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Ideologie und Politik | APuZ 30/1962 | bpb.de

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APuZ 30/1962 Ideologie und Politik Die Kirche des Moskauer Patriarchats

Ideologie und Politik

KLAUS SCHOLDER

Glaubwürdigkeit, Rechtlichkeit und Vernunft müssen nach Ansicht des Autors die Grundfesten der westlichen Politik sein. — Unter keinerlei Umständen dürfen diese Prinzipien verletzt werden, auch nicht um irgendwelcher taktischer, wirtschaftlicher oder militärischer Vorteile willen. — „Politik ist heute ein überaus moralisches Geschäft", fügt Scholder hinzu und komimt von dieser Feststellung aus zu einer kritischen Analyse der Forderungen nach einer westlichen Gegenideologie. Die Frage nach unserem geistig-politischen Standort aber ist von solcher Aktualität, daß wir uns von der Veröffentlichung der sehr pointierten Ausführungen Scholders eine Belebung der Diskussion versprechen.

Es handelt sich um einen geringfügig gekürzten und überarbeiteten Abdruck aus „Politischer Club VIII", Veröffentlichung der Evangelischen Akademie Tutzing, 1962. (Red.)

I. Zum Begriff der Ideologie und seiner Geschichte

Auf Seite 383 lesen Sie: „Die Kirche des Moskauer Patriarchats*

Der Begriff „Ideologie“ im modernen Sinne entstand unter ebenso merkwürdigen wie charakteristischen Umständen

Das Wort Ideologie bezeichnete am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich eine bestimmte philosophische Richtung, die in der Nachfolge Condillacs eine empirische Anthropologie und Psychologie vertrat. Es ging darum, durch Bestimmung und Darstellung seelischer Tätigkeiten, der „Ideen“, zu entsprechenden praktischen Regeln für Erziehung, Recht und Staat zu kommen. Ein Philosoph namens Destutt de Tracy prägte für diese Philosophie den Begriff „Ideologie", und da die Regierung der Revolution nur diese Richtung als Philosophie anerkannte, kam es dahin, daß man in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts die Philosophen vielfach „Ideologen" nannte.

Und nun geschah etwas Wichtiges: Napoleon, von den Ideologen wegen seines Cäsarismus angegriffen, nahm das Wort auf und benutzte es im verächtlichen Sinne als Be 7hnung für Leute, die eine durch Ideen bestimmte, und das hieß m seinem Sinne falsche, Beziehung zur Wirklichkeit hätten.

Untersucht man, was hier geschehen ist, so wird man feststellen, daß nicht diese oder jene An-sicht, sondern daß die Denkweise des anderen als ganze in Frage gestellt und entwertet wird. Dem anderen wird ein schlechthin falsches Verhältnis zur Wirklichkeit unterstellt, ein Verhältnis, das nicht durch die Praxis, sondern durch die Idee bestimmt wird. Und genau das gilt nun für den Begriff der Ideologie bis heute, daß mit ihm der Nebensinn verbunden ist, „daß ein jeder als Ideologie bezeichnete Gedanke der Praxis gegenüber versagt und daß das wahre Organon zum Zugang zur Wirklichkeit das Handeln ist und daß an diesem gemessen das Denken überhaupt oder in einem gegebenen Falle ein bestimmtes Denken nichtig ist.“

Dieselbe Struktur wiederholt sich beispielsweise — wenn ich das hier gleich anschließen darf — bei Bismarck, für den etwa in der Frage der Annexion Elsaß-Lothringens 1871 das Volkstums-und Sprachenargument wie die deutsch-nationale Ideologie überhaupt eine „Professorenidee" waren „Professorenidee“ aber hieß: Kritik einer Ideologie vom politischen Pragmatismus aus.

In diesem Sinne also hat sich der Begriff der Ideologie im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Die in der politischen Praxis unmittelbar erfahrbare Wirklichkeit wird zum Maßstab, um an ihr primär von der Idee bestimmte Denkweisen als ideologisch zu disqualifizieren.

Und nun geschieht abermals etwas Wichtiges: Diese neue Möglichkeit, die Denkweise eines Gegners als ganze zu disqualifizieren, erfährt eine ungeahnte Ausweitung. Sie ist nicht mehr nur — wie bei Napoleon — Privileg der politisch herrschenden Schicht, sondern sie wird von der Opposition übernommen, also vom „Proletariat". Und hier erst, also bei Karl Marx und seinen Nachfolgern, wird diese neue Möglichkeit konsequent und umfassend ausgebaut und genutzt.

Das instruktivste Dokument dieser Entwicklungsstufe ist „Die Deutsche Ideologie“ von Karl Marx (1845/46).

Hier zeigt Marx, daß die ganze bürgerliche deutsche Philosophie, und d. h. also die Denkweise der herrschenden Klasse, „Ideologie“ ist. „Keinem von diesen Philosophen“, heißt es da etwa (gemeint sind die Junghegelianer von Strauß bis Stirner), „ist es eingefallen, nach dem Zusammenhänge der deutschen Philosophie mit der deutschen Wirklichkeit, nach dem Zusammenhänge ihrer Kritik mit ihrer eigenen materiellen Umgebung zu fragen.“

Die typische Struktur wird wieder sichtbar, die wir schon bei der Entstehung des Begriffs beobachten konnten: die Kritik einer Denkweise, eines Bewußtseins, an der politischen und sozialen Wirklichkeit. Und es ist nun kein Zufall, daß gerade der Marxismus die Ideologiekritik zur entscheidenden Waffe macht: Sein Ausgangspunkt ist ja die gesellschaftliche Wirklichkeit, an der gemessen alles andere notwendig Ideologie wird, d. h. also falsche Denkweise, falsches Bewußtsein.

Marx nennt die Philosophen seiner Zeit „deutsche Ideologen", die „die Vorstellungen der deutschen Bürger nur philosophisch nachblöken.“ Es ist „Ideologie", mit Hegel und den Hegelianern anzunehmen, daß das Denken souverän sei; es hat nur den „Schein der Selbständigkeit" — in Wahrheit wird es durch die soziale und politische Wirklichkeit bestimmt.

Gegen diese „deutschen Ideologen“ stellt nun Marx seine eigenen Voraussetzungen, nach seinen Worten „keine willkürlichen, keine Dogmen, es sind wirkliche Voraussetzungen, von denen man nur in der Einbildung abstrahieren kann. Es sind wirkliche Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen von denen er ausgehen will.

Für Marx gibt es nur einen einzigen Standpunkt, der mit der sozialen Wirklichkeit rechnet, und das ist sein eigener. Von diesem Standpunkt aus sind alle anderen Systeme „Ideologien", d. h. sie sind ohne richtige Beziehung zur Wirklichkeit, sie sind irreal.

Ideologie ist also — diese Definition können wir jetzt versuchen — ein primär durch Ideen bestimmtes Verhältnis zur Wirklichkeit, das von einem anderen Wirklichkeitsbegriff aus als irreal — und das heißt eben als ideologisch — begriffen wird. Der Marxismus hat ja nun bekanntlich auch nach den Gründen dieses ideologischen Verhältnisses zur Wirklichkeit gefragt und sie in den Klasseninteressen gefunden, die dementsprechend in seiner Ideologienlehre eine wichtige Rolle spielen. Aber dieses inhaltliche Problem ist jetzt in unserem Zusammenhang nicht entscheidend.

Entscheidend ist etwas anderes: Die neue Möglichkeit der Disqualifizierung des Bewußtseins des Gegners, die der Marxismus total und konsequent anwandte, konnte auf die Dauer nicht auf ihn beschränkt bleiben. Wenn es eine Zeit gab, in der man den Ideologiegedanken mit dem Marxismus nahezu identifizierte, so hat sich inzwischen längst auch das bürgerliche Lager seiner bemächtigt, um nun seinerseits dem Marxismus ein ideologisches, und d. h. irreales, Verhältnis zur Wirklichkeit nachzuweisen.

Und damit ist nun die ganze Entwicklung noch einmal in ein neues Stadium getreten. Diese allgemeine Expansion des Ideologiegedankens konstituierte eine „prinzipiell neue Bewußtseinslage“. Hier liegt nicht einfach eine quantitative Steigerung vor, sondern es findet ein Umschlag in eine neue Qualität statt. In dem Augenblick nämlich, in dem offenbar wird, daß in allen Lagern grundsätzlich Ideologien im Spiel sind, wird der Ideologiebegriff allgemein und total. Damit aber geht etwas Entscheidendes verloren: die gemeinsame Basis der Verständigung.

Das ist ja offenkundig: indem jede Partei die andere des total-ideologischen, d. h. also eines total-irrealen, Denkens bezichtigt, werden jeweils verschiedene Zustände als Wirklichkeit bezeichnet. Diese jeweilige Wirklichkeit aber bildet den absoluten Bezugspunkt eines Denksystems, von dem aus jedes andere System als falsch, d h. als ideologisch erscheinen muß. Kann ich mich aber dergestalt nicht mehr über die Wirklichkeit verständigen, so kann ich midi eben überhaupt nicht mehr verständigen — da fehlt schlechterdings jede gemeinsame Basis. Es ist der Punkt, an dem wir gegenwärtig angelangt sind.

Sie werden das vermutlich aus Ihrer Erfahrung bestätigen können. Was an den Ost-West-Diskussionen immer wieder so sehr bestürzt, das ist ja nicht der Umstand, daß hier Meinung gegen Meinung steht, sondern es ist die Beobachtung, daß trotz gleicher Worte offenbar zwei verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Erklärung für dieses Phänomen liegt im Begriff der allgemeinen und totalen Ideologie. Sie löst die Einheit unserer Denkbasis auf, indem sie die Verständigung über das, was wirklich ist, von der Anerkennung bestimmter Voraussetzungen abhängig macht, die ihrerseits von unserem Standpunkt aus durchaus ideologischen Charakter tragen.

Das aber hat nun zweierlei zur Folge: 1. Indem die Ideologiekritik schließlich für alle Gruppen das Denken des jeweiligen Gegners als ideologisch, und d. h. eben als irreal, zu disqualifizieren vermochte, zerstörte sie weithin das Vertrauen in das Denken überhaupt Da die ganze Welt von Ideologien beherrscht scheint, und zwar grundsätzlich und ohne Ausnahme, geht die Wirklichkeit als Wirklichkeit verloren. Das Denken erscheint unbeschränkt funktionalisiert, an irgendeinen festen Punkt; irgendein Absolutes in diesem System unbegrenzter Relationen ist nicht zu denken. So erklärt sich die Flucht in den Skeptizismus wie in den Irrationalismus. Karl Mannheim hat recht: „Es handelt sich heute um mehr als um eine neue Idee, und unsere Frage stellt nicht bloß ein neues Problem. Wir treffen hier auf die elementare Lebensverlegenheit unserer Zeit, die in der einzigen Frage zusammenfaßbar ist: Wie kann der Mensch in einer Zeit, in der das Problem der Ideologie ... radikal gestellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken und leben? Die politische Problematik einer geteilten Welt stellt sich hier als Krise des menschlichen Denkens dar, ohne deren philosophische Bewältigung auch an vernünftige politische Lösungen nicht gedacht werden kann. 2. Mit der totalen Herrschaft der Ideologie hat die soziale und politische Wirklichkeit — oder richtiger: das, was jeweils darunter verstanden wird — plötzlich eine ausgesprochene Schlüsselstellung gewonnen. Wenn Ideologie ihrer Definition nach eine der Wirklichkeit nicht entsprechende falsche Denkweise darstellt, so wird man die soziale und politische Wirklichkeit immer und unter allen Umständen der Denkweise anzupassen versuchen. Der umgekehrte Weg, die Denkweise an der Wirklichkeit zu orientieren, ist deshalb nicht gangbar, weil er die Denkweise als falsch, und d. h. eben gerade als Ideologie, entlarven würde. Deshalb darf es im Bereich totaler ideologischer Herrschaft weder Revolutionen noch Streiks geben: sie würden im Augenblick ihrer Anerkennung den ideologischen, und d. h. irrealen, Charakter der Herrschaft offenbar werden lassen. Die Schlüsselstellung, die die politische Wirklichkeit in einer ideologisierten Welt einnimmt, hat aber noch eine andere Folge: Weil nur an der Wirklichkeit die Ideologie als Ideologie qualifiziert werden kann, deshalb wird der politische Erfolg zum absoluten und ausschließlichen Maßstab politischen Handelns. Politischer Erfolg heißt, die Wirklichkeit mit der Idee als in Übereinstimmung zu zeigen. Alles, was diesem Ziele dient, ist dementsprechend nicht nur richtig, sondern gut; umgekehrt ist alles, was diesem Ziele schadet, nicht nur falsch, sondern böse. Sie kennen alle den Begriff der sozialistischen Moral: hier liegen seine Wurzeln. Auch das Moralische -weit davon entfernt, sich, wie noch Friedrich Theodor Vischer meinte, von selbst zu verstehen — ist funktionalisiert. Es ist im Bereich der Ideologie eine durchaus relative Größe, bezogen auf die jeweils vertretene Wirklichkeit.

Damit aber wird deutlich, daß die gemeinsame Basis nicht nur des Denkens, sondern auch des Handelns verlorengegangen ist. Es ist uns ja unbegreiflich, wie viele von denen, die gegenwärtig wegen schwerer Verbrechen während des Dritten Reiches verurteilt werden, sich subjektiv unschuldig fühlen: sie sind Opfer der funktionalisierten Moral einer totalen Ideologie.

Neben dem Begriff der allgemeinen und totalen Ideologie — für den das bisher Gesagte gilt -gibt es noch eine andere Form ideologischen Denkens, die wir näher bestimmen müssen, um zu einer brauchbaren Begrifflichkeit zu kommen. Wir nennen sie mit Karl Mannheim die partikulare Ideologie Während der totale Ideologiebegriff die Denkweise des Gegners als ganze in Frage stellt und verwirft, spricht der partikulare Ideologiebegriff „nur einen Teil der Behauptungen des Gegners — und auch diese nur auf ihre Inhaltlichkeit hin — als Ideologien an. Hier ist also, im Gegensatz zum totalen Ideologiebegriff, die gemeinsame Denkbasis noch erhalten. Man kann sich noch verständigen, obwohl man in Einzelaspekten der Darstellung und Beurteilung der Wirklichkeit von verschiedenen ideologischen Voraussetzungen ausgeht. So liegen beispielsweise den Programmen der westdeutschen Parteien zweifellos ideologische Voraussetzungen zu Grunde — etwa christliche, sozialistische oder liberale. Aber diese Ideologien funktionalisieren nur Teilaspekte der Wirklichkeit, bestimmte Bereiche: die Grund-rechte etwa oder die Staatsordnung bleiben im vorideologischen Raum und werden als gemeinsames Gut aller Parteien anerkannt. Die Frage, ob eine Partei verfassungswidrig ist, entscheidet sich demnach daran, ob sie eine partikulare oder eine totale Ideologie vertritt.

Diese partikularen ideologischen Entwürfe sind vermutlich zur Orientierung in der Welt unerläßlich. Die Gefahr liegt denn auch nicht in ihrer Existenz an sich, sondern in ihrem mehr oder weniger ausgeprägten Bestreben, in die totale und allgemeine Form umzuschlagen.

Ich will mit diesen wenigen Bemerkungen zur Theorie des Ideologiebegriffes hier abbrechen. Ich hoffe, es sind gewisse Strukturen deutlich geworden, die wir nun in unserer neueren Geschichte aufsuchen und verifizieren wollen. Es geht dabei um die Frage, wie sich der Begriff des Politischen unter dem Eindrude der ideologischen Strömungen gewandelt hat.

II. Wandlungen im Begriff der Politik unter dem Einfluß der Ideologie

Ich hatte oben schon kurz darauf hingewiesen, daß Bismarck — ähnlich wie Napoleon — das vorwiegend ideologisch bestimmte Denken durchaus fremd war.

Was e r für die Aufgabe der Politik hielt, das findet sich beispielsweise in einer Rede, die er am 3. Dezember 1850 vor der Zweiten Kammer hielt. Es ging um die Frage, ob Preußen militärisch in die Bekämpfung der revolutionären Strömungen eingreifen sollte. Bismarck lehnte das Eingreifen nachdrücklich ab und meinte dazu: „Die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates ... ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik, und es ist eines großen Staates nicht würdig, für eine Sadie zu streiten, die nicht seinem eigenen Interesse angehört.“ Für Bismarck war alles politische Handeln unbedingt und ausschließlich an den Staat und seine Interessen gebunden, und zwar an den Staat in seiner persönlichen Verkörperung durch den Monarchen. Entsprechend war seine Politik eine Politik der Macht, begrenzt durch Nutzen und Vernunft.

Das wird besonders deutlich in seiner Haltung gegenüber jenen Kreisen, die sich nicht staatliche, sondern nationale Politik wünschten und die die Ideologie der Zeit vertraten: den Nationalismus. Der Nationalismus trug für Bismarcks politisches Empfinden alle Zeichen einer Ideologie im Sinne unserer Definition: er stellte sich ihm als ein irreales Verhältnis zur Wirklichkeit dar, als eine „Professorenidee“.

Bezeichnend dafür ist seine Haltung in der Elsaß-Lothringischen Frage. Die nationalliberalen Führer, allen voran Treitschke, forderten die Annexion, „auch wenn man die deutschsprechenden Elsässer gegen ihren Willen zu ihrer Nationalität zurückführen müsse“ Dagegen vertrat Bismarck lediglich den „militärischen Sicherheitsgedanken" — die Idee der „nation une et indivisible" galt ihm politisch nichts.

Weil für ihn Politik von Nutzen und Vernunft Bestimmt wurde, deshalb konnte er im Krieg gegen Frankreich auch keinen „Volkskrieg" sehen. Er war für ihn kein nationaler Aufbruch, kein Rachefeldzug, sondern ein Gebot der politischen Notwendigkeit. Deshalb erklärte er, als er in der Nationalzeitung wegen seiner ritter-liehen Behandlung des gestürzten französischen Kaisers angegriffen wurde, in einer Pressedirektive: „Die Politik hat die Bestrafung etwaiger Versündigungen von Fürsten und Völkern gegen das Moralgesetz der göttlichen Vorsehung ... zu überlassen.“ Und weiter: „Die Politik hat nicht zu rächen, was geschehen ist, sondern zu sorgen, daß es nicht wieder geschehe.“ Man muß sich diese großartigen und souveränen Sätze vor Augen halten, um zu begreifen, wie wenig Bismarck seiner politischen Überzeugung nach in den Stammbaum des deutschen nationalen Machtstaates gehört.

Man muß sich diese Sätze aber auch deshalb vor Augen halten, um die Wandlung zu bemerken, die sich seither im Begriff des Politischen vollzogen hat. Schon die Zeitgenossen haben Bismarck ja weitgehend nationalistisch interpretiert.

So beispielsweise verstand Treitschke 1870 den Sinn des deutsch-französischen Krieges: „Zum ersten Male seit den Tagen der Reformation stand die gesamte Nation zu großer Tat vereinigt; zum ersten Male, seit es Preußen gibt, schlug dieser Staat seine deutschen Schlachten, ohne daß Neid und Tadelsucht, Bruderhaß und Bruderkrieg ihm die Wege durchkreuzten. Die also im Heldenkampfe verbundene Nation empfängt jetzt in dem deutschen Reichstage das Mittel, die Bahnen ihrer friedlichen Entwickelung selber zu bestimmen; in der Kaiserkrone ein Symbol ihrer Macht und Größe, das den Gedanken unserer Einheit verkörpert, mit der Wucht altheiliger Erinnerungen auf die Gemüther der Deutschen wirkt, und die Fremden zwingt, nur noch von Deutschen, nicht mehr von Baiern und Badenern zu reden.“

Das ist der Ton der nationalen Ideologie, und er wird in den nächsten Jahrzehnten mehr und mehr die deutsche Politik bestimmen. Der Gedanke von Vernunft und Nützlichkeit als Kategorien politischen Denkens wird zurücktreten gegenüber der Idee von der „Ewigkeit des von jeder Einmischung des Auslandes unabhängigen, selbstherrlichen Deutschen Reiches" — wie eine Sondernummer der Alldeutschen Blätter vom 3. August 1914 das Ziel des eben begonnenen Krieges formulierte

Und der Erste Weltkrieg war es nun vor allem, der diese Entwicklung rasch vorantrieb. Die Notwendigkeit, auch die geistigen Kräfte des Volkes so weit als möglich zu mobilisieren, die neuentdeckten Mittel der Propaganda und ihre Wirkung, die ganze, von Leidenschaft erfüllte Atmosphäre ließen die Politik mehr und mehr in den Bereich ideologischer Kräfte geraten.

Wie stark diese Ideologie des nationalen Entweder-Oder auf beiden Seiten das politische Denken beeinflußte, zeigen die Friedensbemühungen während des Krieges selbst. Vernunft und Nützlichkeit hätten 1915/16 einen Friedensschluß für alle Beteiligten geboten. Daß er nicht zustande kam, war eine Folge der nationalen Ideologien, die durch einen Friedensschluß eben als solche entlarvt worden wären. Friedensschluß hätte Anpassung an die politische Wirklichkeit bedeutet — und gerade dieser Weg war nicht mehr gangbar. Ein Frieden, der der Lage der Dinge nach nur ein Kompromißfrieden (Verständigungsfrieden, wie es damals hieß) hätte sein können, hätte zugleich die Idee des deutschen nationalen Machtstaates, zu der Sieg, Ruhm, Ewigkeit gehörten, als irreal und d. h. als Ideologie disqualifiziert. Max Weber, der scharfsinnige Beobachter der deutschen Politik, hat das in einer Denkschrift „Zur Frage des Friedensschließens", die Ende 1915 oder Anfang 1916 entstand, folgendermaßen formuliert: „Die Fortsetzung des Krieges ist auch bei uns höchst wesentlich nicht durch sachlich-politische Erwägungen, sondern durch die Angst vor dem Frieden bedingt.“ Angst vor dem Frieden, das hieß: Angst davor, daß die nationale Ideologie als solche offenbar würde, Angst davor, daß das, was in der Kriegszielfrage von der Ideologie gefordert wurde — praktisch die Germanisierung halb Europas — nicht zu verwirklichen und damit die Idee des deutschen nationalen Machtstaates selbst gefährdet oder desavouiert sei

Bezeichnend für das Ausmaß und die Wirkung der nationalen Ideologie ist die Tatsache, daß sie die Niederlage von 1918 überstand, ja sie nach Weise der Ideologien zum Anlaß nahm, die politische Wirklichkeit noch konsequenter ideologisch zu interpretieren. Berühmtes Beispiel hierfür ist die „Dolchstoßlegende", jene Theorie, wonach Deutschland nicht militärisch unterlegen, sondern von der Heimat im Stich gelassen worden sei. Hindenburg selbst vertrat diese Theorie am 18. November 1919 vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß, der die Ursachen der Niederlage feststellen sollte. „Wo die Schuld liegt“, erklärte er damals, „bedarf keines Beweises". Die Dolchstoßlegende ist mit der Formel „Im Felde unbesiegt“ auf unzählige deutsche Heldenfriedhöfe gewandert und hat so den Triumph der Ideologie über die historische Wahrheit bestätigt.

Lassen Sie mich noch an einem anderen Beispiel zeigen, wie bewußt die nationale Ideologie die politische Wirklichkeit in ihrem Sinne interpretierte. Heinrich Claß, der Führer der Alldeutschen, schreibt in seinen im wesentlichen noch unveröffentlichten Aufzeichnungen zu dieser Zeit: „Mein Gedankengang war so: Der furchtbare Zusammenbruch im November 1918 kann und darf nicht das Ende der nationalen Geschichte bedeuten, zumal er in eigentlich unvereinbarem Widerspruch mit der Haltung unseres Volkes beim Ausbruch des Krieges stand und seinen ungeheuren Leistungen in dessen Verlauf widersprach. Es mußte also etwas der Anlage unseres Volkes Fremdes von außen hinein-getragen worden sein. Aus dem ganzen Kampfe, den ich bis dahin mit meinen Freunden geführt hatte, wußte ich und wußten sie, welche fremden — klar gesprochen: international gerichteten Kräfte tätig waren, Bismarcks Werk zu zerstören . .

Jeder Satz verrät hier die Feder des gewandten und überzeugten Ideologen.

Der Ideologie der Rechten stand nun in diesen Jahren die nicht minder militante und konsequente Ideologie der Linken gegenüber, die sich auf dem Boden der Republik erbitterte Schlachten lieferten.

Für beide Parteien war das Wesen des Politischen ganz von der Ideologie bestimmt. Für die Rechte war Inbegriff und Ziel aller Politik die höchst nebulöse Idee des deutschen nationalen Machtstaates, für die Linke war das Politische völlig mit dem Begriff des Klassenkampfes und der Herrschaft des Proletariats verschmolzen. Die Schicht derer aber, die — wie Bismarck — das Ziel der Politik in der Erhaltung und Förderung des Staates sahen und dementsprechend Nutzen und Vernunft als politische Kategorien ins Spiel zu bringen suchten, — diese Schicht wurde immer kleiner.

Immerhin: solange es sie noch gab, solange es noch eine freie Presse und eine kritische öffentliche Meinung gab, konnte man nicht von einer totalen Ideologisierung der deutschen Politik sprechen. Das wurde anders, als im Fortgang unserer Geschichte die Weimarer Republik vom Dritten Reich abgelöst wurde. Dieses Ereignis bildet im Zusammenhang unserer Erwägungen mehr als nur einen Regierungs-oder System-wechsel unter anderen.

Ich habe im 1. Abschnitt zu zeigen versucht, wie an einem bestimmten Punkt der Entwicklung ein Umschlag vom Quantitativen ins Qualitative stattfindet. Es ist der Punkt, wo die Expansion des Ideologiegedankens zum Begriff der totalen und allgemeinen Ideologie führt.

Dieser Punkt ist für Deutschland mit dem Beginn des Dritten Reiches bezeichnet. Denn hier ging es nun nicht einfach um ein quantitatives Mehr an Ideologie in der deutschen Politik, sondern das Dritte Reich schuf in der Tat das, was wir oben „eine neue Bewußtseinslage" genannt haben.

Die nationalsozialistische Herrschaft trägt alle Merkmale einer allgemeinen und totalen Ideologie. Sie war von Anfang an darauf ausgerichtet, die politische Wirklichkeit mit der Idee in Übereinstimmung zu bringen: Gesetzgebung und politische Praxis in den Jahren nach 1933 hatten eben dieses Ziel. Die Idee des großdeutschen Reiches germanischer Nation war das Prokrustesbett, in das die politische Wirklichkeit mit Gewalt eingepaßt wurde. Wo eine Diskrepanz auftrat, wurde sie rücksichtslos beseitigt: Die Konzentrationslager galten bekanntlich als Erziehungsanstalten, in denen das politische Bewußtsein der Kritiker und Opponenten der politischen Wirklichkeit angepaßt werden sollte.

Die Entlarvung des Nationalsozialismus als Ideologie — und jede Kritik und jeder Kritiker bedeuten ja solche Entlarvung, erwiesen die Ir-realität des braunen Denkens — war ein todes-würdiges Verbrechen.

Zugleich ist nun hier im Dritten Reich zum ersten Male deutlich geworden (was man freilich schon am Beispiel des stalinistischen Ruß-land hätte feststellen können), daß in der Tat mit der Entstehung totaler ideologischer Systeme die gemeinsame Basis des Denkens wie des Handelns verloren gegangen ist.

Die Welt ist nicht erst seit dem Ost-Westkonflikt zerrissen, sie ist es seit 1933 oder seit 1917 — seit der Zeit, wo sich ein totales ideologisches System dauerhaft in der politischen Wirklichkeit zu etablieren vermochte. Es wird nur erst jetzt ganz deutlich.

Es ist die Frage, was hier zu tun und welche Aufgabe der Politik in dieser Situation zugewiesen ist.

III. Die neue Aufgabe der Politik

Ich beginne mit einigen Bemerkungen zum Eichmann-Prozeß, den ich für eines der wichtigsten politischen Ereignisse in der Mitte unseres Jahrhunderts halte. Und zwar halte ich ihn deshalb für so außerordentlich wichtig, weil an ihm zwei Tatbestände sichtbar werden, die für unser politisches Handeln von höchster Bedeutung sind.

Das erste, unübersehbar und in die Augen springend, was in diesem Prozeß offenbar wird, ist der eigentlich chaotische Zustand unserer Welt.

Karl Mannheim hat 1929 die Frage gestellt, und wir haben sie oben schon einmal aufgegriffen: „Wie kann der Mensch in einer Zeit, in der das Problem der Ideologie ... radikal gestellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken und leben?" Angesichts des Eichmann-Prozesses wird man in allem Ernst und nicht nur sozusagen die Antwort geben müssen: Er kann es nicht. Er kann es wirklich nicht. Denn Europa war unter der Herrschaft des Dritten Reiches ja nicht nur für die Juden unbewohnbar; es war in einem tieferen Sinne dadurch auch für alle anderen unbewohnbar, weil keiner sicher sein konnte, nicht selbst das nächste Mal zu einer Gruppe zu gehören, die dem Tode verfallen war. Waren es heute die Juden, so war es morgen die SS, waren es heute die Polen, so waren es morgen die Deutschen.

Das ist das eine, das deutlich wird: der eigentlich chaotische Zustand der Welt. Es kann heute angesichts von 6 Millionen unschuldig Ermordeter niemand mehr behaupten, es sei das nur ein Versehen, es seien das Fehlgriffe einer an sich guten Sache gewesen.

Und auch soviel sollte klar sein: Wenn das einmal geschehen konnte, so ist es möglich und also grundsätzlich wiederholbar. Das ist die furchtbare Last, die heute auf allem politischen Handeln liegt.

Das andere, was dieser Prozeß offenbar macht, ist dies, daß sich der Begriff der Politik unter dem Einfluß der Ideologie außerordentlich erweitert hat. Die Fragen, vor die uns der Eichmann-Prozeß stellt, haben ja den Bereich des im engeren Sinne Politischen längst verlassen und sind zu einem menschlichen Problem geworden. Der parlamentarische Untersuchungsausschuß, der die Ursahen der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg erheben sollte, hatte noch vorwiegend mit politischen und militärischen Fragen zu tun. Das Gericht, das die „Endlösung" untersucht, stößt immerfort auf Fragen, die moralischer Natur sind, Fragen, die das Wesen des Menschen betreffen und auf die dieses Gericht naturgemäß keine Antwort geben kann. Das Gericht untersucht die Technik des Mordes: aber was uns eigentlich bewegt, ist ja die ganz andere Frage, was denn das für Menschen waren und sind, die diese Technik entwarfen und bedienten.

Das also ist das andere, was offenbar wird, daß Politik heute, im Zeitalter der Ideologien, in ihren Problemen und in ihren Auswirkungen theoretisch und praktisch unbegrenzt ist.

Das beides aber scheint mir nun eine neue Bestimmung des Begriffes der Politik überhaupt notwendig zu mähen.

Politik ist heute, so würde ih zu definieren versuhen, die Aufgabe, die Welt vor dem Chaos zu bewahren oder, shlihter formuliert, die Welt für den Menshen bewohnbar zu erhalten. Wenn diese Definition stimmt, dann ist Politik heute ein überaus moralishes Geshäft. Dann ist ihr tatsächlih die Verantwortung für die Welt aufgebürdet, während früher — wir haben das bei Bismarck gesehen — ihre Verantwortung auf den Staat und dessen eigene Interessen beshränkt war. Aber eben das ist nun die Folge der Ausweitung, die der Begriff der Politischen unter dem Einfluß der totalen und allgemeinen Ideologie erfahren hat, daß wir nun auch unsererseits nicht mehr dahinter zurück können, sondern diesen erweiterten Begriff aufnehmen müssen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein paar Bemerkungen zum Begriff des Nationalismus machen. Es gibt ja heute noch immer Leute, die der Ansicht sind, unsere Politik habe vor allem deutsche Politik zu sein, und die ihre Grundlage wie zu Bismarcks Zeiten im „staatlichen Egoismus" sehen. Diese Leute haben das Problem der allgemeinen und totalen Ideologie entweder noch nicht zur Kenntnis genommen oder nicht begriffen, was es bedeutet. Den „staatlichen Egoismus" heute zur Grundlage der Politik zu machen, das hieße soviel wie auf einem sinkenden Ozeandampfer mit Schiffchen spielen. Und so haftet auch dem alten Pathos vaterländischer Reden angesichts der Dimensionen in denen sich heute die Politik abspielt, etwas Fossiles an.

Aber zurück zum Thema.

Die Politik hat heute die Aufgabe, so sagte ich, die Welt als ganze bewohnbar zu erhalten.

Und es wird nun also die Frage sein, wie das zu geschehen habe.

Eine naheliegende und vielfach vertretene Antwort auf diese Frage fordert, der Ideologie des Bösen eine Ideologie des Guten entgegen-zusetzen.

Am konsequentesten hat sich die sogenannte Moralische Aufrüstung diese Theorie zu eigen gemacht mit der Propagierung ihrer vier Absoluten: absolute Liebe, Reinheit, Selbstlosigkeit und Wahrheit. Aber auch abgesehen von diesem relativ begrenzten Versuch, von dem eine Lösung der Schwierigkeiten schon deshalb nicht zu hoffen ist, weil niemand weiß, wie absolute Forderungen dieser Art aussehen, geschweige denn, wie sie zu verwirklichen sind, — auch abgesehen von diesem Versuch hat der Gedanke einer schlagkräftigen Ideologie im Westen viele Freunde. Daß das westliche Denken — jedenfalls in Hinsicht auf den Osten — stark ideologisch bestimmt ist, steht außer Frage. Man merkt das u. a. an der Interpretation der politischen Wirklichkeit im Osten, die unter allen Umständen dem Bild entsprechen muß, das der Westen sich von ihr macht.

Denn es ist mindestens so wichtig für den Westen, den Osten ständig als ideologisch, und d. h. als irreal, in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit zu entlarven wie umgekehrt die östliche Propaganda — mühsam genug — den Ideologiecharakter des Westens durch kapitalistische Greuelmärchen zu erweisen versucht Das Bild des Gegners, das diese wechselseitigen Bemühungen erzeugen, ist durchaus ideologisch bestimmt.

Es scheint in Rußland, wenn wir recht unterrichtet sind, seit dem Ende der Stalinschen Ära eine stattliche Reihe bemerkenswerter Veränderungen gegeben zu haben. Der Sowjet-mensch scheint als Bürger nicht mehr jeder Willkür ausgesetzt, das Regime hat beträchtliche wirtschaftliche und technische Erfolge zu verzeichnen: Von all dem nehmen wir nur höchst widerwillig Kenntnis.

Der Unterschied zwischen dem westlichen und östlichen System ist ungeheuer groß. Es ist der Unterschied zwischen partikular-ideologisch bestimmtem Denken und der Herrschaft der totalen und allgemeinen Ideologie, ein Unterschied, den wir oben nicht als bloß quantitativ, sondern als qualitativ klassifiziert haben. Hier soll und darf nichts verwischt werden.

Die Frage aber ist nun, ob der Westen nicht angesichts der kompakten östlichen Ideologie etwas Ähnliches brauche, ob man das partikular-ideologisch bestimmte westliche Denken nicht zu einer großen, allgemeinen Ideologie zusammenfassen müsse.

Ansätze sind gerade in der Bundesrepublik vorhanden. Ich halte diese Ansätze und Versuche für außerordentlich gefährlich.

Ich würde meinen, aus der Bestimmung der Politik als der Aufgabe, die Welt bewohnbar zu erhalten, ergibt sich genau der entgegengesetzte Weg. Es ist der Weg einer pragmatischen Politik des Rechtes und der Vernunft. Es wird dabei nicht möglich sein, das Ideologische schlechterdings auszuschalten. Aber es muß versucht werden, das partikular-ideologische Denken vor allen Tendenzen zur Verallgemeinerung und Totalisierung zu bewahren. Es sind drei Dinge, die von dieser pragmatischen Politik gefordert werden, nämlich Glaubwürdigkeit, Rechtlichkeit und Vernünftigkeit.

Glaubwürdigkeit meint, Denken und Handeln im politischen Bereich möglichst zur Deckung zu bringen. Überall wo das versäumt wird, wo also die Freiheit um irgendwelcher taktischer oder wirtschaftlicher oder militärischer Überlegungen willen eingeschränkt wird, hat die westliche Politik eine Schlacht verloren. Denn es ist eine Stelle, an der die östliche Ideologie eine Bestätigung ihrer selbst erfährt.

Natürlich gibt es keine absolut glaubwürdige Politik. Man kann nicht alle Schlachten gewinnen Aber man muß dann wissen, was man tut, wenn man den erklärten Prinzipien seiner Politik zuwiderhandelt.

Zur Glaubwürdigkeit gehört die Rechtlichkeit. Das ist das unbedingte Beharren an der Rechtsstaatlichkeit — auch wenn sie gelegentlich politisch unbequem ist. Es ist hier wie mit der Glaubwürdigkeit. Eine absolute Rechtlichkeit wäre eine Illusion und wenn nicht Ideologie, dann Utopie. Aber man muß wissen, was man tut, wenn man die Rechtsstaatlichkeit verletzt. Nicht die Kritiker des Westens im Westen nämlich tun das, sondern die, die diese Kritik alle am liebsten verboten sähen. Denn jede vernünftige Kritik ist ein Beitrag zur Relativierung der Ideologie in dem Bereich, in dem sie geübt wird. Aber das wird dem Ideologen mit seiner stumpfsinnigen Ent-weder-Oder-Theorie kaum beizubringen sein.

Als Drittes gehört zur Politik heute die Vernünftigkeit. Ich rechne dazu die Absage an die alten Ideologien wie an die neuen Utopien. Eine leidenschaftliche öffentliche Meinung engt die Regierung unter Umständen in ihrer Handlungsfähigkeit so ein, daß sie zu Entschlüssen kommt, die durchaus gegen ihren Willen sind. Zur Vernünftigkeit rechne ich aber beispielsweise auch den ganzen Bereich des Wirtschaftlichen, der heute ja eine so überragende Rolle spielt.

Schließlich gehört zu dieser Politik — und das ist vielleicht das Schwerste — der Verzicht auf spektakuläre Siege.

Sie werden fragen, in welchen Grenzen sich diese Politik halten soll. Denn wenn ihr auch die Verantwortung für das Ganze aufgelastet ist, so kann sie ja doch praktisch nur in einem begrenzten Rahmen tätig werden.

Hier kommt nun noch einmal der Begriff des Staates ins Spiel, aber freilich nicht im Sinne des alten Nationalstaates. Hier, im Staat, gilt es, die Verantwortung für das Ganze praktisch zu bewähren, indem in ihm ein Höchstmaß an Gerechtigkeit und Freiheit, an Sittlichkeit und Pflichtbewußtsein, an Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft wirksam wird.

Es wird nicht wenig Leute geben, die das alles für einigermaßen illusionär halten und der Überzeugung sind, einer kompakten und militanten Ideologie imponiere nichts als die nackte Macht. Es sind dieselben Leute, die dem Moralischen, die der Glaubwürdigkeit, der Gerechtigkeit und der Vernunft in dieser Welt keine Chance geben.

Dazu ist zu sagen:

Die gegenwärtige Lage der Welt, das habe ich im I. Teil ja zu zeigen versucht, ist sicher nicht nur ein militärisches, sondern auch — im weitesten Sinne — ein philosophisches Problem. Wenn die menschlichen Tugenden in unserem Sinne in dieser Welt keine Chance hätten, dann heißt das, daß die Östliche Ideologie recht hat und also keine Ideologie ist, sondern das richtige Menschenbild und die richtige Weltanschauung vertritt. Denn das politische System des Westens ruht auf der Voraussetzung, daß der freie, einzelne Mensch dem Bilde des Menschen am vollkommensten gleiche. Wenn wir diese Voraussetzung für illusionär halten, ist das Spiel mit Sicherheit verloren — auch wenn wir unsere militärische Macht ins Ungemessene vergrößern.

Sie kennen alle die Klage, daß der einzelne heute, im berühmten Zeitalter der Masse, keine Chance mehr habe. Das Umgekehrte ist richtig. In einer Welt, in der der Begriff der Ideologie radikal zu Ende gedacht und praktiziert worden ist, hat gerade der einzelne eine Chance. Denn jeder einzelne, der kritisch bleibt, ist eine Entlarvung der Totalität und Allgemeinheit der Ideologie.

Denken Sie an das Dritte Reich, denken Sie an die Ostzone. Weder Gruppen noch Parteien, weder Verbände noch Institutionen irgendwelcher Art hatten und haben dort eine Chance. Die Chance hat immer nur der einzelne, wenn er einzelner bleibt — auch im Zusammenschluß zu einer Gruppe, einer Partei, einem Verband, die selbstverständlich notwendig sind. Nur als Gesellschaft, in der der freie einzelne auch wirklich einzelner bleibt, Mensch, Individuum, können wir gegen die Ideologie bestehen.

Politik ist heute ein überaus moralisches Geschäft. Die Techniker der Macht, die Manager der Massen, die Prediger der Ideologien werden das nicht begreifen.

Um so mehr wird es Aufgabe der anderen sein.

IV. Ideologie und Glaube

Erlauben Sie mir zum Schluß einige wenige Bemerkungen zur theologischen Seite unseres Problems. Es liegt ja auf der Hand, daß diese ganze Frage gerade auch den Theologen angeht, weil die Ideologien ganz offenbar mit dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner Welt zu tun haben. Ideologie ist, so würde ich in diesem Zusammenhang formulieren, der Versuch des Menschen, seine Autonomie in der Selbst-ordnung der Welt bestätigt zu finden. In der Ideologie ist die Welt Schöpfung des Menschen, und wo sie dem bewußt oder unbewußt widerspricht, da wird sie zur Anerkennung einfach gezwungen.

Martin Luther hat das gelegentlich sehr eindrucksvoll formuliert. Es ist ein Abschnitt aus seinen Vorlesungen über 1. Mos. 30, wo es heißt: „Ecclesia est regina in orbe terrarum, sed nihil minus apparet, siquidem mundus regnat et dominatur. Sed nisi oratione et doctrina sustentaret Ecclesia mundum, uno momento perirent omnia. Mundus hoc non cernit, nec Credit. Imo Turca et Gallus putant se regere et sustentare orbem terrarum, donec nimirum ruant et confundantur in consiliis et conatibus suis. Tum denique experientur se nihil esse: sed sero." „Die Kirche ist die Herrscherin auf dem Erdkreis; aber das ist nichts weniger als deutlich, zumal ja die Welt herrscht und beherrscht wird. Aber wenn nicht die Kirche durch Gebet und Lehre die Welt erhielte, so würde alles in einem Augenblick zu Grunde gehen Die Welt begreifts nicht und glaubts auch nicht. Vielmehr Türke und Franzose glauben, daß sie das Regiment führen und den Erdkreis erhalten, bis sie nieder-stürzen und ihre Pläne und Unternehmungen in Verwirrung endigen. Dann endlich erfahren sie, daß sie nichts sind: aber zu spät.“

Das sind auf den ersten Blick einigermaßen überraschende Sätze, die aber im Zusammenhang unserer Überlegungen eine eigentümliche Bedeutung gewinnen.

Die wichtigste Aussage, die Luther hier macht, ist die, daß, wenn nicht die Kirche durch Gebet und Lehre die Welt erhielte, „uno momento perirent omnia". Das aber heißt, daß nach Luthers Überzeugung die Kirche der einzige Ort ist, wo die Welt zu Gott hin offengehalten wird.

Was Türke und Franzose treiben, das ist — modern ausgedrückt — autonome Politik. Diese autonome Politik steht in ständiger Gefahr, sich einer Ideologie auszuliefern, und daß heißt, die Welt als ihre eigene Schöpfung zu behandeln. Die Folge sind, sagt Luther, Verwirrung und Zusammenbruch.

Gegen die Gefahr, einer Ideologie zu verfallen, steht der Glaube, der die Welt als Schöpfung Gottes zu erhalten und zu besorgen sucht. Dieser Glaube aber ist in der oratio und doctrina der Kirche lebendig.

Insofern also erhält die Kirche die Welt, als sie durch ihre Verkündigung den Glauben ermöglicht, der die Welt erst Welt sein läßt, weil er sie als Gottes Schöpfung empfängt. Das ist das Ende aller Ideologien.

Die Welt freilich, so meint Luther, wird das nicht begreifen. Sie wird immer tiefer in Verwirrung geraten und schließlich Zusammenstürzen. Dann endlich wird sie erfahren, daß sie nichts ist, „sed sero“: aber zu spät.

Ich glaubte, Ihnen auch diese Möglichkeit, den ideologischen Charakter der Welt zu verstehen, nicht schuldig bleiben zu dürfen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. hierzu und zum Folgenden: Karl Mannheim, Iderlogie und Utopie, 2. Auflage 1952, S 66 ff. Da-U: H. Barth, Wahrheit und Ideologie, 1945; Th. Geiger, Ideologie und Wahrheit, 1953.

  2. Mannheim a. a. O.

  3. H Rothfels, Bismarck und der Staat, 1953, S. XXXIX.

  4. Karl Marx, Die Frühschriften, hsg. v. S. Landshut, 1953, S. 346.

  5. a. a. O. S. 342.

  6. a a. O. S. 346

  7. Mannheim a. a. O. S. 69 ff.

  8. Mannheim, S 37 ff.

  9. a. a. O. S. 38.

  10. a. a. O. S. 54 ff.

  11. Rothfels, S 94

  12. Rothfels, S. XXXVIII.

  13. Rothfels, ebda.

  14. H. V. Treitschke. Historische und politische Aufsätze III, 4. Auflage, 1871, S. 428.

  15. A. Kruck. Geschichte des Alldeutschen Verbandes. 1954. S 85.

  16. Ges polit. Schriften. 1958, S 137.

  17. Vgl. dazu K. Scholder, Die Problematik der politischen Verantwortung in unserer jüngsten Geschichte, 1959, S. 17 f.

  18. Kruck, a. a. O. S. 125

  19. Luthers Werke, Weimarer Ausgabe, Bd. 43, S. 665.

Weitere Inhalte

Anmerkung: Dr. Klaus Scholder, 1930 geboren, evangelischer Theologe und Historiker, z. Z. Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen. Veröffentlichungen: „Kirche, Staat, Gesellschaft", in Evang. Theologie, 6. Jgg., 1958; „Die Problematik in unserer jüngsten Geschichte“, 1960; „Christentum und Liberalismus* in liberal, 2. Jgg., 1960; . Der Geist des Staates als Aufgabe der Kulturpolitik, in liberal, 3. Jgg., 1961.