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Entgegnung auf die Kritik an meinem Aufsatz „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?" | APuZ 11/1969 | bpb.de

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APuZ 11/1969 Moderne Unterrichtsformen und Medien im Dienste der politischen Bildung Aus der Arbeit des Deutschen Instituts für Fernstudien Die mißverstandene Linke Erwiderung auf den Aufsatz: Wer treibt die Bundesrepublik wohin? Antwort auf Karl J. Newmans Beitrag: „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?" Wer hat die Bundesrepublik treiben lassen? Entgegnung auf die Kritik an meinem Aufsatz „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?"

Entgegnung auf die Kritik an meinem Aufsatz „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?"

Karl J. Newman

Allen drei Kritikern meines Aufsatzes in dieser Zeitschrift und meines Buches „Wer treibt die Bundesrepublik wohin?" ist zunächst grundsätzlich entgegenzuhalten, daß sich mein Demokratiebegriff von dem ihrigen erheblich unterscheidet. Es handelt sich dabei keineswegs um die Frage der Repräsentation, über deren Wert wir einig sind. Es geht um die Frage, ob die Demokratie allen sozialen und politischen Gruppen und Grüppchen, ungeachtet ihrer Einstellung zum Grundgesetz und der zentrifugalen Tendenzen der sozialen und politischen Desintegration, ein separates Betätigungsfeld zubilligen soll. Oder ist die Demokratie als eine Art Transformator anzusehen, der die zunehmende Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens durch „geeignete Kanäle" politischen Handelns institutionell zu bündeln vermag, um so eine kraftvolle politische Willensbildung zu ermöglichen? Die erste Anschauung im Gefolge eines zum Anarchismus übertriebenen Liberalismus tendiert dazu, nicht zwischen Staat und Gesellschaft zu differenzieren, die letztere oder pluralistische, sie voneinander unabhängig zu betrachten. Die Bedeutung für die reale Staatspolitik dürfte auf der Hand liegen, sobald nach der einen oder anderen Vorstellung praktisch gehandelt wird.

Indem ich auf die Kapitel „Was not tut: Eine starke und selbstbewußte Demokratie", „Die Frage der Wahlrechtsreform" sowie „Eine funktionsgerechte Demokratie" in meinem Buch verweise, gebe ich mich als Anhänger des zweiten hier angedeuteten Demokratiebegriffs zu erkennen. Demgegenüber steht wohl außer Zweifel, daß Thilo Castner, Giselher Schmidt und Hans Wald der ersten Interpretation der Demokratie zuneigen.

Bei Giselher Schmidt wird dies im Teil II seiner Entgegnung besonders deutlich, wenn er zur Wahlrechtsfrage Stellung nimmt. Bei Dr. Castner tritt dieser Umstand ganz klar in seinen Bemerkungen über mein angeblich „gestörtes DemokratieVerständnis" hervor, und Hans Wald vertritt wohl die gleichen Intentionen, wie man unschwer aus seinen Darlegungen über die Beziehungen zwischen Volk, Parteien und Parlament entnehmen kann.

Zu Giselher Schmidts Beitrag: Natürlich ist es rein formal gesehen richtig, daß die 5-Prozent-Klausel kein formulierter Bestandteil des Grundgesetzes ist. Entscheidend jedoch ist die Erkenntnis der Kontinuität von Parlamentarischem Rat, den „Vätern des Grundgesetzes", und Bundestag. Viele wichtige Männer des Parlamentarischen Rats waren später selbst Abgeordnete und gemäß ihren Vorstellungen von der Wirkungsweise des Grundgesetzes an den zitierten Wahlgesetzen beteiligt. In diesem Zusammenhang ist ein Vergleich mit der Effizienz der Weimarer Verfassung angebracht. Man kann sagen, daß die 5-Prozent-Klausel der heutigen Wahlgesetze ein Stück der Verfassungswirklichkeit darstellt, so wie sie sich aus dem Grundgesetz ergibt. Daß es eben auf diese Effizienz ankommt, zeigt sich schon darin, daß Jaspers sonst nicht die Abschaffung der Klausel verlangt hätte. Zu den Bemerkungen Schmidts hinsichtlich der Mehrheitswahl ist lediglich nochmals auf die eingangs gemachten Überlegungen zu verweisen.

Was die von Schmidt angeführte sogenannte „Widersprüchlichkeit" meines Liberalismusbegriffs anbelangt, möchte ich vor allem auf die einschlägigen Kapitel meines Buches „Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie" hinweisen. Daraus ergibt sich sicher auch für Schmidt, daß keineswegs ein Gegensatz der Aussagen über den Charakter des Liberalismus existiert, wenn ich diesen einerseits der Demokratie komplementär zuordne, andererseits im politisch organisierten Liberalismus ein gefährliches Gefälle zum Nationalismus entdecke. Es geht mir nicht um die Feststellung einer Querverbindung zwischen Liberalismus und Nationalismus „an sich", sondern um ihre konkreten organisierten Ausdrucksformen, um ihre Ideologien. Schmidt weiß sicherlich, daß der politische Liberalismus in den Jahren 1848— 49, unter Bismarck und auch später — man denke etwa an die Einstellung der Deutschen Volkspartei zur „Harzburger Front" — stets stärkere Tendenzen zum Nationalen als zum Liberalen hervorkehrte. In letzter Konsequenz bedeutet diese fatale Tendenz eine latente Gefahr für den Verfassungsstaat. In den Rahmen dieser Diskussion paßt es, daran zu erinnern, in welcher Weise die ursprüngliche Idee des Liberalismus gerade in Deutschland pervertiert wurde — ein Vorgang, der der angelsächsischen Welt erspart blieb, nicht zuletzt eben deshalb, weil dort die institutionellen Probleme frühzeitig genug gelöst wurden, um die politische Entwicklung harmonisch mit der sozial-ökonomischen verlaufen zu lassen; zweitens aber auch, weil dort das politische Postulat der Freiheit stets mit dem moralischen der politischen Obligation und der staatsbürgerlichen Selbstkontrolle gepaart blieb. Hier in Deutschland blieb der Liberalismus ein zwischen Despotismus und Anarchismus hin-und hergerissenes unrealisierbares Abstraktum. Man ruft immer nach Recht und Freiheit für sich selbst, um diese dann zur Freiheitsberaubung dem Mitbürger gegenüber zu mißbrauchen. Man sagt Freiheit und meint das ungebundene Chaos einer schwächlichen Demokratie, die den Tyrannen von morgen selbst die Waffen in die Hand spielt.

Zur Frage der Beziehung Kant — Jaspers nur so viel: Keineswegs habe ich in meinem Buch Zweifel an der Wichtigkeit Kants für die Evolution einer rechtsstaatlichen pluralistischen Ordnung gehegt. Doch die von mir skizzierte Identität des Freiheitsbegriffs von Kant und Jaspers einerseits, von Kant und Rousseau andererseits liegt auf zwei vollkommen verschiedenen Ebenen. Während Kant erlebt hatte, wie —-wenigstens der Tendenz nach — Rousseaus Vorstellungen durch die Französische Revolution verwirklicht wurden, mußte seine Idee der Freiheit unter den Bedingungen des preußischen Absolutismus ein abstraktes Postulat, d. h. ohne realitätsbezogenen Inhalt bleiben. Es fehlte ihr jegliches soziale Korrelat. Diese Freiheit blieb damit ohne Bezug zur umgreifenden politischen Praxis, was später auch wieder hervorgehoben wurde, sei es von Heinrich Heine, sei es von Karl Marx. Immanuel Kant kannte noch nicht die seit Hegel und Marx allgemein akzeptierte scharfe Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Aber — und dies ist der Kern meines Vorwurfs — von Jaspers wurde diese nach-kantische Entwicklung ignoriert. Er muß sich also gefallen lassen, daß ich bei ihm den Begriff der Freiheit nur in der Form einer ethischen Kategorie erblicken kann, der insofern „reaktionär" ist, als er in die Zeit des preußischen Absolutismus zurückreicht, als noch die Autonomie der Gesellschaft als Autonomie des philosophischen Kopfes aufgefaßt wurde — und mehr auch nicht.

Es ist m. E. irrelevant, ob Jaspers, Schmitt oder Spann verschiedene Wurzeln in ihrem Denken aufweisen. Das bleibt unbestritten. Jedoch in ihren Aussagen verbergen sich analoge ideologische Wirkungen. Diese Tatsache kann und darf — mit Rücksicht auf die Existenz des Verfassungsstaates — nicht übersehen werden. Bedenklich wird dieser Umstand dann, wenn Jaspers meint, er und politische Denker wie Schmitt oder Spann seien Feinde, ohne es zu wissen. Wie soll gegenüber einem solchen Bekenntnis der normale Staatsbürger nun reagieren? Wenn Jaspers es nicht weiß, so weiß sich der Staatsbürger erst recht nicht zu schützen gegen eifrig propagierte antiparlamentarische Theorien, die, für ihn klar sichtbar, das gleiche wollen. Wie soll er unterscheiden, welche Quelle zur Gesinnungsethik erhoben werden soll, welche nicht? Mit anderen Worten: Wie soll der Staatsbürger es lernen, sich mit dem demokratischen Staat zu identifizieren, wenn er von Freund und Feind gemeinsam dessen Gewalten und Einrichtungen verächtlich gemacht sieht? Hier ist offensichtlich die Gefahr einer ideologischen antidemokratischen Gleichschaltung gegeben.

Daß Jaspers vom Nationalsozialismus unbefleckt ist, sei ihm ohne weiteres zugestanden.

Aber gerade deswegen bildet er eine Gefahr, wenn er heute antidemokratischen Elementen sein als Philosoph erworbenes Prestige leiht. Aufgrund seiner persönlichen Vergangenheit wird ihm sofort geglaubt. Mein Vergleich zwischen Jaspers und einigen Größen und publizistischen Produkten des Dritten Reiches bezieht sich allein auf die Form der Sprache, mit der er gegen unsere Parteien und unser Parlament argumentiert. Nachdem ich in meinem Buch „Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie" ausführlich den schädlichen Einfluß Schmitts und Spanns dargelegt habe, kann ich die Kenntnis meiner diesbezüglichen Einstellung voraussetzen. Wären sie gute Demokraten gewesen, hätten sich ihre Werke nicht zum Vergleich mit Jaspers angeboten. Ähnliches gilt für Marcuse. Es geht hierbei keineswegs darum, seine Anthropologie in Zweifel zu ziehen. Doch wenn sich Marcuse und Jaspers auf das Gebiet der Politik begeben, muß ihnen entgegengehalten werden, daß der eine unter den gegebenen sozialen Verhältnissen seine Anthropologie nicht realisieren kann und der andere nicht seine Auffassung vom ethisch einwandfreien Politiker. Infolgedessen müssen ihre philosophischen Verdienste unberücksichtigt bleiben, sobald ihre politischen Schriften eine Gefahr für das Optimum frei-B heitlich-politischen Lebens werden, sobald sie nämlich den institutionellen Rahmen sprengen möchten, der dieses Optimum — nach dem überwiegenden Urteil des Volkes — garantiert. Wie anders kann das Wort Marcuses, es gelte, die Toleranz gegen die Formen des Bestehenden autzugeben, verstanden werden? Auch Habermas hat Marcuse jüngst dazu aufgefordert, diese Sentenz näher zu erläutern. An dieser Stelle wird der politische Dilettantismus der beiden Philosophen zu einer negativen Qualität, zumal ihre Kenntnisse von der Verfassungsrealität der Bundesrepublik aufgrund ihrer selbstgewählten Isolierung außerhalb des Landes — wie mir scheint — außerordentlich dürftig und auf einseitig eingestellte Meinungen Dritter zurückzuführen sind.

So möchte ich Marcuse auffordern, es sich nicht zu leicht zu machen, und ihn allen Ernstes fragen, wie er sich die Bundesrepublik nach Über-windung der „repressiven Tolerenz" vorstellt. Er müßte uns zu diesem Zweck entweder eine begründete Widerlegung der Platonischen Lehre liefern, daß die Tyrannis die unausbleibliche Folge der Zerstörung aller sozialen Konventionen durch eine radikale und anarchistische Demokratie ist, oder zugeben, daß er eine Diktatur wünscht.

Was den Vorwurf Dr. Castners betrifft, vor Jaspers hätten schon eine Reihe anderer prominenter Kritiker die verfassungspolitische Wirklichkeit der Bundesrepublik untersucht, ist von folgendem auszugehen: Die ersten gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichteten Argumente stammten von Werner Weber aus dem Jahre 1951. Sie waren keineswegs allen Lesern als solche erkennbar, schlugen sich damals auch nur in juristisch orientierten Kreisen nieder. Es folgten weitaus massivere Angriffe gegen das bundesrepublikanische Gefüge. Castner nennt die Namen Dahrendorf, Besson, Grass; hinzuzufügen wäre noch Eschenburg. Ihre Zweifel an den sozialen und politischen Zuständen der Bundesrepublik hatten dann auch ein weithin hörbares Echo, sowohl im parlamentarischen als auch im außer-parlamentarischen Raum. Doch stets war ihre kritische Substanz konstruktiv. Dies ist der Punkt, in dem sie sich von Jaspers unterscheiden. Der Philosoph bündelte alle vor ihm vorgetragenen Angriffe in Schlagworte, ohne Neues konstruktiv an die Stelle des von ihm Abgelehnten zu setzen. Seine institutionellen Vorschläge waren dilettantisch, erwiesenermaßen für Deutschland riskant und ohne jedes sozial-ökonomische reformerische Korrelat.

In der Tat ist es eine empirische Frage, ob die Demonstrationen der jüngsten Vergangenheit unmittelbar auf den ideologischen Einfluß Jaspers'zurückzuführen sind oder nicht. Mir scheint indessen, daß seine letzten politischen Schriften und sein Auftreten an der FU Berlin sowie sein Image bei den bundesdeutschen Massenmedien das Klima entscheidend mitbestimmten, in dem der Aufruhr sich entfalten konnte. Es ist hierbei darauf zu verweisen, daß durch seine Beiträge den Gegnern der Demokratie die propagandistischen Argumente geliefert wurden, mit deren Hilfe ihr Vorgehen gerechtfertigt wurde: Parteienoligarchie, Akklamationshierarchie, Stimmvieh, Manipulationen ....

Zu Dr. Castners These, der Rechtsradikalismus in Gestalt der NPD habe andere Ursachen als die Attacken Jaspers’, wäre vorerst zu sagen, daß dieses Problem nicht mit der Frage der Wahlerfolge der NPD unmittelbar zusammenhängt, da die zitierten Einstellungen immer nur in einer bestimmten „Atmosphäre" politisch wirksam werden. Sie wiederum erzeugt durch Schlagworte, wie das der „innerlich fremden Parteienoligarchie", ein Haßklima, in das auch die rechtsradikale Auffassung von den „Lizenzparteien" miteinmündet. Wenn dieses Haßklima einmal weit verbreitet ist, nützt es den Freunden der Diktatur, möge diese von rechts oder links drohen, wobei diese Unterscheidung seit Stalin sowieso hinfällig wurde. Wie dieser Prozeß parteilich umgesetzt wird, veranschaulicht am klarsten das historische Beispiel des Aufstiegs der NSDAP, deren Schlagwort-Reservoir sich auf ein Syndrom innerhalb der deutschen Intelligenz stützt, das dem ähnelt, was durch die Schriften Jaspers mit heraufbeschworen worden ist.

Das Argument, Jaspers habe sich von der NPD distanziert, verliert an Durchschlagskraft, wenn man an sein Auftreten im Fernsehen erinnert, wo er sich eindeutig gegen ein Verbot dieser Partei aussprach und die Weigerung der demokratischen Parteien, Selbstmord zu begehen, als Symptom für ihre eigenen Diktaturabsichten auslegte. Außerdem ist das Zitat aus Japsers'Buch zu dieser Frage zumindest zweideutig.

Schließlich sprechen Jaspers'Aufforderung zur Spaltung der SPD und seine Auffassung, die Bonner Parteien und nicht die NPD strebten die Diktatur an, ziemlich unverhüllt dafür, daß er die Gefahren des Radikalismus sehr gut versteht, aber der Demokratie eine Einbettung zwischen einem virulenten Rechts-und Links-37 radikalismus gleichsam als Radikalkur verschreibt; und das derselbe Jaspers, der im Jahre 1932 die nationalsozialistisch-kommunistische Allianz im Reichstag erlebte und der genau weiß, daß der andere Teil Deutschlands heute von einer Diktatur regiert wird, die im August 1968 durch ihre Beteiligung an der Invasion der Tschechoslowakei das unglückselige Erbe des Dritten Reiches antrat.

Dr. Castners apologetischen Darstellungen muß Verständnislosigkeit der institutioneilen Logik gegenüber vorgeworfen werden. Er versteht nicht, daß, wenn einmal — wie de Gaulle — der Bundespräsident vom Volk gewählt wird, dieser eine weit stärkere politische Legitimation als jeder Bundestagsabgeordneter hat, da der erstere vom ganzen Volk, der letztere aber nur von einem Wahlkreis gewählt wird. Somit würde auch der Vergleich mit dem Präsidenten der USA hinken — ein Vergleich, der nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern zur Entschuldigung autoritären Eingreifens gemacht wurde, wie etwa in Ägypten, Pakistan und Indonesien. Ein vom deutschen Volke gewählter Präsident würde — da Hindenburg einmal da war — eben nicht dasselbe sein wie ein amerikanischer Präsident, sondern müßte der Versuchung widerstehen, die Parteien zu schwächen und uns wieder auf den Weg zum autoritären Staat zu führen.

Wenn Castner fragt: „Warum sollten Räte totalitären Drahtziehern bessere Ansatzpunkte geben als Parteien? 1933 waren es die Parteien, insbesondere deren politische Führer, die versagten. . so muß zurückgefragt werden, ob er einen Fall weiß, in dem das Räte-oder Sowjetsystem nicht zur Herstellung einer Diktatur mißbraucht werden konnte. Das Räte-system ist immer ein Ubergangssystem. Sebastian Haffner hat das gerade durch seinen Artikel „Der große Verrat" dokumentiert, nach dem sich die SPD in den Jahren 1918/19 dadurch schuldig gemacht haben soll, daß sie den Übergang vom Rätesystem zur Diktatur vereitelte. 1933 versagten die politischen Parteien nicht zuletzt auf Grund der plebiszitären Elemente der Weimarer Verfassung. Erst schufen Volksbegehren und Volksentscheid gegen die Stresemannsche Außenpolitik die nationale Verhetzung, die den sprunghaften Anstieg Stimmen der mit ermöglichte. Dann trug die plebiszitäre Form der Präsidentschaftswahlen entscheidend zum Anwachsen der Publizität Hitlers bei. Schließich machten die wiederholten Reichstagsauflösungen und Neuwahlen aus jeder Wahl, selbst der Wahl eines Zwerglandes Lippe, ein Plebiszit. Es war geradezu das Programm der NSDAP, eine Besessenheit auf plebiszitärem Wege zu fabrizieren. Weiterhin muß man sich fragen, warum Dr. Castner über Phrasen und Reklametricks der politischen Parteien so schockiert ist. Um nicht selbst der Gefahr des eindimensionalen Denkens zu verfallen, müßte er sich auch mit Phrasen und Reklametricks wie Establishment, Manipulierung, Umfunktionierung, Stimmvieh etc. befassen.

Es scheint mir plausibel, daß Marcuse nicht die hemmungslose Lustbefriedigung wünscht, sondern eine Sublimierung der Sexualität im Eros, die Freisetzung libidinöser Kräfte im Menschen, die das Leben des einzelnen glücklicher und erfüllter werden lassen könnten. Doch muß ich Dr. Castner an den einfachen Satz erinnern:

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!"

Glaubt er ernsthaft, daß gerade die Kreise, die H. Marcuse in Deutschland und Kalifornien beeinflußt hat, über die Sublimierung der Sexualität im Eros nachdenken und sich entsprechend verhalten? Mit anderen Worten:

„Was bedeutet die Theorie Marcuses, hineingestellt in eine Welt von Gammlern und Hippies einerseits und einer Sexfreiheit der Jugend andererseits?" Der Großteil der Kreise, die Marcuse lesen und zitieren, verstehen die von ihm geforderte Durchbrechung der Konventionen keineswegs im Sinn von Friedrich Schiller. Die Betonung der Sinne ist wohl augenfällig. Um diese aber mit der Vernunft zu versöhnen, bedarf es eines neuen „Magnum opus" aus der Feder Marcuses. Gibt nicht Marcuse den immer stärker werdenden Hang zur Jugendkriminalität zu, indem er deren Schädlichkeit relativiert; sollten seine Aufforderungen nicht eher an die Ostblockstaaten gerichtet sein, in denen die Erzeugung von aggressiven Waffen mit ebenso großer Energie verfolgt wird wie die Aufrechterhaltung der spießigsten moralischen Konventionen und Sextabus? Natürlich schätzt die Moskauer Prawda Marcuses Einfluß auf die Jugend der Sowjetunion nicht; wohl aber den auf die Jugend des Westens, deren Demoralisierung und Degeneration eine unabdingbare Voraussetzung des Sieges der kommunistischen Weltrevolution wäre, die doch Marcuse sicherlich nicht grundsätzlich ablehnt.

Ich finde es amüsant, wenn mir Castner eine bundesdeutsche Begrenztheit vorwirft, da ich von 1948 bis 1961 überhaupt nicht in Europa war. Mir scheint eher Dr. Castner mit den gegebenen Verhältnissen zu eng verwachsen zu sein, so daß er z. B.der aus dem Obrigkeitsstaat resultierenden traurigen Alternative „Anarchie oder Despotismus” verfällt. Sowohl er wie Marcuse sind noch immer in den Fallstricken von Hegels dialektischer Theologie verfangen und glauben daher, daß das demokratisch-parlamentarische System und die mit ihm verbundene Toleranz erst auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden müssen, um dann wie der Phönix aus der Asche aufzuerstehen. Hätte er viele Jahre aus nächster Nähe das Experimentieren mit Verfassungsformen beobachten können, dann wüßte er, wie begrenzt die Zahl der Formen der Demokratie ist und wie zahlreich die Möglichkeiten ihrer Feinde sind, besonders Anfangsdemokratien zum Scheitern zu bringen. Dies geschieht nicht zuletzt durch gewisse stereotype Anschuldigungen, bei deren Zusammenfassung in gebündelte Schlagworte sich eben Karl Jaspers als der große Meister erwies.

Was meint Castner, wenn er sagt, daß Hitler nicht zu unserem . Trauma'werden darf? Doch wohl nicht, daß die Erkenntnisse des Verfalls von Weimar über Bord geworfen werden sollen oder daß sich unsere junge Generation das leisten darf, was Friedrich Engels den jüngeren Sozialisten seiner Zeit vorwarf, nämlich daß sie den Marxismus zu einem Allheilmittel machten, um sich das Studium der Historik zu ersparen. Natürlich muß Demokratie nicht nur Regierungsform, sondern auch Lebensform sein. Die Freiheit wird aber nicht dadurch gestützt, daß Institutionen geschaffen werden, durch die sie leichter angegriffen werden kann; nicht dadurch, daß der einzelne unter Freiheit nur die seine und nicht die des anderen versteht — auch nicht dadurch, daß die Demokratie aufgefordert wird, ihre Waffen fortzuwerfen oder sie ihren Feinden zu schenken. Die Demokratie könnte sich mit größerer Berechtigung das zu Herzen nehmen, was Lenin seiner revolutionären Partei zurief: „Im entscheidenden Augenblick und am entscheidenden Ort müßt Ihr Euch als stärker erweisen, Ihr müßt siegreich bleiben!"

Fussnoten

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Karl J. Newman, Dr. jur., Dr. phil., Professor für politische Wissenschaften an der Universität Köln, geb. 9. Juli 1913 in Hohenelbe/Böhmen, 1939 aus politischen Gründen nach England emigriert, Schüler von K. Mannheim und A. D. Lindsay, Lehrtätigkeit an den Universitäten Oxford, London und Natal/Südafrika, 1950— 1961 Ordinarius für politische Wissenschaften an der Universität Dacca/Pakistan, Mitarbeiter an der pakistanischen Verfassung, 1958/59 Gastprofessor an der Columbia-Universität/New York. Veröffentlichungen u. a.: Essays from Pakistan, 1953; Essays on the Constitution of Pakistan, 1957; Entwicklungsdiktatur und Verfassungsstaat, 1963; Zerstörung und Selbstzerstörung der Demokratie 1918— 1939, 1965; Wer treibt die Bundesrepublik wohin?, 1968.