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Industriekultur in Deutschland Das Beispiel der Region Nürnberg | APuZ 9/1982 | bpb.de

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APuZ 9/1982 Artikel 1 Industriekultur in Deutschland Das Beispiel der Region Nürnberg Rußland und die staatliche Einheit Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert Das deutsche Element in der Arbeiterbewegung de*r USA Zur Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten Gebaute Umwelt und soziales Verhalten Die Bedeutung der gebauten Umwelt für das Zusammenleben der Menschen Wohnungsbau und Wohnungsbaupolitik in der Bundesrepublik Deutschland Haben wir wieder eine Wohnungsnot? Die Situation am Wohnungsmarkt

Industriekultur in Deutschland Das Beispiel der Region Nürnberg

Wolfgang Ruppert

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Industrialisierung hat die Lebens-und Arbeitsformen grundlegend verändert. Die Darstellung dieser Wechselbeziehungen ist wegen der größeren Anschaulichkeit am besten an regionalen Modellen möglich. Es kommt dabei darauf an, die für die Region typischen Formen herauszuarbeiten und an ihnen spezifische, aber auch für den nationalen Industrialisierungsprozeß charakteristische Entwicklungen zu zeigen. Mit solchen sozial-und kulturgeschichtlichen Darstellungen können wir Erfahrungen unserer eigenen Lebensituation (gegenwärtig die Folgen einer dritten Industrialisierungswelle) mit denen der Generationen vor uns vergleichbar werden lassen: Wie sah der Arbeitsalltag aus, wie die Wohnsituation? Was bedeutete der Einbruch der industriellen Massenproduktion in die individuelle Lebenswelt? Solche Entwicklungen können an ihren materiellen Kulturformen veranschaulicht werden, an erhaltenen . Spuren': Alltagsobjekten, Maschinen, Photographien, Erinnerungen, Hausrat u. a. mehr. Sie müssen exemplarisch gesammelt und in ihren verschiedenen Bedeutungen erschlossen werden. Welche Funktionen im Lebenszusammenhang werden aus Erinnerungen, die sich mit den Objekten verbinden, erkennbar? Was sagen sie für den Arbeitsalltag aus? Welche kulturell-ästhetischen Werte hat ein Gegenstand als Produkt eines individuellen oder kollektiven Gestaltungsvermögens, aber auch epochentypischer Kulturmuster? Diese Darstellung der Entstehung unserer eigenen Industriegesellschaft muß die Erfahrungen und sozialen Orte aller gesellschaftlichen Schichten erschließen: der kleinen Leute, der Arbeiter, Dienstmädchen u. a. ebenso wie die der Fabrikanten und Angestellten. Es kann so ein Bild entstehen, das zeigt, was sich gewandelt hat und was an Erfahrungen geblieben ist, aber auch, wie wir uns zukünftige Lebensverhältnisse vorstellen können. Angesichts der Sinnkrise (die nicht nur bei Teilen der Jugend festzustellen ist) kommt Versuchen einer derartigen sozialgeschichtlichen Standortbestimmung eine wichtige kulturelle Funktion zu.

Im Sommer 1978 wurde derAutor vom Schulund Kulturreferat der Stadt Nürnberg beauftragt, eine Konzeption für ein Projekt zu entwerfen, das die Entwicklung der Region im industriellen Zeitalter veranschaulichen sollte. Es kam dem Autor darauf an, neben der Darstellung des Gegenstandsfeldes auch die kulturpädagogische Bedeutung, die das Projekt haben könnte, zu beschreiben. Der hier vorliegende, leicht überarbeitete Text, war in einer Denkschrift enthalten, die dem Stadtrat der Stadt Nürnberg als Entscheidungsgrundlage über dieses Vorhaben im Winter 1978 vorgelegen hatte Die grundsätzliche Zustimmung dieses Gremiums ließ offen, ob nach mehrjährigen Arbeiten eine eigene museale Einrichtung geschaffen werden sollte. Diese konzeptionellen Vorstellungen sind, auf die jeweiligen regionalen Formen bezogen, selbstverständlich übertragbar.

I. Ziele

Die Region um Nürnberg ist als exemplarisches Modell für die Industrialisierung in Deutschland und die Entstehung der Industriekultur aus mehreren Gründen geeignet: 1. Die Entwicklung der Nürnberger Industrie vollzog sich in den für Deutschland typischen Industrialisierungsphasen und Leitsektoren der Wirtschaft aus einer handwerklich-städtischen Kultur, die im Mittelalter ausgeformt worden war und als in den Zünften weitertradiertes Fachwissen eine entscheidende Voraussetzung darstellte. Beispielhaft für die erste Industrialisierungsphase zwischen etwa 1840 und den siebziger Jahren ist der industrielle Durchbruch des Maschinenbaus. Der Eisenbahnbau wirkte seit 1835 mit seinen Aufträgen impulsgebend. Der vorindustrielle .. Künstler“ Wilhelm Spaeth montierte in seiner Werkstatt die aus England importierte Lokomotive und fertigte für den Bau der Strecke erforderliche Eisenteile. Er und Johann Friedrich Klett vollzogen in den vierziger Jahren exemplarisch den Übergang von der Werkstatt zur Fabrik. Die zweite Industrialisierungsphase ist durch die Elektrifizierung und Entwicklung der Elektroindustrie in den achtziger Jahren gekennzeichnet. Sigmund Schukkert begann 1873 in einer kleinen Werkstätte zu produzieren und entwickelte diese, zunächst mit der Herstellung von Beleuchtungseinrichtungen, zum industriellen Großbetrieb. Er wurde aufgrund der strukturellen Um-stände zu einem Träger dieses Industrialisierungsschubes. 2. Der die Industrialisierung begleitende Prozeß der Entstehung moderner Großstädte ist im Raum Nürnberg genau feststellbar: Die Bevölkerungszahl blieb während der ersten Industrialisierungsphase überschaubar, explodierte jedoch zwischen 1880 und 1910 im Verlauf der zweiten Industrialisierungsphase von 142 590 auf 333 142 Einwohner. Die Ströme von Zuwanderern auf der Suche nach einem Arbeitsplatz vom Land in die Stadt (beispielhaft aus der Oberpfalz oder dem Frankenwald nach Nürnberg) bedeuteten zugleich eine Fülle sozialer und kultureller Integrationsprozesse. Als Voraussetzung des industriellen Wandels war eine kommunale Infrastruktur erforderlich (Gaswerk 1847, Elektrizitätswerk 1896). Durch Eingemeindungen weitete sich das Stadtgebiet enorm aus. Die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz hatte einen bisher nicht gekannten Massenverkehr zur Folge (Straßenbahn 1881). Die Zweiradindustrie entstand mit der industriellen Fertigung des Fahrrades als Massenkonsumgut („Hercules" und „Victoria“ 1886). Die Stadt veränderte ihr Gesicht. Die Industriekultur formte sich aus. 3. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Nürnberg für das nationale deutsche Kulturverständnis als „des Reiches Schatzkästlein“ zum Symbol einstiger Macht des Deut-Vorabdruck aus: Wolfgang Ruppert (Hrsg.), Erinnerongsarbeit in Deutschland. Geschichte und demoratische Identität, Leske Verlag + Budrich, Leverkusen 1982. sehen Kaisertums und einer romantischen Reichsideologie verklärt. Die Blüte der mittelalterlichen Handwerkerkultur bis ins 16. Jahrhundert gewann eine traditionsstiftende Bedeutung und sollte im Germanischen Nationalmuseum in seinen Altertümern bewahrt werden. Dieses Bild des mittelalterlichen Nürnbergs wurde Ort und Hintergrund des Kulturschaffens mit zeitgenössischen kulturell-politischen Implikationen (Wagner: Meistersinger von Nürnberg). Daher ist die Nürnberger Region auch geeignet, das geistige Leben, das kulturelle Schaffen, die „Sozialpsyche" der Zeit zu zeigen.

Diese Skizze muß genügen, um die Interdependenz von regionalen Wandlungsvorgängen und gesamtnationalen, Deutschland betreffenden historischen Prozessen zu belegen. Es gibt bisher keinen Versuch einer umfassenden Darstellung oder musealen Präsentation der Industriekultur am Modell einer größeren deutschen Industriestadt, sieht man vom Museum der Stadt Rüsselsheim ab. Und dennoch zeigt sich die eindeutige Tendenz, daß wir an der Schwelle der Entdeckung der Genese unserer eigenen industriell geprägten Lebensformen stehen. Das Interesse im öffentlichen Bewußtsein ist stark gewachsen. Die Forschung der Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten 15 Jahren in Richtung einer wesentlich stärkeren Betonung der Gesellschafts-, Sozial-und Kulturgeschichte geöffnet. Die Umsetzung dieses historischen Wissens in die Anschaulichkeit öffentlicher musealer Präsentation steht jedoch noch aus. Die Voraussetzungen, am Beispiel Nürnbergs ein Modell zu schaffen, sind günstig.

Unser Ziel muß es sein, die Grundlagen der Industriegesellschaft, die Entstehung der modernen Industriekultur herauszuarbeiten und darzustellen. Wir müssen die verschütteten Formen der vergangenen Lebenswelt aufzeigen und einsehbar machen. Wir müssen zeigen, daß unsere Stadtlandschaften sich in einem ständigen Wandlungsprozeß befinden, bei dem es mit der Frage, was wir bewahren oder verändern wollen, immer wesentlich um unsere Lebensqualität geht. Unser Urteil wird nur adäquat und scharf sein können, wenn wir das dafür erforderliche Orientierungswissen aus den langfristigen historischen Entwicklungen gewinnen. Wir müssen unser Bewußtsein für den geschichtlichen Charakter der ineinander verschränkten, jeweils zeittypischen kulturellen Schichtungen unserer Industrielandschaften schärfen, um deutlich zu machen, daß deren materielle Spuren nicht beliebig reproduzierbar sind. Der behutsame Umgang mit gestalteter Lebenswelt ist notwendig.

Hier einzugreifen, noch vorhandene Spuren wie Alltagsobjekte, Photographien, aber auch bauliche Zeugnisse und die lebendige Erinnerung der Generationen vor uns zu sichern und als kulturgeschichtliche Quelle zum Sprechen zu bringen, ist notwendig, wenn wir die Wandlungsvorgänge verstehen wollen, die wir in unserer eigenen Umwelt erfahren. Diese Spuren in ihrem Zusammenhang mit unserer kulturellen Vergangenheit erkennbar zu machen, sie als Zeugnisse des Lebens von Menschen vor uns plastisch werden zu lassen, muß mit der erklärenden Darstellung und forschenden Suche nach den gesellschaftlichen Strukturbedingungen in der jeweiligen Entwicklungsphase, von typischen Lebens-, Arbeits-und Kulturformen, aber auch durch systematische Sammlung von Objekten geschehen. Es muß ein Bild der Lebenswelt entstehen, die unsere Gegenwart stiftete. Die Archäologie unserer Industriekultur steht an.

Der Zeitraum von etwa 1850 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 umfaßt die „Sat-telzeit", die Phase grundlegender Umstrukturierung der Gesellschaft, die Herausbildung der Industriekultur. In diesem Transformationsprozeß konstituierte sich die industrielle Gesellschaft. Die Lebensverhältnisse der Menschen wandelten sich für die betroffenen Schichten in nahezu allen Lebensbereichen: die Formen der Arbeit und ihre Organisation, die Sozialstruktur des Zusammenlebens, die entstehenden Kulturformen der Freizeit, das Geistesleben und die politischen Ideen, die Formen der Kunst, in denen sich die Menschen wiederfinden konnten.

Dieser Prozeß erfaßte vor allem die städtischen Zonen industriellen Wachstums, von denen die Evolution ausging. Die feststellbaren Merkmale industrieller Arbeit, der Produktion und der sich verstärkt während der Industrialisierung integrierenden Nation gelten für ganz Deutschland. England hatte die Industrialisierungsvorgänge schon zeitlich früher und unter anderen kulturellen und wirtschaftlichen Voraussetzungen durchlaufen

Die Dokumentation und Erforschung der Beziehungen dieses wirtschaftlichen, gesell-schaftlichen und kulturellen Umbruchs einer industriellen Region hat somit, wenn man die jeweils besonderen örtlichen Bedingungen und wirkenden kulturellen Traditionen beachtet, die in den Industrialisierungsvorgang eingingen, verallgemeinerungsfähige Aspekte. Es ist daher sinnvoll, Forschungsstrategien, Präsentation und Dokumentation nach diesem Gesichtspunkt anzulegen: der Differenzierung von einerseits für die nationale Entwicklung typischen Prozessen und andererseits regionalen Sonderformen.

Eine Umfrage zeigte, wie nötig es ist, das Alltagsbewußtsein vom industriellen Charakter unserer Kultur zu schärfen. Nürnberg ist bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Industriestadt. Und dennoch assoziieren Bürger, danach befragt, was ihnen beim Stichwort Nürnberg einfällt, vorwiegend Lebkuchen, die ältere deutsche Geschichte und Dürer. Keiner der interviewten Personen besann sich darauf, daß Nürnberg eine bedeutende deutsche Industriestadt ist und die soziale Wirklichkeit hierdurch bestimmt wurde und wird

Um die Kenntnis der Entstehung der modernen Industriekultur zu vertiefen und einsichtig zu machen, genügt es nicht, eine antiquarisch-historische Sammlung von Objekten und Industriedenkmälern anzulegen, wenngleich dies in der ersten Phase des Projektes als Voraussetzung geschehen muß. Forschung, Sammlung und Dokumentation können sich ergänzen und Wissen wie Rahmen liefern, in dem der Lebenszusammenhang, die historische Realität rekonstruiert und anschaulich werden kann. In der Aneignung dieser industriellen Lebenswelt, in ihren Kulturformen, in ihren Hoffnungen und sozialen Widersprüchen, in ihrer Kunst, steckt eine wesentliche Form von Traditionsstiftung. Ein Geschichtsbewußtsein, das von der sozialgeschichtlichen Mehrdimensionalität vergangener Realität und menschlicher Erfahrung ausgeht, muß dem Betrachter aus den verschiedenen Perspektiven gesellschaftlicher Lagen Urteils-und Identifikationsmöglichkeiten bieten. Die Kenntnis der Wandlungen unserer regionalen Lebensräume, die wir als soziale und kulturelle Heimat erfahren, ist eine wesentliche Basis unserer geschichtlichen Identität.

II. Kulturpädagogische Begründung des Projekts

Das allgemein wiederauflebende Interesse der Öffentlichkeit an Geschichte zeigt, daß die Krise des Geschichtsbewußtseins überwunden ist. Gleichzeitig ist jedoch von einer Orientierungs-und Sinnkrise die Rede: Bei Teilen der Jugend überwiegt eine Stimmung der Resignation, Demotivierung, ziellosen Oppositionshaltung. Diese Rückzugshaltung aus gestaltender Arbeit in den politischen Institutionen, aus dem innovativen Diskurs über die Probleme und Verbesserungschancen der Gesellschaft, bleibt ohne klare Konturen. Die Möglichkeiten in den demokratischen Institutionen, aktiv, kreativ und problemlösend an einer gemeinsamen Zukunft mitzuarbeiten, bleiben teilweise unbeachtet.

Einer der Gründe liegt zweifellos darin, daß wir uns gegenwärtig in einem Prozeß des beschleunigten sozialen Wandels befinden. Perspektiven und gesellschaftliche wie individuelle Hoffnungshorizonte verändern sich schnell und viele gesellschaftliche Fragen sind aufgrund ihrer Komplexität für Jugendliche schwer durchschaubar. Die eigene Erfahrung wird weitgehend individualisiert wahrgenommen, bleibt unreflektiert, ohne Bezug zur Ge2 samtgesellschaft oder jedenfalls kaum in Relation gesetzt zu früheren gesellschaftlichen Situationen. Die Frage nach Qualität und Art des wünschenswerten und realen „Fortschritts" wird in ihrer sinnstiftenden Dimension zu wenig auf langfristige historische Tendenzen gerichtet. Das Orientierungswissen fehlt, und das Gefühl wird hervorgerufen, „daß man da eh nichts machen könne". Und in der Tat bleiben viele gesellschaftliche Wandlungsvorgänge hinter dem Schlagwort „sozialer Wandel" mehr verborgen, als daß sie aufgeklärt würden. Sie sind für sich faktisch feststellbar, aber nur schwer in längerfristige strukturelle Bedingungen einzuordnen.

Doch wir erkennen: Unsere Städte bekommen ein anderes Gesicht. Die Gefahr der „Unwirtlichkeit unserer Städte" (Alexander Mitscherlich) ist mancherorts als normierte Betonlandschaft bereits Realität. Technologische Innovationen verändern die Arbeitsplätze und Berufsbilder, Automation führt zu einer Umstrukturierung der Arbeitsteiligkeit in den Betrieben. Die Elektrifizierung des Haushaltes hat die Situation der Frau verändert. Zugleich wird über die schleichende Anonymisierung in der Gesellschaft und die Auflösung der traditionellen Sozialbindungen wie Familie und Verwandtschaft geklagt. Bekannte, in der eigenen individuellen Lebensgeschichte verwurzelte, vertraute soziale Orte gehen verloren oder lösen sich in den urbanen Wandlungsprozessen auf. Die Unsicherheit der letzten Jahre in pädagogischen Fragen zeigt neben dem fruchtbaren Ertrag des Abbaus obrigkeitsstaatlicher Erziehungsklischees zugleich auch die Umbildung der gesellschaftlich anerkannten Werte und Normen. Die Vorstellungen über die Zukunftschancen und Lebensbedingungen der Kinder bleiben notwendigerweise unklar. Bislang festgelegte Rollenbilder verschieben sich oder werden ungültig. Viele Menschen erleben diese Prozesse am eigenen Leib in ihrer unmittelbaren Umgebung. Allzu-oft bleiben die Zusammenhänge unentschlüsselt. Damit geht aber auch die Chance verloren, sich adäquat darauf zu beziehen, Spielräume für persönliche Entscheidungen erkennen und entstehende Probleme bewältigen zu können.

Vor diesem Hintergrund kommt der gesellschaftsgeschichtlichen Darstellung der Herausbildung unserer modernen industriellen Gesellschaft der Stellenwert einer Grundlegung von Orientierungswissen zu. Es muß ein Angebot geschaffen aus dem der einzelne die langfristigen Wandlungsvorgänge im eigenen Lebensraum als Teil der umfassenden kulturellen Evolution der Industrienationen studieren kann. Die Kenntnis der Voraussetzungen, der Bedingungen, Gründe und langfristigen Tendenzen der Veränderung der Lebensbedingungen und der Alltagskultur in der heimatlichen Stadtlandschaft muß ermöglicht werden. Standorte und individuelle Perspektiven können dann geklärt werden. Die Einbettung der eigenen subjektiven Erfahrung in den langfristigen historisch-gesellschaftlichen Wandel kann erkennbar werden.

/Geschichte kann nicht Handlungsanweisungen für die Bewältigung der individuellen Gegenwart anbieten, aber indem sie Vergleiche zu anderen sozialen und kulturellen Orten ermöglicht, indem sie verschiedene gleichzeitige oder historisch aufeinanderfolgende Lebens-und Arbeitssituationen offenlegt, hat sie eine kulturelle Orientierungsfunktion. Die subjektiven Verarbeitungen und Hoffnungsinhalte, die Menschen vor uns in ihrer existentiellen Situation entwarfen, lassen einen kulturellen Erfahrungsschatz verfügbar werden, an dem die eigenen Wünsche, Hoffnungen und Utopien konkretisierbar und meßbar sind. Eine solche Beschäftigung mit der Geschichte vergangenen Lebens, das mit unserer eigenen Lebenswelt in Beziehung gesetzt wird, stiftet Phantasie, macht mentale Verhaltensmodelle transparent. Die politischen Vorstellungen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich Menschen zu politischen Organisationen zusammenschlossen und ihre soziale Situation zu bewältigen suchten, wird als Zusammenhang sichtbar. Der Vergleich mit vergangenen Lebenssituationen ermöglicht es, unsere eigene Erfahrung besser zu begreifen und einzuordnen, die eigene Situation schärfer wahrzunehmen und aus der so möglichen Distanzierung klarer bestimmen zu können. Hierin liegt die aufklärende Dimension der Beschäftigung mit der Entstehung der Industriekultur: sie kann dazu beitragen, den eigenen kulturellen, sozialen und politischen Standort zu finden und die individuellen Lebensbedingungen aktiv gestalten zu können. Die Geschichte der eigenen Gesellschaft hat mit den verschiedenen sie konstituierenden sozialen Lagen und entsprechenden Perspektiven eine zentrale Sozialisationsfunktion. Denn in einer Gesellschaft, die auf einem Wertepluralismus basiert, dürfen und können eben keine eindeutigen und umfassenden Sinnmuster und Deutungssysteme „verordnet" werden. Es muß vielmehr Grundbestandteil einer demokratischen Gesellschaft und Kultur sein, daß sich die einzelnen Individuen selbständig ihre Interpretation der eigenen Lebenserfahrung erarbeiten und bilden können. Sie müssen sich ihr Bild der Vergangenheit und Gegenwart, der Tradition, die sie für sich als sinnstiftend anerkennen können, selbst schaffen und dürfen dabei aber auch nicht allein gelassen werden. Für diese Erinnerungsarbeit muß ein kulturelles Angebot bestehen. Die Vielfalt der Lebensformen, sozialen Situationen und politischen Deutungen kann Orientierung zur Erarbeitung der individuellen Position bieten. Das Wissen darum, wie in einer gesellschaftlichen Realität vor uns Menschen ihre Situation annahmen und gestalteten, kann zugleich motivierend wirken, zur aktiven Gestaltung der eigenen Lebensumstände und zur politischen Partizipation ermuntern. Die Enttäuschung über eine unvollkommene und veränderungsbedürftige Gegenwart darf nicht zur Passivität, zur Mutlosigkeit führen. Vielmehr muß die Tatsache, daß unsere Lebenswelt sich in einem permanenten Prozeß des sozialen Wandels mit einer Veränderung der Lebensformen und sozialen Bedingungen befindet, akzeptiert werden, denn diese Tatsache ist nicht veränderbar. Die Kenntnis des langfristigen historischen Zusammenhangs der Evolution der industriellen Gesellschaft kann den Blick öffnen für gesellschaftliche und individuelle Orte, in denen die Entfaltung der eigenen Kreativität und Sinnvorstellungen möglich ist. Vor allem aber: Die Bedeutung von Formen der republikanischen Öffentlichkeit für unsere Gegenwart kann erst dann ermessen werden, wenn die Vorgeschichte und Geschichte demokratischer Bewegungen in Deutschland, die Auseinandersetzung um die Durchsetzung republikanischer Kultur unter den Bedingungen der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstadien bekannt sind. So wie die verzögerte und verhinderte Entfaltung demokratischer Kräfte im Zeitraum zwischen 1848 und 1918 gerade an den Auseinandersetzungen mit den Anhängern des monarchischen Obrigkeitsstaates anschaulich wird, ist zugleich die Sicht auf die Geschichte der Weimarer Republik und die Entstehungssituation, die Ausgangsbedingungen der politischen Kultur der Bundesrepublik geöffnet.

Die Darstellung der Entstehung der Industrie-kultur kann noch einer weiteren Aufgabe gerecht werden. Wir kennen zumeist die im Schulunterricht vermittelte politische Geschichte, so zum Beispiel die Politik Bismarcks zur Schaffung der deutschen Reichseinheit, weniger aber die der wilhelminischen Gesellschaft in ihren Widersprüchen. Das Modell einer Region bietet gegenüber dem notwendigen Zwang zur Abstraktion bei der Darstellung der nationalen Geschichte den entscheidenden Vorteil, daß die Wandlungsvorgänge in einem konkreten Raum überschaubar sind Die Gesellschaftsgeschichte der Region kann somit als innerer Zusammenhang, als ineinandergreifender Prozeß, in den verschiedenen interdependenten Faktoren und Strukturen dargestellt werden. Dabei wird anschaulich, wie die Bedingungen der allgemeinen Geschichte der Nation in die Region wirken und sich in den Vorgängen vor Ort niederschlagen. Geschichte der Nation und Geschichte der Region bedingen und ergänzen sich. Dieser Gesichtspunkt ist deswegen von Gewicht, weil damit auch ein Zugang zum umfassenden Lebenszusammenhang der Menschen methodisch darstellbar wird. Beispielsweise ist die Auswirkung von technischen Innovationen, die die Entstehung der Großindustrie nach sich ziehen, in der Bildung neuer gesellschaftlicher Strukturen und den damit verbundenen Veränderungen der individuellen Lebens-und Arbeitssituation rekonstruierbar. Die Darstellung dieses Zusammenhangs ist notwendig interdisziplinär. Der seit der Aufklärung stattfindende Vorgang zunehmender Spezialisierung der Wissenschaften in verschiedene sich voneinander isolierende Fachgebiete kann an konkreten Gegenstandsbereichen und Lebensfeldern wieder auf die Faktoren zurückgeführt werden, die in der historischen Wirklichkeit als tatsächlicher Zusammenhang wirksam sind. Kulturpädagogisch ist dies nicht unerheblich. Denn die schnelle Veränderung der Berufsbilder bzw. das Veralten traditioneller Berufe, die wir heute feststellen, macht es dringend erforderlich, daß der einzelne mehr über die umfassenden Zusammenhänge von technischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen weiß, in denen seine eigene Berufs-und Lebenssituation gelagert ist. Der Wandel der Industriekultur muß daher als zusammenhängender Prozeß erkennbar sein, durch den die gesellschaftliche Situation des einzelnen Menschen durch konkrete Bedingungsfaktoren verändert wird. Unsere Distanz zur Epoche zwischen 1850 und 1914, gegenwärtig bereits zu den fünfziger Jahren und der damaligen Lebenswirklichkeit, weitet unsere Perspektive, öffnet Phantasieräume und gibt uns mehr Urteilsfreiheit auch gegenüber verkürzten Perspektiven unserer eigenen Gegenwart. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich anhand der Spuren, Requisiten und Dokumente einer Zeit zu nähern. Man kann sowohl mit den im eigenen Haushalt oder auf dem Trödelmarkt überkommenen Gegenständen einer vergangenen Epoche eine Kuriositätenschau veranstalten als auch die Zeugnisse der Kultur unserer Groß-und Urgroßväter aus einer scheinbar kulturkritischen Perspektive mit abwertender Distanzierung behandeln. Drittens aber gibt es die Möglichkeit, sich in „kritischer Sympathie" den Spuren einer vergangenen Lebenswelt zu nähern, sich um ein Verständnis der darin enthaltenen subjektiven Erfahrungen und Bedingungen des individuellen Lebens zu bemühen. Wir müssen die emotionale Bereitschaft mitbringen, Formen der Freude wie des Leidens nachzuvollziehen: sich einzulassen auf den erzählbaren Erfahrungsreichtum, der uns selbst kulturell und emotional bereichert. Wir könhen an Gegenständen, die uns teils bekannt sind oder Orte repräsentieren, die uns vertraut sind, Lernprozesse vollziehen. Die Sinnlichkeit der Objekte kann Medium sein. Die Entdeckung der vergangenen Lebenswelt anhand der vertrauten, überkommenen Gegenstände öffnet eine historische Landschaft, in der die Erzählungen vertrauter Personen, der Großeltern, ihren Ort bekommen. Dieser geschichtliche Lernprozeß am bekannten Raum, in der heimatlichen Region, an mit eigenen Erinnerungen verknüpften Objekten for7 dert die mitvollziehende Rekonstruktion des sozialen Wandels. Subjektiver und objektiver Faktor der Kultur sind in ihren Verschränkungen aufschließbar. Das Bewußtsein von der Entstehung der eigenen kulturellen und sozialen Heimat wird geschärft. Die Lebensbedingungen der verschiedenen Generationen werden faßbar. Sie können die Realität der geschichtlichen Entwicklungsprozesse als Lebensformen, der produktiven Gestaltung, aber auch des Erleidens einer Lebenssituation plastisch ausleuchten. Der Betrachter, der sich anhand von Requisiten der vergangenen Lebenswelt nähert, wird nach Orten suchen, die ihm vertraut sind. Er wird dabei auch Traditionen auffinden, mit denen er sich identifizieren kann.

Die für die Darstellung der Industriekultur erforderliche Sammlungsarbeit kann selbst zum Prozeß der Aneignung von geschichtlichem Heimatbewußtsein werden. Die Region ist als soziale und kulturelle Gemeinschaft erkennbar. Der bekannte Lebensraum wird in seinen kulturellen Schichtungen aufgeschlossen, in die das Gestaltungsvermögen, die Arbeit und Auseinandersetzung der Generationen eingegangen sind, denen unsere Groß-und Urgroßeltern angehörten. Deren Leistungen und kulturellen Vorstellungswelten uns zu vergegenwärtigen und zu erhalten, wird als Aufgabe deutlich. Unsere gegenwärtige und zukünftige Lebenswelt wird dadurch reicher.

III. Das Gegenstandsleid

Der strukturelle Wandel in Deutschland ist im 19. Jahrhundert durch den Übergang von der agrarisch-traditionalen zur dominant industriellen Gesellschaft geprägt Die handwerklich-gewerbliche Produktion wurde durch industrielle Großbetriebe mit serieller Massenfertigung überlagert und zurückgedrängt. Eine anwachsende Schicht von „tätigen“ Fabrikanten, von unternehmenden Wirtschaftsbürgern war Träger der industriellen Evolution. Als Funktion dieses ökonomischen Prozesses mit zunehmendem Bedarf an freier Lohnarbeit konstituierte sich die Arbeiterschaft. Für sie galten Arbeits-und Lebensbedingungen, die sich von denjenigen der Wirtschaftsbürger in der Regel scharf unterschieden, was sich in den Schichtungen der Alltags-kultur und der Ansiedlung in Wohnviertel ausdrückte. Die „soziale Frage“ entstand: unmündige Abhängigkeit im Betrieb, materielles Elend und schlechte Wohnverhältnisse prägten den Alltag großer Teile der Unterschichten. Das Gesicht der Städte veränderte sich, neue Stadtteile bildeten sich. Die mittelalterlichen Stadtbezirke wurden gesprengt.

Entsprechend begann sich in den neuen urbanen Zentren die Arbeiterschaft zu konstituieren und Formen der Selbstorganisation zu entwickeln. Dort wurden auch die Auseinandersetzungen um die Verbesserung der Lebensverhältnisse ausgetragen. Der Anspruch auf demokratische Mitentscheidung über die Angelegenheiten in Gesellschaft und Politik, also auch über die eigenen, wurde formuliert. Mit dem sozialen Wandel strukturierte sich die industrielle Gesellschaft: Alltagskultur, Lebensformen, Erziehungs-und Ausbildungsverhältnisse, Welt-und Leitbilder, kulturelle Symbole, Technik, Arbeit und Arbeitsteiligkeit veränderten sich von Grund auf. Die Gesellschaft befand sich in einem Prozeß umfassender sozialer und kultureller Evolution. Dieser prägte jedoch vor allem die Lebensverhältnisse und Kulturformen der Menschen, die in industrialisierten Gegenden lebten. Gleichzeitig gab es weiterhin hiervon unberührte ländliche Regionen, wie zum Beispiel Niederbayern, wo die althergebrachten traditionalen Lebens-und Kulturformen erhalten blieben, teilweise bis in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In den zunehmend industriell geprägten Gegenden, beispielsweise Sachsens, Berlins oder Nürnbergs, im Rheinland und Schlesien, waren die Lebensumstände wesentlich durch die Faktoren und Phasen der industriellen Evolution bestimmt. Um diese modellhaft herausarbeiten zu können, ist ein kategorialer Rahmen hilfreich. Die verallgemeinerungsfähigen historischen Prozesse können mit Hilfe vergleichender systematischer Interpretationen von spezifischen regionalen Standortbedingungen oder kulturellen Traditionen unterschieden werden.

Der Terminus „sozialer Wandel“ ist deswegen prägnant, weil gleichzeitig ein Teil der Gesell-B schäft, nämlich der traditional-agrarische, diesen Prozeß nicht mitvollzog, jedoch quantitativ abnahm. Hieraus ist die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Lebens-und Kulturformen zu erklären, die jedoch größtenteils im Stadt-Land-Gegensatz aufgingen. Auch dies muß herausgearbeitet werden.

Die Struktur des „sozialen Wandels", in all seinen vielfältigen gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinungen, wurde durch den Industrialisierungsvorgang bestimmt. Der Begriff Industrialisierung beinhaltet eine Reihe wirtschaftlicher und sozialökonomischer Wandlungsvorgänge. Man spricht vom „Gesamtkomplex" eines Wandels, bei dem technisch-wissenschaftliche Entwicklungen eingebettet sind in soziokulturelle Veränderungen“ deren Beziehung als ein „kompliziertes Geflecht voneinander abhängiger ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Prozesse" zu sehen ist. Konstituierende Bedingungen des Industrialisierungsprozesses sind: Arbeitskräfte und Kapital, unternehmerisches Organisationsvermögen, Nachfrage und Markt für Industrieprodukte, ausreichend verfügbare Energie (Dampf, Gas, Elektrizität), Rohstoffe und industriell verarbeitete Materialien.

Der implizierte technologische Fortschritt basiert auf zwei typischen Grundlagen

Erstens auf dem wachsenden Einsatz von Maschinenkraft und der Mechanisierung von Arbeit, der besseren Beherrschung des Materials, der stärkeren Betonung des anzuwendenden Grundlagenwissens. Neben der unmittelbaren Arbeitspraxis erfuhr der theoretisch-wisschenschaftliche Bereich eine enorme Bedeutungszunahme. Das technische Experiment wurde in Großbetrieben als Basis der Forschung zur technologischen Weiterentwicklung eingesetzt, so beispielsweise in der Elektrotechnik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die planende Konstruktion und spezialisierte Ausbildung griffen ineinander. Zweitens erwies sich die Vergrößerung von Industrieanlagen als ausschlaggebend für den Rationalisierungsgrad industrieller Produktion, wie er sich aus Maschineneinsatz und Arbeitsteiligkeit ergab.

Mit dem Wandel von Arbeit und Lebensformen wurden auch neue Verhaltensmaßstäbe gültig, nicht nur im Verhältnis Produzenten/Konsumenten, sondern auch zwischen Unternehmern und Arbeitern. Die industrielle Produktion verlangte von den Arbeitskräften neben spezifischen Ausbildungsqualitäten auch eine sich dem Maschinenbetrieb anpassende Disziplinierung am Arbeitsplatz (Arbeitsrhythmus). Die alten ständischen Hierarchien und Verhaltensmuster lösten sich teilweise auf oder erhielten neue soziale Bezugs-und Orientierungspunkte. Der Übergang von der argrarischen Gesellschaft brachte ein Auseinanderbrechen der standesspezifischen Merkmale, die bisher in der Hierarchie altständischer Gesellschaft verankert waren: ökonomische, berufliche, politische und soziale Funktionen, Bildung, Besitz, Lebenstil. Sie waren als Rollenbilder nicht mehr mit der jeweiligen Standeszugehörigkeit vorgegeben, sondern entwickelten statusbildende Qualitäten, die das Individuum jeweils für seine Person und Familie erst ausweisen mußte. Dieses individuelle Aktivität und Qualifikation fordernde Leitbild entsprach der Möglichkeit der vertikalen Mobilität, der Möglichkeit des Auf-und Abstiegs. Die zeitgenössische Sicht vieler Unternehmerpersönlichkeiten orientierte sich an deren Fähigkeiten, mit Hilfe von Kenntnissen und kaufmännischen Techniken, aber auch „Tatkraft und starkem Willen" (wie eine der Parolen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lautete), den Aufstieg zum „Arbeitgeber" und wohlhabenden Besitzbürger vollzogen zu haben.

Die sich mit dem Industrialisierungsvorgang neu herausbildenden Kulturformen sollen als „Industriekultur" bezeichnet werden. In sie gingen freilich, wie in die Schichtungen der entstehenden industriellen Gesellschaft, vorindustrielle Bedingungen und Faktoren ein. Das Beispiel der Handwerker, die faktisch als Arbeiter beschäftigt waren und an zünftischen Ehrbegriffen festhielten, zeigt dies in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ganz deutlich.

Diese mentalen und kulturellen Voraussetzungen beinflußten neben Leitbildern und Lebensstil auch die Geschwindigkeit des Wachstums, die industrielle Organisation und die Methoden der Kapitalbeschaffung. Diese Tatsache ist besonders für die Untersuchung der Innovationsprozesse an Modellen, wie beispielsweise der Region um Nürnberg, interessant. Die handwerkliche Tradition zählt ebenso dazu wie die Arbeitsformen und Beziehungsnetze der Kaufleute, die die Finanzierung des Aufbaus von Fabriken besorgten und die Marktbildung vorantrieben. Zugleich aber ist an der ersten und zweiten Generation der Unternehmer die für Deutschland typische Tendenz zu beobachten, nicht mehr am demokratischen Postulat bürgerlicher Selbstbestimmung festzuhalten, wie es für 1848 gegolten hatte, sondern sich weitgehend auf den eigenen wirtschaftlichen Interessensbereich zurückzuziehen und sich gesellschaftlich der restfeudalen Oberschicht anzunähern, bzw. sich zu integrieren. Die Nobilitierung und der Bau herrschaftlicher Wohnsitze als repräsentatives Symbol waren nur die äußeren Zeichen dieser Tendenz.

Die nun bedeutsamen soziokulturellen Faktoren waren in vorindustriellen Phasen erworben bzw. in spätmittelalterlichen Formen tradiert worden und gingen als individuell beherrschte Fähigkeiten in die Industrialisierung ein.

Handwerkliche Befähigungen waren vielfach in Verbindung mit innovativem Gestaltungsvermögen die Basis für die Qualifikation der „Unternehmerpersönlichkeiten", um aus technischen Erfindungen umsetzbare technologische Entwicklungen herausarbeiten zu können, wie dies am Beispiel des Elektroindustriellen Sigmund Schuckert zu sehen ist. Die zweite unternehmerische Befähigung bestand darin, Märkte erschließen zu können, wozu neben entsprechender Kapitalbasis (meist aus Kaufmannskapital) auch kaufmännisch-organisatorisches „Know-how" erforderlich war.

Gleichzeitig bedurfte es eines ausreichenden Potentials an Facharbeitern in der Region, die qualifizierte Arbeiten wie Formen, Gießen oder Drehen auch ausführen konnten. In Nürnberg war durch die weiterbestehende handwerkliche Tradition in metallverarbeitenden Gewerben ein guter Stamm an Facharbeitern vorhanden. Dies war gerade für den Maschinenbau oder die Elektroindustrie von ausschlaggebender Bedeutung. Das Selbstverständnis dieser Arbeiter wurzelte vielfach in der handwerklichen Kultur. Neben einer klassenbewußten Schicht von Arbeitern, die sich gewerkschaftlich zu organisieren versuchten und die den Stamm der Sozialdemokratie bildeten, gab es eine beträchtliche Zahl von Arbeitern, die ihr individuelles Leitbild darin sahen, sich eine gesicherte, „kleinbürgerliche“ Existenz zu schaffen und einen anerkannten sozialen Ort im wilhelminischen Staat zu erarbeiten.

IV. Die Industrialisierung

Flächenüberspannende Stadtlandschaften, wie das Ruhrgebiet, entstanden ebenso wie um alte Stadtkerne konzentrierte Industrie-regionen Eben dieser Charakter einer überschaubaren städtischen Industrieregion macht Nürnberg als Modellfall geeignet.

Im Gesamtvorgang der Industrialisierung sind mehrere Phasen unterscheidbar

Die erste Phase beginnt etwa 1835 (die Datierungen differieren bis etwa 1850) und endet mit der „Gründerzeit" 1873. Sie erfährt ihren wichtigsten Impuls durch den Eisenbahnbau, der auf die Entwicklung der Eisen-und Maschinenbauindustrie stimulierend wirkte. Zwischen 1869 und 1873 entwickelte sich eine industrielle Hochkonjunktur, die durch die 5 Milliarden Goldfrancs, die Frankreich an das siegreiche Deutschland zahlen mußte, angeheizt wurde. Während dieses Booms wurden viele Aktiengesellschaften ohne den Hintergrund eines ausreichend entwickelten Marktes gebildet. Die „Gründerzeit", die sich als Kulturepoche durch ihren eklektizistischromantisierenden Stil ausgeprägt hat, endete 1873 mit dem Zusammenbruch vieler Aktiengesellschaften, mit dem „Gründerkrach".

Die zweite Phase zwischen 1873 und 1914 ist vom Durchbruch der industriellen Produktion gekennzeichnet: Systematisch organisierte Großunternehmen entwickelten sich und könnten auf Grund sich verändernder Bedürfnisse innerhalb der Gesellschaft ihre Markt-sektoren ausweiten. Die Elektroindustrie expandierte binnen eines Jahrzehnts zur Großindustrie (Sigmund Schuckert), da sich mit der Elektrifizierung seit den achtziger Jahren ein gewaltiger Markt öffnete. Während bis etwa 1895 ein stetiges, aber gegenüber der stürmischen Wachstumsperiode der Gründerzeit um 1870 dennoch verlangsamtes wirtschaftliches Wachstum festzustellen ist, gibt es von da an bis zum Ersten Weltkrieg starke Aufschwungstendenzen. Das für Nürnberg wichtige Versicherungswesen entstand in diesem Zeitraum. Die Interessen der Arbeitenden mußten organisiert werden: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände entstanden. Die Bedeutung des technisch-wissenschaftlichen Fachwissens nahm zu, das Bildungswesen wurde ausgebaut, eine „Volksbildungsbewegung" versuchte für Arbeitnehmer ein zusätzliches weiterführendes Bildungsangebot zu institutionalisieren. Um die sozialen Probleme (äußerster Armut, Not, Krankheit und Ungerechtigkeit) zu mildern, sollte den in Not lebenden oder geratenen Menschen geholfen werden: sei es durch Selbstorganisation zur gegenseitigen Hilfe in Verbindung mit Gewerkschaften (Unterstützungskassen) oder durch unternehmerische Fürsorge (Arbeitersiedlungen, Betriebs-krankenkassen), die der Sozialdemokratie ihre politische Stoßkraft nehmen sollte.

Der Umbruch der Industrialisierung vollzog sich im gesamten gesellschaftlichen Leben und brachte eine neue Sozialstruktur hervor. Neue kulturelle Formen, großteils schichten-spezifisch ausgeprägt, entstanden aus den veränderten Notwendigkeiten, Erfahrungen und Bedürfnissen: in der Freizeit, der Kunst, der Architektur, der Erziehung u. a. m.

Unter Kultur muß daher der umfassende menschliche Lebens-und Beziehungszusammenhang verstanden werden: die Formen des menschlichen Zusammenlebens, der Arbeit, der Wünsche sowie der Notwendigkeiten und Zwänge, in denen Menschen ihr Handeln und Zusammenleben ordnen, die Formen, in denen sie Freude und Lust, aber auch Schmerz und Leiden erleben und ausdrücken.

Kultur beinhaltet einen subjektiven Faktor, den des menschlichen Gefühls, wie einen objektiven, der uns in Gegenständen und anderen Ojektivationen als Resultat menschlichen Mühens und Arbeitens überliefert ist. Diese sind Ausdruck des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens und müssen in ihren Zusammenhängen und Beziehungen behandelt werden. Es muß gezeigt werden, wie soziale Strukturen und Prozesse sich entwickeln, in welchen spezifischen Kulturformen die jeweiligen Klassen, Schichten und Gruppen lebten, kooperierten und ihre Konflikte austrugen, arbeiteten, wie sie ihre Empfindungen und Erfahrungen ausdrückten. Der Zusammenhang dieser gesellschaftlichen Entwicklungen ist in seinen Aspekten darstellbar: Technik und Wirtschaft, horizontale und vertikale Mobilitätsvorgänge in der Gesellschaft, Verstädterung, Verkehrsentwicklung, kulturelle Institutionen und Inhalte, Leitbilder, typische Normen und Wertvorstellungen, Formen der Öffentlichkeit, Kommunikations-und soziale Beziehungsformen, Familienstrukturen, kollektive Mentalitäten, Sozialisationsvorgänge und -Institutionen, Gesundheits-und Sozialwesen, Formen der Alltagskultur, des Designs und anderes mehr.

Diese Reihung ist nur scheinbar abstrakt. Ihr innerer Bezug ist der faktische strukturelle Lebenszusammenhang, in dem die Menschen stehen. Dort laufen die verschiedenen Gebiete als sich ineinander verknüpfende strukturelle Bedingungen individueller Existenz zusammen. Die Interdependenz dieser zusammenwirkenden Bedingungen kann schwieriger für den nationalen Bereich dargestellt werden; dort müßte sie abstrakt, ohne Anschaulichkeit und wirklichen Bezug bleiben. Weit plastischer kann dies am überschaubaren Modell von Stadtlandschaften geschehen.

Die kulturellen Objektivationen menschlichen Lebens müssen dazu in verschiedener Richtung erschlossen werden. Einmal gilt es, die subjektiven Erfahrungen der Zeitgenossen zu dokumentieren: Quellen zu systematisieren, in denen die Erfahrungen der historischen Ereignisse (Krieg 1870/71, Reichsgründung, etc.), von sozialen Situationen (Arbeitssuche, Erfahrungen am Arbeitsplatz, Bankrott eines Unternehmers der „Gründerzeit"), eines erlebten Festes oder einer Krankheitsgeschichte beschrieben werden. Weiter sind von Bedeutung: Lebensgeschichten, Memoiren, Autobiographien. Diese sind besonders interessant, wenn sie die für eine soziale Gruppe oder Klasse exemplarischen Erfahrungen schildern. Ferner sind bedeutungsvoll: Briefe, Gedichte, Tagebücher, in denen auch alters-und generationsspezifische Erfahrungen faßbar werden; aus ihnen kann die Jugendbewegung oder auch das Leben als Lehrling oder Dienstmädchen erschlossen werden.

Mit heute lebenden Personen können mündliche Lebensberichte der selbstgeschriebenen Lebensläufe erarbeitet werden, in denen Schilderungen von Phasen und Formen der Sozialisation des familiären Lebens, der Arbeit und der Freizeit zugänglich werden. Anhand solcher subjektiven Quellen kann zweierlei demonstriert werden:

Einerseits typische soziale Lagen einer Klasse, Schicht, Generation, Gruppe, etc., die darin individuell erfahrene Situation und die Elemente und Symbole der Lebenskultur.

Zugleich aber ersehen wir hieraus, wie diese Situationen oder Ereignisse von den Individuen verarbeitet und beurteilt wurden, welche Zukunftshoffnungen entworfen wurden und welche kulturellen Traditionen dabei eingingen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Text ist um eine tabellarische Skizze der Gegenstandsfelder und die Organisationsvorschläge gekürzt.

  2. Vgl. die zusammenfassende Darstellung von: Eric J. Hobsbawm, Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750, Frankfurt/M. 1969; ferner: David S. Landes, . Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und Industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Köln 1973. Die Entstehung dieses Prozesses im 18. Jahrhundert habe ich für die Kaufleute gezeigt: Bürgerlicher Wandel, S. 47 ff.

  3. Erhebung durch Infratest, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Mai 1978.

  4. Das in den letzten Jahren stärker werdende Interesse an der Regionalgeschichte wurde zusam-menfassend erörtert von: Peter Steinbach, Alltagsleben und Landesgeschichte. Zur Kritik an einem neuen Forschungsinteresse, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 29. 1979, S. 225— 305.

  5. Im Vergleich zum englischen und französischem Beispiel der Industrialisierung wurde für Deutschland von einer sogenannten „relativen ökonomischen Rückständigkeit" gesprochen. Zum Problem der Phasenverschiebung industrieller Prozesse unter internationalen Gesichtspunkten: Alexander Gerschenkron, Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: Rudolf Braun u. a. (Hrsg.), Industrielle Revolution. Wirtschaftliche Aspekte, Köln 1976.

  6. Vgl.: Rudolf Braun u. a., Industrielle Revolution, S. 10.

  7. Simon Kusznets, Wirtschaftliche Vorbedingungen der Industrialisierung, in: Rudolf Braun, Industrielle Revolution, S. 18f.

  8. Zur vergleichenden Erforschung des Industrialisierungsprozesses in städtischen Zentren beispielsweise: Lothar Baar, Probleme der industriellen Revolution in großstädtischen Industriezentren. Das Berliner Beispiel, in: Wolfram Fischer (Hrsg.), Probleme der frühen Industrialisierung, 1968, S. 529 ff.; oder: Wolfgang Köllmann, Sozialgeschichte der Stadt Barmen im 19. Jahrhundert, Tübingen 1960; ferner Jürgen Reulecke (Hrsg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter, Wuppertal 1978.

  9. Ich folge in der Bestimmung der Eckdaten der systematisierenden Zusammenfassung von Ritter/Kocka in: Gerhard Ritter, Jürgen Kocka, Deutsche Sozialgeschichte, Bd. 2, München 1975, S. 11 ff.

Weitere Inhalte

Wolfgang Ruppert, Dr. phil., geb. 1946; Historiker und Kulturwissenschaftler; 1978 bis 1981 Projektleiter am Schul-und Kulturreferat der Stadt Nürnberg, beauftragt mit dem Aufbau des Projektes „Museum Industriekultur"; Lehrauftrag an der Fachhochschule München, 1981 Erarbeitung der Konzeption einer Einrichtung „Industrie-und Alltagskultur“ im Auftrage des Senators für Wissenschaft und kulturelle Angelegenheiten, Berlin; Forschungen zur Entstehung der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft sowie zur Nationbildung in Deutschland. Veröffentlichungen u. a.: Lebensgeschichten. Zur deutschen Sozialgeschichte 1850— 1950 (Hrsg.), Opladen 1980; Industriekultur in Nürnberg (Mit-Hrsg.), München 1980; Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/New York 1981.