner), 1973, S. 123 ff. [139];

K Stern, Staatsrecht Bd. 1, 1977, S. 80;

sowie neuestens B. -O. Bryde, Verfassungsentwicklung, Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1982.

Bei unverändertem Verfassungsinhalt kann sich danach ein neues Rechtsverständnis durchsetzen, dem auch mit der historischen Interpretationsmethode nicht entgegengetreten werden kann. Die Beratungen des Parlamentarischen Rates standen im Banne der Erfahrungen aus der Weimarer Republik, und von daher ist es unbezweifelbar richtig, daß kein Unterschied gemacht werden sollte zwischen einem gemäß Art. 63 und einem gemäß den Art. 67 oder 68 des Grundgesetzes gewählten Bundeskanzler. Der Parlamentarische Rat ging aus von der Konstruktion eines größtmöglichen Zwanges zur Stabilität, Kontinuität und zeitlich vollen Ausschöpfung der Legislaturperiode. Aber dies alles beruht auf der Geschichte von Weimar.

Indessen hat die Bundesrepublik inzwischen ihre etwa zweieinhalbmal so lang dauernde eigene Geschichte. Die aus ihr gewonnenen Erfahrungen treten neben den historisch-entstehungsgeschichtlichen Aspekt und sind bei der Auslegung des Grundgesetzes mindestens gleichrangig heranzuziehen. Demzufolge kann nicht außer Betracht bleiben, daß bei der Bundestagswahl der Wähler weithin das von der Welt der politischen Tatsachen honorierte Gefühl hat, mit seiner Stimmabgabe über die Person des künftigen Kanzlers zu entscheiden.

Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß ein gemäß Art. 67 GG ins Amt berufener Bundeskanzler sich mit einem Glaubwürdigkeitsdefizit behaftet fühlen mag, das seine Amtsautorität mindert. Skepsis in der Bevölkerung allgemein könnte durchschlagen bis in den Kreis der eigenen organisierten Anhängerschaft und durch den Ruch eines „Kanzlers zweiter Güte" die politische Handlungsfähigkeit lähmen.

c) Der Bundespräsident hat überdies in der mündlichen Verhandlung vortragen lassen, daß er auf Grund der am 5. Januar 1983 mit den Partei-und Fraktionsvorsitzenden geführten Gespräche von dem Faktum habe ausgehen müssen, „daß eine — vom Grundgesetz gewollte und politisch erstrebenswerte — stabile Regierung ohne Neuwahlen nicht mehr zu erreichen war". Er hat weiter erklärt, daß er den Bundestag nicht aufgelöst hätte, wenn nach seiner Überzeugung eine Mehrheit im Bundestag sich auf diesem Wege Vorteile bei der Wahl unter Verletzung der Interessen der Minderheit verschaffen würde; sein Bevollmächtigter hat diesen Gesichtspunkt als vorrangig bekräftigt.

4. Der Bundespräsident stand vor der Wahl des geringeren Übels: auf der einen Seite eine manipulierte Selbstauflösung des Bundestages, die durch eine „gesetz-zielwidrig" (Lerche) gestellte Vertrauensfrage instrumental ins Werk gesetzt worden ist; auf der anderen Seite die Amtsführung durch einen Bundeskanzler, der zwar die im Rechtssinne vollwertige Amtsgewalt innehat, dessen zur vollen politischen Handlungsfähigkeit erforderliche Glaubwürdigkeit im weitesten Sinne aber in Frage gestellt wird.

Es ist dem Bundesverfassungsgericht nicht möglich, im einzelnen die Überzeugungsbildung des Bundespräsidenten nachzuprüfen, und es ist auch nicht seine Aufgabe, darüber zu befinden, ob der Bundespräsident in der konkreten politischen Situation die bestmögliche Entscheidung getroffen hat. Wenn sich der Bundespräsident unter Berücksichtigung aller Umstände im Hinblick auf die Gewichtung der verschiedenen Rechtsgüter und politischen Interessen in dieser besonderen Situation für die Auflösung des Bundestages entschieden hat, so ist das verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden.

Zeidler

Fussnoten

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