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Ökologie und Demokratie — ein Problem der politischen Kultur | APuZ 26/1982 | bpb.de

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APuZ 26/1982 Dramaturgie politischer Reformen Reformkonjunkturen, neue soziale Bewegungen und politisches Krisenmanagement Ökologie und Demokratie — ein Problem der politischen Kultur Das Verstehen

Ökologie und Demokratie — ein Problem der politischen Kultur

Iring Fetscher

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Bereitschaft zur Hinnahme alternativer Wahlergebnisse als Legitimitätsgrundlage von Gesetzgebungsund Regierungstätigkeit beruht auf einem meist stillschweigenden Konsens. Dieser Konsens war im Fall der Bundesrepublik einmal die Ablehnung totalitärer Herrschaftssysteme, später bildete er sich auf der Grundlage der Annahme, daß soziale Konflikte friedlich beigelegt werden können, solange, ein ständig wachsendes Sozialprodukt allen steigende Realeinkommen verspricht. Voraussetzung hierfür war bislang das von allen Parteien gewünschte quantitative Wachstum der industriellen Produktion. Die ökologische Bewegung, die auf einem wachsenden Bewußtsein für die Bedrohlichkeit der industriellen Umweltbelastung und -Zerstörung beruht, stellt die Voraussetzung dieses Konsenses notwendig in Frage. Sie kann daher auch nicht einfach durch den Hinweis auf die intakten Institutionen und Mechanismen des politischen Systems abgefunden werden. Aber auch eine rein wissenschaftliche (Experten-) Entscheidung der Streitfrage zwischen Anhängern und Gegnern des Wachstums „ohne Wenn und Aber" ist kaum möglich, da sich Experten für beide Positionen finden lassen. Aus diesem Grunde erscheint das von der Enqute-Kommission befürwortete Moratorium für den Bau von Kernkraftwerken vorläufig als sinnvolle Lösung. Langfristig sollte allerdings ein neuer Grundkonsens angestrebt werden. Der Verfasser nimmt an, daß in absehbarer Zeit eine Abkehr vom linearen (quantitativen) Wachstum und statt dessen qualitative Verbesserungen von Produkten, Arbeitsplätzen und Lebensformen konsensuell angestrebt werden.

In unserer Gesellschaft ist es immer wieder zu einem offenen Konflikt zwischen organisierten Gruppen oder auch Einzelpersonen mit ökologischen Zielen und den Organen der „öffentlichen Macht" gekommen. Ich brauche nur an die Auseinandersetzungen in Gorleben, Wyhl und andernorts zu erinnern. Die politischen Repräsentanten des Staats — oder doch viele amtliche Sprecher — behaupteten dabei, sie kämpften lediglich für die Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Ordnung, die demokratisch legitimiert sei. Nehmen wir einmal an, das sei — wenigstens im Prinzip — eine ehrliche Überzeugung. Worauf beruht sie dann? Sie geht davon aus, daß in unserem Staat die Gesetze von demokratisch legitimierten Parlamenten verabschiedet worden sind, daß Regierungen parlamentarischen Vertretungen (bzw.deren Mehrheiten) gegenüber verantwortlich sind und daß dabei auch die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung — wenn nötig mit Mitteln polizeilicher Gewalt — sowohl legal als auch legitim ist.

Diese Demokratieauffassung verlangt als Voraussetzung für das Vorhandensein von Demokratie: 1. durch Wahlen legitimierte Gesetzgebungs-und Regierungskörperschaften;

2. an Gesetze gebundene Verwaltungen und Regierungen;

3. die Existenz (und legale Betätigungsmöglichkeit) einer Opposition;

4. Informationsfreiheit, Freiheit der Meinungsbildung, der Organisation usw.

Alle vier Bedingungen sind — nach herrschender Lehre — in der Bundesrepublik erfüllt. Allenfalls wird bei der vierten (Informationsfreiheit) hinsichtlich der Sonntagszeitungen und der Tageszeitungen in manchen Städten und Gebieten eine leichte Einschränkung gemacht. Als „Gegengewicht" gegen regionale Zeitungsmonopole wird dann auf die „öffentlich-rechtlich" strukturierten Rundfunk-und Fernsehsendeanstalten verwiesen.

Nehmen wir einmal an, diese — und andere mögliche Einschränkungen — seien jedenfalls nicht schwerwiegend genug, um allein aus diesem Grund schon die demokratische Verfaßt-heit der Bundesrepublik in Frage zu stellen, wofür einiges spricht, so bleibt dennoch eine äußerst triftige weitere Frage. Zwar ist es richtig, daß eine Demokratie ohne Existenz einer legalen (und arbeitsfähigen) Opposition nicht lebensfähig ist, aber eine Demokratie kann auch nicht auskommen ohne einen grundsätzlichen Konsens. Eine fundamentale Überein-stimmung, die zwar nicht alle Lebensbereiche umfassen kann und muß, aber doch ausreichend groß ist, um den Verzicht auf die Durchsetzung eigener, abweichender Auffassungen, die in der Anerkennung des Mehrheitsprinzips enthalten ist, zu ermöglichen.

In der Geschichte der Demokratietheorien unterscheiden wir gewöhnlich zwischen Konsensus-und Konflikttheorien. Realistischerweise aber muß zugegeben werden, daß beide Bestandteile — in unterschiedlicher Mischung — unentbehrlich sind, wenn von realer Demokratie gesprochen werden soll.

Formen des Grundkonsens: Nationalismus, Anti-Totalitarismus, Wirtschaftswachstum

Die Rousseau-Tradition versteht unter Demokratie eine Gemeinschaft von Menschen, in der — zumindest tendenziell — eine Identität oder Einheit von Regierenden und Regierten besteht. Jeder Citoyen soll sich mit dem „Gemeinwillen", der im Gesetz seinen Ausdruck findet, identifizieren, ihn als seinen eigenen Willen wiedererkennen können.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Hanser-Verlages aus: Physik, Philosophie und Politik. Festschrift für Carl Friedrich von Weizsäcker zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Klaus Michael Meyer-Abich, München 1982.

Um diese Identifizierung möglich zu machen, müssen aber die realen Interessen der Citoyens wenigstens weitgehend identisch sein. Und dazu müssen ihre materiellen Lebensumstände einander gleichen oder doch wenigstens sehr ähnlich sein. „Niemand“, so heißt es im Contrat Social, „soll so reich sein, um einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, um sich an einen anderen verkaufen zu müssen." Nur soweit diese „ideale soziale Basis" gegeben war, hielt Rousseau im Grunde eine Demokratie in seinem Sinn für möglich. Den Polen, in deren Gesellschaft es sehr erhebliche Standes-und Klassenunterschiede gab, empfahl Rousseau in seinen „Considerations sur le Gouvernement de Pologne" allerdings — gleichsam als Surrogat für die nicht vorhandene, erst allmählich durch Reformen anzustrebende, soziale Homogenität — den Patriotismus. Durch die Betonung des gemeinsamen Abgrenzungsinteresses — sowohl nach Osten gegenüber den Russen wie nach Westen gegenüber den Preußen und Österreichern — sollte die fehlende soziale Homogenität und die fehlende Ähnlichkeit der materiellen Interessen ersetzt oder überdeckt werden. Als nationalbewußte Polen sollten sich arme Bauern, städtische Handwerker und adelige Großgrundbesitzer als Einheit, als zusammengehörig fühlen. Nationalkostüme, nationale Feste, die gemeinsame nationale Religion (die vom griechisch-orthodoxen Katholizismus der Russen wie vom Protestantismus der Preußen sich unterschied) sollte das erforderliche Minimum an Konsens und Identifikation ermöglichen, ohne das ein demokratisches Gemeinwesen nicht existenzfähig ist.

Rousseaus Vorschlag an die Polen hat in der Tat während des gesamten 19. Jahrhunderts als wirksames Mittel des sozialen Zusammenhalts in den kapitalistischen Klassengesellschaften gedient. Es hat weit erfolgreicher gewirkt, als Rousseau das voraussehen konnte und als z. B. marxistische Sozialisten annahmen. Daß das Gefühl oder das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit zur Unterstellung gemeinsamer nationaler Interessen führen und die Hinnahme sozialer Benachteiligung bewirken kann, sehen wir an einigen Nationen bis zum heutigen Tag. Der Begriff „Nation" selbst bezeichnet ja — im Unterschied zu „Volk" — die politisch bewußte, von der Mehrheit gewollte und akzeptierte Zusammengehörigkeit zu einem demokratisch verfaßten Ganzen. Thomas Mann hat daher in seinem Tagebuch mit Recht Zweifel daran angemeldet, ob die Deutschen wirklich eine „Nation" seien, weil sie — im Unterschied zur französischen Nation — sich kaum auf die Erinnerung an eine gemeinsame politische Tat (die „Große Französische Revolution" für die Franzosen) beziehen können. Im Unterschied zu den Franzosen bezogen die Deutschen ihr nationales Selbstbewußtsein ganz ausschließlich aus der emphatischen Ablehnung anderer Völker und deren politischer Verfaßtheit. Lange Zeit war diese Ablehnung mit der konservativen bis reaktionären Zurückweisung der „Prinzipien der Französischen Revolution" und der „abstrakten, westlichen Demokratien" eng verknüpft Der deutsche Volksbegriff war betont unpoliB tisch, oder sein politischer Akzent lag lediglich in der Zurückweisung der revolutionären Errungenschaften „des Westens" — der Niederländer, Engländer und Franzosen.

An diesem Widerspruch zwischen dem nationalen oder vielmehr nationalistischen Selbstverständnis erheblicher Teile des deutschen Establishments zur 1918 erkämpften parlamentarisch-bürgerlichen Demokratie ist die Weimarer Republik — unter anderem — zugrunde gegangen. Die Masse der sozialdemokratischen Arbeiter, die dem Bürgertum das Geschenk verspäteter bürgerlicher revolutionärer Errungenschaften gemacht hatte, wurde von diesem gleichen Bürgertum — gemeinsam mit den bewußten Anhängern des vorrevolutionären Status — bekämpft und als „innerer Feind" zurückgewiesen. Ein wirklicher Konsensus kam nicht einmal zwischen den bürgerlichen Liberalen und den Reformsozialisten zustande. Die Weimarer Republik — das ist eine Banalität, an die jedoch erinnert werden muß — ist nicht am Fehlen legaler Opposition, sondern am Fehlen eines solchen demokratischen Minimalkonsenses zugrunde gegangen. Grob vereinfacht kann man sagen, die besitzende Minderheit fürchtete mögliche sozialistische Konsequenzen der Demokratie mehr als die Folgen einer unumschränkten Diktatur durch den deutschen Faschismus und hat aus diesem Grund keinen Einspruch gegen die „Machtübernahme" der Nazis erhoben, ja diese seit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise sogar heimlich und öffentlich gefördert.

Die zweite deutsche Republik, die 1949 nicht nach einer — noch so lahmen — vorausgegangenen Revolution, sondern als „Geschenk der Alliierten“ auf dem Boden der Trizone errichtet werden konnte, basierte etwa bis 1956 auf einem negativen Konsensus: der Ablehnung dessen, was man Totalitarismus nannte. Diese Kompromißformel war für die alten Antifaschisten akzeptabel, weil sie darunter vor allem die Zurückweisung des Nazisystems verstanden, und sie war für die ehemaligen Mitläufer (und mehr als Mitläufer) der Nazis bequem, weil sie es ihnen erlaubte, lediglich an die Sowjetunion und die DDR zu denken, von denen behauptet wurde, sie seien ja „weit schlimmer als das Dritte Reich". Unausgesprochen (und in Stammtischkreisen sogar ausgesprochen) war damit auch noch der Überfall der Nazis auf die Sowjetunion wenn nicht nachträglich gerechtfertigt, so zumindest „entschuldigt".

Dieser anti-totalitaristische Konsens wird auch heute noch von Rechtskreisen gern beschworen, weil er es erlaubt innenpolitische und soziale Konflikte zu unterdrücken. Sobald es zu schärferen Konfrontationen kommt, wird nämlich einfach behauptet, sie gefährdeten die „ideologische und militärische" Abwehrkraft gegenüber dem östlichen Totalitarismus, die doch vom „Grundkonsens" gefordert werde. Forderungen nach Vergesellschaftung von Grundstoffindustrien oder des Bankgewerbes können unter dieser Voraussetzung z. B. nicht sachlich hinsichtlich ihrer Nützlichkeit diskutiert werden, sondern werden von vornherein als . Aufkündigung des antitotalitären Grundkonsenses" diffamiert. Ja, in dem Bemühen, das Grundgesetz, das ausdrücklich gegenüber der Gestaltung des Wirtschaftssystems neutral ist, als ehernen Schutzwall gegen jeden Versuch der Sozialisierung zu gebrauchen, gehen einige Verfassungslehrer — allerdings nicht das Bundesverfassungsgericht — so weit, Marktwirtschaft und Privateigentum an den Produktionsmitteln zu Verfassungsbestandteilen zu machen.

In dem Maße, wie dieser „antitotalitäre Grund-konsens" obsolet oder durch ansatzweise Reformversuche in den Ostblockstaaten und später des Eurokommunismus zur pauschalen Verurteilung des Sozialismus unbrauchbar wurde, traten andere — an den Jugendrebellionen oder politisch motivierten Gewalttaten orientierte — Feindbilder an seine Stelle.

Nicht dieser — an der Oberfläche dominierende — alte Grundkonsens ist aber allein fragwürdig geworden, sondern auch der weniger explizit ausgesprochene und dennoch weit wirksamere, der zu jahrzehntelanger Massen-loyalität gerade auch der arbeitenden bundesdeutschen Bevölkerung geführt hat: der Konsens, daß Wirtschaftswachstum die Voraussetzung des Fortschritts und ein damit verbundener ständig wachsender Wohlstand Sinn des Daseins ist. Regierungen wurden dafür gelobt und anerkannt, daß sie schnelles Wirtschaftswachstum sicherstellten, wurden gestürzt, wenn es ihnen nicht rasch genug gelang, Rezessionen zu überwinden usw. Regierungsparteien und Opposition waren sich stets darin einig, daß Wirtschaftswachstum die unabdingbare Voraussetzung aller anderen „Güter“ ist. Der amerikanische Soziologe Luther Carpenter hat diesen Konsensus unlängst als fundamental für so gut wie alle westlichen Nachkriegsgesellschaften bezeichnet. Er schreibt: „Seit 1945 war das rasche Wachstum des BSP das Hauptziel westlicher Regierungen. Es war die Grundlage des Wohlfahrtsstaats-Kompromisses, die Antwort auf Klassenspannungen und auf Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit bei der Verurteilung von Reichtum und Macht (Einfluß). Schnelles Wachstum erlaubte es, die Reallöhne der Arbeiter und die sozialen Dienstleistungen zu verbessern, ohne die ökonomischen Privilegien der großen Unternehmungen anzutasten" (1979, S. 453).

Weil dieser Zusammenhang zwischen relativer Zufriedenheit der Bevölkerungsmehrheit und Respektierung der Interessen der großen Unternehmen in der Tat besteht, drängen so viele Politiker in der westlichen Welt auch heute noch auf erneutes Wirtschaftswachstum. Wachstum — und die damit — zu Recht oder Unrecht — verbundene Erwartung eigener Wohlstandsmehrung ist noch immer der wichtigste „soziale Tranquilizer" der Industrie-gesellschaften. In bezug auf die Wünschbarkeit industriellen Wachstums gibt es sogar noch Übereinstimmung zwischen so unterschiedlichen Parteien wie den französischen Kommunisten und den Gaullisten, zwischen Margareth Thatcher und Enrico Berlinguer, auch wenn hinsichtlich der Methoden der Wachstumssteigerung und der Verteilung des Zuwachses gewiß nicht nur Unterschiede, sondern sogar Gegensätze bestehen.

Auf der Basis des Konsensus hinsichtlich der Wünschbarkeit von industriellem Wachstum können die Kontroversen in bezug auf die Lohnquote zwischen den Tarifpartnern leichter ausgetragen werden. Auf der Grundlage eines Konsensus hinsichtlich des Wachstums schrumpfen die Auseinandersetzungen um die Wirtschaftspolitik auf einen Streit um die besten „Ankurbelungsmethoden" zwischen Keynesianern und Neoliberalen Anhängern von Milton Friedman. Jenseits dieses Konsensus aber liegt die Herausforderung durch ökologische Parteien und Gruppierungen. Nicht als ob alle Ökologen Anhänger des Nullwachstums oder einer Schrumpfung der Produktion sein müßten, aber doch so, daß sie ganz andere Prioritäten setzen und industrielles Wachstum in der bisherigen Form ablehnen. Welch weitreichende Konsequenzen diese Prioritäten haben, kann man am Beispiel der kompromißlos auf Wachstum setzenden neuen amerikanischen Regierung ablesen. Um alle „Hemmungen" wirtschaftlichen Wachstums zu beseitigen, hat Ronald Reagan selbst die schon bestehenden Umweltschutzbestimmungen überprüfen und teilweise außer Kraft setzen lassen, hat er einen Mann mit der Leitung des Amts für Umweltschutz betraut, der als Anwalt die Gegner der Umweltschützer in Prozessen erfolgreich vertreten hat, hat er die Bestimmungen über das Verbot der Bleibeimischung zum Benzin aufgehoben usw. Das alles ohne von der Mehrheit der Gewerkschaften oder der Kongreßmitglieder dafür laut geta29 delt zu werden. Der Einspruch der — in Amerika übrigens außerordentlich zahlreichen — Umweltverteidiger hat ihn nicht beeindruckt. In Kanada freilich, das mehr als 50 % seiner Umweltbelastung , aus den USA bezieht', wächst der Unmut darüber, von dem großen Nachbarn als Müllkippe benutzt zu werden, auch bei den Politikern.

Ein Moratorium im kulturellen Wandel?

Auch wenn sich die ökologische Bewegung dessen noch nicht überall bewußt ist: die Durchsetzung ihrer Ziele und die Anerkennung ihrer Prioritäten setzt eine vollständige Änderung der sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse, Wertungen und Zukunftserwartungen voraus. Die eine — scheinbar partikulare — Frage: ob wir das industriell-technologische Wachstum weiterhin „ungezügelt" zulassen oder gar fördern sollen, hat, wenn sie mit „nein" beantwortet wird, weitreichende Konsequenzen. Die Furcht vor diesen Konsequenzen und die mangelnde Vorstellungskraft der meisten Repräsentanten des politischen und ökonomischen Establishment hat bisher im allgemeinen die Bereitschaft auch nur zu einem wirklich offenen Diskurs mit den Anwälten alternativer Wirtschaftsund Lebensweisen verhindert.

Bei den Anwälten des alternativen Lebens — auf der anderen Seite — herrscht verständliche Skepsis, was die Lernfähigkeit des politischen Systems und der politischen Kultur der Bundesrepublik angeht. Der Verweis auf die Rechtsstaatlichkeit und die Existenz legaler Oppositionsparteien reicht eben nicht aus, wenn eine Gruppe die stillschweigende Voraussetzung in Frage stellt, von der alle übrigen Parteien ausgehen. Da diese Voraussetzung aber keineswegs ein „oberster Wert" oder ein „höchstes Ziel" ist und noch weniger den Schutz der Verfassung für sich in Anspruch nehmen kann, muß es auch erlaubt sein, sie in Frage zu stellen. Darüber hinaus können die Anwälte der ökologischen Kurskorrektur auf zahlreiche Gefahren verweisen, die aus einer Befolgung des bisherigen Wegs mit Notwendigkeit resultieren (und von denen viele bereits eingetreten sind).

In einigen Experten-Gremien wird neuerdings über die sogenannte „soziale Akzeptanz" von Energiesystemen gesprochen. Damit ist die Bereitschaft der Bevölkerung zur Hinnahme bestimmter Risiken oder Konsequenzen z. B. a) der beschleunigten Entwicklung von Kernkraftwerken und b) des Ausbaus alternativer Energiesysteme (Sonnenenergie, „Energiequelle Energieeinsparung") gemeint. Solange Wachstum als ein generell erstrebenswertes, ja unabdingbares Ziel angesehen wurde, war die Bereitschaft zur Hinnahme erheblicher Gefahren um des Wachstums willen durchaus vorhanden. Seit dieses Ziel immer fragwürdiger geworden ist, mußte aber auch diese Risikobereitschaft schwinden. Die historischen Vergleiche mit der Einführung der Eisenbahn, der städtischen Gasbeleuchtung, der Elektrizität usw. sind daher nicht angebracht. Wenn seinerzeit Neuerungen nur von rückständigen Minderheiten auf dem Lande bekämpft wurden, so finden sich heute in den Reihen der Kritiker eine Menge Ingenieure und Wissenschaftler, die selbst an den Erfindungen mitgearbeitet haben. Vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte der Demokratie kann ernstlich die Frage gestellt werden, ob die Aufrechterhaltung freiheitlicher, demokratischer Verhältnisse mit beliebigen Energiesystemen und Technologien vereinbar ist, also die Frage nach der „Sozialverträglichkeit" von Energie-systemen (Meyer-Abich, Schefold 1981). Das Kriterium der Sozialverträglichkeit ist nach der Empfehlung der Enquöte-Kommission „Energiepolitik" des Achten Deutschen Bundestags sogar einer der vier Basisgesichtspunkte, die bei der Entscheidung zwischen energiepolitischen Optionen zu berücksichtigen sind.

Die Wende, von der Erhard Eppler (1975) spricht, setzt letztlich eine kulturelle Wandlung voraus, die nicht nur eine Abkehr von der Wachstumsgesellschaft, sondern auch eine Umorientierung vom quantitativen Lebensstandard auf eine qualitative Vorstellung von befriedigendem Dasein verlangt. Die Erkenntnis, daß es sich bei der ökologischen Frage letztlich um eine säkulare kulturelle Wende handelt, daß von einer allmählich wachsenden Minderheit der Bevölkerung in den hochindustrialisierten Staaten (am meisten dort, wo der Nationalismus am schwächsten ist) der „Grundkonsens", daß Wachstum des BSP die Voraussetzung des „guten Lebens" ist, aufgekündigt wird, müßte von den Repräsentanten des politischen Systems — der Demokratie — in ihrer vollen Tragweite berücksichtigt werden. Wäre das der Fall, dann könnte aber die Opposition gegen den Bau von Kernkraftwerken, Autobahnen usw. nicht mehr als bloßer „vorübergehender Störfaktor" unter Verweis auf noch vorhandene Mehrheiten vom Tisch gefegt werden.

Auf der anderen Seite kann aber auch die engagierte ökologisch bewußte Minderheit (auch wenn sie Anspruch auf Minderheitenschutz hat) nicht verlangen, daß sich die Mehrheit unverzüglich umorientiert, ganz abgesehen davon, daß die notwendige Wende weitgehende Veränderungen unseres Verhaltens und unserer Wertorientierung verlangt, zu der selbst engagierte Ökologen noch nicht sämtlich bereit sein dürften.

Als während des konfessionellen Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert die widerstreitenden Konfliktparteien sich nicht einigen konnten, wurde der politische Frieden dadurch wieder hergestellt, daß sich der Staat aus der Sphäre der religiösen Streitigkeiten herauszog.

Eine analoge Haltung ist deshalb bei unserer Streitfrage nicht möglich, weil der moderne Staat selbst als handelndes Subjekt energischer Förderer der technologischen Entwicklung ist. Ohne seine Entscheidungen, ohne die Vorfinanzierung nuklearer Forschung, die Abdeckung des überhöhten Risikos usw. wäre die Entwicklung z. B.der Kernenergie kaum möglich gewesen und kann sie weder fortgesetzt noch abgebrochen werden. Der Staat kann sich daher auch nicht aus dem Gebiet der Diskussion um künftige Energiesysteme und die industriellen Entwicklungen heraushalten. Er kann aber — oder vielmehr eine sensible demokratische Öffentlichkeit sollte — angesichts der Ernsthaftigkeit der Fragen, die nicht ohne weitgehenden Konsens entschieden werden können, sich zu einem Moratorium bereitfinden, wie es die Enquete-Kommission „Energiepolitik" des Achten Deutschen Bundestages empfohlen hat. Danach sollte für eine absehbare Zeit beiden Seiten die Möglichkeit gelassen werden, ihre gegensätzlichen Auffassungen und Wege zu demonstrieren, ohne daß durch den Ausbau der Kernenergie ökonomische und technologische Präjudizien geschaffen würden, die dann in fünf oder zehn Jahren alle Optionen in anderer Richtung zumindest außerordentlich erschweren.

Vor allem aber sollte klar sein, daß in dieser Frage der Hinweis auf die formal-demokratischen Verfahren nicht mehr ausreicht, um Legitimitätsüberzeugungen zu begründen. Genauso wenig, wie sich die religiösen Minderheiten im 17. Jahrhundert — in England und den Niederlanden — durch Mehrheitsbeschlüsse von ihren Glaubensüberzeugungen abbringen ließen, lassen sich heute Gegner der Nukleartechnologie, die sich auf beinahe gleich gewichtige Gutachten von Fachleuten berufen können wie deren Verteidiger, davon überzeugen, daß wir in „die Steinzeit" zurückfallen, wenn wir auf diese technologische Möglichkeit verzichten, und daß sie sich aus diesem Grunde dem Mehrheitsvotum beugen müssen.

Technokraten, die — wie Schelsky das im „technischen Staat" ganz richtig beschrieben hat — in demokratischen Wahlen ohnehin nur leider bisher unentbehrliche Legitimationsbeschaffungsmittel sehen, auf die sie gern verzichten würden, gehen nach wie vor davon aus, daß das Volk im Grunde keine Ahnung hat, was für es gut ist. Der einzige Fehler, dessen sie sich anklagen, ist daher ungenügende Propagierung der Kernenergie und des industriellen Wachstums als Allheilmittel. Immerhin wird dieses Defizit ja seit einiger Zeit mit erheblichem Werbeaufwand und fachmännischer Imagination nachgeholt. Die für diese Werbe-und Manipulationszwecke aufgewandte Phantasie könnte freilich weit nutzbringender auf die Entwicklung alternativer Energiequellen und alternativer Arbeitsund Lebensformen verwandt werden.

Das mit der politischen Kultur einer lebendigen Demokratie allein vereinbarte Moratorium in bezug auf den Ausbau von Kernenergie könnte erweitert werden durch die Zulassung und bewußte staatliche Förderung alternativer Produktionsbetriebe und Lebensformen.

Andr Gorz, Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Bertram Schefold und andere haben in jüngster Zeit den Gedanken einer „dualen Wirtschaft“ entwickelt. Das heißt eines Wirtschaftssystems, in dem — nebeneinander — Platz für industrielle Produktionsformen und handwerklich-manufakturelle oder auch gärtnerische Produktionsweisen ist, wobei zwischen beiden marktförmige Austauschverhältnisse bestehen. Dieser zweite — weniger kapitalintensive und weniger umweltbelastende — Sektor der Wirtschaft müßte — zumindest anfangs — von Staats wegen gefördert werden. Entweder indem ihm Steuererleichterungen, ja eine Negativsteuer zugebilligt werden, die ja ganz plausibel als Belohnung für die Umweltfreundlichkeit, die zur Senkung der öffentlichen Kosten für Umweltverbesserung und Heilung umweltgeschädigter Kranker beiträgt, gerechtfertigt werden könnten, oder indem direkte Transferzahlungen aus dem Industriesektor erfolgen. Einen solchen Ausgleich hält z. B. Schefold für notwendig, weil es kaum möglich sein würde, die in diesem Sektor Tätigen ohne ihn ausreichend mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen zu versorgen, und weil auch nicht gut angenommen werden könnte, daß die dort Tätigen ohne weiteres auf ihren gewohnten materiellen Standard verzichten, auch wenn sie mit gewis31 sen Verringerungen des Komforts sich abfinden dürften.

Die im industriellen Sektor Tätigen könnten zwar über höhere Geldeinkommen und damit größere Konsumchancen verfügen, müßten sich aber dafür auch mit den Belastungen industrieller Arbeit und eines industrialisierten Milieus abfinden.

Meines Erachtens wäre die Folge einer solchen dualen Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft, daß allmählich auch der industrielle Sektor Formen attraktiverer Arbeit, umwelt-freundlicherer Technik und dauerhafterer (weniger rasch verschleißender) Produkte anbieten müßte.

Es könnte z. B. ein Konkurrenzkampf um qualifizierte Arbeitskräfte einsetzen, bei dem es mehr um interessante, Selbstbestimmung zulassende Formen von Tätigkeit als um die bloße Einkommenshöhe geht. Je mehr solche Arbeitsmöglichkeiten im alternativen Sektor angeboten würden, desto größer müßten die Anstrengungen des industriellen Sektors sein, um gute Techniker, Ingenieure usw. zu halten oder zurückzugewinnen.

Ich will diese Zukunftsvision nicht weiter ausmalen. Sie hat zweifellos den Vorteil, die notwendige Wende ohne eine revolutionäre Veränderung vorstellbar zu machen. Ob sie freilich realisierbar ist, steht auf einem anderen Blatt. Sie ist gewiß ein „reformistisches" Projekt, eins, das mit der Aufrechterhaltung demokratischer Verfassungen vereinbar ist. Vor allem aber unterstellt sie eine Offenheit und eine Bereitschaft zur Toleranz, die sich leider bei den ökonomisch führenden Eliten der Industriestaaten in diesem Umfang bisher nicht finden läßt.

Demokratische Willensbildung und Angst der Experten

Wenn ich die in den USA schon seit geraumer Zeit — bereits unter der Carter-Administration — einsetzende Wende zur beschleunigten Hochrüstungspolitik richtig interpretiere, dann handelt es sich dabei auch um eine Projektion der Angst ökonomisch-politischer Eliten nach außen. Eine Angst, die im Grunde auf dem unterdrückten Bewußtsein dafür beruht, daß die Wachstumsgesellschaft auf Schranken stößt, daß dieser bequeme Ausweg aus dem sozialen Konflikt künftig nicht mehr gangbar sein wird. Die sowjetische Intervention in Afghanistan, die auf das Scheitern des Versuchs einer beschleunigten staatssozialistischen Modernisierung zurückzuführen ist, ganz ähnlich wie im Iran die autoritär staats-kapitalistische Modernisierung durch die so-genannte „Weiße Revolution des Schah" gescheitert ist, brauchte nicht als Rechtfertigung vermehrter Rüstungsanstrengungen angesehen zu werden, wenn eine angemessene Analyse vorgenommen worden wäre, ganz abgesehen davon, daß das sowjetische militärische Engagement mit seinen schweren materiellen und psychischen Verlusten für die Rote Armee deren Offensivpotential nicht stärkt, sondern schwächt, indem es Eliteeinheiten bindet. Die Steigerung der Rüstungsanstrengungen dient — zumindest auch — dem Zweck, die Notwendigkeit eines Kurswechsels der Wachstumspolitik hinauszuschieben und zu verdecken. Dem gleichen Ziel dient die in den USA wie in Europa plötzlich entdeckte und beschworene „japanische Herausforderung". Es ist die Herausforderung durch einen erfolg-reichen Industriefeudalismus, der durch emotionale Integration der Lohnabhängigen in patriarchalische Großunternehmungen die Widerstandsmöglichkeiten organisierter Gewerkschaften und Arbeiterparteien unterlaufen hat, so daß dort die zerstörerischen Potentiale der Großtechnologie im übrigen noch hemmungsloser auf Erde und Mensch einwirken können als in Europa und Nordamerika. Wer die grauenvolle totale Verstädterung der japanischen Südküste und die Verödung des entvölkerten Hinterlands einmal gesehen hat, wird sich gewiß für Europa keine „japanischen Verhältnisse" wünschen, ganz abgesehen von der bei uns nicht zu duldenden Rechtlosigkeit der Wanderarbeiter, deren Lebensbedingungen weit unter denen der ärmsten Gastarbeiter in Europa liegen.

Der mit Willkommensgrüßen konstatierte Zwang zum Rüstungswettlauf und die Herausforderung durch die industrielle japanische Konkurrenz sollen alternative Entwicklungen verhindern. Mit der Androhung des Verlusts der Arbeitsplätze wird die Bevölkerung zu vermehrter Arbeitsanstrengung und zur Hinnahme von größerer Umweltbelastung und -Zerstörung motiviert. Als im 19. Jahrhundert ausländische Konkurrenz die ökonomische Überlebensfähigkeit einheimischer Unternehmungen und ganzer Wirtschaftszweige bedrohte, schreckte kein europäischer Staat davor zurück, Zollschranken zu errichten. Jetzt, da eine ausländische Konkurrenz als Disziplinierungsmittel von Arbeitern und Ökologen willkommen ist, lehnen Regierungen analoge Maßnahmen unter Berufung auf ihr liberales Credo ab. Es ist aber sehr die Frage, ob nicht Europäer und Amerikaner sich selbst und den Japanern, aber auch der „Dritten Welt" dadurch einen größeren Dienst leisten würden, daß sie — wenn es sein muß unter dem Schutz einer Zollschranke oder auch strenger technischer Qualitätsbestimmungen — eine alternative Technologie entwickeln und von ihrem Wachstumsfetischismus Abschied nehmen.

Warum ist die Frage nach der Entwicklung unseres Industriesystems, der Energiegewinnung, des Wachstums auf einmal zu einer eminent politischen geworden? Weil Wachstum nicht mehr ohne staatliche Hilfe sich vollzieht, weil der Staat als Förderer von Technologien immer unentbehrlicher geworden ist, weil z. B. Kernkraft von privaten Unternehmen weder selbständig zu entwickeln noch ihr Risiko allein zu tragen ist. Damit sind aber Entscheidungen, die früher von einzelnen Unternehmungen getroffen wurden und die allein von der Anonymität des Marktsystems insgesamt zu . verantworten waren, zu politischen Entscheidungen geworden. Nach der Vorstellung von Schelskys „technischem Staat" (1961) müßten sie Experten überlassen werden, weil das „Volk" ja von ihnen ohnehin nichts verstehe. Wenn Demokratie aber eine realistische Bezeichnung für unsere politische Ordnung sein soll, dann darf diese Abdankung des Souveräns zugunsten von Experten nicht zugelassen werden. Dann muß der Souverän selbst zum Experten werden, allerdings zu einem Experten, der nicht mit dem Spezialisten verwechselt werden darf, der nur für Details, aber nicht für den Zusammenhang zuständig ist, in dem industrielle Produktion stattfindet und Lebensbedingungen gefährdet.

Wenn ein demokratisch verfaßtes Volk selbst über die Zukunft der industriellen Entwicklung — über seine künftige Arbeits-und Lebensweise — entscheiden soll, dann dürfen Entscheidungen, die bisher dem ökonomischen Selbstlauf unter staatlicher Experten-einmischung bzw. Förderung überlassen waren, nicht mehr dem Prozeß einer demokratischen Willensbildung entzogen bleiben. Dann müssen Formen der Selbst-und Mitbestimmung entwickelt werden, die sicherstellen, daß nicht mehr über den Kopf der Betroffenen hinweg sich Entwicklungen vollziehen, unter deren Folgen sie alle zu leiden haben.

Nicht nur Bürgerbefragungen und Bürgerentscheide, sondern vor allem auch stärkere föderale Zuständigkeiten sind für eine solche Selbst-und Mitbestimmung notwendig. Es kann nicht länger fern von Kernenergiezentralen sitzenden Parlamenten und Behörden überlassen bleiben, über deren Bau und Inbetriebnahme zu entscheiden. Die unmittelbar Betroffenen müssen zumindest ein ebenso gewichtiges Wort mitzureden haben wie die gewählten Repräsentanten der Gesamtheit. Damit wird keineswegs dem „St. Floriansprinzip" das Wort geredet. Im Gegenteil: Was die jeweils unmittelbar betroffene Bevölkerung für inakzeptabel hält, darf ihr keineswegs oktroyiert werden — weder hier noch dort. Umgekehrt darf es nicht passieren, daß — wie in den USA schon geschehen — die Bevölkerung besonders strukturschwacher und armer Gebiete von den z. B. am Bau von Kernkraftwerken interessierten Stellen oder Unternehmungen einfach „aufgekauft“ wird, d. h., daß sie sich ihre Zustimmung zur Errichtung und Inbetriebnahme „abkaufen" läßt. Denn dies würde zur Folge haben, daß zwar wohlhabende Vororte und Stadtteile für den Bau vollends ausscheiden, ärmere jedoch durchdaus weiterhin in Frage kommen, weil dort die Kosten einer solchen . Abfindung" in erträglichen Grenzen bleiben könnten.

Eine Karte der Standorte von Kernkraftwerken zeigt übrigens, daß die wohlhabenden Bewohner des „Sun-belt" in den USA es sehr wohl verstanden haben, diese Anlagen aus ihrer Nähe zu verbannen. Gleichzeitig kann eine Abwanderung von aktiven Bevölkerungsteilen aus der Umgebung von Kernkraftwerken beobachtet werden. In beiden Fällen erweist sich der demokratisch legitimierte Entscheidungsprozeß als antiegalitär. Seine Lasten (Inkaufnahme erhöhten Risikos) sind ungleich auf die verschiedenen Bevölkerungsschichten verteilt. Den „St. Florians-Vorwurf" kann man aber sogar umkehren. Nicht die regional betroffenen Gegner von neuen industriellen Großanlagen oder Kernkraftwerken verhalten sich notwendig unsolidarisch und egoistisch, sondern die Mehrheit der nicht direkt Betroffenen, die es aus diesem Grunde weder für notwendig hält, sich detailliert zu informieren, noch (aus Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensbedingungen der direkten „Anlieger") sich emotional zu engagieren.

Theoretisch könnte man sich einen demokratischen Abstimmungsmodus vorstellen, der diesen Mangel ausgleicht. Er müßte so aussehen, daß von der Gesamtbevölkerung unter den Bedingungen des „Schleiers der Unwissenheit" (Rawls 1971) (über die künftigen Standorte) generell über die Zulassung des Baus der betreffenden Werke (oder Zwischen-lager usw.) abgestimmt wird. Dabei müßte jede Region als potentieller Standort in Frage kommen und die Zustimmung daher zugleich für die unmittelbare eigne Umwelt gelten. Die Folge müßte sein, daß sich alle politisch aktiven Staatsbürger zumindest dazu aufgerufen fühlten, Expertenwissen zu erwerben. Das Denkmodell ist aus mehreren Gründen un-realisierbar. Einmal, weil die Fiktion des „Schleiers der Unwissenheit" nicht ausreicht, um die Motivationsstärke zu erreichen, die durch reale Baupläne in einem Gebiet (wie Wyhl, Brokdorf usw.) für die Bewohner entsteht, zum anderen, weil Sachplebiszite nach unserer Verfassung zumindest bundesweit gar nicht möglich sind. Das Denkmodell hat aber — wie mir scheint — den Vorzug, daß mit seiner Hilfe der Einwand, Bürgerinitiativen verletzten die moralische Pflicht zur gesamtgesellschaftlichen Solidarität, kritisiert werden kann. Man kann also den Vorwurf sogar zurückgeben und den unengagierten, weniger gut informierten Bürgern der „nicht betroffenen Gebiete" ihre mangelnde Solidarität mit den direkt Betroffenen vorwerfen.

So sehr es bei der Überstimmung der betroffenen kernkraftgegnerischen Minderheit auch um das liberale Prinzip des Minderheitenschutzes geht, das angesichts der weitreichenden Konsequenzen solcher Entscheidungen hier besonders angebracht sein dürfte, so eindeutig sollte man die moralische Legitimitätsbasis der formal wohl vorhandenen Mehrheitsentscheidung in Frage stellen. Die Mehrheit, auf die man sich dabei beruft, dürfte die Mehrheit der minder informierten und emotional unengagierten (bis gleichgültigen) Bürger sein, die — vor allem infolge der Entfernung von den geplanten Bauplätzen — sich als „nicht betroffen" empfindet. Bundestagsabgeordnete berichten, daß ihnen durch die immer bessere Informiertheit der Bevölkerung in Wahlbezirken, die von solchen Entscheidungen betroffen sind, selbst auch ein immer höherer Wissensstand abgefordert wird. Die pauschale Berufung auf die Kompetenz von Regierung und Verwaltung reicht in solchen Fällen längst nicht mehr aus. Mit anderen Worten, die Demokratie wird durch ein höheres Niveau der Bürgerkompetenz nicht geschwächt, sondern gestärkt. Jedenfalls dann, wenn die gewählten Repräsentanten und demokratisch verantwortlichen Beamten diese Herausforderung annehmen und Proteste nicht als „ungebührlichen Widerstand“ zu unterdrücken suchen. Je weniger das Wachstum als höchster Wert anerkannt ist, desto größer wird der Widerstand gegen umweit-und gesundheitsschädigende industrielle Produktion und Gebrauchsgegenstände werden. Wenn aber erst einmal in einigen kleineren Staaten ein Durchbruch in dieser Richtung gelungen wäre, könnte sich sehr wohl unter den Industriestaaten ein Konkurrenzkampf auch in der Richtung auf bessere Luft-, Wasser-und Bodenverhältnisse, gesündere Lebensmittel, schönere Bauten und Wohnungen usw. entwickeln. Wettbewerb braucht nicht ein blinder Wettlauf zum Untergang und zur Zerstörung zu sein, aber um den ersten Schritt zur Umkehr zu tun, braucht es Mut, Phantasie und Entschlossenheit. Wenn er auf friedlichem und demokratischem Weg getan werden soll, ist darüber hinaus Lernfähigkeit, die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung und Toleranz auf Seiten der ökonomisch und politisch Mächtigen nötig. Man kann nicht gut behaupten, daß diese Eigenschaften schon heute Gemeingut wären.

Literatur:

L. Carpenter, Do Limits of growth cripple the good society? Disent 1979.

E. Eppler, Ende oder Wende, von der Machbarkeit des Notwendigen, Stuttgart 1975.

E. Eppler, Wege aus der Gefahr, Reinbek 1981.

F. Hirsch, Social Limits of Growth, Cambridge Mass.

1976 (Die sozialen Grenzen des Wachstums, Reinbek 1980).

K. M. Meyer-Abich, B. Schefold, Wie möchten wir in Zukunft leben — der „harte“ und der „sanfte" Weg, München 1981.

John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge Mass.

1971 (Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1978). Denis de Rougemont, Rapport au peuple europen, sur l’tat de lunion de l'Europe 1979, Paris 1979. H. Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, Köln-Opladen 1961, AG. f. Forschung NRW Heft 96.

U. Steger, K. M. Meyer-Abich, Handlungsspielräume der Energiepolitik — Mittel-und längerfristige Perspektiven bedarfsorientierter Energiesysteme für die Bundesrepublik, Villingen 1980.

C. F. von Weizsäcker, Deutlichkeit, Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen, München 1978.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Iring Fetscher, Dr. phil., geb. 4. 3. 1922; Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Tübingen und Paris; Professor für Politikwissenschaft an der J. W. Goethe Universität Frankfurt a. M.; Gastprofessuren in New York, Canberra, Nijmegen, Tel Aviv. Veröffentlichungen u. a.: Karl Marx und der Marxismus, München 1967; Modelle der Friedenssicherung, München 1973; Herrschaft und Emanzipation — Zur Philosophie des Bürgertums, München 1976; Überlebensbedingungen der Menschheit, München 1980; Terrorismus und Reaktion, Köln 1977, Reinbek 1980; Vom Wohlfahrtsstaat zur neuen Lebensqualität, Köln 1982.