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Ökonomische Anpassungsprobleme in Lateinamerika | APuZ 25/1965 | bpb.de

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APuZ 25/1965 Zur politischen und sozialen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten Uber traditionelle Eliten, Machtkonkurrenz und öffentliche Verwaltung in Lateinamerika Sozialrevolutionäre Strömungen und Nationalismus in Lateinamerika Ökonomische Anpassungsprobleme in Lateinamerika

Ökonomische Anpassungsprobleme in Lateinamerika

Victor L. Urquidi

Die weniger entwickelten Länder haben Probleme, die sich ihrer Natur und Dringlichkeit nach von der geschichtlichen Erfahrung der heute industrialisierten Länder unterscheiden. Dies trifft sowohl auf die Analyse zu — unter Benutzung der uns heute zur Verfügung stehenden zweckmäßigsten Methoden, vor allem der Anwendung der Input-Output-Analyse, der Analyse des Nationalbudgets, der Messung der Produktivität des Kapitals — als auch auf die empirische Untersuchung vieler äußerer, auf die Weltwirtschaftsentwicklung bezogener Faktoren, welche die in der Entwicklung befindlichen Länder betreffen. In unserem Zusammenhang jedoch soll vor allem der Charakter des Strukturwandels betont werden, den der Fortschritt der Wirtschaftsentwicklung mit sich bringt, und zwar in bezug auf wichtige institutioneile und soziale Gesichtspunkte. Die lateinamerikanischen Länder — wenn auch nicht alle sich in dem gleichen Abschnitt der Entwicklung befinden — teilen die allgemeinen Probleme der sogenannten „Dritten Welt", und in den folgenden Ausführungen soll vor allem auf ihre Lage und Zukunftsaussichten eingegangen werden.

Monokultur als Basis

Stellen wir uns ein lateinamerikanisches Land vor, Anfang des 19. Jahrhunderts, das gerade erst seine politische Unabhängigkeit erreicht hat, nach einer Kolonialregierung von fast drei Jahrhunderten. Abgesehen von den Wirren, die der Wechsel des Regierungssystems mit sich gebracht haben konnte, war der neue Staat wirtschaftlich gekennzeichnet durch das Vorhandensein von einer oder zwei bedeutenden, zum Export bestimmten Produktionen: z. B. Bergbau oder Zuckererzeugung. Diese wirtschaftliche Tätigkeit lag in den Händen einer begrenzten Zahl von meist ausländischen Eigentümern, die mit einer wenig ergiebigen Technik ausgestattet waren und größtenteils auf Grund sehr billiger Arbeitskräfte arbeiten.

Die Erzeugung bestand im Export eines Roh-stoffes, der mit einem Minimum von industrieller Bearbeitung ins Ausland verschifft wurde — in das ehemalige Mutterland oder ein oder zwei zusätzliche Märkte. Das aus diesen Geschäften gewonnene Bruttoeinkommen wurde durch die ausgezahlten Löhne nur in sehr geringem Maße auf die übrige Volkswirtschaft verteilt. Diese Löhne erlaubten kaum den Lebensunterhalt des Arbeiters bei sehr niedrigem Verbrauchsstandard und praktisch überhaupt niemandem das Sparen. Der im Bergbau oder in der Zuckerproduktion gewonnene Uberschuß wurde teilweise in den Betrieben rückinvestiert und verteilte sich als Gewinn oder persönliche Einnahmen der Eigentümer, oder er wurde nach Europa ausgeführt. Die Bevölkerung des Landes war unwissend und arm und hatte eine hohe Sterblichkeitsrate.

Der Staat übte keine wichtigen wirtschaftlichen Funktionen aus: er unternahm fast keine Investitionen innerhalb der heute so benannten Infrastruktur und baute auch nicht den öffentlichen Dienst im Interesse der Volks-erziehung und der öffentlichen Wohlfahrt aus, da seine fiskalischen und anderen Funktionen die Unterhaltung eines Heeres, ferner ein Minimum an öffentlicher Verwaltung sowie die Förderung einer traditionellen Ausfuhr-tätigkeit zum Hauptziel hatten. Es gab keinen freien Warenhandel im Innern eines Landes und keine Freizügigkeit der Arbeitskräfte.

In der Terminologie moderner Analyse könnte man sagen, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts — und wahrscheinlich das erste Drittel des Jahrhunderts einbegriffen — die Nettoinvestition in Lateinamerika, ein wesentlicher Entwicklungsfaktor, sehr gering war und ein Inlandssparen fast überhaupt nicht existierte. Die Differenz zwischen Inlandssparen und Investition wurde durch Transferierung von Auslandskapital finanziert, die sich kurzfristig amortisierte, ohne ein mögliches Sparen innerhalb des Landes zu forcieren. Letzteres wurde verhindert durch die Eigentumskonzentration und die Politik der niedrigen Löhne, die aus den vorherrschenden Bedingungen einer Halb-sklaverei oder zum mindesten der Unbeweglichkeit der Arbeitskräfte herrührten. Dieser ganze Prozeß war kein eigentlicher Prozeß einer wirtschaftlichen Entwicklung in unserem Sinne des Wortes, da kein bedeutender oder schneller Strukturwandel stattfand, der das Zusammenwirken günstiger Faktoren auf eine stetige Ausweitung der Investitionsmöglichkeit, des Konsumvolumens und des Sparens der Bevölkerung mit sich gebracht hätte.

Anfänge der Modernisierung

Während des letzten Viertels des vergangenen Jahrhunderts übte das industrielle Wachstum Westeuropas und der Vereinigten Staaten einen starken Einfluß auf die Entwicklungsformen der lateinamerikanischen Staaten aus, da die Nachfrage nach Rohstoffen vielseitiger wurde, die Nachfrage nach Gold, Silber, Nicht-eisen-Metallen und Fasern hinzukam und neue Konsumbedürfnisse entstanden, unter ihnen das nach Kaffee. Außerdem wirkte sich die Modernisierung der Verkehrsmittel bedeutend auf die Versorgung mit Getreide, Fleisch und anderen Produkten aus. Der ständig zunehmende Bedarf der Auslandsmärkte und ihre Spezialisierung im Hinblick auf Produkte und Länder erlaubten den in der Entwicklung befindlichen Ländern, verschiedene Teilgebiete ihrer Volkswirtschaft zu koordinieren, die Technik auszubreiten, Keimzellen für das Inlandssparen zu schaffen und zu vermehren und viele Sekundärtätigkeiten zur Versorgung des Binnenkonsums — einschließlich Handwerk und Industriebetriebe — ins Leben zu rufen. Die Fortschritte in politischer Hinsicht, vor allem in der Freiheit, neue Wirtschaftszweige aufzunehmen, und die Fortschritte in Gesetzgebung und Rechtsprechung, sowohl zum Schutze des Privateigentums als auch zum besseren sozialen Schutz des einzelnen, waren Faktoren, die zu einem beträchtlichen Antrieb der Wirtschaft beitrugen. Gleichzeitig begann man mit der Entwicklung der Infrastruktur — besonders hinsichtlich des Binnentransportes — unter Mithilfe von ausländischem Kapital und nicht selten mit Unterstützung oder Zuschüssen des Staates. Das Auslandskapital bewirkte außerdem direkte Investitionen in Bergbau und Landwirtschaft, die ein ständiges Anwachsen der Exporte ermöglichten. Dieser Prozeß begann einen Strukturwandel hervorzubringen, der von verschiedener Intensität je nach der sozialen oder politischen Struktur jedes einzelnen Landes war, sowie einen nicht ganz unbedeutenden lokalen Kapitalismus hervorzurufen, der gelegentlich von einem protektionistischen Denken inspiriert wurde, das eine Industrieproduktion mit modernen Methoden begünstigte. Der wirtschaftliche und technische Fortschritt führte außerdem zu einer höheren Zuwachsrate der Bevölkerung und zum Beginn der Abwanderung von den Landgebieten in die Städte. Jedoch wies dieser Typus der Entwicklung — der in Argentinien, Südbrasilien, Mexiko, Chile und Kolumbien deutlich sichtbar war, im übrigen Lateinamerika nur teilweise — eine starke Abhängigkeit vom Wirtschaftsgeschehen der übrigen Welt auf. Es handelte sich in der Tat um die aktive Teilnahme an einem System, das sich von dem internationalen Freihandelsprinzip ableitete, wie es in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts und bis zum Ersten Weltkrieg vorherrschte. Aber die besagte Abhängigkeit warf während des Abstiegs der Produktion im Konjunkturzyklus der Industrieländer schwere Probleme auf, und der europäische Krieg von 1914 zeigte die Gefahren einer Wirtschaftsentwicklung, die allzusehr mit dem Außenhandel verbunden war. Aus dieser Zeit stammen die ersten, auf eine autonome Entwicklung gerichteten Anstrengungen in Lateinamerika, vor allem im Sinne der Industrialisierung sowie dem der nationalen Forderung an das ausländische Kapital. Es ist kein reiner Zufall, daß dies auch der Zeitpunkt der mexikanischen Revolution war, die einen tiefgehenden sozialen und wirtschaftlichen Gehalt hatte und zum großen Teil durch den Engpaß bestimmt war, in den die Entwicklung des Landes seiner traditionellen Struktur nach hineingeraten war.

Tendenz zur wirtschaftlichen Autonomie

In Lateinamerika konnte die Entwicklung zur Autonomie nur durch einen radikalen Wandel der Regierungspolitik und nicht dank natürlicher Faktoren zustande kommen. Wenn nach 1914 die Wirtschaft sich allein den äußeren Kräfteeinwirkungen ausgeliefert hätte, wäre Lateinamerika zu einer noch größeren Rückständigkeit verdammt gewesen, als es sie heutzutage erlebt. Das freie Unternehmen für sich allein — das kaum existierte und, wenn es vereinzelt auftrat, von sehr konservativem Geist besessen war, oft in Gestalt des Feudal-typus erschien oder von ausländischem Kapital beherrscht war — konnte den notwendigen Impuls nicht geben.

Außerdem besaß kein lateinamerikanisches Land einen Binnenmarkt mit unbeschränkten Ausdehnungsmöglichkeiten wie jenen, der z. B. die Industrialisierung der Vereinigten Staaten möglich gemacht hatte. Die Art der Produktionsverhältnisse hat sich in den lateinamerikanischen Ländern nur in dem Maße gewandelt, in welchem der Staat — in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts — die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung übernommen hat und seine Aufmerksamkeit, wie zuerst in Mexiko und später in anderen Nationen, auf die Verteilung des Grundbesitzes gerichtet hat, auf die gute Auswertung der natürlichen Hilfsmittel, auf die Industrialisierung und auf die Verbesserung der Arbeitskraft durch Erziehung, Stärkung der Löhne und Ausweitung der sozialen Dienste.

Diesen Prozeß unterstützten die internationalen Ereignisse zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, vor allem die große Wirtschaftskrise nach 1929, da man begriff, daß es angesichts des Verfalls der Auslandsmärkte keinen anderen Weg gab als den, die Einfuhren abzulösen und zu diesem Zwecke die Industrie zu schützen und neue, inländische Arbeitsquellen zu entwickeln. Aber nicht alle lateinamerikanischen Länder konnten eine Entwicklungspolitik erfolgreich durchführen: einmal, weil man sie in ihrer Totalität nicht verstand, zum anderen, weil man übermäßig von Auslandsmärkten und Investitionen abhängig war — eine Abhängigkeit, die sich sogar auf die politischen Haltungen der Regierungen auswirkte, wie z. B. in den zentralamerikanischen Staaten Kuba, Ekuador, Kolumbien, Peru, Venezuela und in anderen, die kaum etwas unternehmen konnten, um ihre Wirtschaftsstruktur zu verändern.

Der Zweite Weltkrieg gab der Entwicklung erneut Antrieb, da er einmal eine erzwungene Importbeschränkung bedeutete und andererseits durch größere Ausfuhr von Grundstoffen Elemente schuf, mit welchen das Wachstum finanziert oder zum mindesten Pläne für die zukünftige Entwicklung gemacht werden konnten. Trotzdem vergeudeten bei Kriegsende viele Länder einen großen Teil der angesammelten Geldmittel, und zahlreiche in diesen Jahren aufgebaute Industriezweige konnten die Rückkehr zur normalen Wirtschaft nicht durchhalten. Bekanntlich gab es Währungskrisen, und es verschärften sich die inflationistischen Tendenzen, die aus der Zeit des enormen Nachfrageüberschusses der Kriegszeiten stammten. Dessenungeachtet genoß Lateinamerika einen neuen Exportanstieg, der sich aus der Expansion der nordamerikanischen Wirtschaft in der Nachkriegszeit herleitete sowie aus dem Wiederaufbau Europas und dessen unvergleichlichem späteren Wirtschaftsaufschwung. Der Koreakrieg und Sonderfaktoren, die einige Produkte betrafen, bewirkten, daß Lateinamerika mit guten Preisen an wachsenden Märkten teilhaben konnte — bis ungefähr 1954— 1955.

Ungünstige weltwirtschaftliche Entwicklung

Die Expansion der Nachkriegszeit wurde vorteilhaft von den Ländern benutzt, die es kraft früherer Investitionen in ihrer Infrastruktur und anderen günstigen Bedingungen (Maßnahmen zur Industrieförderung, Programme zur Verbesserung der Agrarverhältnisse) erreicht hatten, gleichzeitig ihren Binnenmarkt zu stärken und neue und zunehmende Investitionsmöglichkeiten zu schaffen. So haben Kolumbien, Mexiko, Brasilien, Venezuela und Chile eine intensive Entwicklung speziell in ihrer industriellen Aktivität erlebt. Andererseits nahmen andere Länder an einem solchen Fortschritt nicht teil, da sie über die notwendigen Grundlagen nicht verfügen oder — wie Argentinien — infolge tiefgehender Krisen nicht ausreichend am Welthandel teilnehmen konnten. Von 1954/55 an haben sich die äußeren Bedingungen — so scheint es jedenfalls — in bedeutsamer Weise gewandelt. Einerseits hat die Nachfrage nach vielen Grundstoffen aus Lateinamerika in den europäischen Industrie-ländern und in Nordamerika nur wenig zugenommen — infolge ihres Ersatzes durch gleichwertige technische Produkte und infolge des Schutzes, den man den nationalen Herstellern (etwa in der Getreideproduktion und bei Nicht-Eisen-Metallen) sowie den Erzeugern in anderen, von den europäischen Ländern abhängigen Gebieten gewährte (so bei Kaffee, Kakao, Fasern etc.) —, andererseits haben die Umstellungen der Nachkriegszeit vielfach in den verschiedenen Teilen der Welt einen übermäßigen Zuwachs der Produktionskapazität von Gütern hervorgerufen, für die die Nachfrage in den Verbraucherländern verhältnismäßig unelastisch ist. Das Überangebot von Erzeugnissen wie Kaffee, Baumwolle, Blei, Zink, Erdöl und anderen schwächte die Weltmarktpreise nach 1955 beträchtlich. Inzwischen sind die Preise der Kapitalgüter und anderer Industrieprodukte, die die Entwicklungsländer von den Industrieländern zu kaufen suchten, immer mehr angestiegen, vor allem durch die Verteuerung des Stahls. Das langsame Wachsen der Nachfrage nach Grundstoffen zusammen mit den für ihre Exportländer weniger günstigen Preisverhältnissen haben für die lateinamerikanischen Länder einen beträchtlichen Verlust bedeutet, der es unmöglich machte, mit der notwendigen Schnelligkeit und Beständigkeit viele der Grundprogramme der Entwicklung und des Strukturwandels durchzuführen. Auf der anderen Seite wurde die fehlende Kompensation im Außenhandel auch nicht durch einen entsprechenden Kapitalzustrom aus dem Ausland aufgefangen, der die Verwirklichung der notwendigen Finanzierungen ermöglicht hätte. All dies trug dazu bei, daß im gesamten Lateinamerika das Realeinkommen pro Einwohner während der letzten zehn Jahre nur mit 1 0/0 jährlich zugenommen hat (wenn es auch in Ländern wie Mexiko, Brasilien und Venezuela beträchtlich höher gestiegen ist).

Die Aussichten für die Gegenwart und die nächsten Jahre sind für Lateinamerika hinsichtlich seiner traditionellen Exportgüter wenig ermutigend. Die verschiedenen Untersuchungen über die Wirtschaftstendenzen Nordamerikas und Westeuropas — der Hauptabsatzmärkte — zeigen höchstens begrenzte Möglichkeiten für die Expansion des lateinamerikanischen Handels auf, und selbst wenn es gelänge, gewisse Hindernisse, die die Märkte der Grundstoffe noch drücken, zu beseitigen, würden die Zukunftsaussichten sich nicht sehr verändern; denn es ist die Weltwirtschaftsstruktur selbst, die gleichzeitig in einem Wandel begriffen ist. Der von dauernden Neuerungen der Technik begleitete Fortschritt der Industrieländer macht sie in Industrie-Rohstoffen immer autarker und ihre Bevölkerung gibt — bei steigendem Niveau des Realeinkommens — proportional weniger für Nahrungsmittel aus; für einige Agrarprodukte ist die Verbrauchergrenze fast erreicht. Aber in der Entwicklung befindliche Länder wie die lateinamerikanischen können nicht tatenlos bleiben. In den letzten fünfzehn Jahren ist ein klares Bewußtsein von der Notwendigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung entstanden.

Es ist bedeutsam, daß die großen Fortschritte der Medizin zur Folge haben, daß das Bevölkerungswachstum immer mehr ansteigen wird.

Die Sterblichkeitsrate nimmt ab und die Geburtenziffern bleiben hoch. Zwischen 1920 und 1930 vermehrte sich die lateinamerikanische Bevölkerung um 1, 8% im Jahr, während sie gegenwärtig um 2, 8 % jährlich anwächst, d. h.

mit einer größeren Geschwindigkeit als in irgendeinem anderen Gebiet der Welt.

Gleichzeitig ist eine intensive Abwanderung aus den wenig produzierenden Landzonen in die städtischen Gebiete eingetreten, eine Bewegung, die ebenfalls keine Parallelen in anderen Ländern oder geschichtlichen Erfahrungsbereichen hat. Der Druck der anwachsenden Bevölkerung und die sozialen Unruhen, die aus der jahrelangen Starrheit der Sozialstruktur herrühren und gleichzeitig ein Abbild dessen sind, was in der übrigen Welt vor sich geht, sind Faktoren, die — durch die politischen Parteien und sozialen Gruppen und direkten Druck der öffentlichen Meinungen auf die Regierungen — zwangsläufig bewirken, daß die Wirtschaftsentwicklung und der soziale Wohlstand ein immer klarer definiertes Ziel der Regierungspolitik bilden müssen. In Übereinstimmung mit dem Programm der „Allianz für den Fortschritt", das 1961 in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten aufgestellt wurde, haben neunzehn lateinamerikanische Länder beschlossen, das Einkommen pro Einwohner während zehn Jahren um 2, 5 % jährlich zu steigern und bestimmte Ziele hinsichtlich verbesserter Agrarverhältnisse, des Erziehungswesens und der sozialen Wohlfahrt zu erreichen.

Erweiterung des industriellen Binnenmarktes

Um diese Ziele unter den heutigen Bedingungen und unter der Perspektive eines nur langsamen Wachsens der Auslandsnachfrage zu erreichen, werden die lateinamerikanischen Regierungen immer größere Anstrengungen machen müssen, um ihren Binnenmarkt zu erweitern. Größtenteils wird es erforderlich sein, eine Industriestruktur aufzubauen, die es zuläßt, daß auf viele der traditionellen Importgüter verzichtet und diese durch eine neue inländische Produktion ersetzt wird, die dann zugleich das unvermeidliche Anwachsen der arbeitsfähigen Bevölkerung zu absorbieren hätte.

Wenn diese Politik nicht durchgeführt wird, würde der Importbedarf so zunehmen, daß er nicht mehr zu finanzieren wäre. Andererseits: ein rigoroses Zurückschrauben des Importvolumens auf das Ausmaß, das durch den Export bezahlt werden könnte, würde in vie-len Fällen bedeuten, sich der Produktionsgüter zu berauben, mit denen die Investierung durchgeführt wird, von der wiederum die Wirtschaftsentwicklung abhängt. Es hieße ebenfalls, den Industrialisierungsprozeß abzustoppen oder zu verzögern und dadurch der stark anwachsenden Bevölkerung keine Beschäftigung zu geben und — folglich — die Ausweitung der Binnenkaufkraft zu limitieren. Es ist völlig klar, daß Lateinamerika keine andere Wahl hat als die, den Industrialisierungsprozeß so energisch wie möglich zu forcieren.

Eine derartige Politik bringt eine Reihe Probleme von ungeheurer Tragweite und schwieriger Lösbarkeit mit sich; hier ist die gegenseitige Abhängigkeit aller Wirtschaftsphänomene untereinander ebenso zu bedenken wie die enge Beziehung zwischen diesen und den sozialen und institutionellen Faktoren.

Modernisierung der Landwirtschaft

Die erste Schwierigkeit besteht darin, daß die Schaffung eines Inlandmarktes sich nicht auf den Konsum der großen Städte beschränken kann. Die Industrie kann nicht nur von der eigenen Industrie, von den Regierungskäufen und den städtischen öffentlichen Diensten leben. Die Industrie muß einen ausgedehnten Inlandsmarkt in der Landwirtschaft suchen, da die Landbevölkerung während vieler Jahre in absoluten Ziffern zunehmen wird, trotz des Wandels der Gesamtstruktur. Die lateinamerikanische Landwirtschaft besteht aus einem modernen Sektor, der im allgemeinen von beschränktem Ausmaß, aber von hoher Produktivität ist, und aus einem anderen Sektor mit primitiver Technik, von dem aber ein sehr großer Teil der Gesamtbevölkerung abhängt. Es dürfte nicht übertrieben sein zu behaupten, daß die Hälfte der lateinamerikanischen Bevölkerung unter Bedingungen lebt und arbeitet, die kaum ein Existenzminimum gestatten. Das Problem ist ein technisches, institutionelles und menschliches: ein technisches, weil nicht in genügendem Maße moderne Anbaumethoden eingeführt worden sind; ein institutionelles, weil in vielen Fällen die Konzentration des Eigentums und Besonderheiten der Bodennutzung es verbieten, die Landwirtschaft zu modernisieren; ein menschliches, weil man das Erziehungsniveau heben und das einfache Volk von den Vorteilen einer rationelleren Organisation überzeugen muß. Aber es ist auch ein wirtschaftliches Problem, weil die Verbesserung der Landwirtschaft und die Zunahme der Produktivität fast immer starke Investierungen erfordern, sowohl im öffentlichen wie im privaten Sektor — deren Ertrag nicht immer gesichert ist, der sich verzögern oder von anderen Wirtschaftsfaktoren, die der Landwirtschaft fremd sind, abhängig sein kann.

Außerdem würde die Verbesserung der Landwirtschaft ohne eine wesentliche Senkung der Verteilungskosten und ohne die Ausschaltung der zahlreichen zwischenhändlerischen Monopole, die die wenig entwickelten Länder charakterisieren, keine positiven Resultate für die Kaufkraft der großen Masse der landwirtschaftlichen Bevölkerung erzielen. Wie dem auch sei, Lateinamerika muß in den nächsten Jahren eine große Anstrengung an landwirtschaftlicher Modernisierung und an Eingliederung der natürlichen Hilfsmittel und menschlichen Arbeitskraft in den Handels-und Zahlungsstrom erreichen, so daß sich der landwirtschaftliche und der industrielle Sektor gegenseitig unterstützen können. Wenn die Landwirtschaft nicht in die moderne Wirtschaft eingegliedert wird, werden die tatsächlichen Grenzen der Industrialisierung eng gesetzt und die Impulse, die die Entwicklung vorwärtstreiben sollen, zum Scheitern verurteilt sein.

Aufbau der Infrastruktur

Ein weiteres Problem ist der Ausbau der wirtschaftlichen Infrastruktur, die hauptsächlich von den Transportmitteln und den städtischen und ländlichen öffentlichen Dienstleislungen dargestellt wird, wozu die elektrische Energieversorgung, Trinkwasserversorgung und Städteplanung gerechnet werden kann. Hierzu rechnet man ebenfalls die Errichtung von Krankenhäusern und sanitären Anlagen, den Bau von Schulen und billigen Wohnungen. Die Hauptschwierigkeit liegt hierbei darin, daß in einem Land von geringer Kaufkraft die Mehrzahl dieser Dienstleistungen sich auf einem niedrigen Niveau halten müssen oder gleichzeitig verhältnismäßig schwierige politische und soziale Probleme autwerfen. Deshalb ist es in solchen Ländern wie den lateinamerikanischen der Staat, der sich dazu verpflichtet sieht, die Verantwortung für ihre Erstellung und Unterhaltung zu übernehmen. Selbst in den Fällen, in denen die Dienstleistungen aus privater Initiative beschafft werden konnten, bedeutet die Kontrolle der Tarife oder Verkaufspreise für das Privatunternehmen umzureichende Erträge. Aber die enormen Bedürfnisse der Infrastruktur, die ein wenig entwickeltes Land aufweist, bedingen oft sehr große Investitionsrisiken, selbst für den Staat, da dessen aus Steuern oder Anleihen eingehende Geldmittel begrenzt sind und da bei der Abschätzung einer zukünftigen Entwicklung in bestimmten Gebieten oder Wirtschaftszweigen leicht Irrtümer unterlaufen können. Es ist nicht allzu schwierig, auf allgemeiner Basis die öffentlichen Investitionsprogramme eines Landes festzulegen in bezug auf das zukünftige Anwachsen von Transportbedarf, von Energie, Gesundheitsdienst, Erziehungswesen und Wohnungsbau. Aber die Globalschätzungen in konkrete Projekte zu übertragen, deren Lage die bestmögliche sein und deren Ausmaße den besonderen Bedürfnissen der Dienstleistungen entsprechen sollen, das ist eine Aufgabe, bei der die wenig entwickelten Länder noch geringe Erfahrungen haben und bei der Schwierigkeiten analytischer und auch politischer Art auftreten.

Umfassende Reformen erforderlich

Alle diese mit der Entwicklung verbundenen Pflichten und Verantwortungen zeigen die Notwendigkeit auf, eine Reihe von institutioneilen und administrativen Reformen durchzuführen, insbesondere auf dem Gebiet der Erziehung, des Gesundheitswesens, des Wohnungsbaues, der Agrarprogramme, der technischen Beratung der Industrie und der Finanzpolitik. Besonders die letztere ist grundlegend, um dem Staat eine Finanzpolitik mit einem Minimum an Verschuldung und Währungsschwierigkeiten zu gestatten und um die Extreme der ungleichen Einkommensverteilung zu mildern. Ebenso sind Reformen des Bank-und Finanzierungswesens erforderlich, um zu einer wirksameren Nutzung des Inlandsparens und zu einer besseren Steuerung des Agrar-und Industriekredits zu gelangen. Gleichzeitig sehen sich die lateinamerikanischen Länder, die diese Aufgaben schon begonnen haben, gezwungen, sie alle in einem angemessenen Planungsprozeß zu koordinieren, der die Voraussicht ermöglicht, ob die öffentlichen oder privaten Entscheidungen aufeinander abgestimmt sind und die ihnen gesteckten Ziele auf bestmögliche Weise erreichen können.

Die Aufgaben der Wirtschaftsentwicklung sind folglich außerordentlich komplex gestaltet durch das überaus enge Ineinandergreifen von technologischen, sozialen und politischen Gesichtspunkten mit den im eigentlichen Sinne wirtschaftlichen.

Man weiß in Lateinamerika, daß die wirtschaftliche Entwicklung grundsätzlich von der eigenen Anstrengung abhängt; aber es liegt auf der Hand, daß eine solche Anstrengung größere Erfolgschancen hat in dem Maße, in dem sich der internationale Handel ausweitet und in dem die hochentwickelten und finanzkräftigen Länder größere langfristige Kapitalmittel zur Verfügung stellen können, vor allem vermittels der internationalen Finanzinstitute. Hierbei bestätigt sich eine Erfahrung des 19. Jahrhunderts; jedoch mit dem Unterschied, daß es sich heute schon nicht mehr um einen spontanen Prozeß handelt, sondern um einen Prozeß, der positive Handlungen der Zusammenarbeit zwischen den Regierungen erfordert sowie zwischen diesen und den privaten Sektoren — in einer Form, die mit den nationalen Programmen der Wirtschaftsentwicklung entsprechend abgestimmt > Izu sein hat.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Victor L. Urquidi, Professor am Institut für wirtschaftliche und bevölkerungspolitische Studien, El Colegio de Mexico.