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Sprache in politischer Rede | APuZ 9/1971 | bpb.de

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APuZ 9/1971 über die öffentliche Verantwortung des Schriftstellers Zur gesellschaftlichen Rolle des heutigen Schriftstellers Sprache in politischer Rede

Sprache in politischer Rede

Ulrich Gaier

/ 33 Minuten zu lesen

I. Die Vergleichbarkeit der Texte

Die beiden Reden, die im Anhang nach dem Wortlaut im Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung vom 17. April 1968 (Nr. 49, S. 393 f.) abgedruckt sind, wurden am 13. und 14, April 1968 über Rundfunk und Fernsehen gehalten; Anlaß für beide Reden waren die Studentenunruhen, zu denen es nach dem Attentat auf den SDS-Chefideologen Rudi Dutschke am 11. April in den Städten Berlin, München, Frankfurt, Hamburg, Köln, Kiel, Göttingen, Kassel, Stuttgart und Eßlingen gekommen war.

Für die Rede des damaligen Rundeskanzlers Kiesinger wie des damaligen Bundesjustizministers Heinemann sind also eine große Menge wichtiger Variablen gleich: beide Redner gehören demselben Entscheidungsgremium (der Bundesregierung) an und sprechen demnach aus derselben Position der Verantwortung; Medien und Publikum sind bei beiden gleich, ebenso die angesprochene politische Situation; gleich ist ferner die Absicht, mit der Rede unmittelbar auf die politische Situation einzuwirken — im Bulletin steht beide Male das Wort „Appell" im Untertitel. Diese Identität der Bedingungen läßt den Schluß auf eine gleichartige Intention der Reden zu, nämlich irgendwie die „Ruhe im Lande" wieder herzustellen. Man kann demnach ohne zu große Vereinfachung behaupten, der Unterschied dieser beiden Reden könne eigentlich nur darin liegen, wie und mit welchen Mitteln ein wenigstens äußerlich ähnlicher politischer Tustand zu erreichen ist.

Diese optimale Vergleichbarkeit beider Reden ist der einzige Grund, weshalb ich sie hier analysiere. Für die zwei Politiker waren sie vielleicht nur Pflichtübungen, die für sie an Wichtigkeit und Tragweite den Handlungen, die sie in diesen Tagen ausführten und veranlaßten, weit nachstanden. Für den Politologen enthalten die Reden kein neues Programm, keine unerwartete Aussage; für ihn sind sie Funktionselemente in einem politischen Gesamtsystem von Handlungen, in dem sie einen beschränkten Stellenwert haben. Für die Kommunikationswissenschaftler stellen die Reden ebenfalls Funktionselemente in dem Gesamtsystem politischer Information dar, mit dem die Hörer und Zuschauer von Ründfunk und Fernsehen, die Leser von Zeitungen etc. täglich konfrontiert werden. Allerdings nehmen sie hier einen höheren Stellenwert ein, denn direkte Appelle von Bundeskanzler und Bundesjustizminister an die Hörer sind selten, geben ihnen das Bewußtsein, angeredet und gemeint zu sein und politisches Gewicht zu haben. Um so folgenreicher ist die Wirkung der Reden auf das Bewußtsein dieser Hörer anzusetzen. Normalerweise ist der Hörer nicht angesprochen, die Politiker reden zueinander und gegeneinander, geben Interviews, werden zitiert und kolportiert, ihre Reden werden zusammengefaßt, interpretiert und kommentiert: all das sind Kommunikationsvorgänge, in die der Hörer nur von außen hineinhört, obwohl er indirekt oft gemeint ist, z. B. im Interview, wo der Interviewer seine Stelle einnimmt und dem Politiker Gelegenheit gibt, den Hörer zu beeinflussen, ohne ihn anzusprechen. Das Gefährliche des Interviews liegt in dem Zutrauen, das der Hörer zur Kompetenz des Interviewers hat, das ihn dem Agon zwischen ihm und dem Politiker quasi unbeteiligt zuschauen läßt, ohne ihn zu erinnern, daß ja eigentlich immer er, der Hörer, gemeint ist. Auf diese Weise haben deutliche und unterschwellige Informationen aus Interviews für den Hörer zwar nicht das Gewicht des direkten Appells, gehen ihm aber um so unkontrollierter ein. Der an den Hörer direkt appellierende Redner muß einrechnen, daß der Hörer als Angesprochener eher seine eigenen Meinungen mobilisiert und Maßstäbe an das Gesagte anlegt, daß er kritisch ist und den Redner aus früheren Erfahrungen vielleicht ablehnt. Um so mehr muß es ihm, dem es ja um eine politisch möglichst einheitliche Wirkung geht, um eine Überwindung aller dieser Widerstände zu tun sein. Während beim Interview Manipulation schon durch die besondere Kommunikationssituation erleichtert wird, müssen demnach Appelltexte die Mittel der Manipulation verstärkt einsetzen, um dadurch den Widerstand im Hörerbewußtsein zu überwinden und zugleich das größere Gewicht des Appells etwa gegenüber dem Interview zu erreichen: Appelle sind nicht ohne Grund „rhetorischer" als z. B. Interviews. Wenn wir gesehen haben, daß in den beiden abgedruckten Reden die Unterschiede fast nur noch im Wie des Appellierens liegen, so muß es möglich sein, in ihnen, wenn sie sich unterscheiden, zwei Gruppen manipulativer Elemente nicht nur zu verdeutlichen, sondern auch in ihrem Zusammenspiel zu zeigen.

II. Der Begriff Manipulation. Einschränkung der Untersuchung

Zwei Bemerkungen noch, ehe wir zur Analyse übergehen: Ich habe den Begriff der Manipulation gebraucht und mich damit der Gefahr ausgesetzt, in einem moralischen Sinne mißverstanden zu werden, den der Begriff etwa im Zusammenhang mit „Verführung" heute oft hat. Das liegt an der häufigen produktionsästhetischen Betrachtungsweise von Texten, mit der die Textwissenschaft, immer noch an der Genielehre der Goethezeit hängend, an die Analyse von Gebrauchstexten herangeht: wo Sprachmittel ausgemacht werden, die das Bewußtsein des Hörers unterschwellig beeinflussen, ist man leicht geneigt, dies auf das moralische Konto des Verfassers zu setzen und von Manipulation im Sinne bewußter Verführung zu sprechen. Eine genauere Analyse sprachlicher Kommunikationsvorgänge ergibt jedoch, daß das breiteste Feld der Beeinflussung schon im Bereich der Benennung von Phänomenen liegt: Namen sind, wie Kenneth Burke ausführt, symbolische Handlungen, magische Befehle

Nun wird jedermann zugeben, daß er selbst beim Reden nur ganz selten sich darüber im klaren ist, mit den Namen für Gegenstände und Verhältnisse magische Befehle an den Gesprächspartner auszugeben — er selbst „sieht eben die Dinge so", daß ihm diese Namen ganz natürlich als die „richtigen" erscheinen. Wenn wir hier also, ohne die Absicht zu haben, einen Gesprächspartner vielleicht zur Annahme unserer Sichtweise auf die Gegenstände und Verhältnisse bringen, so ist nicht nur der moralische Unterton im Begriff . Manipulation'verfehlt — jede Redeweise kann auf diese Art „manipulieren" —, sondern vor allem der ausschließlich produktionsästhetisch sich am Verfasser orientierende Ansatz.

In der Praxis unmöglich ist es andererseits, sich an der tatsächlichen Reaktion wirklicher Hörer orientieren zu wollen und daraus nun Manipulation als eine bestimmte Form ausgeübter Wirkung auszusondern: die tatsächliche Wirkung z. B. einer Rede könnte nur in einem Simulationsraum mit Testpersonen geprüft werden, die nicht (oder alle völlig gleichartig) in dem Gesamtsystem täglicher politischer Information stünden. Abgesehen davon, daß es solche Testpersonen nicht gibt, wäre das Testverfahren auf Befragung in irgendeiner Form angewiesen, und diese wiederum ist manipulativ mindestens in dem Sinne, daß sie der Testperson Dinge zum Bewußtsein bringt, die ja gerade bei einem manipulierten Menschen als unbewußt angenommen werden; durch Befragung läßt sich also nicht feststellen, in welcher Form die Manipulation im Denken und Verhalten manipulierter Menschen auftritt. Analysiert man ohne Befragung sein Denken und Verhalten, so sind die Perspektiven und Kategorien des Analysierenden nicht aus den Ergebnissen zu eliminieren: die Ergebnisse müssen also subjektiv bestimmt und demnach prinzipiell ungenau sein. Der einzig gangbare Weg muß in der Suche nach einer Art von Ergebnissen liegen, die weder rein Produktions-noch rein rezeptionsästhetisch einen nicht einlösbaren Anspruch auf Objektivität erheben, sondern die sowohl auf der Seite des Anspruchs (Medium, Text, Rede) wie auf der Seite der Empfänger-Einstellung ein Spektrum von Möglichkeiten offen lassen, von denen im Einzelfall — eine bestimmte Person hört/liest einen bestimmten Text — eine einzige Kombination realisiert wird. Es gibt dann also kein einziges Ergebnis, sondern ein Ergebnis-Modell, das sich in einer Vielzahl konkreter Fälle manifestieren kann. Man müßte also auf der Sender-Seite dieses Kommunikationsverhältnisses annehmen können, daß er im einen Extrem sich völlig einer in Formeln und Klischees gefestigten Sprache (Behörden-sprache, Fachsprache, Soziolekt) hingibt und damit zum willenlosen Organ dieses wirklich-B keitsprägenden Mediums wird, daß er im anderen Extrem Sprache bewußt verwendet, quasi in jedem Wort neu schafft und sich z. B.

durch bewußte Verfremdung in seiner Sprach-und Wirklichkeitsgebung selbst kritisiert, relativiert, durchschaubar macht.

Zwischen diesen Extremen liegt dann auch die Position dessen, der Sprache bewußt einsetzt, um damit bestimmte Wirkungen zu erzielen:

der Manipulierende in der moralisch unter-tönten Definition. Es ist aber deutlich, daß die Rede dessen, der willenlos dem Klischee anheimgefallen ist, ebenso manipulative Wirkungen ausüben kann wie die des „Manipulators"; umgekehrt ist es einem kritischen Bewußtsein möglich, die Rede des Manipulators ebenso zu durchschauen wie die des Klischee-benutzers: ob Manipulation stattfindet, hängt von der Einstellung des Empfängers im Kommunikationsverhältnis ab. Auch hier muß es möglich sein, im einen Extrem ein Leser-oder Hörerbewußtsein anzunehmen, das durch die wirklichkeitsbildenden Tendenzen bestimmter Sprachgebung vollständig eingenommen wird; im anderen Extrem ein Leser-oder Hörerbewußtsein, das einen Text nur als Material, als Ausgangsbasis für eigene, willkürliche Änderungen und Konstitutionen von Wirklichkeit betrachtet.

Während das erste Extrem einer Manipulation sehr leicht zugänglich ist, kann das zweite überhaupt nicht manipuliert werden. Nun ist allerdings zu bedenken, daß das erste Extrem durch vorhergegangene Indoktrination bereits auf eine bestimmte Wirklichkeitsperspektive fixiert ist; es wird, um seine Identität nicht einzubüßen, möglichst daran festzuhalten suchen und deshalb nicht durch jede beliebige Sprachgebung manipulierbär sein. Vielmehr müssen besondere Sprachmittel zur Verfügung stehen, um dieser Einstellung „beizukommen"; wenn sie verwendet werden, kommt Manipulation zustande. Der Begriff Manipulation hat also eine ganze Reihe von Parametern zu berücksichtigen und läßt sich im Rahmen dieser Skizze nur ganz grob als Veränderung des Bewußtseins in seinem Inhalt oder in seiner Einstellung durch bestimmte, der Primäreinstellung des Bewußtseins spezifisch angepaßte Sprachmittel definieren. Ich versuche zur Zeit eine Typologie der Kombinationen von Ansprüchen und Einstellungen zu entwickeln, die vor allem auch die „Zwischenräume" zwischen den hier angedeuteten Extremen ausleuchtet; aufgrund dieser Typologie sind Formen der Manipulation genau zu bestimmen. Hier muß die gewonnene Arbeitsdefinition und die Andeutung des Problemfeldes genügen. Es ist jedenfalls wichtig, daß jeder, der mit nicht-literarischen Texten umgeht oder auch literarische Texte von einem kommunikationswissenschaftlichen Standpunkt her betrachtet, sich mit den hier diskutierten Fragen auseinander-setzt: während man bei dem als Kunstwerk betrachteten Text die Sprache als Faktum, den Inhalt als Gegebenes auffassen kann — so wenigstens meinen es viele —, ist beim Gebrauchstext (z. B.den beiden Reden), der ja unmittelbar zweck-und aufgabenorientiert ist, nicht nur die eventuell vorliegende Intention des Verfassers, sondern vor allem auch die mögliche Auffassung durch den Hörer konstitutiv und bedingend für die Wirkung der ausgesagten Inhalte.

Die zweite Bemerkung betrifft eine Einschränkung, die im Rahmen dieser kurzen Untersuchung notwendig wird. Es ist nicht möglich, hier den Aspekt des Verhältnisses des Verfassers zum Text zu untersuchen: es wäre sicher interessant, z. B. die behördensprachlichen und bildungssprachlichen Elemente in den beiden Texten zu untersuchen und damit der Frage nachzugehen, „wie bewußt jeweils manipuliert wird" oder umgekehrt, wie weit sich der Verfasser dem Wirklichkeits-und Erwartungshorizont anvertraut, den bestimmte Soziolekte setzen. Diese Untersuchung wäre natürlich nicht nur relevant im Hinblick auf den Verfasser, sondern vor allem auf die Möglichkeit, Hörer zum Erkennen, Extrapolieren, Ersetzen solcher sprachlichen Wirklichkeiten zu erziehen. Dies ist Aufgabe eines breit angelegten Textunterrichts und -Studiums und kann hier wiederum nicht beschrieben werden.

Wir konzentrieren uns hier auf das Verhältnis zwischen Text und Leser/Hörer, und auch hier müssen wir uns auf die Beschreibung einer bestimmten Einstellung beschränken: wir setzen das Bewußtsein des Hörers der Reden hypothetisch als völlig rezeptiv an; wir nehmen an, es sei bestimmbar durch und offen für die Intentionalität aller sprachlichen Mittel und ausgesagten gedanklichen Inhalte und habe dem sprachlichen Einfluß nichts Eigenes entgegenzusetzen, was dann notwendigerweise je bestimmte Wirkaspekte der Texte abstumpfen oder wenigstens anders verwirklichen würde als im Falle des völlig „offenen" und bestimmbaren Bewußtseins. Darstellungstechnisch hat diese Hypothese den Vorteil, daß ich mich bei der Beschreibung der kommunikativen Interaktion zwischen gesprochenem Text und Hörerbewußtsein in diesem Fall nur auf die „Aktion" der Texte konzentrieren kann, ohne verändernde „Gegenaktionen" des Hörerbewußtseins anzunehmen.

Die Annahme eines durchweg völlig rezeptiven Hörerbewußtseins, auf das die in den Reden programmierte Wirklichkeit unkontrolliert einwirken kann, ist natürlich nur als durch den Rahmen dieser Untersuchung bedingte Vereinfachung zu verstehen. In Wirklichkeit werden viele Hörer, die in bestimmten Hinsichten gefestigte Anschauungen haben, wenigstens mit einigen Punkten „nicht einverstanden" sein, an einzelnen Formulierungen „sich stoßen". Die jeweilige Art dieses Eingreifens ließe sich typologisch genau erfassen und beschreiben, würde im Rahmen dieser Arbeit jedoch zu großen Raum einnehmen. Nicht ganz unrealistisch ist die Annahme eines völlig offenen Hörerbewußtseins jedoch aus zwei Gründen: beim Hören eines Textes ist die analytische Fähigkeit, Aussagen durch Vor-und Rückvergleiche im Kontext zu prüfen, Formulierungen in ihrer Tragweite zu erfassen, auf Prämissen und Konsequenzen durchzudenken, gegenüber dem Lesen von Texten stark reduziert; hinzu kommt die durch den gegenwärtigen Kultur-und Informationsbetrieb der Medien Rundfunk und Fernsehen geförderte oder wenigstens zugelassene weitgehend rezeptive Haltung des Publikums ihrer Sendungen, in deren Kontext diese Reden zu denken sind.

Man wird also schon auf eine medienbedingt überdurchschnittliche Rezeptivität und Inaktivität des Flörerbewußtseins schließen können. Vor allem jedoch hat der Deutschunterricht unserer Schulen (nicht nur der Gymnasien) es bisher weitgehend versäumt, den Schülern und damit den Bürgern der Bundesrepublik das Bewußtsein der Programmierung von Wirklichkeit durch Sprache, die Fähigkeit zum kritischen Hören und Lesen, die Fähigkeit zum konstruktiven Widerstand gegen sprachliche Manipulation mitzugeben. Aus diesen Gründen ist leider die Annahme einer weitgehenden Beeinflußbarkeit der meisten Hörer nicht ganz unrealistisch. In der nun folgenden Darstellung wird sie jedenfalls hypothetisch angenommen. Indem wir darüber reden und reflektieren, gehen wir, d. h. Verfasser und Leser dieses Textes, allerdings schon mit einer anderen Einstellung an die in Frage stehenden Reden heran: letztlich kommt es darauf an, den zeitlichen und qualitativen Abstand zwischen Rezeption und Reflexion so klein wie möglich zu machen.

III. Intentionalität der Benennungen

Die Untersuchung einer kommunikativen Situation beginnt sinnvollerweise mit der Frage, welche Rolle der Sprecher der allgemeinen Erwartung seiner Hörer gemäß tatsächlich hat und welche Rolle er sich in seiner Rede durch sprachliche Mittel gibt. Die gleiche Frage, vom Sprecher hergestellt, würde lauten: in welcher Rolle sehen/erwarten mich die Hörer, und wie trete ich (vielleicht im Unterschied zu dieser supponierten Erwartung) ihnen gegenüber auf? Sozialwissenschaftliche Rollentheorien können hier genaue Beschreibungssysteme liefern. Wir stellen nur kurz fest, daß die „tatsächliche", d. h. in der Erwartung des Publikums supponierbare Rolle der beiden hier zu untersuchenden Redner in der Redesituation gleich ist: sie sind die in der gegebenen Lage endgültig Verantwortlichen; diese Verantwortung verleiht ihren Aussagen zur Lage und zu notwendigen Handlungen Gewicht und Autorität. Die beiden Redner setzen sich auf verschiedene Weise zu dieser Rolle ins Verhältnis, wie sogleich zu zeigen ist.

Die komplementäre Frage zu der eben besprochenen ist: in welche Rolle werden die Hörer der Rede durch die sprachlichen Mittel gesetzt, und wie verhält sich wiederum diese dem Hörer zugesprochene Rolle zu der tatsächlichen, die ihm in der speziellen Kommunikationssituation zukommt, die also sein SelbstVerständnis begründet und von der der Redner „eigentlich" ausgehen müßte? Der Hörer hat hier die Rolle dessen, dem gegenüber der Regierende verantwortlich und Rechenschaft schuldig ist, der aber zugleich, da er die Entscheidungs-und Handlungsverantwortung delegiert hat, bis zur nächsten Wahl und insbesondere im gegebenen Augenblick von der Beurteilung, Entscheidung und Handlung des Regierenden abhängt. Die beiden Redner setzen auch das Publikum auf verschiedene Weise ins Verhältnis zu seiner „eigentlichen" Rolle. Wir behandeln die beiden Aspekte zusammen in jeder der Reden.

Die konzentrierteste Form der Rollenzuteilung für beide Kommunikationspartner läßt sich in der Anrede einbringen, und beide Redner haben anscheinend von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. „Meine sehr verehrten Zuhörer" steht gegen „Verehrte Mitbürger". Die zweite Anrede zeigt ihren programmierten Charakter deutlicher vor, die erste benennt scheinbar nur die medienbedingten Rollen des Hörers und implizit des Sprechers. Hält man jedoch alternativ eine jene Rollen ebenfalls benennende Formel wie „Meine . .. Hörer" dagegen, so zeigt sich der „magische Befehl" in dieser scheinbar floskelhaften und neutralen Anrede deutlicher. Zuhören heißt mindestens, für die Dauer der Rede auf eigene Aktivität verzichten und sich der Aktivität des Redners unterwerfen. Beweggrund, diese Rolle anzunehmen, kann z. B. die Kompetenz des Redners in der diskutierten Sache oder die Höflichkeit sein, die durch soziale Übereinkunft Gesetz geworden ist.

Wer als Redner seinen Hörer aber auf diese Weise anspricht, verweist ihn auf Beweggründe, die ihm den Verzicht auf eigene Aktivität nahelegen und an die Person oder Rolle des Redners gebunden sind: zugunsten seines Redens sollen die Hörer zuhören, auf eigene Aktivität, auf Bewußtsein eigener Kompetenz verzichten. Verglichen mit der „eigentlichen" Rolle der Hörer in dieser Kommunikationssituation ist diese sprachliche Rollenzuteilung unvollständig: sie entfernt aus der Rolle des Hörers den Anspruch auf Rechenschaft, den er gegenüber dem Sprecher hat, und sie entfernt aus der Rolle des Sprechers die Verantwortung gegenüber dem Hörer, die er als gewählter Repräsentant hat. Sie teilt dem Sprecher die ausschließliche Aktivität und Kompetenz zu und verweist den Hörer in den Verzicht auf Selbstentfaltung. Man muß allerdings berücksichtigen, daß der Sprecher die Rollen nur in einem Teilgebiet der Kommunikationssituation verteilt: an einem Rundfunk-oder Fernsehgerät zuhören ist nicht dasselbe wie politisch sich der Meinung und den Anweisungen eines Sprechers unterwerfen. Die Anrede kann also einerseits als „ganz harmlos" und neutral aufgefaßt werden, sie kann andererseits die Metonymie (Medium für Inhalt) einer sozialen Aussage und Rollenzuteilung sein. Durch diese Unbestimmtheit wird der Hörer nicht zu dem Widerspruch gereizt, den eine eindeutige Benennung der ihm eventuell zugeteilten sozialen Rolle im Vergleich mit der ihm bewußten „eigentlichen" Rolle hervorrufen würde; die Anrede in dieser bestimmten Kommunikationssituation versetzt ihn nur in die unklare Erwartung, die Rollenzuteilung im Bereich des Mediums könnte sich als eigentlich soziale herausstellen, wo ihm dann allerdings ungerechtfertigterweise Verzicht auf wesentliche Komponenten seiner eigentlichen Rolle auferlegt würde.

So unter die Lupe genommen, nehmen sich sprachliche Formulierungen natürlich bedeutender aus als sie sind; sie müssen immei im Kontext gesehen werden, der sie in ihrer Wirkung entweder neutralisiert oder bestätigt. Erst der Gesamtkontext einer solchen Rede läßt Aussagen über die tatsächliche Wirkung einer Formulierung auf eine bestimmte Hörer-Einstellung zu; für sich genommen ist die Wirkung einer einzigen Formulierung nur als mögliche zu betrachten. Wir müssen also, um Auskunft über die tatsächliche Rollenzuteilung zu bekommen, alle Formulierungen, die sich auf die Hörer und den Sprecher beziehen oder sie in irgendeiner Weise implizieren, zusammentragen und in ihrer Tendenz vergleichen. Angeredet sind die Hörer nirgends in dieser ersten Rede. Am direktesten impliziert sind sie in drei pronominalen Formulierungen: „die Zerstörung unserer parlamentarisch-demokratischen Ordnung" (als Ziel der „linksextremistischen Kräfte") [8/9; diese in eckige Klammern gesetzten Ziffern bezeichnen die jeweilige Zeile des im Anhang abgedruckten Rede-textes], „In unserer Demokratie" [12] und „für uns ein Alarmsignal" [38/39]: in der ersten Formulierung werden sie mit dem Redner als Besitzende gefaßt, deren Besitz durch eine kleine Gruppe zerstört werden soll. In der zweiten Formulierung wird eine besonders wertvolle Eigenschaft dieses Besitzes genannt, die nun dem Mißbrauch durch die kleine Gruppe ausgesetzt ist. In der dritten Formulierung ruft der Redner auf, sich mit ihm in dem Gefühl der Bedrohlichkeit und Gefährdung zu vereinigen.

Nicht nur da, wo der Hörer sich am ehesten angesprochen fühlen kann, sondern wo sich auch der Sprecher mit ihm solidarisiert, ist die Angst das bindende Element; die differenzierte Rollenverteilung, die eigentlich zwischen Sprecher und Hörern besteht, wird ersetzt durch ein völlig andersartiges soziales Modell, nämlich das von der durch den Trieb zur Selbsterhaltung solidarisierten Gruppe, deren Mitglieder den Forderungen dieses Naturgesetzes sich blind unterwerfen; das bedeutet aber gleichzeitig, daß derjenige, welcher diese Forderungen artikuliert und sich zu ihrem ausführenden Organ macht, metonymisch als Teil oder Wirkung des Gesetzes selbst gelten muß und den Gruppenmitgliedern absolut übergeordnet wird. In seiner Person ist das Absolute, das die Gruppe konstituiert und erhält, unmittelbar anwesend; er ist das Symbol dessen, was alle trägt, beschützt und aufhebt, was verteidigt und verteidigt werden muß.

Nun ist aber selbst bei einem „offenen"

Hörerbewußtsein nicht anzunehmen, daß dieses Modell sich ohne weiteres an die Stelle des schon vorhandenen setzt, das dem Hörer die „eigentliche" Rolle des mitverantwortlichen Kritikers zugesteht. Es müssen ergänzende sprachliche Handlungen da sein, wenn dieser Lerneffekt erzielt werden soll. Analog zu der Verunsicherung dieses Rollenbewußtseins in der Anrede wird in der Rede selbst von „Gegenaktionen aus der Bevölkerung"

[24/25] gesprochen; ferner heißt es „Unsere Be-B völkerung erwartet" [46]: indem von ihm in der dritten Person und in einem Kollektivbegriff geredet wird, findet sich der Hörer aus der ihm anfangs zugestandenen Rolle als Zuhörer auch noch hinausgedrängt. Der Redner hebt sich aus der bisher bestehenden Kommunikationssituation heraus und redet über das Kollektiv der Hörer zu einer nicht auszumachenden Instanz oder Gruppe. Konnte der Hörer bis zu diesem Punkt sicher sein, zu der Gruppe zu gehören, die „unsere .. . Ordnung"

besitzt und dadurch gegen deren Zerstörer gefestigt und abgegrenzt ist, so muß er sich, wenn er weiterhin „dazugehören" will, nun sogar von der „Bevölkerung" dissoziieren, die durch Gegenaktionen wiederum diesen Besitz gefährden könnte. Damit müßte er aber auch die Rolle des mitverantwortlichen Kritikers vollends aufgeben, die mit seiner Zugehörigkeit zur Bevölkerung der BRD eigentlich gegeben ist. Wieder einbezogen in die Bevölkerung ist er als derjenige, der vom Staat die Sicherung der öffentlichen Ordnung erwartet. Akzeptiert er dies, so gehört er nicht zu denjenigen, mit denen der Redner gemeinsam „Unsere Bevölkerung" sagen kann; er deklassiert sich damit gewissermaßen zum Besitz dieser kleinen Gruppe und verliert auf diese Weise wieder das Recht auf seine Rolle als mitverantwortlicher Kritiker. Die Unsicherheit, in die der Hörer damit gesetzt wird, macht ihn an der Rolle, die er vielleicht seither als seine eigentliche betrachtet hat, verzagen und erweckt das Bedürfnis, auf jeden Fall „dazuzugehören", d. h. in die Gruppe derer einzuschwenken, die sich durch Parolen und gemeinsamen Besitz verbunden fühlen und sich dem Naturgesetz und seinen Exponenten völlig unterwerfen, das Selbsterhaltung, Verteidigung des Besitzes und Zusammenhalts befiehlt. Für ein „offenes" Bewußtsein ist durch diese Mittel der Lern-oder Manipulationsprozeß sicher zu erreichen. Hinzu kommt, daß der Redner gleichzeitig mit der Verunsicherung und Neuorientierung seiner Hörer sowohl sich selbst wie den protestierenden Studenten bestimmte Rollen zuteilt. In folgenden Formulierungen ist er, vom Hörer aus gesehen, mit-gemeint: „kann aber das Recht zugestanden werden" [15], „die staatlichen Reaktionen waren .. . bewußt zurückhaltend, um ... zu vermeiden" (17 ff. ], „wurden . . . gewarnt" [20 f. ], „die Mittel der staatlichen Abwehr" [22 f. ], „ist zu befürchten" [24], „die Bundesregierung" [28], „Ich habe . . . veranlaßt" [33], „der Staat" [46] „Verschärfung der staatlichen Abwehrmittel" [48], „ich weiß" [50 f. ], „ich warne sie" [53].

Auffällig in dieser Serie sind die den ganzen zweiten Abschnitt des Redetextes beherrschenden Passiv-und Anonym-Formulierungen. Der Redner, der „eigentlich" im Auftrag seiner Hörer die Verantwortung im Staat trägt und ihnen darüber Rechenschaft schuldet, spricht von Handlungen, Urteilen, Entscheidungen, ohne sich oder andere Verantwortliche als Handelnde, Urteilende, Entscheidende zu nennen: der Staat ist hier eine anonyme Institution, der die „eigentlich" Verantwortlichen so weit untergeordnet werden, daß sie ihre handelnde Individualität verlieren. Aus dieser anonymen Größe entspringen Urteile über das Recht von Gruppen, „bewußte" „Reaktionen", Warnungen und Befürchtungen. Prognosen über die Handlungsweise dieses Anonymus („Mittel der staatlichen Abwehr")

können mit „zwangsläufiger" Sicherheit gegeben werden: die anonyme Institution hat den Charakter eines naturgesetzlichen Zusammenhangs, dessen einzelne Positionen — „eigentlich" in der Rolle von persönlich Verantwortlichen supponiert — völlig darin aufgehoben sind und nur nach außen mitteilen können, was durch diesen Apparat mit unbeeinflußbarer Sicherheit zwangsläufig geschieht und geschehen wird, wenn bestimmte Situationen eintreten.

Nachdem der Redner sich so eine andere Rolle zugeteilt hat und den Hörer nur als einen Teil einer anonymen Institution anspricht, haben auch die Ich-Nennungen im zweiten Teil der Rede eine neue Funktion: einerseits heben sie den Redner als Individuum gegen die Institution ab, andererseits zeigen sie ihn nur als Spitze dieser Institution: „Ich habe veranlaßt, daß das Bundesinnenministerium ... mit den Innenministerien der Länder . . .deren Polizeikräfte ..." Der Redner teilt sich die Rolle des Exponenten einer mit naturgesetzlicher Gewalt funktionierenden Apparatur von ungeheurer Tiefenerstreckung zu. Entsprechend sind es „unvermeidliche Folgen", vor denen er am Ende warnt. Der Kernsatz des hier vorgeschlagenen Sozialmodells lautet: „Gewalt provoziert Gegengewalt, die sich zwangsläufig ständig ausbreiten und steigern muß."

[39 ff. ]. Es ist ein quasi physikalisches System von anonymen Kräften und Gegenkräften, das mit naturgesetzlicher Mechanik abläuft und reagiert. Der Redner, der sich die Rolle eines exponierten Teils dieser Mechanik gegeben hat und aus dieser Position andererseits die Rolle des Hörers neu zuteilt, tut dies auf dem Hintergrund eines Naturzusammenhangs. Er bietet dem Hörer zugleich an, sich ebenfalls diesem Naturzusammenhang einzufügen, indem er von „unserer Demokratie" spricht und damit die von ihm symboliB sierte Mechanik als die Erscheinungsform dessen anspricht, was zugleich das Konstitutionsmedium der auf Selbsterhaltung gerichteten Gruppe ist.

In diesem Zusammenschluß der neukonstituierten Hörer-mit der Rednerrolle zeigt sich nicht nur, daß die Rollen genau ineinanderpassen, sondern daß zu seinem Interesse der Besitz-und Existenzverteidigung nun noch die Zwangsläufigkeit und Mechanik eines Systems kommt, das die Verteidigung sichert, indem es die Angehörigen schützt, die Widerstehenden mit naturgesetzlicher Gewalt abwehrt. Die hier vorgenommene Neuverteilung der Rollen von Redner und Hörer ist also völlig konsistent und ersetzt durch Mittel der Verunsicherung und Neubenennung das ursprüngliche Verhältnis, von dem der Hörer ausgeht. Eine „offene" Einstellung des Hörerbewußtseins ist diesem Verfahren ausgeliefert; manipulative Veränderung des Hörerbewußtseins liegt also vor.

Wir untersuchen nun die Bennung der Rollen von Redner und Hörer in der zweiten Rede.

Da die Betrachtungsprinzipien schon deutlich geworden sind, können wir hier etwas rascher vorangehen. Die Anrede „Verehrte Mitbürger"

schränkt die Rolle des Redners gegenüber der „eigentlichen" Rolle des Regierungsverantwortlichen ein: er spricht als Bürger mit anderen Bürgern, als Gleicher zu Gleichen. Nimmt man-das hier zugrunde gelegte Modell von der auf Zeit übertragenen Regierungsverantwortung auf Seiten des Redners und der daraus resultierenden Berechtigung und Verpflichtung zu Kritik und Kontrolle auf Seiten des Hörers an, so wird dieses Modell bereits hier in der Anrede entscheidend modifiziert:

der Redner sieht von der Regierungsverantwortung ab, die ihm aufgetragen ist und über die er Rechenschaft schuldet; der Hörer verliert damit aber auch das Recht und die Pflicht, zu kontrollieren und zu kritisieren, was der Redner an Benennungen für Personen, Gegenstände und Situationen einsetzt und welche Entscheidungen und Handlungen er vorschlägt. Das Modell, das er an die Stelle des „eigentlichen" setzt, ist das der Gleichheit unter dem Gesichtspunkt oder der Norm des Bürger-Seins, wie immer diese Norm inhaltlich zu füllen sein mag. Impliziert ist damit aber, daß er sich im Rahmen dieses sozialen Modells nicht den Hörern gegenüber verpflichtet und verantwortlich macht, sondern der Norm des Bürger-Seins — oder anders gesagt: nicht den Hörern sofern sie Menschen mit bestimmten Interessen, Bedürfnissen, Zielen sind, sondern nur, sofern sie „Bürger" sind. Ebenso weist er damit den Hörern die Rolle zu, ihre Interessen, Bedürfnisse, Wünsche zu vergessen und sich selbst nur gelten zu lassen, sofern sie der Norm des Bürger-Seins gerecht werden.

Diese von den Bürgern geforderte Einschränkung entspricht zunächst nicht den Bedingungen, unter denen der Redner angetreten ist und überhaupt zum Reden kommt: daß er Regierungsverantwortung trägt, ist auf die Massierung von Interessen, Bedürfnissen, Über-zeugungen aufgrund eines bestimmten Parteiprogramms zurückzuführen; jetzt davon absehen, hieße Tatsachen verschleiern. Die Berufung auf die Norm des Bürger-Seins in dem Augenblick der Kommunikationssituation setzt das bestehende soziale Modell außer Kurs, wo die Verfolgung eigener Interessen, Bedürfnisse und Ziele unter notwendiger Beeinträchtigung des „Mitbürgers" so lange erlaubt ist, als bestimmte Grundrechte nicht allzu eklatant verletzt werden. Die Norm des Bürger-Seins ist nicht ein Grenzen-System wie das Grundgesetz, an dem nach Maßgabe seiner Interessen und Machtmittel der einzelne unbemerkt zu wenden und zu verschieben versucht, sondern ein inhaltlich gefülltes Ideal, dem sich der einzelne gegenüber verantwortlich fühlt und nach dem er seine Entscheidungen und Handlungen richtet, um ein möglichst guter Repräsentant des gemeinschaftlichen Ideals zu werden. Der Gleiche unter Gleichen strebt nach Anerkennung durch die anderen unter dem Gesichtspunkt ihrer gemeinsamen Ideale; der einzelne im bestehen Modell strebt nach Macht über andere, nach Erfolg in der Durchsetzung seiner individuellen Interessen. Da es jedoch unfein und zudem unklug ist, dies allzu laut zu bekennen, hat man sich ohnehin schon angewöhnt, in öffentlichen Situationen Gemein-sinn zu zeigen und das Allgemeinwohl zu bedenken oder sogar ganz ernstlich Minuten der Einkehr und des Seufzens über diesen Kampf aller gegen alle zu zelebrieren — wonach man frisch gestärkt weiterkämpft. Die vom Redner vorgenommene Rollen-Neuzuteilung, wie sie sich in der Benennung „Mitbürger" ankündigt, birgt also die Gefahr in sich, von den eigentlich Betroffenen als eine solche verschleiernde Schweigeminute aufgefaßt zu werden und die übrigen zu der Meinung zu verleiten, als müsse sich nun tatsächlich etwas ändern.

Die Bewährungsprobe muß die Rede selbst liefern. Zu prüfen ist erstens, ob der Redner die Reduktion seiner selbst auf den „Bürger" durchhält, zweitens, ob der die „Mitbürger" über das „Bürger-Sein" in der gegebenen Situation aufklärt und vor allem angibt, wie er die „Bürger" vor denjenigen schützt, die sich der Norm des Bürger-Seins nicht verpflichtet fühlen. Wir prüfen zunächst die Rollenbestimmungen, die der Redner für sich und die Hörer vornimmt; auffällig sind die häufigen Gleichstellungen von Redner und Hörer: Pronomina der ersten Person Plural kommen an elf Stellen des Textes, manchmal gehäuft vor. Formulierungen wie „wir alle ... wir selber" [66 f. ] weisen genau auf das „Bürger" -Modell, wo jeder einzelne nur unter einem bestimmten Gemeinsamen Geltung hat und damit das Gemeinsame besser oder schlechter repräsentiert. Entsprechend werden Gruppen isoliert und an der gemeinsamen Norm geprüft: -„wer zeigt, sollte daran denken . . „junge Menschen", „wir Älteren", „von keiner Seite neue Erregung", „an den Stammtischen", „das sollten politisch bewegte Studenten begreifen" etc. Außer der Gruppe „wir Älteren", mit der der Redner sich identifiziert, wird keine Gruppe direkt angesprochen; alle sind in Sätzen nach dem Muster „Auch die junge Generation hat einen Anspruch darauf . . zugleich (inhaltlich) angesprochen wie (grammatikalisch) durch die dritte Person distanziert.

In den auf diese Weise „näheren" und „ferneren" Gruppen innerhalb der Gemeinschaft aller reproduziert sich — ohne Synchronie — die Bewertung, die mit den einzelnen Gruppen am gemeinsamen Ideal vorgenommen wird. Für die Kriterien dieser Bewertung zeichnet allein der Redner verantwortlich; ich abstrahiere einige der Leitsätze: Wer bezichtigt, hat selbst Schuld; Ältere müssen mit der jüngeren Generation Kontakt halten, glaubwürdig bleiben, Kritik ernst nehmen; Gefühlsaufwallungen sind billig, aber nicht hilfreich, etc. Dem Bürger-Sein wird damit also Inhalt verliehen, aber eben von einem einzelnen, der seine persönliche Meinung als die gemeinsame erklärt. Dem Hörer ist auf keine Weise die Berechtigung abzusprechen, vieles davon für gut und richtig, aber gerade das auf ihn Gemünzte für unnötig oder gar unrichtig zu halten. Wo die Norm nicht von allen getragen wird, kann der einzelne sie nicht verbindlich setzen. Zugleich zeigt sich, daß der Anspruch, hier eine Norm für alle inhaltlich zu füllen und Beurteilungskriterien daraus abzuleiten, im Grund wieder das Verfahren der Durchsetzung individueller Interessen ist, dem nur der Schein des von vornherein Gemeinsamen verliehen wird, um die Kritik der Hörer auszuschalten — die inhaltliche Vernünftigkeit vieler Gesichtspunkte und Kriterien darf ja über das sprachliche Verfahren selbst nicht hinwegsehen lassen.

Es gibt denn auch zwei Punkte, an denen die „eigentliche" Kommunikationssituation mit ihren Rollenverteilungen durchschlägt: „Diesen Gesetzen die Achtung und Geltung zu verschaffen, ist Sache von Polizei und Justiz. Es besteht kein Anlaß zu bezweifeln, daß Polizei und Justiz tun, was ihre Aufgabe ist." [91— 95] Hier spricht der Justizminister, der Regierungsverantwortliche, nicht mehr der Mitbürger; deshalb wendet er sich gegen mögliche Zweifel und Kritik an seiner und seiner Beauftragten Tätigkeit. Die in der Rede beschworene Gemeinsamkeit ist nur möglich auf der Basis einer gut funktionierenden Polizei und Justiz. Wichtig ist es nun, welche Aufgabe diese Organisation hat: sie soll den Gesetzen, „die wir uns selber gegeben haben", Achtung und Geltung verschaffen. Die Gesetze, von denen die Rede ist, wurden „in der, Woche vom 16. bis 22. Mai 1949 durch die Volksvertretungen von mehr als zwei Dritteln der beteiligten deutschen Länder angenommen" (Grundgesetz, Vorwort), also zu einer Zeit, als die meisten der demonstrierenden Studenten Kleinkinder waren. Zu behaupten, es seien Gesetze, die wir uns selbst gegeben haben, ist streng genommen unrichtig und verweist wieder auf das angenommene Gemeinschafts-Modell: nur unter der Voraussetzung, daß der einzelne sein Selbst als gemeinschaftliches und nicht als individuelles versteht, kann die Gemeinschafts-Tradition als dominant über das individuelle Interesse angenommen werden. Die Benennung „selbst gegeben" ist nur richtig, wenn nicht nur den Mehrheitsverhältnissen, sondern auch der Einstellung jedes Individuums nach alle mehr gelten als Einer.

Die Praxis des bestehenden Modells zeigt jedoch z. B. bei Grundgesetz-Änderungen, daß nicht eine Norm des gemeinschaftlichen Besten, sondern das mächtigere Interesse entscheidet, oder: daß es je nach individuellem Interesse ein anderes „Bestes" gibt. Das „Kleid der Freiheit" drückt bei einigen mehr als bei anderen. Die Gesetze sind demnach „eigentlich" gesetzte Grenzen, die nur diejenigen „achten", deren Interessen sie weitgehend gerecht werden. Ihnen „Achtung und Geltung zu verschaffen" benennt also ganz praxisgerecht den Zwang, der auf die Entfaltung der Interessen ausgeübt wird, die sich bei der Gesetzgebung nicht durchsetzen könnten: zugleich aber fällt der Redner aus der Rolle im Gemeinschaftsmodell, die er sich gegeben hat, und verweist sich und die Hörer in ihre „eigentlichen" Rollen zurück. Dasselbe geschieht in dem Passus über die demonstrierenden Studenten [105 bis 110]. Die „alte Erfahrung" nennt schon in sich eine Erkenntnisquelle, die der im restlichen Text apostrophierten Sollensnorm des Bürger-Seins widerspricht. Hielte der Redner sich durchgängig an die Erfahrung, dürfte er die Norm nicht aufstellen. Die Folgebeziehung „Ausschreitungen und Gewalttaten — gegenteilige öffentliche Meinung" wird als erfahrungsgemäß unumgänglich dargestellt; zu den Studenten wird „beiseite gesprochen"; sie müssen die Realität nehmen, wie sie nun einmal ist.

Diese Sprünge aus der angenommenen Rolle zurück in die „eigentliche" geschehen an den Punkten, wo der Anlaß der Kommunikationssituation unmittelbar gemeint ist. Selbstverständlich gäbe es auch in dem angenommenen Gemeinschafts-Modell Begründungen für die Vermeidungen von Gewalttaten und für das Handeln von Organen, die die Ordnung aufrechterhalten. Diese Begründungen müßten in diesem Modell allerdings auf Begriffen, Vorstellungen, auf einem Selbstverständnis aufbauen, für die man sich nicht erst mehrheitlich entscheidet, sondern die bei allen Beteiligten „schon immer vorhanden", völlig selbstverständlich und deshalb zwanglos gemeinsam wären. Daß dies z. B. beim Grundgesetz nicht der Fall ist, zeigen schon die gegenwärtigen Tendenzen zu seiner Änderung in manchen Punkten. Die Rollensprünge an diesen für die Situation entscheidenden Stellen sind gravierend für die Wirkung der Rede auf das Bewußtsein der Hörer: sie machen die durch die sprachlichen Namengebungen zugeteilten Rollen des Redners und des Publikums unverbindlich. Für das Bewußtsein z. B.der Studenten, die als Betroffene besonders hellhörig sind, wird die Rede damit zum Beschwichtigungsversuch, der trotz gegenteiliger Beteuerung doch alles beim „eigentlichen" Sozialmodell lassen will; für das Bewußtsein der andern wird die Rede zum Gedankenspiel, wie anders alles wäre, wenn man sich einmal in einer solchen Rolle befände — und danach kann man getrost zur Tagesordnung übergehen, denn der Redner rechtfertigt das durch sein eigenes Verhalten. Die durch die Neuverteilung der Rollen versuchte Veränderung des Hörerbewußtseins bleibt fiktiv und liefert höchstens die Sprache für eine Zweitfrisur des Wirklichkeits-und Selbstverständnisses.

IV. Intentionalität der Bilder

Bilder wie das eben gebrauchte verwenden auch die beiden Redner. Wir haben uns bisher methodisch an die Untersuchung der Benennungs-Strategien gehalten und auch diese nur im Hinblick auf die Rollenzuteilung für Redner und Hörer durchgeführt (über die Benennung von anderen Personen, von Gegenständen und Zuständen ließe sich noch viel sagen). Formen des indirekten Sprechens sollen in ihrer wirklichkeits-und besonders gesellschaftsbildenden Funktion nun noch angedeutet werden. Beide Redner verwenden eine bildliche Form gleich zu Anfang ihrer Rede: In der ersten Rede ist es die Metonymie von den „linksextremistischen Kräften", in der zweiten das Gleichnis von der zeigenden Hand. „Kräfte" reduziert die mit dieser Formulierung gemeinten Menschen auf die Form ihrer Wirksamkeit im politischen Leben. Diese Reduktion des Blicks auf einen abgeleiteten Effekt verhindert einerseits, daß der Hörer dabei an Menschen denkt, die unter Umständen berechtigte Interessen vertreten, wie auch sie z. B. auf das Interesse eingeschworen werden sollen, Besitz zu verteidigen. Es wird also durch diese Reduktion ein Nicht-Zugehöriges gegen die Gruppe der Zugehörigen gesetzt, das zugleich ein Nicht-Menschliches, durch die Reduktion schon magisch geschwächtes Andersartiges ist. Kräfte sind unsichtbar wirksam, folglich unheimlich und müssen schon deshalb abgewehrt werden. Indem der Blick des Hörers nicht nur im Umfang auf einen Aspekt reduziert wird, sondern dieser Aspekt zugleich inhaltlich gefüllt und verstehbar ist, wird andererseits auch die Methode angegeben, mit der dieses Unheimliche bekämpft werden muß: man weiß aus der Physik, daß Kraft Gegenkraft hervorruft und übernimmt davon in die Politik als legitimen Grundsatz:

„Gewalt provoziert Gegengewalt, die sich zwangsläufig ständig ausbreiten und steigern muß." Wo Kraft ist, ist Gegenkraft das natur-gesetzlich gerechtfertigte Mittel, sich ihrer zu erwehren. Die hier vorgeschlagene Gesellschaft funktioniert nach physikalischen Gesetzen; Störfaktoren werden vom System selbst automatisch eliminiert. Alle diese Folgerungen hängen von dem Sprachverfahren der Aspektierung ab: diese Metonymie sondert aus und macht andersartig, sie konsolidiert die Gruppe der Zugehörigen und legt sie auf „physikalisch-naturgesetzliche" Formen des Verhaltens fest, indem sie ihr einen „physikalischen" Feind gibt.

Die zweite Rede enthält an ebenso prominenter Stelle das Gleichnis von der zeigenden Hand. Auch dabei läßt sich das vergleichende Sprachverfahren und der erst dadurch konditionierte inhaltliche Wert unterscheiden. Der Vergleich verbindet den Sach-und Bildbereich über eine beiden gemeinsame Vorstellung, so daß die im Bildbereich bekanntere, mit ihm erfahrungsgemäß verbundene oder ihm typische Eigenschaft dem Sachbereich erst zugelegt werden soll oder besonders an ihm zum Vorschein kommen kann. Der Bildbereich und die verbindende Eigenschaft müssen also allgemein bekannt oder verifizierbar sein. Wer einen Vergleich verwendet, bezieht sich also auf den Bereich des gemeinsam Bekannten, Vorstellbaren, Verifizierbaren und ordnet diesem auch noch den Sachbereich unter Verzicht auf dessen sonst bestehende Individualität zu. Genau diese Struktur haben wir auch in der Rollenbenennung „wir alle" erkannt, wo der einzelne die Identität seines Selbst nicht aus seiner Individualität, sondern aus dem allen Gemeinsamen gewinnen soll.

Vergleiche haben, allgemein gesprochen, vergemeinschaftende Funktion. So ist auch der hier verwendete Bildbereich beschaffen: jeder kann mit seiner eigenen Hand das Zeigen ausprobieren und das Gesagte verifizieren. Auf der Basis dieses vergemeinschaftenden Sprach-prozesses bekommt nun der Inhalt des Vergleichs seine besondere Wirksamkeit: so wie alle das Zeigen an sich ausprobieren können, so sollen „wir alle uns fragen" und die Vorwürfe auf uns selber zurücklenken. Das Bild ist deshalb so überzeugend, weil das im Sachbereich aufgewiesene Verhältnis zwischen zeigendem und zurückweisenden Fingern sowohl neu wie unmittelbar verifizierbar ist. Das „Darandenken", von dem in dem Bild gesprochen wird, ist eigentlich ein Entdecken. Damit erhält der vergleichende Sprachprozeß noch eine Komponente, die ihm hier die Durchschlagskraft sichert: er befiehlt nicht nur, das im Bildbereich Bewußte und Bekannte nun auch im Sachbereich zu wissen und anzuwenden, sondern zugleich das Aha-Erlebnis aus dem Bildbereich auf den Sachbereich zu übertragen. Der Redner wird zum Führer in ein neu zu entdeckendes Gebiet und schafft sich damit eine große Vertrauensbasis.

Bemerkenswert ist allerdings, daß an dem im Vergleich besprochenen Verhältnis zwischen den Fingern und den Vorwürfen „etwas nicht stimmt": ein Zeigender denkt nicht nur nicht an die drei zurückweisenden Finger, sondern auch nicht an den Zeigefinger; wichtig ist ihm allein die Sache, auf die er zeigt. Vorwürfe, an die der Tadelnde zweifellos denkt, dürften also nicht mit dem zeigenden Finger verglichen werden, sondern nur mit dem irgendwie gesehenen, aspektierten Gegenstand, auf den gezeigt wird. Aus diesem Grunde kommt sich der Hörer, ohne beim Hören der Rede sein Unbehagen analysieren zu können, irgendwie überrumpelt vor.

Deutlich ist, wenn auch nur an diesen beiden Beispielen, daß die Wahl der indirekten Sprachverfahren — dort Metonymie, hier Vergleich — mit dem angestrebten Sozialmodell der beiden Reden in sinnvollem Zusammenhang steht. Die bewußtseinsbildende Funktion indirekter Sprachverfahren ist mindestens ebenso wirksam wie die der Benennungen, weil sich bei ihnen bereits im Verfahren, nicht erst im Inhalt, die Intentionalität niederschlägt.

V. Schluß

Ich breche die Untersuchung ab; es gäbe nicht nur noch eine Menge Material, das mit den beiden gezeigten Zugriffen analysiert werden könnte, sondern noch eine Anzahl von Zugriffen, die weitere Aspekte der Reden erschließen würden. Es ist darum gegangen, Wirkungen sprachlicher Verfahren auf eine typische Einstellung des Bewußtseins zu beschreiben, die hier so gewählt war, daß sie an der Intentionalität der auf sie wirkenden Sprache nichts verändert. Würde man eine andere Einstellung als Ausgangspunkt wählen, so müßten Modifikationen —-Schwächungen, Verstärkungen, inhaltliche „Interpretationen" — mitbeschrieben werden. Ich habe versucht, an einigen Punkten die Intentionalität der Sprache zum Bewußtsein zu bringen und damit den manipulativen, bewußtseinsverändernden Aspekt dieser Sprache (den sie mit den meisten Formen der Sprachverwendung gemeinsam hat) zu verdeutlichen. Mein Ziel war nicht Tadel oder gar parteipolitische Aktivität gegen die Redner — die Wahl der Texte war, wie gesagt, von der optimalen Vergleichbarkeit der Kommunikationssituation bestimmt—, sondern der Versuch, in der wachen Darstellung einer auf das schlafende Bewußtsein wirkenden Sprache die Wegspanne zu zeigen, die unsere Spracherziehung in Zukunft bei möglichst vielen Menschen überwinden muß.

Anhang

Verantwortung für die Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Ordnung Warnung vor ungesetzlichen Aktionen und Gewalttätigkeiten Appell des Bundeskanzlers zur Wahrung von Ruhe und Besonnenheit Bundeskanzler Dr. h. c. Kurt Georg K i e s i n -g e r gab zu den Studentenunruhen im Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf den Studenten Rudi Dutschke am 13. April 1968 über Rundfunk und Fernsehen folgende Erklärung ab:

Meine sehr verehrten Zuhörer!

Im Zusammenhang mit dem verbrecherischen Anschlag auf Rudolf Dutschke haben in den beiden letzten Tagen radikale studentische Gruppen in einigen deutschen Städten eine Reihe von gewalttätigen Aktionen unternommen. Diese Studenten-gruppen werden angeführt von kleinen, aber militanten linksextremistischen Kräften, die sich die Zerstörung unserer parlamentarisch-demokratischen Ordnung offen zum Ziel gesetzt haben. Sie haben seit langem derartige Gewalttätigkeiten propagiert und durchgeführt.

In unserer Demokratie haben die Vertreter jeder politischen Meinung das unbestreitbare Recht, diese zum Ausdruck zu bringen und für sie zu werben. Keiner Gruppe kann aber das Recht zugestanden werden, ihre politischen Auffassungen und Ziele mit Gewalt durchsetzen zu wollen. Die staatlichen Reaktionen waren bisher bewußt zurückhaltend, um unnötige Opfer zu vermeiden. Seit Wochen wurden jedoch diese Gruppen davor gewarnt, ihre ungesetzlichen Aktionen fortzusetzen, weil sonst zwangsläufig die Mittel der staatlichen Abwehr verschärft werden müßten. Darüber hinaus ist zu befürchten, daß sich Gegenaktionen aus der Bevölkerung entwickeln könnten, die zu gefährlichen Zusammenstößen und Unruhen führen müßten.

Die Bundesregierung verfügt über keine eigenen Polizeikräfte zur Abwehr derartiger Störungen der 30 öffentlichen Ordnung. Dafür sind die Länder und Gemeinden mit ihren Polizeikräften allein zuständig. Ich habe aber veranlaßt, daß das Bundesinnenministerium in ständiger Bereitschaft Verbindung mit den Innenministerien der Länder hält, deren Polizeikräfte in der Lage sind, diese Störungen ab-35 zuwehren.

Das Attentat eines keiner politischen Gruppe angehörenden abseitigen Verbrechers sollte für uns ein Alarmsignal sein. Gewalt provoziert Gegengewalt, die sich zwangsläufig ständig ausbreiten und stei-40 gern muß. Um eine solche unheilvolle Entwicklung zu vermeiden, muß sich der weit überwiegende Teil der Studentenschaft, der für die Aufrechterhaltung unserer demokratisch-parlamentarischen Ordnung eintritt, den radikalen Rädelsführern verweigern. 45 Unsere Bevölkerung erwartet, daß der Staat die öffentliche Ordnung sichert. Dies aber ist ohne Verschärfung der staatlichen Abwehrmittel nur möglich, wenn die radikale studentische Minderheit sich auf den Boden des Rechts zurückbegibt. Ich 50 weiß, daß manche von ihnen härtere Zusammenstöße bewußt provozieren wollen.

Ich warne sie vor den dann unvermeidlichen Folgen, für die sie Verantwortung tragen müßten.

Ich weiß mich in der Entschlossenheit, keine ge-55 waltsame Störung der rechtsstaatlichen Ordnung, komme sie von wem sie wolle, zu dulden mit unserem Volke einig.

Achtung vor dem Gesetz und den Grundrechten Appell des Bundesjustisministers zur Bewahrung von Selbstbeherrschung und demokratischem Verhalten Der Bundesminister der Justiz, D. Dr. Dr. Gustav W. Heinemann, gab am 14. April 1968 über Rundfunk und Fernsehen folgende Erklärung ab:

Verehrte Mitbürger!

Diese Tage erschütternder Vorgänge und gesteigerter Unruhe rufen uns alle zu einer Besinnung. Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, daß in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.

Damit will ich sagen, daß wir alle uns zu fragen haben, was wir selber in der Vergangenheit dazu beigetragen haben könnten, daß ein Antikommunismus sich bis zum Mordanschlag steigerte, und das Demonstranten sich in Gewalttaten der Verwüstung bis zur Brandstiftung verloren haben,

Sowohl der Attentäter, der Rudi Dutschke nach dem Leben trachtete, als auch die elftausend Stufenden, die sich an den Demonstrationen vor Zeitungshäusern beteiligten, sind junge Menschen. 75 Heißt das nicht, daß wir Alteren den Kontakt mit Teilen der Jugend verloren haben oder ihnen unglaubwürdig wurden? Heißt das nicht, daß wir Kritik ernst nehmen müssen, auch wenn sie aus der jungen Generation laut wird? so Besserungen hier und an anderen Stellen können nur dann gelingen, wenn jetzt von keiner Seite neue Erregung hinzugetragen wird. Gefühlsaufwallungen sind billig, aber nicht hilfreich, — ja sie vermehren die Verwirrung. 85 Nichts ist jetzt so sehr geboten wie Selbstbeherrschung, — auch an den Stammtischen oder wo immer sonst das Geschehen dieser Tage diskutiert wird.

Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze, die » 0 wir uns selber gegeben haben. Diesen Gesetzen die Achtung und Geltung zu verschaffen, ist Sache von Polizei und Justiz. Es besteht kein Anlaß zu bezweifeln, daß Polizei und Justiz tun, was ihre Auf-95 gäbe ist.

Wichtiger aber ist es, uns gegenseitig zu dem demokratischen Verhalten zu verhelfen, das den Einsatz von Justiz und Polizei erübrigt.

Zu den Grundrechten gehört auch das Recht zum 100 Demonstrieren, um öffentliche Meinung zu mobilisieren. Auch die junge Generation hat einen Anspruch darauf, mit ihren Wünschen und Vorschlägen gehört und ernst genommen zu werden.

Gewalttat aber ist gemeines Unrecht und eine 105 Dummheit obendrein. Es ist eine alte Erfahrung, daß Ausschreitungen und Gewalttaten genau die gegenteilige öffentliche Meinung schaffen, als ihre Urheber wünschen. Das sollten — so meine ich — gerade politisch bewegte Studenten begreifen und darum zur Selbstbeherrschung zurückfinden.

Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum ersten Mal in unserer Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Würde des Menschen volle Geltung verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Mei-i nungen, die es in offener Diskussion zu klären gilt.

Uns in diesem Grundgesetz zusammenzufinden und seine Aussagen als Lebensform zu verwirklichen, , ist die gemeinsame Aufgabe. Die Bewegtheit dieser Tage darf nicht ohne guten Gewinn bleiben. 1

Fussnoten

Fußnoten

  1. Kenneth Burke, Dichtung als symbolische Handlung. Eine Theorie der Literatur, Frankfurt/M. 1966 (= edition suhrkamp 153), S. 9f.: „Beispielsweise sehen wir uns heute Problemen gegenüber, die aus dem Versuch resultieren, die Interessen einer freien Privatwirtschaft mit denen der Staatsbürger als Gesamtheit in Einklang zu bringen. Es ist eine Art von Magie, dieser Situation im . strategischen Namen'einer planvoll gelenkten Wirtschaft entgegenzutreten; es ist eine ganz andere, der gleichen Situation , im Namen'der Gleichschaltung zu begegnen. Magische Befehle sind immer schon in der Sprache selbst enthalten, denn der bloße Akt der Benennung eines Gegenstandes oder einer Situation setzt willkürlich fest, statuiert also, das Benannte sei als ein Dieses auszusondern und nicht als ein beliebiges Anderes."

Weitere Inhalte

Ulrich Gaier, Dr. phil., o. Professor für deutsche Literatur im Fachbereich Literatur-wissenschaft der Universität Konstanz; geb. 1935, Studium in Tübingen und Paris, 1960/61 Lektor in Swansea/Wales; 1961 Promotion in Tübingen; 1963 Assistent am Leibniz Kolleg der Universität Tübingen; 1963— 67 Assistantund Associate-Professor an der University of California/Davis; 1966 Habilitation in Tübingen; 1967/68 Universitätsdozent in Tübingen; seit 1968 an der Universität in Konstanz. Veröffentlichungen: Der gesetzliche Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre, Tübingen 1962; Studien zu Sebastian Brants „Narrenschiff", Tübingen 1966; Satire. Studien zu Neidhart, Wittenwiler, Brant und zur satirischen Schreib-art, Tübingen 1967; Krumme Regel. Novalis'„Konstruktionslehre des schaffenden Geistes" und ihre Tradition, Tübingen 1970; mehrere Aufsätze in literaturwissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelwerken.