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Zur gesellschaftlichen Rolle des heutigen Schriftstellers | APuZ 9/1971 | bpb.de

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APuZ 9/1971 über die öffentliche Verantwortung des Schriftstellers Zur gesellschaftlichen Rolle des heutigen Schriftstellers Sprache in politischer Rede

Zur gesellschaftlichen Rolle des heutigen Schriftstellers

Martin Doehlemann

/ 15 Minuten zu lesen

Die Berufsposition eines Gesellschaftsmitglieds, dessen Selbstbewertung immer die Bewertung durch andere widerspiegelt, gilt heute als eines der Hauptkriterien seiner sozialen Einschätzung durch die Mitmenschen. An die jeweiligen innerhalb einer Prestigehierarchie unterschiedlich plazierten Berufspositionen sind unterschiedliche soziale Normen geheftet, die sich als Erwartungen an das Verhalten des Betreffenden geltend machen — und zwar nicht nur als Erwartungen an sein Verhalten im eigentlichen Berufsbereich. Diesen Rollen-erwartungen, die keine totalen Verhaltens-fixierungen vornehmen, sondern den Verhaltensspielraum mehr oder weniger scharf abgrenzen, kann sich kaum einer entziehen. Sie sind mit negativen Sanktionen (Strafen bei Nichterfüllung), aber auch positiven Sanktionen (Belohnungen bei Erfüllung) verbunden. Dabei ist der Grad der Fremdbestimmung der unterschiedlichen Rollen in unserer Gesellschaft höchst verschieden: Die gesellschaftliche Macht eines „Rollenspielers" drückt sich in dem Maße aus, in dem er anderen gegenüber die eigene Rolle als verbindlich festsetzen und den anderen ihr Drama vorschreiben kann

Wie steht es mit der Bewertung und dem Inhalt der Rolle des Schriftstellers in der bundes-republikanischen Gesellschaft? Unter Schriftsteller soll hier verstanden werden der „qualifizierte", sich hauptsächlich belletristisch (keineswegs im Sinne eines unpolitischen Schön-geistes) betätigende Autor im Unterschied zum Verfasser von Trivialliteratur oder von Sachbüchern. Akzeptiert man ihn in seinem Beruf und trägt man Erwartungen an ihn heran — eine Bedingung seiner gesellschaftlichen Integration? Kann er die soziale Rolle, die ihm vorschwebt, durchsetzen? Die soziale Verortung eines Gesellschaftsmitglieds, die Rolle, die ihm zugemutet wird oder die es sich selbst geben kann, prägt seine Vorstellung von und seine Einstellung zur gegebenen Gesellschaft—wie umgekehrt seine Vor-und Einstellungen seine gesellschaftliche Verortung beeinflussen. Die folgende kurze Rollenanalyse des Schriftstellers soll einen Beitrag liefern zur Beschreibung seiner prekären sozialen Situation in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

I. Rollenerwartungen an den Schriftsteller

Allen einschlägigen empirischen Untersuchungen zufolge ist die Ausbildung eines Menschen die zentrale Variable für sein Leseverhalten Es scheint berechtigt zu sein, in bezug auf das potentielle soziale Beziehungsfeld des Schriftstellers, d. h. hinsichtlich derjenigen Gesellschaftsmitglieder, die Erwartungen an ihn haben könnten und für ihn deshalb „Gesellschaft" wären — und dazu gehören potentiell alle, die lesekundig sind —, nach bildungsmäßig Unterprivilegierten und Privilegierten zu unterscheiden. In einer groben Operationalisierung wären die „Bildungsunterschichten", im großen und ganzen diejenigen mit Volksschulabschluß, von den „Bildungsoberschichten", denen mit Hochschulreife und auch Hochschulabschluß, zu trennen. Neben dem größeren, anonymen Publikum halten sich im Beziehungsfeld der Autoren weitere, ihnen näher-stehende Gruppen auf, nämlich die Gruppe der Vermittler, die in unserem Zusammenhang fast ganz ausgeklammert bleiben soll, und die Gruppe der Künstlerkollegen. 1. Erwartungen der Bildungsunterschichten Abgesehen vom Kochbuch und vom Buch aller Bücher, nimmt ca. ein Drittel der Gesamtbevölkerung überhaupt nie ein Buch zur Hand. Dagegen erreicht die sogenannte Heftchenliteratur ca. drei Viertel der Bevölkerung, ergänzt durch Illustriertenliteratur. Da heiratet in den Bergen der Graf die schöne, arme Waise; da gibt der erfolg-und freizeitreiche Jungindustrielle in seinem Privatjet ausgedehnte Kostproben seiner Lendenkapazität: Die sprachlose Frustration der Unterschichten wird in dieser Lektüre zu Wünschen programmiert, die mit eben dieser Lebensersatzlektüre gerade so weit scheinbefriedigt werden, daß der Konsument ungeduldig das nächste Heft zur Hand nimmt, um sich, von seiner eigenen Misere abgelenkt, mit dem nächsten Helden zu identifizieren. Wenn man davon ausgeht, daß die Kunst „auf der Schwelle zur Tat lebt", so entfremdet gerade diese Literatur von der Kunst, indem sie ihre unterprivilegierten Leser in Passivität gefangenhält und, mit Unterhaltung Enthaltung einübend, deren potentiell emanzipatorischen Wünsche entschärft oder gar nicht aufkommen läßt.

Befragungen dieser Leser ergeben heute, daß sie im Durchschnitt nicht wissen, wen sie lesen, dafür aber, wovon sie lesen. An den Namen des Autors ihres Lesestoffes bzw. an sein Pseudonym erinnern sie sich in der Regel nicht, eher noch an den Titel, ganz bestimmt aber an den Helden ihrer Traumwelt und seine Konstellationen, die sie mit ihm und in ihm durchlebten. Das läßt die Vermutung zu, daß es heute für sie den Schriftsteller als einen in der und für die Gesellschaft Produzierenden so gut wie gar nicht gibt, daß sie Erwartungen nicht an den Schreiber, sondern nur an Geschriebenes richten, welches ja, wie die Ankündigung gewöhnlich suggeriert, „das Leben selber schrieb". Für einen Leser von Trivial-literatur, der vergißt, daß er liest, der eins wird mit dem Helden, der mit dem Lesen Realität unmittelbar vollzieht anstatt sie als falsch oder richtig, gut oder schlecht gestaltet und vermittelt erkennt muß der Autor in den Hintergrund treten. Hinzu kommt, daß die einzelnen Romane gewöhnlich keine eigene Handschrift verraten, in Handlungen und Helden beliebig austauschbar sind, einzelne Autoren für den Leser also nicht zu erkennen oder wiederzuerkennen sind. Ständige Wiederholungen schaffen das Maß an Vertrautheit, das nötig ist, sich der immer wieder bestätigten und gleichzeitig immer wieder enttäuschten Leser zu versichern.

Von einem beträchtlichen Teil der Gesellschaftsmitglieder erfahren die Schriftsteller offensichtlich keine Rollenerwartungen. Was die qualifizierten Autoren anbelangt, so werden sie nicht etwa gering eingeschätzt als Folge der Nichterfüllung eines Rollenansinnens, etwa im Sinne der Traumfabrikation, sondern ihnen wird gar kein Status, gar keine Funktion zugeteilt. Man kennt sie nicht und weiß höchstens von ihnen, die Arbeitszeit und Freizeit nicht trennen können, daß sie nicht „richtig" arbeiten und demnach so etwas wie Parasiten sein müssen.

Hinsichtlich der Selbstfindung und Selbstbewertung eines Gesellschaftsmitglieds wiegt ge-sellschaftliche Isolierung im Sinne einer sozialen Standortlosigkeit sicher schwerer als eine nur niedrig bewertete Position, die einem zumindest das meist erwiderte Gefühl der gesellschaftlichen Zugehörigkeit gestattet. Sind demgegenüber die bücherlesenden Schichten den Schriftstellern bei ihrer Statussuche behilflich? 2. Erwartungen der Bildungsoberschichten Bis heute scheint die sogenannte Allgemeinbildung, die in beträchtlichem Ausmaß literarische Bildung beinhaltet, als Integrationsfaktor und gemeinsames Statussignum der Gesellschaftsmitglieder zu fungieren, die sich einerseits durch die Qualifikation ihrer Berufe vom gesellschaftlichen Durchschnitt abgehoben wissen, andererseits aber durch die zunehmende Spezialisierung ihrer Berufe von ihren rang-gleichen Statusgenossen entfremdet fühlen. In dieser Allgemeinbildung erkennt und honoriert man sich als Seinesgleichen und grenzt sich gleichzeitig nach unten ab.

Für einen täglich feiertäglichen Gebrauch einer literarischen Bildung, die statussymbolisierend als „Schleppsäbel akademisch ausgebildeter Experten" herumgetragen wird, sind eigentlich nur Dichter bedeutungsvoll, die akademisch hoffähig geworden sind, die unbestritten das Tor der Weltliteratur passiert haben, also tot sind. An diesen toten Dichtern, so scheint es, mißt der literarisch allgemeingebildete Bürger die lebenden Schriftsteller.

Hier ist es nötig, einen Blick auf die Kulturvermittlungs-(und Statusverteilungs-) Instanz Gymnasium zu werfen, insbesondere den Deutschunterricht, der, seit der Weimarer Zeit nicht wesentlich verändert und erst seit kurzer Zeit ein Begleitthema der Schulreform, für viele die erste und letzte Beschäftigung mit belletristischer Literatur bringt — Erwachsene, die aus der Literatur zitieren, zitieren damit meist auch ihre Schul-und Jugendzeit — und das Bild des Dichters meist für ein Leben lang prägt. Zwei unterschiedliche, aber aufeinander angewiesene Aspekte bestimmen offensichtlich das teilweise bis heute vom Deutschunterricht vermittelte Bild des Dichters, Aspekte, die in ihrer eigentümlichen Verbindung auch in die heutige bildungsbürgerliche Rollenzumutung an den lebenden Schriftsteller eingehen. Schlagwortartig ausgedrückt bestimmt das Bild des Dichters einerseits die Vorstellung einer vom Fluidum der Irrationalität umgebenen Individualität, einer gesellschaftlich exterritorialen Einzelpersönlichkeit, die Frei-heit und gleichzeitig, beinahe beängstigend, Einsamkeit und existentielle Problematik signalisiert, andererseits die Vorstellung einer abgeklärten, zeitenthobenen Monumentalität, die, von der Kulturgeschichte selig gesprochen, in einer Art von „ divinatorische(m) Verhältnis . . . zur Wahrheit" steht. Indem die Schule diese aus, wie es oftmals heißt, „begnadeten" und „zerrissenen" Seelen emporgestiegene Wahrheit zu einer dauernd gültigen entaktualisiert und entpolitisiert, scheint sie bei denen, die sie „ins Leben" entlassen hat, eine Einstellung zu begünstigen, die im „Dichterwort" ein erhebendes, aber unverbindliches Beiwerk zur Feierabend-, Familien-oder Betriebsfestkultur im Gegensatz zur tagtäglichen, weniger humanen Berufspraxis sieht.

Es würde hier zu weit führen, zu diskutieren, inwieweit in der Schule, auf dem Wege über Dichterautoritäten, Folgsamkeit und andere, evtl, lebenslängliche Tugendmuster eingeübt werden, inwieweit die Schulklassik einschüchtert anstatt emanzipiert Hier soll gefragt werden, inwieweit Momente eines meist in der Schulzeit verinnerlichten Rollenbildes vom Dichter auch in den Erwartungen an lebende Autoren enthalten sind. Werner Bergengruen, der selbst noch, im Gegensatz zu den meisten seiner jüngeren, häufig politisch engagierten Kollegen, ziemlich uneingeschränkt unter den bildungsbürgerlichen Begriff des „Dichters" fällt, erfaßte zutreffend den Doppelaspekt der zeitgenössischen Rollen-und Statussituation des belletristischen Autors: Er steht „von alters her in einem überlieferten, von Bildungsvorstellungen, aber doch auch von Gefühlsbewegungen genährten Ansehen. Freilich tut das im Grunde nur der idealische, nicht der empirische, also nicht immer der einzelne, lebende Dichter; immerhin fällt ein kleiner Abglanz, wenn das Glück sehr gut ist, auch auf ihn" Diesem Aspekt der überhistorischen Monumentalität korrespondiert der einer der sozialen Kontrolle in gewissem Maße enthobenen Individualität. Dem Dichter wird, auch außerhalb seiner Kunstübung, manches verziehen, was gewöhnlich Sterblichen meist scharfe negative Sanktionen einbrächte. Der kleine Teil des Publikums, der, wie Bergengruen schreibt, „vom Vorhandensein von Dichtung und des Dichters überhaupt Notiz nimmt", ist geneigt, ihn, wenn es um sein leichtfertiges Verhältnis zu bürgerlichen Wert-und Verhaltensstandards geht, vor dem größeren und weniger gutwilligen Publikum in Schutz zu nehmen, d. h. ihm einen Schutz zu gewähren, den gerade Mitglieder dieses großen Publikums bei Verletzung bürgerlicher Normen nicht erwarten können. „Wem räumt denn die Welt aus freien Stücken Privilegien ein? In erster Linie doch dem Ungefährlichen, dem Schwachen, dem nicht gänzlich Ernstgenommenen. Nur einen solchen stellt man gewissermaßen unter Naturschutzrecht, nur einen solchen erkennt man, gewisse Grenzen vorausgesetzt, in seinen nun einmal gegebenen Eigenschaften und Eigentümlichkeiten an ... Hier haben wir den Revers der goldenen Schau-und Ehrenmünze. Die Privilegien-urkunde (des Dichters) .. . offenbart sich als Freibrief im Sinne der Narrenfreiheit."

Es macht die prekäre Situation dieser Narren aus, daß man einerseits von ihnen, aufgrund ihrer sozialen Außenseiterposition, die Wahrheit der „Unabhängigen" erwartet und daß man sie andererseits gerade als „Außenseiter" im Sinne von Inkompetenzen abqualifiziert, wenn sie, wie es bei den profilierten Schriftstellern heute meistens der Fall ist, mit ihren Wahrheiten die Grenze des Unverbindlichen überschreiten wollen. Indem die „kulturtragenden Schichten" ihre Hände schützend über die Schriftsteller halten und sie in einem gesellschaftlichen Naturschutzgebiet, im gesellschaftlichen Niemandsland ansiedeln, schützen sie sich und ihre Kultur selbst. Dabei halten sie heute die Schriftsteller und ihre Produkte weniger von sich selbst fern, als zumindest indirekt von den weniger privilegierten Schichten, denen gegenüber sie bis heute die Macht haben, über die verschiedenen Sozialisationsund Enkulturationsinstanzen ihren entpolitisierten Kulturbegriff durchzusetzen. Die Freiheit, die sie den Schriftstellern freiwillig zugestehen, ist die der Ohnmächtigen, derer, die nur dann anerkannt werden, wenn sie sich abschieben lassen. 3. Erwartungen der kontrakulturellen Eigen-gruppe Gesamtgesellschaftlich isoliert und frustriert, stillen viele Schriftsteller heute ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten, Resonanz, Anerkennung und Solidarität in „Schutz-Cliquen", in die sie sich mit ihren kontrakulturellen literarischen Konzeptionen zurückziehen Zu die-sen künstlerischen Fachgruppen gehören Schriftstellerkollegen, Maler und Intellektuelle aller Art, die, bis vor kurzem wenigstens, relativ gleichartige Erwartungen an die moderne Literatur und ihre Schöpfer herantrugen, vereint im hauptsächlich mit literarischen Mitteln geführten Kampf gegen die „verlogenen heilen Leitbilder" der Bildungsschichten, die glauben, daß die Welt, mit ihrer Hilfe, in Ordnung sei und nur einige Schriftsteller und andere Freunde der Kloake Unruhe hinein-brächten Bezüglich eines politischen Engagements der Literatur herrschte allem Anschein nach ziemlich übereinstimmend und leidenschaftslos die Meinung, daß es zwar erwünscht sei, aber keineswegs unabdingbar. Während der politischen Diskussionen in und zwischen diesen intellektuellen Zirkeln wurde in der letzten Zeit die Existenz des literatur-produzierenden Schriftstellers heftig in Frage gestellt, und zwar nicht nur die des Produzenten einer sich im Klassenkampf vermeintlich nicht engagierenden Literatur. Der Vorwurf, verloren zwischen den Klassen zu schweben, von der Befreiung der unterdrückten Klasse abzulenken oder sie nicht wirkungsvoll genug zu unterstützen, ungewollt Vergoldungsarbeiten für die Herrschenden zu leisten oder ihnen zum falschen Alibi der pluralistischen Toleranz zu verhelfen — diese Vorwürfe treffen die Literatur als solche und alle diejenigen, die nicht von ihr lassen wollen: „Auch das beste Agitprop-Gedicht ist stets schlechter als der Stein am Helm des prügelnden Polizisten, die Maulschelle für den Nazikanzler Kiesinger, die Besetzung eines Werkes oder Instituts." Die einschlägigen Publikationen sind voll von Rechtfertigungsversuchen der Schriftsteller, die Literatur und politische Aktion verbinden wollen. Sie wehren sich gegen die Genossen, die ihnen das Recht auf ihre heutige literarisch-politische Existenz aberkennen und ihnen ausgerechnet damit zum richtigen Klassenstandpunkt verhelfen wollen. „Klassenstandpunkt — den verschaffen ihm allerdings auch kleinbürgerliche Revoluzzer nicht, die die Ursachen einer Verlegenheit in der individuellen Produktion des Schriftstellers selbst suchen und mit dieser abschaffen zu können glauben. Was sich hier umstürzlerisch äußert, ist nur bürgerliches Klassenschuldbewußtsein. [. . . ] Weil unsere Revoluzzer sich als Kinder der Bourgeoisie schämen, möchten sie die individuelle Produktion des Schriftstellers als typisch bürgerlich abschaffen, und zwar für die Arbeiter und Angestellten gleich mit, die nach Jahrhunderten der Bevormundung und Sprachlosigkeit doch erst zum privaten und individuellen Ausdruck ihrer kollektiven Bedürfnisse gelangen sollen. [. . . ] den Individuen der unteren Klassen [wird] verweigert, was man selbst lange und bis zur Sinnlosigkeit, zum Ekel genossen hat."

In seiner Rolle als Literaturproduzent ist also der Schriftsteller auch in seiner Eigengruppe, die bisher inmitten der großen Gesellschaft von Ignoranten oder Abweisenden die Hauptstütze seiner sozialen Identität war, verunsichert. Die soziale Isolierung der Schriftsteller im Sinne des Fehlens einer gesellschaftlichen Status-und Funktionszuschreibung, im Sinne eines „überflüssig-" oder „Entbehrlichseins" ist fast total, ein Zustand, der u. a. wohl auch für ihre verbreiteten seelischen „Berufskrankheiten" verantwortlich ist, Wie steht es nun mit den Chancen der Schriftsteller, nicht wegen ihrer Tätigkeit sozial ausgesperrt, sondern mit dieser gesamtgesellschaftlich integriert zu werden?

II. Rollenangebote der Schriftsteller und die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Integration

Schriftsteller, die nicht als Lieferanten von Dekorationen, sondern, wie die meisten heutigen, insbesondere jüngeren Autoren, bewußtseins-und gesellschaftsverändernd wirken wollen die nicht das Dasein verklären, son-dem über das gegenwärtige politisch-soziale Dasein aufklären wollen, müssen und wollen das Getto ihres sozialen Zwischenzustands verlassen; denn nur in der Gesellschaft, d. h. allgemein wahrgenommen und akzeptiert als Träger bestimmter Funktionen, können sie mit irgendeiner Erfolgsaussicht gegen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse angehen, nicht außerhalb. Nun werden sie aber ge-rade auch deshalb sozial ausgesperrt und damit unschädlich gemacht, weil in ihren „Rollenangeboten" an die Gesellschaft die Entwürfe von Gegenwirklichkeiten enthalten sind, ein Abbau tradierter Übereinkünfte (die oft im Namen der alten Literatur aufrechterhalten werden) und fest verzahnter Machtverhältnisse intendiert ist. Als gesellschaftliche Außenseiter haben sie die Freiheit, schöpferische Destruktion zu predigen; ihr Sanktionsrisiko besteht nicht darin, wie bei anderen Gesellschaftsmitgliedern, daß sie mit Abstrichen ihres Ansehens und ihres Status rechnen müssen — sie haben ja keinen —, sondern eben darin, daß sie von den über die Macht-und Kulturapparate Verfügenden mit dem abschätzigen Hinweis auf ihre Außenseiterposition in die Schranken der gesellschaftlichen Wirkungslosigkeit verwiesen werden. Die Freiheit des Schriftstellers besteht darin, Narr, und nichts anderes, zu sein. Deshalb braucht man ihn gerade dann, wenn er es ernst meint, nicht ernst zu nehmen.

Wie können Schriftsteller aus ihrer gesellschaftlichen Isolierung herausgelangen? Hauptsächlich dadurch, daß sie „ein Erfolg" sind. In diesem seltenen Fall steigen sie aus einer statuslosen Anonymität zu dem hohen, aber instabilen Individualstatus der Prominenz auf, der im Unterschied zum üblichen Positionsstatus nicht an Ausbildung und Herkunft, sondern an den einzelnen Namen gebunden ist. „Ruhm" ist die einzige soziale Belohnung, die der Schriftsteller heute erhalten kann. Nun bedeutet aber Erfolg zu einigen Teilen ein Zeichen der „Bewährung", des erwartungsgemäßen, „richtigen" Verhaltens. Wenn man davon ausgeht, daß der Großteil der Bücherleser seine Lesebereitschaft davon abhängig macht, ob er in seinem „guten Geschmack", seinem Recht auf festliche, mit einem Schuß von Schlüpfrigkeit versehene Unterhaltung und in seinem Bedürfnis nach Lebenshilfe und nach „konstruktiver" Kritik bestätigt wird, so wird erklärlich, daß kaum eines der „destruktiven", aggressiven Bücher der Literaturavantgarde, die selten ihre Leser ungeschoren lassen, auf den Bestsellerlisten erscheint. Ebenso erklärlich ist es, daß die Großverlage, die an der Ware Buch verdienen müssen, nur solche Autoren aufwendig „aufbauen" und mit ihnen den Markt monopolisieren, die dem größeren Leserpublikum die Illusion vermitteln, kulturell auf der Höhe ihrer modernen Zeit zu sein, und den Erfolg der meistgekauften Autoren mit deren „Qualität" erklären. Wer nicht annähernd so schreiben will, wie der Markt und seine Lücken es verlangen, bleibt entbehrlich.

Die oft leichtfertig geäußerte Vermutung, daß das soziale Entwurzeltsein des Künstlers, seine Unbehaustheit eine notwendige Voraussetzung seiner schöpferischen Originalität sei, zieht nicht in Betracht, daß es die heute mangelnde gesellschaftliche Nachfrage nach geistiger und handelnder Originalität ist, die diese in die sozialen Randbezirke verweist. Heute kann sich, sozial abgeschieden, Originalität, die immer eine Bedrohung der bestehenden Normen darstellt, trotz einer originalitätsfeindlichen Umgebung in gewissem Maße entwickeln. Es ist aber durchaus ein gesellschaftlicher Zustand denkbar, der, indem er sie nachfragend fördert, der „destruktiven" schriftstellerischen Originalität einen zentralen gesellschaftlichen Platz einräumt, sie also integriert, ohne sie dabei zu zerstören. Der Schriftsteller wäre sozial domestiziert, aber damit nicht zur Ruhe gebracht, sondern zur schöpferischen Unruhe aufgefordert, die durch Anerkennung belohnt wird.

Die Bereinigung der sozialen Situation der Schriftsteller setzt eine Veränderung der Gesellschaft, ihrer Wert-und Machtsysteme voraus. Mit seinem Wunsch aber, zu dieser Veränderung beizutragen, befindet sich der Schriftsteller als einzelgängerischer Literaturproduzent in einer fast ausweglosen Lage — und wenn er, wie Günter Grass auf der ersten Tagung des Verbandes deutscher Schriftsteller im November 1970, die goldenen Zeiten einer Integration, die nicht einfach Verdauung durch die Gesellschaft, sondern Veränderung in der Gesellschaft meint, nur deshalb schon heute für gekommen wähnt, weil Männer wie Heine-mann und Brandt zur Zeit an der Spitze des westdeutschen Staates stehen, so läßt sich diese Art euphorischer Wahnvorstellung eigentlich nur mit dem Frustrationsstau derer erklären, die früher als „Pinscher" (Erhard) tituliert, so schnell nicht aufhören werden, „im Gegensatz zu dem Lebensgefühl der breiten Schichten unseres Volkes" (Kiesinger im März 1969) zu stehen. Mit einem solchen Vorwurf gegenüber den Schriftstellern sprach Kiesinger sicher sehr viel eher im Namen eines Volkes, das unter langjähriger manipulativer Anleitung von oben dazu neigt, sein derzeitiges „Lebensgefühl" für das naturgegebene und damit einzig mögliche zu halten, als Brandt auf dem Schriftstellerkongreß, wo er den Schriftstellern die Funktion eines „kritischen Korrektivs" antrug und sie in seiner Eigenschaft als Politiker um Hilfe bat, „damit nicht abermals die Vernunft an der Ignoranz scheitert".

Walter Benjamin hat es, durchaus im Sinne der zeitgenössischen Autoren, als eine der vrich-tigsten Aufgaben der Kunst bezeichnet, „eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist" Damit hat er, gerade für heute gültig, darauf hingewiesen, daß eine emanzipatorische Nachfrage in einer Gesellschaft nicht von selbst entsteht, in der die zunehmend expandierende Kulturindustrie sich der Apathie der Konsumenten gegenüber den emanzipierenden Zügen der Kunst erfolgreich versichert.

Durch die Gründung des Verbandes deutscher Schriftsteller (Juni 1969) deutet sich längerfristig für die Autoren eine gewisse Möglichkeit an, ihre der Gesellschaft bisher vergeblich unterbreiteten Rollenangebote — im Sinne der Normendestruktion als einer Voraussetzung der sozialen Innovation — durchzusetzen, auch gegen die Statusinteressen derer, die ihre Ordnungsvorstellungen als allgemein gültig ausgeben können, die anstatt der von ihnen zu einigen Teilen verantworteten Gegenwart die gegenwärtige Literatur als anstößig empfinden. Die Gründung des Verbandes signalisiert „das Ende der Bescheidenheit" (Böll) — wobei das Wort Bescheidenheit Freiwilligkeit dort assoziiert, wo es hauptsächlich nur der aus dem Bedürfnis nach Selbstrespekt entspringende Euphemismus für die bisherige objektive Ohnmacht der Schriftsteller ist. Welche Form die notwendige „Einigkeit der Einzelgänger" (Böll) auch annimmt: Es wird für die Schriftsteller darauf ankommen, sich nicht durch die bereits angelaufenen Entschädigungsstrategien der Multi-Media-Konzerne pazifieren zu lassen, sondern die Grundlagen ihrer schriftstellerischen Rollenselbstbestimmung in der Gesellschaft zu legen durch die Erzwingung von Mitbestimmung — die nicht nur „Mitmachen" bedeutet — in der Kultur-industrie, einer Mitbestimmung darüber, was Kultur und wozu sie da ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. dazu D. Claessens, Rolle und Macht, München 1968.

  2. Vgl. z. B. G. Schmidtchen, Lesekultur in Deutschland, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 24. Jg., Nr. 70 (30. 8. 1968), S. 1997 ff.

  3. Zum „literaturgemäßen Handeln" s. H. N. Fügen, Die Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden, Bonn 1964, Teil A.

  4. H. P. Bahrdt, Gibt es eine Bildungselite?, in: atomzeitalter 5/1962, S. 125.

  5. E. Lämmert, Germanistik — eine deutsche Wissenschaft, Frankfurt/M. 1967, S. 36.

  6. R. Baumgart, Was soll Germanistik heute? Vorschläge zur Reform, in: J. Kolbe (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Germanistik, München 1969.

  7. W. Bergengruen, Privilegien des Dichters, in: Abhandlungen der Klasse der Literatur der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz), Jg. 1956, Nr. 1, S. 5.

  8. Ebd. S. 6

  9. Vgl. M. Doehlemann, Junge Schriftsteller: Wegbereiter einer antiautoritären Gesellschaft?, hrsq. v. H. Bilstein, Opladen 1970, S. 22 ff.

  10. Vgl. Der Zürcher Literaturstreit, in: Sprache im technischen Zeitalter, H. 22/1967.

  11. Uwe Timm, Die Bedeutung der Agitprop-Lyrik im Kampf gegen den Kapitalismus oder Kleinvieh macht auch Mist, in: J. Fuhrmann u. a. (Hrsg.) Agitprop. Lyrik, Thesen, Berichte, Hamburg o. J. (1969), S. 211.

  12. H. P. Piwitt, Schriftsteller —• über, unter oder auf dem Strich?, in: konkret, Nr. 23 vom 5. 11. 1970.

  13. Vgl. M. Doehlemann, a. a. O., S. 28 ff., 81 ff.

  14. Zit. nach K. Maase, Germanistik — völkisch oder für das Volk, in: küibiskern 2/1970, S. 279.

  15. Zur Problematik der „distributiven" und „partizipatorischen Disziplinierung" s. C. Offe, Das politische Dilemma der Technokratie, in: C. Koch, D. Senghaas (Hrsg.), Texte zur Technokratiediskussion, Frankfurt/M. 1970, S. 160 f. u. 169 f.

Weitere Inhalte

Martin Doehlemann, M. A., geb. 1941, Soziologe und wissenschaftlicher Angestellter an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg. Veröffentlichungen (neben Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften): Junge Schriftsteller: Wegbereiter einer antiautoritären Gesellschaft?, Opladen 1970; zusammen mit Georg Auernheimer: Mitbestimmung in der Schule, München, erscheint Mitte 1971.