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Konservativ-ordoliberale Wohlfahrtsstaatskritik und das Konzept der Neuen Sozialen Frage | APuZ 39/1978 | bpb.de

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APuZ 39/1978 Artikel 1 Wirtschaftspolitische Gipfelkonferenzen Versuch einer internationalen „konzertierten Aktion" Betriebliche Vermögensbeteiligung -aus der Sicht der Gewerkschaften Eine Stellungnahme zum Beitrag vonH. -G. Guski/H. J. Schneider in B 10/78 Zur betrieblichen Vermögensbeteiligung Eine Erwiderung auf Claus Schäfer Konservativ-ordoliberale Wohlfahrtsstaatskritik und das Konzept der Neuen Sozialen Frage Sozialpolitik mit unterschiedlichen Vorzeichen Eine Erwiderung auf den Beitrag von Siegmar Mosdorf

Konservativ-ordoliberale Wohlfahrtsstaatskritik und das Konzept der Neuen Sozialen Frage

Siegmar Mosdorf

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/78, S. 37— 45 Im Mittelpunkt der Arbeit steht das von der Union 1975 im Rahmen der Mannheimer Erklärung verabschiedete Konzept der Neuen Sozialen Frage, mit dem die CDU einen neuen sozialpolitischen Ansatz gefunden hat. Der Beitrag enthält zunächst eine kurze Rückschau auf die Entstehung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage sowie auf die Willensbildung und Konsensfindung in der CDU zu diesem Konzept. Weiterhin werden die von der Union aufgeworfenen neuen sozialen Fragen, ihre Ursachen und die Hintergründe untersucht. In der öffentlichen Diskussion wurde das Konzept der Neuen Sozialen Frage vom politischen Gegner meist unter wahltaktischen Gesichtspunkten beurteilt. Das wahltaktische Kalkül war zwar bei der Formulierung des Konzepts ein durchaus gewichtiger Faktor, eine ausschließlich wahltaktische Beurteilungwürde hingegen zu kurz greifen und sowohl dem Konzept selbst als auch den Intentionen einiger Initiatoren des Konzepts nicht gerecht werden. Bei der Bewertung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage wird davon ausgegangen, daß die von der Union mit diesem Konzept reaktualisierten sozialen Probleme zwar nach wie vor von Bedeutung sind, daß die Union aber kaum in der Lage sein dürfte, sich insgesamt auf eine Strategie zu einigen, die zur Beseitigung dieser Probleme führen würde. Der Grund für diese pessimistische Schlußbetrachtung ist darin zu sehen, daß das Konzept der Neuen Sozialen Frage im analytischen Teil zwei gegensätzliche Leitbilder enthält, die einerseits auf den Ordoliberalismus und andererseits auf den christlich-sozialen Konservatismus zurückgehen. Der Ordoliberalismus in der Union aber lehnt alle vom christlich-sozialen Konservatismus um die Sozialausschüsse gemachten Vorschläge eines weiteren Ausbaus der «kollektiven Daseinsvorsorge" ab. Damit sind mit dem Konzept der Neuen Sozialen Frage zwar alte soziale Probleme erneut aufgeworfen worden, aber von der Union politisch unbeantwortet geblieben.

I. Einleitung

Seit einiger Zeit gibt es in der politischen und wissenschaftlichen Debatte in der Bundesrepublik wieder eine Renaissance der Sozialpolitik. Alte, längst angestaubte Werke der Pioniere einer Sozialpolitik in der Wohlfahrtsgesellschaft (von Achinger, v. Ferber Liefmann-Keil, Schellenberg) werden jetzt wieder aus den Regalen genommen.

Aus der wiederbelebten sozialpolitischen Diskussion sollen hier zwei bemerkenswerte Aspekte betrachtet werden: Anfang der siebziger Jahre verstärkte sich die konservativ-ordoliberale Wohlfahrtsstaatskritik, die sich vor allem gegen die „kollektive Daseinsvorsorge" und somit gegen die sozialliberale Wohlfahrtspolitik richtete, die einerseits bestehende wohlfahrtsstaatliche Leistungssysteme verbesserte und andererseits — in einer Art historischem Bündnis zwischen So-zialdemokraten und Liberalen — sich traditionell privat, individuell sichernde Bevölkerungsgruppen (Landwirte, kleine Selbständige und Hausfrauen u. a.) auf ihren Wunsch in die Solidargemeinschaften einbezog

Seit Mitte der siebziger Jahre entwickelte die CDU das Konzept der Neuen Sozialen Frage, mit dem auf den ersten Blick für den Ausbau des Sozialstaates plädiert wird. Mit dem hier sichtbar werdenden Paradoxon — einerseits der zunehmenden konservativ-ordoliberalen Wohlfahrtsstaatskritik und andererseits der CDU-Vorschläge zum Ausbau des Sozialstaates im Rahmen des Konzepts der Neuen Sozialen Frage — will ich mich aus Anlaß der Veröffentlichung von Manfred Groser: „Die Neue Soziale Frage" in dieser Zeitschrift (B 10/78) in der gebotenen Kürze auseinander-setzen

II. Zur Entstehung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage

1. Die Mannheimer Erklärung der CDU 1975 Da eine umfassende Fallstudie zum Konzept der Neuen Sozialen Frage den Rahmen dieser Darlegung sprengen müßte, sollen hier nur die einflußnehmenden Gruppen und Personen in der Union und ihre Intentionen dargestellt werden; d. h., hier kann nicht die System-, sondern nur die Handlungsebene betrachtet werden. Dabei kommt man zu dem Ergebnis, daß das Konzept der Neuen Sozialen Frage, das in der Mannheimer Erklärung der CDU enthalten ist, auf zwei unterschiedliche Denkansätze zurückzuführen ist Nadi der Wahl-niederlage 1972 hatte die Union erkannt, daß sie nun nicht länger Kanzler-und Regierungspartei bleiben konnte, sondern sich als Oppositionspartei einer Parteireform unterziehen mußte. Diese Parteireform, die aus einer Organisationsund Programmreform bestehen sollte verbindet sich besonders mit dem Namen Kurt H. Biedenkopfs Hier kann im weiteren nur auf die Programmreform eingegangen werden. Bei ihr orientierte sich der Wirtschaftsjurist Biedenkopf vor allem an privatwirtschaftlichen und -rechtlichen Leitbildern. Dieser Ansatz führte zur Thematisierung der Probleme, die sich zwischen dem Staat und dem einzelnen, den Verbänden und dem einzelnen, den Organisierten und den Nichtorganisierten ergeben und solcher Fragen, die in gesellschaftlichen Bereichen ohne Marktsteuerung (tertiärer Sektor, Arbeitsmarkt u. a.) entstehen

Der zweite Ansatz entstand in der Planungsgruppe des damaligen rheinland-pfälzischen Sozialministers H. Geißler, der gleichzeitig Vorsitzender des Bundesfachausschusses für Sozialpolitik der CDU ist Die Geißler-Gruppe beschäftigte sich vorwiegend mit sozialpolitischen Fragestellungen. Dabei standen der soziale Strukturwandel, die Sozialpolitik der Bundesregierung und vor allem die von den Sozialausschüssen und der Frauen-vereinigung der CDU formulierten sozialpolitischen Forderungen im Mittelpunkt der Arbeit.

Die Zusammenfassung dieser Ansätze und die Formulierung der Mannheimer Erklärung wird Biedenkopf zugeschrieben Der Mannheimer Parteitag verabschiedete einstimmig die Mannheimer Erklärung und beauftragte den Bundesvorstand mit der abschließenden Formulierung. Im Vorfeld und auf dem Parteitag selbst hatte vor allem ein Bündnis aus Sozialausschüssen, der Frauenvereinigung sowie der Jungen Union in Zusammenarbeit mit Biedenkopf zur Durchsetzung dieses Konzepts beigetragen. Die abschließende Beratung des Dokuments, die vom Bundesvorstand der CDU vorgenommen wurde, brachte nicht unwesentliche Änderungen der Mannheimer Erklärung, insbesondere im Abschnitt zur Neuen Sozialen Frage. Dabei fällt auf, daß die ordnungspolitische Diktion der Erklärung deutlicher akzentuiert wurde. So wurde das begriffliche Gegensatzpaar der „Starken und Schwachen" durchgängig durch die präzisere Formulierung „Organisierte und Nichtorganisierte" ersetzt. Außerdem wurde an verschiedenen Stellen des Dokuments deutlicher herausgestellt, daß das Konzept der Neuen Sozialen Frage „nicht in erster Linie die Vermehrung, sondern die Verbesserung des Einsatzes und der für die sozialen Aufgaben zur Verfügung stehenden Mittel" verlange

Das Konzept der Neuen Sozialen Frage enthält somit zwei verschiedene gesellschaftspolitische Leitbilder: Einerseits den ordnungspolitischen Ansatz, dem es vor allem um eine wohlfahrtsstaatskritische Einschätzung des sozialpolitischen Status quo und damit um die Vorbereitung einer Einschränkung solidargemeinschaftlicher Sicherungssysteme ging und andererseits den christlich-sozialen Ansatz, der dem Subsidiaritätsprinzip folgend den weiteren Ausbau des Sozialstaates vorsah. Der gemeinsame Nenner dieser beiden Grund-positionen bestand in der Intention einer kritischen Bewertung der sozialliberalen Wohlfahrtspolitik; überspitzt gesagt, ging den einen der Ausbau des Sozialstaates schon zu weit, während er den anderen noch nicht weit genug ging. Die Mannheimer Erklärung ist also ein Dokument des Kompromisses dieser beiden grundsätzlichen Standpunkte.

Meine These lautet nun, daß das Konzept heute so von der Union kaum noch verabschiedet werden würde und daß die Entstehung des Konzepts auf ein Bündel von Faktoren (Oppositionsrolle, Wählereinbußen bei der Arbeitnehmerschaft, Sozialkrise) zurück-zuführen ist, die in einem bestimmten, sehr begrenzten Zeitraum jenen Beschluß ermöglichten. Das Nebeneinander der verschiedenen Leitbilder des Konzepts führt jedoch zu Widersprüchen, zu strategischen Unterschieden und differierenden Prioritätensetzungen. Dennoch ist die Mannheimer Erklärung im Abschnitt zur Neuen Sozialen Frage auch noch in ihrer Endfassung ein bemerkenswertes Dokument, das einige für die Union neue gesellschafts-und sozialpolitische Ansätze enthält. 2. Die Neue Soziale Frage — Ursachen und Hintergründe Das Konzept der Neuen Sozialen Frage geht von anderen sozialen Problemstellungen aus, als von jenen, die bisher im Mittelpunkt der Sozialpolitik gestanden haben. Zu den Neuen Sozialen Fragen „gehören die schwierige Stellung der Frau mit ihrer oft unerträglichen Mehrbelastung von Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und Haushaltsführung, die Wahrung der Menschenwürde im Alter, die Lage der Gastarbeiter, die soziale Sicherung älterer Selbständiger, die Probleme der Kinder in einer Welt der Erwachsenen, die Frage der Erziehungsfähigkeit unserer Familien und die Schwierigkeiten von Behinderten und Allein-stehenden" Diese neuen sozialen Probleme unterscheiden sich von den traditionellen Aufgabenfeldern der Sozialpolitik dadurch, daß sie nicht direkt mit den Produktionsverhältnissen Zusammenhängen; im Gegenteil, gerade diejenigen, die nicht im Produktionsprozeß stehen, gehören nach dem Konzept der Neuen Sozialen Frage zu den neuen Unterprivilegierten in unserer Gesellschaft.

Wenn man nun das Kapitel zur Sozialen Frage in der Mannheimer Erklärung darauf durchsieht, welche Ursachen für diese Probleme angeführt werden, so fällt auf, daß in der Erklärung keine genaue Ursachenanalyse enthalten ist. Dennoch lassen sich drei wesentliche Ursachenkomplexe herausarbeiten: — „Die bisherige Betonung des Konflikts zwischen Arbeit und Kapital hat häufig die Probleme der wirklich Schwachen und Bedürftigen in unserer Gesellschaft verdeckt."

— Die „Chance der Bürger, an den materiellen und immateriellen Gütern der Gesellschaft teilzuhaben, hängt vom Grad ihrer Artikulationsfähigkeit und damit letztlich vom Grad ihrer Organisationsfähigkeit ab" Die Organisierten haben in der Vergangenheit ihren Handlungsvorteil zuungunsten der Nicht-organisierten genutzt.

— „Die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung beruht geradezu auf einem Bündnis der Starken gegen die Schwachen.“

Diese drei Ursachenkomplexe einer Vernachlässigung der wirklich Unterprivilegierten seien ausschlaggebend dafür, daß die neuen sozialen Probleme solche Virulenz bekommen haben.

Nun sind diese sozialen Fragen so neu nicht, denn auf die jetzt formulierten Probleme wurde bereits in den sechziger Jahren deutlich hingewiesen. In diesem Zusammenhang sollen die Arbeiten von Achinger, v. Ferber und Liefmann-Keil u. a. erwähnt werden. Schon damals wurde das System der sozialen Sicherung auch von konservativen Sozialpolitikern kritisiert, weil der institutionalisierte Auswahlmechanismus, der sich an den Kriterien der Leistungsfähigkeit, der Erwerbstätigkeit und der Rechtmäßigkeit orientiert, dazu führte, daß gerade die besonders Hilfsbedürftigen, z. B. die Nichterwerbstätigen, die keinen eigenen Beitrag zur Solidargemeinschaft leisten und deshalb auch keine Rechtsansprüche geltend machen können, zu kurz kamen. Doch auch wenn die im Konzept der Neuen Sozialen Frage reaktualisierte Thematik sich keineswegs mit neuen Erscheinungen beschäftigt, sondern hier von der Union alte Diskussionsprozesse rezipiert und neu formuliert wieder in die öffentliche Meinungsbildung eingebracht wurden, ist dies schon allein als Verdienst zu betrachten, da diese Probleme auch heute noch akut sind und dennoch von nur peripher und vielen als relativ unbedeutend angesehen werden. Abschließend bleibt hierzu noch festzustellen, daß der wichtige Verweis auf erhebliche „soziale Nischen“ allerdings in einer Art wahltaktischem Manöver geschah, was der Problem-behandlung und damit auch der -bewältigung geschadet haben dürfte. So lastete z. B. die langjährige Regierungspartei CDU, die selbst eine Reihe sozialer Probleme hinterließ, diese der amtierenden Regierung an. Dieses Verhalten ist unglaubwürdig, wenn man bedenkt, daß gerade die sozialliberale Koalition in den letzten Jahren erhebliches für diese sozialen Problemgruppen — z. T. sogar gegen den Widerstand der Union — getan hat.

Inwieweit das Konzept der Neuen Sozialen Frage daher auch eine wahltaktische Funktion zu erfüllen hatte, soll im folgenden untersucht werden.

III. Konkurrenzdemokratie als Rahmenbedingung der politisch-programmatischen Entwicklung von Volksparteien

Als Oppositionspartei ohne kurzfristig absehbare Koalitionsaussichten mußte die Union, um mehrheitsfähig werden zu können, ihr politisches Spektrum erweitern. Dies sollte u. a. durch die Entwicklung eines positiven Sozial-profils, das besonders auf die nichtorganisierten Arbeitnehmer und bestimmte Gruppen bei den Nichterwerbstätigen abgestimmt war, geschehen. Dabei kann vorausgesetzt werden, daß das Politikfeld „Soziales“ sich schon immer hervorragend auch als Wahlthematik geeignet hat: „Soziale Leistungen, die in monetären Strömen sichtbar werden, werden vom Stimmbürger bevorzugt und bei ihrer Wahl-entscheidung berücksichtigt, insbesondere dann, wenn die Ströme vor den Wahlterminen gesetzlich fixiert werden“ Daß diese Möglichkeit in der Vergangenheit auch von CDU-Regierungen reichlich genutzt wurde, hat Bank in einer Untersuchung zur Korrelation von Wahlterminen und der Sozialgesetzgebung nachgewiesen

Der Einsatz der Sozialpolitik als Wahlpolitik kann selbstverständlich dann besonders gut gelingen, wenn sozialpolitische Themen einen hohen Stellenwert haben, wenn der Wähler also dem Politikfeld „Soziales" für seine Wahlentscheidung eine hohe Relevanz beimißt. In der Bundesrepublik hat es nun von 1972 bis heute eine Themenverschiebung gegeben, die dadurch gekennzeichnet ist, daß allgemein die Außen-und Ostpolitik durch Themen der Innen-und zuletzt auch besonders der Sozialpolitik im weitesten Sinne verdrängt wurden. Diese langfristige Tendenz der politischen Themenverschiebung wird durch eine Reihe von Meinungsumfragen bestätigt. Auf diesem Hintergrund und auf Grund der Tatsache, daß der Wähler für das Politikfeld „Soziales" in der Bundesrepublik besonders der SPD und nicht so sehr der CDU Sachkompetenz zugesteht, war es für die Union erforderlich, die Sozialpolitik im wahltaktischen Kalkül zu berücksichtigen. Das Konzept der Neuen Sozialen Frage sollte die Präsenz der Union im Politikfeld „Soziales" erhöhen und bei der Definition neuer Zielgruppen helfen. Dabei kam der CDU die Oppositionsrolle insofern zu gute, als sie mit einzelnen Programmen, Initiativen und Forderungen, die sich nicht nur am Kriterium der Machbarkeit orientieren mußten, bestimmte Zielgruppen besonders ansprechen konnte. Die Union mußte auf der Grundlage eines festen Wähler-reservoirs, das jedoch nicht zur Mehrheitsbildung ausreichte, versuchen, aus der Klientel der Konkurrenzparteien Wählerstimmen abzuziehen Dabei durfte jedoch nicht die Identität mit den bereits mobilisierten Wähler-schichten verwischt werden. Um diesen Balanceakt erfolgreich durchführen zu können, sprach die Union nicht typische Randgruppen (Obdachlose, Nichtseßhafte u. a.) an, sondern definierte bestimmte gesellschaftlich akzeptierte Bevölkerungsgruppen (Hausfrauen, Rentner, kleine Selbständige) einfach als Problemgruppen Daß nun die von der Union formulierten sozialen Probleme und Fragen von ihr selbst als „Neu" deklariert wurden, gehört dabei mit zur Definition neuer Zielgruppen. Außerdem soll das Wort „Neu" gleichzeitig unterstellen, daß die alten sozialen Fragen gelöst sind: „Für die praktische Politik der Sozialdemokraten bedeutet dies; die historische Mission der sozialistischen Bewegung im wesentlichen für beendet zu erklären und sich auf die Funktion einer reformerischen, in jedem Fall aber einer nach ihren eigenen Vorstellungen konservativen Partei zu beschränken" Durch diesen Begründungszusammenhang hat die Union versucht, ihr Sozial-profil zu verbessern und dabei die SPD in die Defensive gedrängt. Der Union kam sozusagen trendverschärfend zugute, daß sie die Position zu einem Zeitpunkt einnahm, als die traditionelle Partei der Sozialpolitik in der sozialliberalen Koalition sich gezwungen sah, soziale Leistungen partiell wieder zu reduzieren

Dieser Vorgang, der gleichzeitig eine prozyklische Wirkung auf die ohnehin rezessive Wirtschaftsentwicklung hatte, darf nicht unterschätzt werden. So wichtig die Sanierung der öffentlichen Haushalte vor allem unter dem Gesichtspunkt der Geldwertstabilität gewesen sein mag und so sehr diese Reduzierung der staatlichen Leistungen überraschenderweise von der Bevölkerung auf dem Hintergrund zunehmender Skepsis gegenüber dem Steuer-und Abgabenstaat akzeptiert wurde, so sehr mußte dieser Abbau sozialer Leistungen im selben Augenblick, als die CDU ihr Sozialprofil zu verbessern suchte, zur Verwirrung bei den Wählern führen.

Das taktische Kalkül der Union, ihr unzureichendes Sozialprofil durch das Konzept der Neuen Sozialen Frage im Urteil der Wähler zu verbessern, scheint z. T. durchaus aufgegangen zu sein. Allerdings muß beachtet werden, daß das Konzept in der Union keineswegs nur unter wahltaktischen Gesichtspunkten betrachtet wurde, was in der öffentlichen Diskussion nicht immer gesehen wird. Das Konzept der Neuen Sozialen Frage hat deshalb zu erheblichen innerparteipolitischen Kontroversen geführt, weil ein Teil der Union dieses Programm nicht als Wahlkampfschmin-ke verstanden wissen will. Außerdem werden die politisch-praktischen Folgen eines solchen Konzepts von der Öffentlichkeit aufmerksam beachtet, so daß eine reine Imagepflege unter wahltaktischen Erwägungen auf Kosten der längerfristigen Glaubwürdigkeit gehen müßte. Die der Mannheimer Erklärung folgenden sozialpolitischen Programme der Union sind einerseits auch ein weiteres Indiz dafür, daß Teile der Union es durchaus ernst meinen mit dem Ausbau des Sozialstaates, andererseits müssen diese deshalb auch als Grundlage für die Bewertung des Gesamtkonzepts herangezogen werden.

IV. Zur Bewertung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage

1. Prämissen, Datenbasis und Interpretation Um die Glaubwürdigkeit des theoretischen Konzepts der Neuen Sozialen Frage zu untermauern, bedurfte es sowohl der empirischen Absicherung der Aussagen wie auch der Antworten der Union auf diese neuen sozialpolitischen Probleme. Eine besondere Funktion für die Argumentation der Union mit dem Konzept der Neuen Sozialen Frage hat dabei die Armutsstudie von H. Geißler Diese Studie und hierbei insbesondere der frappierende Tatbestand, daß in unserer relativen Wohlfahrtsgesellschaft noch ein so großes ma-10 nifestes Armutspotential besteht, stand denn auch im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion zum Konzept der Neuen Sozialen Frage. Nach den Ergebnissen der Geißler-Studie ist festzustellen, daß besonders bei Kinderreichtum, bei alleinstehenden Frauen und im Alter die Subsistenzmittel z. T. so beschränkt sind, daß diese Bevölkerungsgruppen nach dem Sozialhilfe-Indikator bemessen noch einen hohen Anteil an Armen verzeichnen. Da es nicht so entscheidend ist, ob nun 6, 1 Millionen Arme (Geißler-Berechnungen) oder je nach Definition einige Hunderttausend weniger (Ergebnisse der SPES-Gruppe — SPES = Forschungsprojekt: Sozialpolitisches Entscheidungs-und Indikatorensystem) für unsere relative Wohlstandsgesellschaft errechnet werden, soll hier auch nicht im einzelnen auf die Kritik zur Datenbasis, zu den Berech41 nungsmethoden und Prämissen und zur Interpretation der Zahlen bei Geißler eingegangen werden Diese Kritik bezieht sich vor allem auf die herangezogene Datenbasis, auf die Definition der Armutsgrenze mit Hilfe des Sozialhilfestandards und auf problematische Berechnungsmethoden in der Geißler-Studie. So werden bei Geißler bestimmte Armutsbemessungskriterien (Vermögen), bestimmte staatliche Transferleistungen (Ausbildungsförderung, höhere Sozialhilfeleistungen u. a.) nicht berücksichtigt und andererseits wird das errechnete Durchschnittseinkommen z. B. durch die Haushaltsgrößenberechnung verringert und die Kosten z. B.der Mieten zu hoch angesetzt. Wichtiger als diese notwendigen Korrekturen ist eine kritische Überprüfung der Interpretation der Zahlen durch Geißler. Die sehr viel gründlichere Untersuchung der SPES-Gruppe kommt, differenziert nach soziodemographischen Merkmalen, zu z. T. erheblich abweichenden Aussagen. So kann man z. B. nach den Untersuchungen der SPES-Grup-pe nicht pauschal behaupten: „Kein Bürger in der Bundesrepublik Deutschland ist heute deshalb arm, nur weil er Arbeiter ist.. ." Denn den SPES-Ergebnissen ist zu entnehmen, daß keineswegs davon gesprochen werden kann, daß der alte Konflikt zwischen Kapital und Arbeit heute nicht mehr so relevant sei. Dieses gilt auch für die älteren Arbeitnehmer und die Rentner, die früher Arbeiter waren. Ebenfalls auf die Verteilungsprobleme zwischen Kapital und Arbeit ist die Situation der „armen Frauen" und der „armen kinderreichen Familien" zurückzuführen. Insoweit kann den Geißler-Interpretationen nicht gefolgt werden.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß mit der Geißler-Studie ein sehr brisantes oft aber verdrängtes Problem wieder in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion gerückt wurde, daß jedoch die Zahlenberechnungen und -interpretationen teilweise korrekturbedürftig sind. 2. Zur Bewertung der politisch-programmatischen Vorschläge Die Glaubwürdigkeit einer politischen Willensgemeinschaft mißt sich nicht nur an der Geschlossenheit in der Kritik an bestimmten Verhältnissen, entscheidender noch ist die Gemeinsamkeit bei der Einigung auf alternative Konzepte. Die von der CDU erarbeiteten sozialpolitischen Vorschläge sollen deshalb auch unter diesem Aspekt betrachtet werden.

Zunächst muß hier erwähnt werden, daß die genannten Vorschläge oftmals nicht mehr von denjenigen mitgetragen werden, die aus ordo-liberaler Position heraus an der Formulierung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage mitgewirkt hatten. Je mehr nämlich die Sozialpolitiker daran gingen, die Ansätze der Mannheimer-Erklärung in sozialpolitische Einzel-programme umzusetzen, desto mehr setzte sich die ordoliberale Strömung in der Union von den zeitweiligen Bündnispartnern ab und wandte sich wieder verstärkt ihrem eigentlichen Anliegen einer ordoliberalen Wohlfahrtsstaatskritik zu. Dieser Vorgang wurde von Herder-Dorneich deutlich signalisiert: „Tatsächlich steckt in den neuen Fakten, in den Geißlerschen Entdeckungen mehr, als er selbst bisher zu Tage gefördert hat. Geißler hat die Schlußfolgerung aus seinen Berechnungen noch zu eng gefaßt, die Symptome wurden damit erst einseitig gedeutet... Die Neue Soziale Frage fordert also nicht, wie vielfach angenommen, neue und weitere Umverteilung, sondern sie bildet eine Herausforderung an die Ordnungspolitik"

Die Vorschläge der Union zur Behebung der Neuen Sozialen Frage kamen also vor allem von der Geißler-Gruppe. Aus einer ganzen Fülle von z. T. geringfügigen Einzelprogrammen sollen die drei zentralen Vorschläge mit der größten Bedeutung bei der Behebung der Benachteiligungen bei Kinderreichtum, Alter und für Frauen herangezogen werden: Familienlastenausgleich, Erziehungsgeld und Partnerrente. Diese Vorschläge können hier aus Platzgründen nicht sehr detailliert erörtert werden, vielmehr sollen nur die Ergebnisse einer gründlichen Programmbewertung wiedergegeben werden. a) Da nach der Armutsstudie von Geißler insbesondere bei kinderreichen Familien noch ein relativ großes Armutspotential zu vermuten ist, wird als Programm eine Verbesserung und Dynamisierung des Familienlastenausgleichs vorgeschlagen. Dabei wird davon ausgegangen, daß es trotz der Kindergeldreform von 1975 auf Grund der Preisentwicklung keine reale Verbesserung der Situation der kinderreichen Familien gegeben hat. Auf diesem Feld soll also mit dem Programmtyp der finanziellen staatlichen Transferzahlung und dem Steuerungstyp der Distribution mehr soziale Gerechtigkeit erreicht, latente Armut bei den kinderreichen Familien abgebaut und die Familie selbst als Institution gefördert werden. Da eine Einkommens-grenze vorgesehen ist, kommen nur die Familien in den Genuß der Verbesserung des Familienlastenausgleichs, die ein bestimmtes Einkommen nicht überschreiten. b) Mit dem weiteren Vorschlag eines Erziehungsgeldes hat die Union 1974 einen Gedanken aufgeriffen, der unter der Bezeichnung „Eltern-und/oder Karenzurlaub“ bereits seit fast einem Jahrzehnt in der Sozialdemokratie diskutiert wird Es gibt bei dieser Freistellung eines Elternteiles von der Arbeit nach der Geburt eines Kindes mit einer entsprechenden Finanzierung auch eine Reihe internationaler Erfahrungen Die Union hat nun diesen Vorschlag vor allem im Rahmen der Reform des § 218 StGB diskutiert und auch in diesem Zusammenhang 1974 zunächst als Entschließung im Bundestag eingebracht Damit sollte die wirtschaftliche Situation der Eltern verbessert werden, um so Schwangerschaftsabbrüche aus Gründen wirtschaftlicher Not vermeiden zu helfen. Später wurde dieser Vor-schlag zum Erziehungsgeld unabhängig von diesem Aspekt auch als allgemeine sozialpolitische Maßnahme erwogen Der Programm-typ dieses Vorschlags ist der einer finanziellen Transferleistung des Staates, der Steuerungstyp ist distributiv, weil das Erziehungsgeld durch das normale Steueraufkommen finanziert, aber nur bestimmten Einkommens-schichten zukommen soll. Die Ziele dieses Programms bestehen darin, die Erziehungsfähigkeit der Familie zu stärken sowie bevölkerungspolitisch initiativ zu werden, da die Geburtenrate gegenwärtig stark rückläufig ist. Als Nebenziele werden ein arbeitsmarktpolitischer Entlastungseffekt und Einsparungsmöglichkeiten in der staatlichen Elementarerziehung angegeben.

Die Realisierungschancen für dieses Programm sind aus finanziellen Gründen genau so negativ zu bewerten, wie die beim Programm zum Familienlastenausgleich. Hinzu kommt, daß dieses Programm einige Probleme aufwirft, die noch zu lösen sind, bevor das Programm unabhängig von den Finanzie-rungsmöglichkeiten auf eine breite Zustimmung rechnen kann: So ist noch nicht geklärt, welche Auswirkungen ein solches Programm auf die Konkurrenzfähigkeit der Frau auf dem Arbeitsmarkt hat, ob das Programm auch für das jeweils weitere Kind durchgeführt werden soll, ob die echte Wahlmöglichkeit zwischen den Elternteilen gewährleistet werden kann und wer Träger der Finanzierung sein soll (BfA, Bundeshaushalt). c) Den dritten hier zu behandelnden Programmvorschlag der Partnerrente hat die Union wenige Wochen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Reform der sozialen Alterssicherung im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung von Mann und Frau verabschiedet Dabei dürften vor allem die Verhältnisse im Zusammenhang mit der Alterssicherung der Witwen, die Diskussion des neuen Ehescheidungsrechts sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erkenntnisleitend gewesen sein.

Die wesentlichen Bestandteile des Vorschlages der Partnerrente sind die Anrechnung der vor der Ehe erworbenen Anwartschaften, das Rentensplitting während der Ehe und der Ehegattenzuschlag. Dieses Modell und die anderen vorliegenden Modelle zur Neuregelung der Alterssicherung der Frau können hier nicht bis ins Detail verglichen werden. Feststeht, daß die Union auch für den Problembereich „Alter" eine finanzielle Transferleistung mit dem Steuerungstyp der Distribution vorsieht. Die Einwände gegen das Partnerrenten-Modell bestehen darin, daß die gegenwärtige Uberversorgung mit 160 Prozent für die berufstätige verwitwete Frau tendenziell auch auf den Witwer ausgedehnt wird und daß beim Splitting entweder eine zu niedrige Rente entsteht oder mit erheblichen Mehrbelastungen der Solidargemeinschaft zu rechnen ist.

Vor allem die finanziellen Fragen, die allerdings bisher bei keinem Modell eindeutig gelöst sind, sind ausschlaggebend dafür, daß das Modell der Partnerrente gegenwärtig keine Chance haben dürfte, durchgesetzt zu werden. Wie die Übersicht zur Programmbewertung der drei von der Union vorgeschlagenen Antworten auf die Neuen Sozialen Fragen zeigt, sehen diese vor allem neue oder verbesserte finanzielle Transferleistungen vor. Die Mittel für diese Leistungen sollen durch eine Umverteilung im Haushalt oder eine andere Sekundärverteilung des Staates aufgebracht werden. Bei der Erarbeitung der Finanzierungskonzepte wird teilweise von unterschiedlichen ordnungspolitischen Leitbildern im Vergleich zu den Programmaussagen ausgegangen, was zu Widersprüchen führt. So wird z. B. die Erhöhung des Kindergeldes auf Kosten der Vermögensbildung vorgeschlagen. Bei allen vorgesehenen Programmen handelt es sich um Geldleistungen, die in der Regel über den Steuerungstyp der administrativen Distribution umgesetzt werden sollen. Auch hier zeigen sich Widersprüche zum Entstaatlichungsvorschlag derselben Partei, weil solche Administrationsleistungen selbstverständlich nicht mit weniger Staat zu verwirklichen sein dürften. Außerdem wird teilweise auch vom Subsidiaritätsprinzip abgewichen, wenn z. B. eine deutliche Erhöhung des Familienlastenausgleichs gefordert wird und hierbei die Sozialhilfesätze zur Bemessensgrundlage genommen werden. Dieses muß nicht der falsche Weg sein, hier soll nur auf Widersprüche zwischen Programm und Vorschlag aufmerksam gemacht werden.

Dadurch, daß vor allem Geldleistungen vorgesehen sind, werden die Vorschläge bestimmten Bedürfnissen, z. B. nach sozialen Dienstleistungen nicht gerecht. Dennoch kann man sagen, daß sich alle Programme auf reale „soziale Nischen" beziehen und die Überlegungen zur Beseitigung gravierender sozialpolitischer Lücken damit forcieren. Die wesentlichen hier besprochenen Vorschläge sind jedoch aus programmatischen und aber auch aus finanziellen Gründen gegenwärtig schon nicht einmal in der Union durchsetzbar. Es muß deshalb befürchtet werden, daß die Union beim gesetzgeberischen Schwur keineswegs geschlossen für solche Vorschläge stimmen würde. 3. Zur Bewertung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage Auch wenn die Union durch das Konzept der Neuen Sozialen Frage ihr Sozialprofil verbessern konnte, ergeben sich eine Reihe von Problemen, die sich auf den Nenner bringen lassen, daß die Union zwar intensiv über sozialpolitische Fragestellungen diskutiert hat und daß dabei auch teilweise durchaus weiterführende und überlegenswerte Konzepte und Programme entwickelt wurden, daß es aber dennoch nicht gelingen konnte, hieraus eine konstruktive, alternative Oppositionspolitik zu formulieren weil die Programme durch die innerparteilichen Konsensprobleme bis jetzt kaum in das Stadium der parlamentarischen Entscheidung gelangt sind. In diesem Zusammenhang hat die Union das durch ihre Programmarbeit gewonnene Vertrauen z. T. wieder verloren und damit auch an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Im einzelnen soll zum Konzept festgehalten werden:

— Das Konzept der Neuen Sozialen Frage ist kein in sich konsistentes Programm. Das zeigt sich sehr deutlich daran, daß die Aussagen zur Analyse sich im Leitbild teilweise gravierend von denen der Einzelprogramme unterscheiden. — Theoretische Widersprüche im Konzept zeigen sich ebenfalls z. B. darin, welche Bedeutung den Gewerkschaften in unserer Gesellschaft in Zukunft beigemessen wird und welche Relevanz der Staat bei der sozialen Reproduktion haben soll.

— Die Union geht bei ihren sozialpolitischen Vorschlägen nicht von einer grundsätzlichen ordnungspolitischen Leitidee aus. Mit diesen Programmen werden an die bestehenden sozialpolitischen Sicherungssysteme sozusagen additiv einige weitere — meist finanzielle — Leistungsangebote angehängt. Es wird nicht der Versuch unternommen, eine integrierte, im Zusammenhang entwickelte Sozialpolitik zu formulieren

— Z. T. folgen den objektiven Darstellungen des sozialen Wandels und der entstandenen »sozialen Nischen“ nur polemische Bemerkungen an die Adresse der Bundesregierung, ohne daß selbst Programmperspektiven und Alternativen angedeutet würden. Dieses gilt insbesondere für den Bereich der Gesundheitspolitik. — Der wichtigste Einwand gegen das Konzept der Neuen Sozialen Frage aber dürfte sein, daß eine erhebliche Diskrepanz zwischen analytischen Aussagen, programmatischen Vorschlägen und der realen politischen Durchsetzungsintention besteht. Da es in der Volkspartei unterschiedliche politische Strömungen gibt, kommt es teilweise zur Selbstblockierung. So haben z. B. Geißler und Mitarbeiter 1975 und 1976 den Sozialhilfestandard als Armutsindikator herangezogen, die Sozialhilfe-sätze als zu knapp bemessen bezeichnet und auf die Selektion hingewiesen, die dazu geführt hat, daß nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Berechtigten das BSHG auch in Anspruch nimmt. Andere Vertreter der Union haben 1977 hingegen eine Reduzierung des Sozialhilfeaufwandes gefordert So haben Geißler und seine Mitarbeiter die Forderung erhoben, die sozialen Leistungen im Alter durch die Einrichtung von Sozialstationen, durch die Erhöhung der Rente und andere Maßnahmen zu verbessern, während gleichzeitig CDU-Gemeinderäte in ihren Kommunal-parlamenten Zuschüsse zu Altentagesstätten, für die Aktion „Essen auf Rädern“ oder für Altenerholungsmaßnahmen streichen. Geißler hatte sich dafür ausgesprochen, den Kindern mehr sozialpolitische Aufmerksamkeit zu widmen, während gleichzeitig CDU-Gemeinderäte in Kommunalparlamenten Zuschüsse für Familienerholungsmaßnahmen, für Kindergärten mit Familienbildungsstätten kürzten. Und weiter: Wenn Gewerkschaften deshalb, weil Armutsprobleme nicht allein dem Staat überlassen bleiben dürfen, da sie im Produktionsbereich entstehen, für die unteren Lohngruppen eine überproportionale Anhebung verlangen, dann sind es vor allem Unionspolitiker, die sich gegen solche Forderungen wenden.

— Ein weiterer Einwand richtet sich darauf, daß mit dem Konzept wichtige andere soziale Probleme, die tatsächlich neu sind (besondere Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen; die Notwendigkeit einer präventiven statt einer nur kompensatorisch-kurativen Sozialpolitik; die Gefahr, die mit der Professionalisierung und Kommerzialisierung bei der sozialen Sicherung verbunden ist usw.) unberücksichtigt bleiben, obwohl sie von außerordentlicher Relevanz für die Entwicklung der Sozialpolitik in relativen Wohlfahrtsgesellschaften sein dürften.

Diese Einwände gegen das Konzept der Neuen Sozialen Frage machen deutlich, daß das in der Union entwickelte Konzept durch sie in gewisser Weise selbst wieder in Frage gestellt wurde. Die theoretischen Leitbilder, die sich aus der Analyse des industriellen und sozialen Wandels sowie aus normativen Festlegungen ergeben haben, werden bei den Einzelprogrammen vernachlässigt Dennoch, die wichtigen Fragen, die mit dem Konzept der Neuen Sozialen Frage aufgeworfen wurden, bedürfen der sozialpolitischen Bewältigung, auch wenn die dafür notwendige Sozialreform noch sehr viel umfassender angelegt sein muß, als es in dem Geißler-Konzept der Fall ist. 34

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zur Wohlfahrtsstaatskritik u. a.: W. Kaltefleiter, Geht die Demokratie an zuviel Wohlfahrtsstaat zugrunde?, in: WELT am SONNTAG, 24. 3. 1974, S. 6; H. Schelsky, Die Arbeit tun die Anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, München 1975, sowie W. Engels, Mehr Markt — Soziale Marktwirtschaft als politische Ökonomie, Stuttgart 1976.

  2. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war auch die Diskussion zum Konzept der Neuen Sozialen Frage: K. Brenner, Ein leichtfertiges Spiel mit dem Begriff der Armut, in: Soziale Sicherheit 10/1976, S. 293 ff.; E. Glombig, Reklameschminke statt gesellschaftlicher Perspektiven, in: SPD-Pressedienst, 26. 6. 1975, S. 5 f.; H. -H. Hartwich, SPD, CDU und die Lösung sozialer Fragen in der Bundesrepublik, in: Gegenwartskunde, 3/1976, S. 283 ff.; W. Fischer, Der Wandel der sozialen Frage in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften, in: B. Külp, H. -D. Haas, Soziale Probleme der modernen Industriegesellschaft, Berlin 1977.

  3. Eine dritte Linie führt zurück zur Arbeit der Grundsatzkommission der CDU unter der Leitung von R. v. Weizsäcker; vgl. hierzu ders. (Hrsg.), CDU-Grundsatzdiskussion — Beiträge aus Wissenschaft und Politik, Bonn 1977.

  4. Vgl.den Beitrag von H. Scheer, Die nachgeholte Parteibildung und die politische Säkularisierung

  5. Siehe hierzu Kurt H. Biedenkopf, Eine Strategie für die Opposition, in: DIE ZEIT, 16. 3. 1973, S. 4: ders., Erneuern und Bewahren. Rede auf dem Landesparteitag der CDU Baden-Württemberg am 26. 6. 1973, Ms; ders., Fortschritt in Freiheit, München 1974.

  6. Hierbei wurden u. a. die Pluralismustheorie und die Theorie der kollektiven Güter behandelt sowie die Kontroverse Dienstleistungsstaat versus Dienstleistungsgesellschaft erörtert.

  7. Vgl. hierzu die Dokumentationen, die Geißler zur Kostenexplosion, zur Armut, zur Partnerrente, zu Armut und Kinderreichtum und zur Rentenstruktur in der Bundesrepublik vorgelegt hat. Außerdem ders., Neue Soziale Frage, Freiburg 1976.

  8. Siehe W. Schönbohm, Zur Programmdiskussion in der CDU, in: Sonde, 2— 3/1977, S. 6 ff.

  9. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch auch, daß in dem später vorgelegten „Entwurf für ein Grundsatzprogramm der CDU" der Terminus „Organisierte und Nichtorganisierte" wieder durch den der „Mehrheit und Minderheit" ersetzt wurde. Vgl. zu den Änderungen der Parteitagsfassung auch die nachdrückliche Intervention von Ludwig Erhard; hierzu: Wirtschaftswoche: Mit Biedenkopf ab nach links?, Nr. 44/1975, S. 14 ff.

  10. CDU, a. a. O., S. 33.

  11. Ebenda.

  12. H. Geißler, Die Neue Soziale Frage, Freiburg 1976, S. 17.

  13. CDU, a. a. O., S. 33.

  14. Vgl. hierzu: E. Keil-Liefmann, Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin 1961, bes. S. 405 ff.; H. Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Frankfurt 1971, bes. S. 49 f. und ebenda S. 143 f. und ders., Die Vergessenen in der Sozialpolitik; Vortrag im Süddeutschen Rundfunk, 20. 11. 1961, Ms; Chr. v. Ferber, Sozialpolitik in der Wohlfahrtsgesellschaft, Hamburg 1967, bes. S. 9, 27 f. und 33.

  15. H. P. Widmaier, Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Hamburg 1976, S. 77.

  16. H. J. Bank, Die Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland und ihr zeitlicher Zusammenhang mit den Wahlterminen seit 1949, in: Recht der Arbeit, 4/1970, S. 101 ff.

  17. Unter den Bedingungen der starken Festlegung der Mehrheit der Stimmbürger für die konkurrierenden Parteien und eines nur geringen Abstandes zwischen diesen Parteien bzw. Parteikoalitionen ist ein relativer Modus vivendi der Parteien mit den Interessen der Klientel der jeweils anderen Partei erforderlich. Nur durch dieses die Parteigrenzen übergreifende Profil können Mehrheiten verändert werden. Siehe hierzu die nach wie vor bedeutsamen Bemerkungen von J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 1950, hier bes. S. 428 ff.

  18. Vgl. hierzu den Beitrag von D. Runze, Wie entstehen Minderheiten?, in: LEVIATHAN, 1/1977, S. 115 ff. Hier wird ein Vergleich zwischen dem Carter-Wahlkampf in den USA, der besonders auf Minderheiten abzielte, und dem Konzept der Neuen Sozialen Frage der Union unternommen.

  19. Kurt H. Biedenkopf, Fortschritt in Freiheit, München 1974, S. 95.

  20. Vgl. die „Maßnahmen zur Verbesserung der Haushaltsstruktur“ der Bundesregierung 1975.

  21. Siehe hierzu H. Geißler, a. a. O., S. 45 ff.

  22. Vgl. hierzu ausführlich: F. Klanberg, Armutsstandards und Einkommensstatistik, in: Sozialer Fortschritt, 6/1977, S. 126 ff.; ders., Verteilungspolitische Strategien zur Überwindung von Armut in der Bundesrepublik Deutschland — Ergebnisse disaggregierter empirischer Untersuchungen, in: WSI-Mitteilungen, 11/1977, S. 63 ff., und K. Kortmann, Zur Armutsdiskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in Nachrichtendienst des Vereins für öffentliche und private Fürsorge, 5/1976, S. 144 ff.

  23. H. Geißler, a. a. O., S. 29. Vgl. zu den SPES-Daten: W. Zapf (Hrsg.), Lebensbedingungen in der Bundesrepublik — Sozialer Wandel und Wohlfahrtsentwicklung, Frankfurt 1977.

  24. Ph. Herder-Dorneich, Die Neue Soziale Frage — Eine Herausforderung an die Ordnungspolitik, in: Arbeit und Sozialpolitik, 4/1977, S. 122; vgl. auch Kurt H. Biedenkopf, Referat auf dem Grundsatz-forum der CDU, in: R. v. Weizsäcker, a. a. O., hier bes. S. 127 f.

  25. Dieser Gedanke war auch in mehreren Entwürfen eines Familienpolitischen Programms der SPD enthalten, deren letzter Entwurf auf dem Hamburger Parteitag 1977 beschlossen wurde. Dieses Familienpolitische Programm der SPD sieht u. a. vor, den Mutterschutz nach der Geburt auf sechs Monate zu erweitern und einen Elternurlaub einzuführen.

  26. So gibt es z. B. in Schweden schon lange einen siebenmonatigen Elternurlaub, währenddessen 90 Prozent des Normalverdienstes weiterbezahlt werden. In Ungarn gibt es seit 1967 ein sog. „Herdgeld“. In Österreich gibt es für diejenigen Erwerbstätigen, die nach der Geburt eines Kindes die Beschäftigung abbrechen, einen Karenzurlaub. Auch in Frankreich wird ein „salaire unique“ für diese Elternteile bezahlt.

  27. Vgl. hierzu die Bundestags-Drudcsadie 7/1843 und den Gesetzentwurf, hierzu: Bundestags-Drucksache

  28. Siehe hierzu N. Blüm, Interview mit den Evang. Kommentaren, 4/1977, S. 223 ff.

  29. Vgl. BVerfGE 39/169, v. 12. 3. 1975.

  30. Zu einem Modellvergleich siehe H. D. Lohnes, Die sozialrechtliche Sicherung der nichtberufstätigen Frau, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht — FamRZ 4/1969, S. 170 ff.

  31. Geißler und Groser haben meine Bewertung des Konzepts der Neuen Sozialen Frage als „brillantes Oppositionskonzept" zitiert; hierzu S. Mos-dorf, Ordnungspolitik statt Sozialpolitik?, in: Die neue Gesellschaft, 9/1977, S. 786; Geißler in seinem Vortrag auf dem CDU-Grundsatzforum; in: a. a. O., S. 243 und A. Groser, a. a. O., S. 11. Dabei liegt die Betonung bei meiner Aussage auf dem Wort „Opposition" und damit vor allem beim wahltaktischen Kalkül, was notabene nicht mit dem Kriterium der sozialpolitischen Sinnfälligkeit übereinstimmen muß. Doch auch wo diese Übereinstimmung gegeben ist, bleibt es leider beim Konzept, ohne daß Schritte in Richtung praktischer Umsetzung zu sehen wären.

  32. Vgl. hierzu ausführlich M. Pfaff/H. Voigtländer, Sozialpolitik im Wandel. Von der selektiven zur integrierten Sozialpolitik, Bonn 1978.

  33. Siehe hierzu die Aussagen von Stoltenberg u. zur Reduzierung der Ausgaben der Sozialhilfe. Vgl. Frankfurter Rundschau, v. 14. 8. 1977, S. 1.

  34. Zu diesen Beispielen siehe die Dokumentation des SPD-Landesvorstandes Nordrhein-Westfalen: Der Abbau von Sozialleistungen durch die CDU, Düsseldorf 1976, S. 1 und 2.

  35. Im Vergleich zu den Geißler-Vorschlägen sind die ordoliberalen Konzeptionen z. B.der Biedenkopf-Gruppe in sich wesentlich konsistenter. Vgl. hierzu Kurt H. Biedenkopf, Vorlage an den Landesvorstand der CDU Westfalen-Lippe, 12. 10. 1977 (Ms) und das Arbeitsprogramm des von Biedenkopf gegründeten „Instituts für Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik*, wiedergegeben in: Arbeit und Sozialpolitik, 1/1978, S. 14 ff.

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Siegmar Mosdorf, Dipl. -Verwaltungswissenschaftler, geb. 1952; Studium der Verwaltungswissenschaft/Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz; seit 1978 Mit: arbeiter der IG Metall Stuttgart. Veröffentlichungen u. a.: Gewerkschaftsstaat oder Klassenstaat? — Der Neokonservatismus und sein Popanz vom Gewerkschaftsstaat; in: M. Greiffenhagen, H. Scheer: Die Gegenreform — Zur Reformierbarkeit von Staat und Gesellschaft, Reinbek 1975; zahlreiche Beiträge zu sozial-und wirtschaftspolitischen Fragestellungen.