Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Sozialrevolutionäre Strömungen und Nationalismus in Lateinamerika | APuZ 25/1965 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 25/1965 Zur politischen und sozialen Geschichte der lateinamerikanischen Staaten Uber traditionelle Eliten, Machtkonkurrenz und öffentliche Verwaltung in Lateinamerika Sozialrevolutionäre Strömungen und Nationalismus in Lateinamerika Ökonomische Anpassungsprobleme in Lateinamerika

Sozialrevolutionäre Strömungen und Nationalismus in Lateinamerika

Kalman Silvert

Wer sieb auf wissenschaftlicher Ebene mit Modernisierung befaßt, kann aus der Betrachtung der Geschichte lateinamerikanischer Regierungen keine große Befriedigung ziehen. Seit der Unabhängigkeit haben alle wiederkehrenden reformistischen Ströme diverser politischer Stile und Ideologien in Lateinamerika derart gemischte Ergebnisse gebracht, daß sich nirgendwo die grundlegenden institutioneilen Modelle, Werte und Regeln des modernen Lebens unbestritten durchsetzen konnten. Jede irgendwie bedeutende politische Periode hat jedoch den nachfolgenden Regierungen eine neue Vielzahl möglicher Entwicklung hinterlassen.

Beispielsweise haben im vergangenen Jahrhundert in vielen lateinamerikanischen Ländern die Liberalen den politischen Markt für neue Aspiranten aus dem erwerbstätigen Mittelstand geöffnet, eine mehr oder weniger klare Trennung zwischen Staat und Kirche herbeigeführt und die Vorbedingungen für die Umorientierung der städtischen Existenzgrundlage vom Dienstleistungsgewerbe auf die Industrie geschaffen. Aber immer wieder verfingen sich die Liberalen alsbald in einem neuen Status quo, arrangierten sich schließlich mit ihren früheren Gegnern, den Konservativen, und verloren auf diese Weise ihre Funktion als Neuerer und Schrittmacher eines geordneten Wandels. Wo die radikalen, antiklerikalen und anti-bürgerlichen Parteien Boden gewannen, besonders in Chile, Argentinien und Uruguay, wurden die Reformen verwirklicht, um die sich die Liberalen hätten bemühen müssen, wenn sie sich ihre Beweglichkeit erhalten hätten. Aber selbst die Radikalen vermochten die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vergleich zur europäischen Welt nur langsam voranzutreiben. Schließlich strauchelten sie an der Oberflächlichkeit ihres eigenen Programms, an der Liebe zur Ideologie um ihrer selbst willen und an der Unfähigkeit, Sonderinteressen mit dem nationalen Interesse in Einklang zu bringen.

Dann kamen die populistischen Bewegungen.

Angetrieben durch einen zunehmend radikalen Nationalismus und unter dem Einfluß der Mittel-und Oberklasse versuchten die populistischen Führer, das alte Sozialgefüge durch Mobilisierung der potentiellen Macht der Bauern und Arbeiter zu ändern. Aber nur zu oft sind sich die unteren sozialen Schichten der Gesellschaft ihres Ausgestoßenseins weniger bewußt als ihre selbsternannten Sprecher, und immer sind die Ambitionen der unteren Klassen weniger edel, als es die Ideologen wahrhaben wollen, die in ihnen die fleckenlos reine unverfälschte Quintessenz des nationalen Wesens zu sehen geneigt sind. Die Vargas-Bewegung in Brasilien und die Peron-Bewegung in Argentinien sind die Beispiele für die negative Seite des Populismus. Sie benutzten nach Faschismus riechende Ideologien und Polizeimethoden, verstanden es aber recht gut, in den unteren Schichten der Stadtbevölkerung das Streben zu wecken, dazu zu gehören. Die mexikanische Revolution ist das beste Beispiel für positiven Populismus. In Mexiko spielte der Staat eine ausgeprägte Beschützerrolle, was zwar auch in Brasilien und Argentinien der Fall war, aber dort gegen eine freiheitliche Ideologie und gegen die Gewährung einer Vielzahl von Bürgerrechten, ausgenommen das Recht zur freien Wahl. Eine endgültige Beurteilung des Populismus wird erst in Zukunft möglich sein. Aber schon heute gibt es kaum Zweifel, daß es den populistischen Regierungen nicht gelungen ist, hinreichend verläßliche Grundlagen für einen allgemeinen Konsensus zu schaffen, der es gestatten würde, einen kontinuierlichen und geregelten gesellschaftlichen Wandel zu prophezeien.

Verhältnis von Regierung und gesellschaftlichem Wandlungsprozeß

Keine dieser bedeutenderen Bewegungen — Konservatismus, Liberalismus, Radikalismus und Populismus — hat das Spiel eindeutig gewonnen oder verloren. Vielleicht noch schlimmer ist, daß keine von ihnen bisher auf heroische oder andere Weise abtreten konnte. Das Studium der zeitgenössischen lateinamerikanischen Politik ist daher auch eine Übung in Altertumskunde. Wir finden nicht nur auf Jagd und Fischlang gegründete Kulturen, sta-bile indianische Dorfkulturen und feudalistische Besitzverhältnisse, sondern auch alle Frühstadien der Entwicklung zum Nationalstaat. Im karibischen Raum gibt es zahlreiche Familiendynastien und merkantilistische Staaten, und in den höher entwickelten findet man noch recht lebendige konservative, liberale, radikale, populistische und marxistische Schichten, die sämtlich nach den implizierten Regeln des lateinamerikanischen politischen Stils schlecht und recht miteinander koexistieren. Diese Fähigkeit zur teilweisen Anpassung und zum Verzicht auf rückhaltloses Engagement führten zur Enttäuschung der Reformer, indem sie diese bald nach Kompromissen streben ließ und durch hoffnungsvolle Ansätze neu ermutigte, ohne daß sich je wirkliche Erfolge einstellten. Es mag sein, daß diese Feststellungen als allzu vereinfachend, pessimistisch und vielleicht sogar als ungerecht empfunden werden. Aber man kommt nicht umhin, über einen Teil der Welt, der 450 Jahre eine Domäne der westlichen Kultur war und doch kein eigenständiges Wachstum hervorzubringen vermochte, etwas Negatives zu sagen. Man kommt nicht umhin zu fragen, wie es um die fundamentalen Werte oder — wenn man so will — die Weltanschauung eines Teiles der Erde bestellt ist, der in mehreren Fällen bewiesen hat, daß er es versteht, sich zu industrialisieren, große und moderne Städte zu bauen, seine Menschen recht gut zu ernähren und zu kleiden — um dann in Stagnation oder gar Rückschritt zu verfallen. Lateinamerika ist eines der faszinierendsten Objekte für die sozialwissenschaftliche Forschung; aber nicht weil es im groben Sinne unterentwickelt wäre, sondern vielmehr weil es die durchaus bemerkenswerte materielle Entwicklung mancher lateinamerikanischer Länder nicht „automatisch" zu einer umfassenden und kontinuierlichen Entwicklung geführt hat.

Wo sowohl Erfolg als auch Mißerfolg begrenzt sind, muß man die Beziehungen zwischen Regierung und gesellschaftlicher Veränderung mit großer Sorgfalt zu ergründen suchen. Die Lösung dieser Aufgabe erfordert die Konstruktion brauchbarer Modelle sowohl für die politische Situation Lateinamerikas als auch für verschiedene Typen des gesellschaftlichen Wandels, da sich eine einigermaßen umfassende Diskussion nicht nur mit dem Übergang von mittelalterlichem Traditionalismus zur Industriegesellschaft als einer speziellen Form dieses Wandels, sondern auch mit den nicht minder wichtigen Verschiebungen beschäftigen muß, die der Übergang von der isolierten Dorf-kultur zur universalistischen Feudalkultur und — in etwas schwächeren Maße — der Über-gang vom klassischen Konservativismus spanischer Prägung zu Liberalismus, Radikalismus und Populismus bedeutet.

In diesem Beitrag können keine umfassenden Typologien entwickelt werden, weil der verfügbare Raum dazu nicht ausreichen würde. Ich werde mich statt dessen kurz mit zwei Beispielen befassen, um Extremfalle in der Beziehung zwischen Regierung und gesellschaftlichen Wandlungsprozessen in Lateinamerika anzudeuten:

Beispiel Guatemala: klassengebundene Oligarchie

Im Falle von Gesellschaften, in denen große Bevölkerungsgruppen auf Grund ihrer Kultur-stufe außerhalb des politischen Lebens stehen, muß die Regierung notwendig klassengebunden und oligarchisch organisiert sein. In einem solchen Zustand nahezu unbeschränkter Konzentration der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Macht in den Händen eines relativ kleinen Personenkreises kann der Staat unschwer entscheidenden Einfluß auf die Einführung oder Unterdrückung gesellschaftlichen Wandels nehmen, sofern die Eliteschicht sich im wesentlichen einig ist. Obgleich solche Länder unweigerlich in Unordnung geraten, wenn die Einheit der nationalen Elite zerbricht, erlebten die am wenigsten entwickelten lateinamerikanischen Länder seit ihrem Avancement zu nominellen Republiken lange Perioden der Stabilität des Stillstands. Guatemala, Nikaragua, Honduras und Paraguay sind gegenwärtig Beispiele für derartige politische Systeme. Als Extrembeispiel für unsere Betrachtungen eignet sich am besten Guatemala, weil dort der Einfluß wichtiger, durch die politischen Mechanismen in Kraft gesetzter Neuerungen auf das gesellschaftliche Leben besonders deutlich ist.

Die Zahl der Akteure des politischen Lebens in Guatemala ist klein. Aus der Gesamtbevölkerung von über 3 Millionen nehmen nur etwa 10 Prozent aktiv am politischen Leben des Landes teil. Aus diesen 10 Prozent rekrutieren sich die Politiker, der Klerus, die Grundbesitzer, die Industriellen, die Wählerschaft sowie die Diplomaten, Wissenschaftler und Stu-deuten. Die Zahl läßt sich leicht ableiten, wenn man von der Gesamtzahl der Bevölkerung den indianischen Anteil von etwa 50 Prozent, die etwa 70 Prozent der Analphabeten, die Altersgruppe unter 19, die über 50 Prozent ausmacht, einen hohen Prozentsatz der Frauen sowie die physisch Abgesonderten und die völlig Desinteressierten unter der Berücksichtigung der zwischen diesen Gruppen vorhandenen Überlappung abzieht. Bei optimistischer Schätzung führt dies auf 300 000 Guatemalteken mit Selbsbewußtsein und Nationalbewußtsein, eine Zahl, die durch Wahlbeteiligung und Mitgliederzahlen der Parteien bestätigt wird. Begünstigt durch familiäre Bindungen, den Zusammenhalt religiöser Gemeinschaften und Klassen und Kastenloyalität bildet diese kleine, sich selbst identifizierende Gruppe ein eng verflochtenes Meinungskartell, einen ausschließlich aus Vertretern der Mittel-und Oberschicht gebildeten Rumpfstaat im Staate.

Wie die Geschichte Guatemalas zeigt, ist der Staat für dies Segment der Bevölkerung das wichtigste Instrument zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Der Sieg der Konservativen gegen Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts führte dazu, daß die Regierung zur Sprengung der mittelamerikanischen Konförderation und zur Errichtung des noch vorherrschenden Stadtstaatensystems benutzt werden konnte und daß die damalige Politik der Kirche in bezug auf die Rolle des Staates gestärkt und der Versuch zur Isolierung des Landes vom säkularistischen Liberalismus Frankreichs und Englands unternommen wurde. Der überwältigende Sieg der Liberalen im Jahre 1871 hatte zur Folge, daß — wiederum auf dem Wege über Regierungsmaßnahmen — die Kirche derart geschwächt wurde, daß die Zahl der Priester, bezogen auf die Bevölkerungszahl in Guatemala, noch heute geringer ist als in der übrigen katholischen Welt. Außerdem etablierten die Liberalen eine neue Grundbesitzerklasse mit einer unpersönlich-ausbeuterischen Einstellung gegenüber den Indianern und öffneten das Land für ausländische Investitionen.

Die Revolution von 1944, die zunächst einen romantischen Populismus und danach einer groben Form marxistischen Populismus den Weg ebnete, beweist deutlich den Zusammenhang zwischen Beherrschung des Regierungsapparates, Meinungsstruktur und sozialem Wandel. Nach Ende der liberalistischen Neuerungen um die Jahrhundertwende trieben die Konservativen und Liberalen in eine Allianz zur Aufrechterhaltung des Status quo und legten damit den Keim für eine Folge mehr oder weniger autoritärer Regierungen, die ihren Flöhepunkt in den dreißiger Jahren im traditionellen „caudillismo" unter Ubico fand. Die repressiven Praktiken dieses Regimes trieben mindestens 500 Mitglieder der geistig führenden Schicht ins Exil. Das waren damals immerhin acht oder zehn Prozent ihrer Gesamtzahl. Sie gingen nach Argentinien, Costa Rica, Mexiko, in die USA und nach Europa, beteiligten sich am spanischen Bürgerkrieg und am amerikanischen „New Deal", standen in der mexikanischen Revolution auf der Seite von Cardenas und badeten gleichsam in den bedeutenderen ideologischen Strömungen jener Zeit. Solchermaßen zu Kosmopoliten geworden, kehrten sie 1944 und 1945 im Hoch-gefühl des siegreich beendeten Krieges und mit dem Enthusiasmus ihrer neu gefundenen Lösungen nach Guatemala zurück.

Und tatsächlich gelang es ihnen, tiefgreifende Änderungen herbeizuführen, und zwar nicht nur formaljuristisch durch eine neue Verfassung, eine neue Arbeits-und Sozialgesetzgebung, verbesserte Programme für öffentliche Projekte und Bildungswesen sowie bodenreformistische Bemühungen. Sie änderten auch die Lebensgewohnheiten in den Städten. An die Stelle des aus der Kolonialzeit herrührenden Brauches, abends zeitig zu Bett gehen und morgens früh aufzustehen, trat eine mehr großstädtische Zeiteinteilung. Die Abschaffung der von Ubico eingeführten Polizeistunde begünstigte die Etablierung von Restaurants und Filmtheatern; Zeitungen und Rundfunk gelangten zu ansehlicher Blüte und der reichere Kommunikationsstrom vergrößerte das Gefühl des Beteiligtseins und der Zugehörigkeit in den frühen Jahren des Wandels, als die Bevölkerung einige der Elemente wirklicher Freiheit kennenlernte. Aber auch diese intuitiv nationalistischen Populisten stürzten, bevor sie ihr Werk vollenden konnten, da der begrenzte Konsensus der einzelnen Teile der Elite vorzeitig daran zerbrach, daß der herrschenden Führungsschicht ihre unbedachte ideologische Orientierung übelgenommen wurde.

Jede dieser politischen Bewegungen brachte in Guatemala bleibende gesellschaftliche Veränderungen von erheblicher Tragweite hervor, aber bisher wurden noch nicht die Voraussetzungen geschaffen, die den weiteren Wandel ohne Gewaltsamkeit und ohne Zusammenbruch des institutionellen Rahmens ermöglichen könnten.

Beispiel Argentinien: Stagnation eines hochentwickelten Landes

Geographisch und auch seinem gesellschaftlichen Entwicklungsstände nach weit von Guatemala entfernt ist Argentinien, ein Land, das in ethnischer Hinsicht europäisch anmutet, wirtschaftlich fortgeschritten und hochgradig urbanisiert ist. Ein Land aber auch, daß diejenigen verstummen lassen muß, die meinen, daß wirtschaftliche Entwicklung, hoher pro-Kopf-Verbrauch oder industrialisierte Städte allein schon die Gewähr dafür geben, daß der Übergang von der noch anhaltenden „Startphase" zum „freien Flug" über kurz oder lang gelingen muß.

Was den pro-Kopf-Verbrauch und die Produktivität anbelangt, gehörte Argentinien vor einem Vierteljahrhundert zu den führenden Ländern der Welt. Einer neueren Untersuchung zufolge rangiert es in bezug auf die pro-Kopf-Produktion im Jahre 1937 an sechster Stelle und hält heute noch immer den 15. Platz. Im Jahre 1881 waren von jeweils 1000 Hektar Land im Durchschnitt nur 18 Hektar landwirtschaftlich genutzt, und es wurden 37 600 Tonnen landwirtschaftliche Produkte exportiert. 1893 wurde erstmals eine Million Tonnen Weizen exportiert, und 1896 erreichte der Roggenexport die gleiche Höhe. Im Jahre 1910 belief sich der Getreideexport insgesamt auf über 7, 5 Millionen Tonnen, und 1927 wurde mit 18, 7 Millionen Tonnen der Höchstwert erreicht. Zu Beginn dieses Jahrhunderts betrug der Stahlverbrauch pro Kopf in Argentinien 150 Kilogramm, während der Weltdurchschnitt zwischen 30 und 40 Kilogramm lag. 1929 rangierte Argentinien an sechster Stelle hinsichtlich der Zahl der Automobile pro Kopf der Bevölkerung und lag damit vor Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Schweden. Heute leben 66 Prozent der über 20 Millionen zählenden Gesamtbevölkerung in drei Städten, nämlich Buenos Aires, Santa Fe und Cordoba. 85 bis 90 Prozent der Einwohner über 14 Jahre können lesen und schreiben.

Einzeln genommen können diese Angaben hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Entwicklungsstand Argentiniens verschieden ausgelegt werden, aber insgesamt lassen sie keinen Zweifel daran, daß in diesem Land alle üblichen ökonomischen und demographischen Voraussetzungen für den „Start" oder „take-off" im Rostow’schen oder Gailbraith’schen Sinne erfüllt waren. Auch im politischen Bereich hatte das Land die Stufenleiter der obligaten historischen Stadien vorschriftsmäßig absolviert, und die volle nationale Unabhängigkeit war verwirklicht. Das konservative Regime Rosas etablierte mit Erfolg die Hegemonie der Zentralregierung über die neue Republik, wenngleich es sich ostentativ einem lockeren Föderalismus verschrieben hatte. Dann kamen die Liberalen ans Ruder. Sie erschlossen die Pampa, richteten das Land an Europa aus und schufen die Städte und die Verkehrs-und Nachrichtennetze, die bis heute die Lebens-basis Argentiniens bilden. Die Radikalen schließlich benutzten ihre Macht zur Verschmelzung der Mittel-und Oberschicht und zur Durchführung sozialer und anderer Maßnahmen mit dem Ziel, die Isolierung der unteren Bevölkerungsschichten zu lindern und endlich ganz zu beseitigen. Aber hier bricht die Kette ab, und seit 1930 ist der weitere politische Werdegang Argentiniens durch eine lange und dornenreiche Liebedienerei gegenüber der einen oder anderen Form des Falangismus gekennzeichnet. Die politische Landschaft Argentiniens ist leicht zu skizzieren: Die konservative Elite aus den alten Siedlungsgebieten straft ihre liberalen Brüder in der Pampa nach wie vor mit Mißachtung, die Radikalen bleiben bei ihrer Politik des vagen Opportunismus und die Peronisten halten an ihrem falangistischen Populismus fest, während sich sozialistische, kommunistische und christlich-demokratische Gruppen über den Rest um die Nachfolge streiten. Die Beispiele Argentiniens und Guatemalas stoßen uns auf die Notwendigkeit einer scharfen Definition dessen, was wir uns unter einer modernen Gesellschaft vorstellen wollen. Verfügen wir nicht über eine klare Definition, müssen wir uns mit der bisher herausgearbeiteten groben Feststellung begnügen, daß alle lateinamerikanischen Regierungen auf die eine oder andere Art etwas mit gesellschaftlichem Wandel zu tun haben. Es ist aber klar, daß uns hier besonders die spezielle Form des Wandels interessiert, die das Werden moderner Gesellschaft impliziert.

Was ist eine moderne Gesellschaft?

Lateinamerika lehrt uns, daß deterministische und eingleisige Definitionen, die nur mit Wirtschaftswachstum oder mit industrieller Urbanisierung zu tun haben, zur Erklärung des Gesamtkomplexes einer modernen Gesellschaft unzureichend sind. Vielleicht haben wir durch die Beschränkung auf rein wirtschaftliche Kriterien einem ethischen Dilemma zu entrinnen versucht, etwa in der Meinung, daß wir auf diese Weise der kulturellen Integrität der Armen Rechnung tragen könnten. Dieses Motiv mag hochherzig sein, aber es führt zu verschiedenen logischen Schwierigkeiten. Die naheliegendste offenbart sich in der Auffassung, daß Armut und kulturelles Niveau nichts miteinander zu tun haben. Das ist natürlich Unsinn. Eine andere logisch unhaltbare Auffassung, die sich bei rein ökonomisch orientierter Betrachtungsweise leicht einschleicht, besagt das Gegenteil; nämlich, daß industrieller Aufstieg automatisch hohes Niveau bedeutet. Wäre die erste Auffassung richtig, dürfte Argentinien kein Problem darstellen. Wäre die zweite Auffassung richtig, hätte es in Deutschland keinen Nazismus geben dürfen.

Ich bezweifle, daß andere monistische Erklärungsversuche tauglicher sein können als der rein wirtschaftsbezogene. Sozialpsychologische Theorien beispielsweise, die uns glauben machen wollen, daß man bereits „modern" ist, wenn man die Informationsmedien verfolgt, städtischen Habitus pflegt sowie des Lesens und Schreibens kundig ist, werden den Millionen Lateinamerikanern nicht gerecht, die diese Bedingungen erfüllen und dennoch in ihrem Verhalten stark traditionell bestimmt sind.

Oder nehmen wir ein anders Beispiel für derlei einseitiges Denken: Wenn es ausreichend wäre, unternehmerischen Sinn und Energie zu besitzen, müßten die spanischen Konquistadoren sicherlich als hochgradig modern bezeichnet werden. Die von Max Weber und seinen Schülern entwickelte These der protestantischen Ethik kommt der umfassenden Definition, die wir brauchen, schon eher nahe.

Aber selbst diese Vorstellung ist für die Forschung und erst recht für die angewandte Soziologie unbrauchbar, solange wir den Begriff „Ethos" nicht mit seinen institutionellen Ausprägungen verbinden, solange wir nicht Regierung, Macht und Verhaltensweisen zueinander in Beziehung setzen. Wir sollten zugeben, daß keiner von uns Entwicklung als reine materielle Angelegenheit oder auch als bloße Frage der Haltung versteht. Wir alle kümmern uns um Entwicklung, unterstützen Dinge wie den Marshall-Plan oder die „Allianz für den Fortschritt", besuchen einschlägige Tagungen und schreiben Kommentare wie diesen, weil wir meinen, daß entwickelt sein besser als unterentwickelt sein ist. Wir könnten all das aber nicht mit gutem Gewissen tun, wenn wir dächten, daß die Sache es auch rechtfertigen könnte, Falangismus, Nazismus und kommunistischen Totalitarismus zu riskieren. Ein gebräuchlicher Ausweg für diejenigen, die hier vor einem Problem stehen, ist die Feststellung, daß wirtschaftliche Entwicklung dieses Risiko wert ist, weil es sonst nur die Möglichkeit gäbe, an mittelalterlichen Verhältnissen festzuhalten und auf den größeren sozialen Spielraum, der die Furcht einer solchen Entwicklung ist, zu verzichten. Auf diese Denkungsweise stößt man fast immer, wenn sich eingeschworene lateinamerikanische Verfechter der Modernisierung über Castros Kuba äußern. Wenn nicht anders, so sagen sie, dann lieber eine diktatorische, nationalistisch-marxistische Alternative als eine Fortsetzung des Praetorianismus, Medievalismus und Personalismus und der üblen Korruption.

Wirtschaftlicher Fortschritt und politische Freiheit bedingen einander

Wir sollten uns aber sowohl von der falschen Bescheidenheit, die Entwicklung als etwas rein Materielles definiert sehen möchte, als auch von dem gräßlichen Opportunismus freimachen, der den Totalitarismus als mögliche Form der Entwicklung akzeptiert. Der Modernismus ist ein unteilbares Paket, in dem wirtschaftlicher Fortschritt, wenn er andauern soll, von gesellschaftlichen und politischen Methoden abhängig ist, denen die Würde der Freiheit eigen ist. Diese Hypothese verlangt die Einführung von Qualitäts-und Zeitbegriffen. Selbstverständlich weiß ich, daß es mit autoritativen Methoden möglich war, Pyramiden zu bauen und gewisse Formen wirtschaftlicher Expansion durchzusetzen. Aber ich bezweifele, daß sich die moderne Industriegesellschaft die Fähigkeit zu fortgesetztem Wandel geben kann, wenn sie nicht das ist, was wir eine „offene Gesellschaft" nennen. Celso Furtado, ehemals Minister für Wirtschaftsplanung in Brasilien, stellt die Frage und nimmt eine noch orthodoxere Haltung ein, indem er das Wirtschaftliche vom Politischen trennt: „Es ist wahr, daß wirtschaftliche Entwicklung für die Menschen eine Bereicherung des Lebens bedeutet. Ebenso wahr aber ist, daß die gesellschaftliche und politische Organisation der Schlußfaden ist, der dem Gewebe des volleren und reicheren Lebens Haltbarkeit verleiht. Es ist zwar wahrscheinlich, daß künftig einmal materieller Überfluß und gesellschaftlich-politische Organisationsformen, die die volle Verwirklichung authentischer menschlicher Werte möglich machen, gleichzeitig vorhanden sein werden; aber das muß nicht schon in der jetzigen Phase der Geschichte der Fall sein. Die Erringung höherer politischer und gesellschaftlicher Organisationsformen ist ein mindestens ebenso großer Gewinn wie ein hoher materieller Entwicklungsstand."

Um den Zeitfaktor einführen und die These untermauern zu können, daß Entwicklung ein Gesamtphänomen ist, müssen wir Celso Furtado dahingehend ergänzen, daß langfristig kontinuierliches Wachstum — was dasselbe meint wie institutionalisierter Wandel — Mechanismen zur Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Faktoren voraussetzt. Wir wissen, daß Entwicklung ein gewisses Produktionsund Konsumniveau impliziert. Wir wissen ferner, daß die heutige Ernüchterung über die rein ökonomisch angelegten Versuche zur Lösung des Problems bereits die Binsenweisheit erzeugt hat, daß ein gutes Bildungswesen, ausreichend Wohnungen, Schuhe, Strümpfe und Fernseher ebenfalls notwendig sind. Aber wir müssen auch etwas über Politik wissen — über jenes Gebiet, das Laien zu Fachleuten, Politiker zu Klischeelieferanten und internationale Beamte, wirtschaftliche Berater und Schwärmer für das unverbildete Dasein der Eingeborenen zu Taubstummen werden läßt.

Voraussetzung ist die Schaffung eines modernen Nationalstaates

Nach meinem Dafürhalten gehört zu politischer Entwicklung die Schaffung des säkularen Nationalstaates als Organisations-und Ausdrucksform der über Klassen und sonstige Gruppeninteressen hinausgehenden Loyalitäten der Gesamtbevölkerung. Die nationale Gemeinschaft löscht Sonderinteressen nicht aus, sie wirkt jedoch kanalisierend und ordnend und ermöglicht Kompromißlösungen für Probleme, die in nicht-nationalen Gesellschaften entweder zu Konflikten oder zu einem die Fähigkeit zu weiterem Wandel lähmenden Schwebezustand führen würden. Die nationale politische Organisation ist Voraussetzung für die Definierung des geographischen und funktionellen Gebiets, in welchem die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung Platz greifen kann. Politische Ordnung ist nicht als isolierte kausale Variable im Entwicklungsprozeß aufzufassen, sondern die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen und Wertfaktoren stärken einander gegenseitig. Lösen sie sich voneinander, ist für die Gesellschaft über kurz oder lang die Gefahr eines Zusammenbruchs im Verzüge.

Im wirtschaftlichen Bereich ist eine der Grund-funktionen des Nationalstaates zunächst einmal der Abbau der Klassenschranken derart, daß der einzelne ohne Rücksicht auf Herkunft und Gruppenzugehörigkeit nach Maßgabe seiner Wünsche und Fähigkeiten und seiner Qualifikation am wirtschaftlichen Geschehen teilnehmen kann. Daneben garantiert der säkulare Nationalstaat die bestmögliche Mobilisierung der menschlichen Arbeitskraft, die Voraussetzung jeglicher Produktion ist. Weitere sekundäre Funktionen des Nationalstaates sind die Förderungs-und Steuerungsmaßnahmen sowie die auf politischer Macht basierenden Eingriffe, die durch Herbeiführung stabiler Verhältnisse die Voraussetzung für eine langfristige und möglichst verläßliche Vorhersage und Planung des modernen Wirtschaftsgeschehens schaffen.

Was die gesellschaftliche Struktur anbelangt, verändert der Nationalstaat die faktische Bedeutung der Klasse. Beispielsweise ändert sich die Bedeutung des Begriffes „Mittelklasse", wenn ein übergeordneter institutioneller Rahmen vorhanden ist oder wenn der Mittelklasse angehörende Personen im Namen der nationalen Gemeinschaft Klassenziele und Klasseninteressen ohne Behinderung durch die Regierung verfolgen können. Aus diesem und keinem anderen Grund ist es lediglich einer jener vorurteilbehafteten Versuche zur Auf-findung einer bequemen Lösung auf der Grundlage eines angenommenen gesellschaftlichen „Automatismus", wenn man sich eine lateinamerikanische Mittelklasse hervorsucht und alle Hoffnung auf künftige Entwicklung an sie hängt. Beim gegenwärtigen Tempo des sozialen Wandels in der Welt ist jede Hoffnung auf eine solche automatische Relation verfehlt.

Ein geistreicher Lateinamerikaner hat dazu geschrieben: „Amerikanische Wissenschaftler, Politiker und Journalisten haben in Lateinamerika die Mittelklasse entdeckt. Ohne sich lange bei der Frage aufzuhalten, um welche Art Mittelklasse-es sich handelt, schreiben sie ihr nun die verschiedensten Qualitäten zu, die sie in Wirklichkeit nicht besitzt. Tatsächlich gibt es für die mittelständischen Lateinamerikaner in den Städten keinen anderen Grund, sich als „Mittelklasse" zu bezeichnen, als die Tatsache, daß sie sich in der Mitte zwischen der traditionellen Aristokratie und den Bauern und Arbeitern befinden." Und weiter: „Der wohlmeinende Versuch, in der Gesellschaftsstruktur des heutigen Lateinamerika eine liberale, fleißige, genügsame und reformfreudige Mittel-klasse ausfindig zu machen, muß nach bequemen Anfangserfolgen in einem katastrophalen Fehlschlag enden. Gewiß gibt es Gruppen, die einige äußere Merkmale mit der Mittelklasse gemein haben und sogar so reden, schreiben und denken, als seien sie ihr zugehörig. Aber in objektiver Sicht sind sie es nicht, und es ist schwer vorstellbar, wie es ihnen je gelingen kann, die Kluft zwischen ihrem eingefleischten Konservatismus, ihrem Respekt vor hierarchischen Werten, ihrer Bewunderung für die Aristokratie und ihrem Wunsch nach Anerkennung durch die vermeintlich bessere Schicht einerseits und andererseits dem dynamischen Reformismus, den man gewöhnlich für einen entscheidenden mittelständischen Charakterzug hält, zu überbrücken."

Viele Angehörige der lateinamerikanischen Mittelklasse identifizieren sich in Ermangelung eines säkularen Nationalstaates, dem sie ihre Loyalität geben könnten, mit übergeordneten sozialen Schichten und erneuern damit nur in etwas komplexerer Form die traditionelle Regelung der Beziehungen und Verantwortlichkeiten der Klassen untereinander.

Mithin besteht die Aufgabe der entwickelten politischen Organisation in der „Institutionali-sierung" der nationalen Gemeinschaft. Sie ist nur mittels einer wirklichen Gleichheit vor dem Gesetz lösbar, die für die individuelle Freiheit des Bürgers unerläßlich ist. Diese Gleichheit drückt sich immer in der Etablierung funktionell signifikanter Kategorien von Individuen aus. Diese Etablierung ist das Mittel zur Ordnung des Wirtschaftsgeschehens, wobei zuordnende und klassenbedingte Unterscheidungen durch andere funktionalere und rationalere Differenzierungsmethoden ersetzt werden. Je vernunftbetonter die Maßnahmen zur Förderung der Mitbeteiligung und der Aufstiegsmöglichkeiten sind, desto besser erfüllt die Regierung ihre Aufgabe in der modernen Gesellschaft.

In einer Gesellschaft, in der der Gleichheit vor dem Gesetz diese vorrangige Bedeutung zuerkannt wird, findet die Herrschaft des Gesetzes notwendig allgemeine Zustimmung. Zu den damit auftretenden politischen Prinzipien gehören ein hochgradiger Impersonalismus überall in der politischen Struktur, Anerkennung des Relativismus im säkularen Bereich und die Forderung nach Gesetzestreue. Selbstverständlich haben diese Elemente im Gesamtkomplex der sogenannten „offenen" oder libertären Gesellschaft fundamentalen Charakter. Aber sie sind auch unerläßlicher Bestandteil der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die die Voraussetzungen für das Zustandekommen einer modernen Gesellschaft darstellen. Es scheint, daß die Institutionen einer relativ freien Bevölkerung in einem primären Kausalzusammenhang mit moderner, eigenständiger Entwicklung stehen, daß sie keine zufälligen oder geschmacksbedingten Randerscheinungen sind. Wenn diese Ansicht richtig ist, darf politische Freiheit nicht erst dann angestrebt werden, wenn die industrielle Entwicklung schon in vollem Gange ist, sondern sie muß mit dieser Entwicklung einhergehen, damit Zusammenbruch des institutioneilen Rahmens, Depression, Klassenkampf und Revolution vermieden werden können. So gesehen war das nazistische Deutschland politisch eindeutig unterentwickelt und hatte denn auch die uns allen bekannten Folgen in Gestalt von Barbarismus, Zerstörung und vielfachen Tod. Argentinien ist auf einer anderen Stufe ebenfalls Opfer politischer Mängel. Wahrscheinlich hätten dort die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen das weitere ununterbrochene Wachstum ermöglicht, wenn sich gleichzeitig ein zur Lösung der inneren Konflikte ausreichender institutioneller Rahmen entwickelt hätte. Guatemala ist in jeder Hinsicht rudimentär, scheint aber ein Land zu sein, in dem Gesellschaft und Wirtschaft zu schwach waren, um die vergleichsweise . fortgeschrittenen politischen Bemühungen zu tragen. Zwischen diesen Extremfällen liegen in Lateinamerika zahlreiche andere Varianten; aber die hier skizzierten Anhaltspunkte für die Gewinnung geeigneter Typologien für Staat und gesellschaftlichen Wandel dürften allgemein zutreffend sein.

Bisher hat es kein lateinamerikanisches Land vermocht, sich zu einem echten, durch allgemeine Bejahung von Säkularismus, Relativismus, Kompromiß und Pragmatismus charakterisierten Nationalstaat zu entwickeln. Alle lateinamerikanischen Regierungen sind mehr oder minder klassengebunden, unzulänglich, korrupt und deshalb schwach. Sie stützen sich auf einen begrenzten, oft auf einen winzigen Konsensus, können mit nur wenig Gehorsam rechnen und müssen ihr Mandat daher durch übermäßige Sanktionen durchsetzen.

Revision unserer Vorstellungen

Mithin sind die Regierungen in Lateinamerika schwache Werkzeuge zur Inangriffnahme moderner Entwicklungsaufgaben. Aber sie sind die besten, die zur Verfügung stehen, und keinesfalls sollte man von ihnen etwas erwarten, was sie ihrer Natur nach nicht zu leisten vermögen. So wenig man von einem Kolibri verlangen kann, daß er ein Straußenei legen soll, so wenig kann man von pränationalen Staaten verlangen, daß sie mit ernsthaften nationalpolitischen Maßnahmen gegen die Inflation angehen. Aber man kann sie auffordern, sich mit fundamentaleren und sogar mit subtileren Aufgaben zu befassen — dazu nämlich, sich zur Hebung der Anteilnahme am öffentlichen Leben, die zur Erschließung des menschlichen Kräftepotentials und zum Abbau der Klassenschranken soviel beitragen kann, einer libertären Politik zu befleißigen. Soziologen und die mit Entwicklungsaufgaben betrauten Stellen könnten beginnen, die relevanten politischen Fragen zu stellen, damit Washingtons gegenwärtige Unterstützung nationalistischer Bewegungen in Lateinamerika nicht von Instinkt, sondern von Vernunft getragen wird. Wir könnten unsere eigenen Vorstellungen von Autoritarismus, Demokratie und Entwicklung überprüfen und diese Gebiete aus dem Bereich vorurteilsbehafteter Mutmaßungen herauslösen und sie vom Blickpunkt einer klareren und verläßlicheren Konzeption betrachten.

All diese Empfehlungen sind indirekt; sie beinhalten die Forderung nach einer Revision unserer Vorstellungen, damit den Lateinamerikanern eine größere Vielfalt von Entwicklungsrichtlinien zur Wahl angeboten werden kann. Nach meiner Auffassung muß aus dem Eingeständnis, daß wirtschaftliche und selbst soziale Entwicklung allein keine Garantie für gesellschaftlichen Wandel in geraden und mit Sicherheit wünschenswerten Bahnen darstellt, die Folgerung gezogen werden, daß politischen Gedankengängen, daß den Theorien des Wandels und der Lösung von Problemen durch administrative Maßnahmen in Abhängigkeit von den verfügbaren öffentlichen Kräften wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Ferner meine ich: Wenn es zutrifft, daß die Freiheit aller mit dem eigenständigen modernen gesellschaftlichen Wandel verbunden ist, dann dürften auch die Ansätze zur Überbrückung der ideologischen Kluft zwischen der westlichen Welt und den aufstrebenden nationalistischen Bewegungen in Lateinamerika vorhanden sein. Die Bedeutung, die moderne Lateinamerikaner der Freiheit beimessen, darf nicht als Rhetorik abgetan werden; zur Entwicklung gehört für viele von ihnen eben auch die Überwindung von brutalen Polizeimethoden, von militärischen Interventionen, von Blutvergießen und den übrigen Praktiken der politischen Unterwelt Lateinamerikas. Solange wir in unserer entwickelten Welt und die Lateinamerikaner in ihren aufstrebenden Ländern mit einer materialistischen Entwicklung ohne Berücksichtigung qualitativer politischer Kriterien fortfahren, ist die Gefahr groß, daß die Exzesse des traditionellen Autoritarismus in das Grauen des modernen Totalitarismus einmünden. Undemokratische Lösungen bringen nicht nur Stillstand und Entwürdigung, Unfähigkeit zu gesundem Wachstum und Bedrohung des Weltfriedens mit sich, sondern sie würden auch eine Verleugnung unserer eigenen Erfahrungen und Mißachtung der Verantwortung bedeuten, die uns aus unserem größeren Reichtum, aus unserer Bildung und der Freiheitlichkeit unserer öffentlichen Institutionen erwächst.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Brazil: What Kind of Revolution? in: Foreign Affairs, April 1963, S. 532.

  2. Claudio Veliz, Obstacles to Reform in Latin America, in: The World Today, Januar 1963, S. 22— 23 bzw. S. 24.

Weitere Inhalte

Kalman Silvert, Professor für politische Wissenschaften am Dartmouth College, Hanover, New Hampshire. Veröffentlichungen u. a.: A Study in Government: Guatemala — National and Local Government, 1955; Revolution and Social Development, 1960.