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Europas Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern | APuZ 39/1959 | bpb.de

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APuZ 39/1959 Europas Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern Erziehung, Wissen, Bildung

Europas Verantwortung gegenüber den Entwicklungsländern

Pietro Quaroni

Dieser Betrachtung liegt der Text einer Rede zugrunde, die am 30. Juni 1959 vor Vertretern der Wirtschaft in Düsseldorf gehalten wurde.

Die Genfer Konferenz, ihre Vorbereitungen und ihre möglichen Folgen, kurz alles, was man die Berlin-Krise nennt, hat die Frage der Entwicklungsländer ein wenig in den Hintergrund gerückt. Aber sie bleibt immer eine brennende Frage, wahrscheinlich die schwierigste, vor die der Westen, und Europa im besonderen gestellt ist.

Ist den ersten Jahren der russischen Revolution glaubten die Russen, und auch Lenin, daß der Westen und besonders Deutschland dieser Revolution rasch folgen würden. Das war sozusagen die Epoche des revolutionären frontalen Angriffs gegen den Kapitalismus. Als sie sich jedoch überzeugten, daß dieser Frontal-Angriff nicht gelingen konnte, haben sie sich zur Strategie des indirekten Angriffs bekehrt. Die Grundlage dieser Politik ist folgende. Die Prosperität des Westens, diese Prosperität, die ihm die Möglichkeit gegeben hat, den Arbeitern einen Lebensstandard von kleinbürgerlichem Niveau zu geben, durch welchen dem westlichen Proletariat seine Revolutionsfähigkeit genommen wurde, ist nach Ansicht der Kommunisten auf die Ausbeutung der kolonialen Welt zurückzuführen. Wenn es nun den Kommunisten gelänge, der westlichen Welt die Ausbeutungsmöglichkeit der Kolonialwelt zu entziehen, dann würde das angeblich eine enorme ökonomische Krise verursachen, eine neue Pauperisation der Massen, die die revolutionären Kräfte des westlichen Proletariats noch einmal entfachen kann. Daher die berühmte Äußerung Lenins, der Weg von Moskau nach Paris gehe über Peking und Kalkutta.

Faktisch würde das bedeuten, daß, sollte es den Russen gelingen, die großen unentwickelten Länder, das heißt Asien diesseits des Eisernen Vorhangs, Afrika und den größten Teil von Lateinamerika unter inre Kontrolle zu bringen, die ökonomische und politische Situation der westlichen Welt der Lage einer belagerten Stadt sehr ähnlich sein würde; die nicht mehr auf irgendeine Ersatzarmee hoffen könnte.

Diesen strategischen Plan der Russen sehen wir in voller Entwicklung vor uns.

Jetzt ist, wie gesagt, unsere Aufmerksamkeit auf die europäische Frontlinie gerichtet. Es ist ohne Zweifel wesentlich, daß wir unsere Stellungen in Europa verteidigen. Aber die Verteidigung Europas allein genügt nicht; Europa verteidigt man nicht nur in Berlin und an der Elbe, sondern auch nicht minder am Ganges, am Nil und am Amazonas. Das dürfen wir nie vergessen.

Es ist lange her, daß in der ganzen kolonialen Welt Selbständigkeitsbewegungen angefangen haben. Aber es gibt verschiedene Selbständigkeitsbewegungen. Die intelligentesten Leute der westlichen Welt haben nie gedacht, daß das Kolonialwesen an sich etwas war, was Jahrhunderte dauern könnte. Nachdem die erste Auffassung des Kolonial-wesens — die Ausbeutungspolitik — überwunden war, betrachtete man überall, mehr oder weniger ehrlich, die Rolle der Kolonialmächte eher als eine Mission. Die Kolonialmächte sollten die Völker unter ihrer Herrschaft zur Selbständigkeit erziehen, und man dachte wirklich, daß eines Tages, in weiter Zukunft natürlich, Indien oder Ägypten oder Indonesien selbständige Staaten werden sollten. Aber mit ihrer Selbständigkeit sollten sie die grundsätzlichen Elemente unserer Zivilisation und unserer Sozialordnung annehmen: ein Abbild der inneren Entwicklungslage der wichtigsten westlichen Länder. In diesem Sinn wäre diese Selbständigkeit mehr eine freiwillige Akzeptierung unserer Zivilisation als etwas anderes gewesen. Und die neuen selbständigen Staaten hätten als freiwillige Mitglieder in der Gemeinschaft der westlichen Nationen weiterleben können. Man glaubte, in anderen Worten, daß auch die farbigen Länder eine innere Evolution haben könnten, ähnlich der Kanadas oder Australiens, die sich von einfachen Kolonien zum Dominion-Status entwickelt hatten. Das schien am Ende des zweiten Weltkrieges im ganzen noch möglich. Wieso hat sich das alles so plötzlich geändert? Man hatte nur eine Kleinigkeit vergessen: das Kolonialregime stützte sich auf die Kraft, das Prestige der westlichen Länder. Das alles war in zwei Weltkriegen verloren gegangen, das alles fehlte, um das alte Regime zu erhalten. Für eine friedliche Evolution im Sinne von Dominions waren diese Länder noch nicht reif. Wir hatten unsere Erziehungsmission nicht erfüllt, wenigstens nicht überall.

Man darf nie vergessen, daß die Kolonien mit Waffen erobert wurden. Von unserem Standpunkt aus gesehen kann man zweifellos sagen, daß wir Westler in diese Welt unsere moderne, bessere Zivilisation gebrachthaben; aber das ist nur unser Standpunkt. Von ihrem Standpunkt aus gesehen, war es die Zerstörung ihrer Welt, ihrer Zivilisation. Unsere konnte wohl eine bessere sein, sie war aber eine fremde Zivilisation. Wir haben die Kraft verloren in einem Moment, als die Umstände eine größere Machtentfaltung erforderten, um diese Länder in der Hand zu halten.

Im Jahre 18 57 hat England, um die indische Revolution zu unterdrücken, nur einige tausend Soldaten aus dem Mutterland nach Indien geschickt, und das war genug. Hätten die Engländer sich nach diesem Krieg in Indien zu behaupten versucht, so hätten sie mehrere hunderttausend britische Soldaten einsetzen müssen.

Während der Eroberung Indochinas hat Frankreich, auch wenn es mit China in einen Krieg verwickelt war, nie mehr als 20 000 Soldaten in Indochina gehabt, und das war genug, um den Sieg zu erringen. Nach dem zweiten Weltkrieg hat Frankreich in Indochina mehr als 200 000 Soldaten gehabt, und die waren nicht genug.

Es war eigentlich nicht das nationale Prestige Englands, Frankreichs oder Deutschlands, es war vielmehr das Prestige der ganzen westlichen Welt — damals Europas — das sich durch seine Entwicklung und den Glanz seiner Kultur unterschied. Die westlichen Länder waren die einzigen Länder, die sich industriell entwickelt hatten. Ihr Erfolg schien mit ihrem politischen Regime, ihrer sozialen Ordnung und ihren kulturellen Anschauungen verbunden. Das konnte zuweilen fremd oder unangenehm sein, aber es schien unvermeidlich, das alles zu übernehmen, wenn man gewisse Entwicklungen erreichen wollte. Zwei Weltkriege, unsere eigene Propaganda des einen gegen den anderen, haben den Zauber zerstört und unsere Schwächen entblößt. Wir waren Halbgötter, nun sind wir zu kleinen Menschen geworden. Aber was noch wichtiger ist: nach dem ersten Weltkrieg hat sich im Kommunismus eine neue Gesellschaftsform mit unerwarteten Entwicklungsmöglichkeiten vorgestellt.

Wir sind nicht mehr die einzig möglichen Erzieher

Der Kommunismus als solcher hat in allen diesen Ländern in den ersten zwanzig Jahren seines Bestehens keinen großen Erfolg gehabt. Sein Erfolg zeigte sich plötzlich, als es sich erwies, daß ein unentwickeltes Land sich in einem tollen Tempo zu einem großen Industriestaat ohne die ökonomischen und politischen Systeme der westlichen Welt entwickeln konnte. Dieser Prestigeverlust ist meiner Meinung nach der schwerste und gefährlichste. Es gibt heute — wenn ich midi nicht irre — auf den deutschen Hochschulen mehr als 11 000 Studenten aus den Entwicklungsländern. Aber wenn man nachschaut, wie diese Studenten verteilt sind, so sieht man, daß sie fast alle die technischen Fakultäten besuchen. Die Studenten aus den Entwicklungsländern, die juristische und sozialwissenschaftliche Fakultäten besuchen, sind nur eine ganz kleine Minderheit. Es ist sehr schlecht, daß sie unsere Maschinen noch kaufen, aber nicht mehr unsere Institutionen. Das bedeutet: sie erkennen wohl unsere Technik an, sie wollen sich unsere Technik aneignen, um uns ebenbürtig zu werden, aber unsere juristisch-soziale Ordnung halten sie für uninteressant. Wir sind nicht mehr die einzig möglichen Erzieher. Und das ist der empfindlichste Verlust, den wir erlitten haben.

Wir stehen in allen diesen Ländern in einem ernsten Wettbewerb mit dem Kommunismus. Kann man noch vermeiden, daß alle diese Länder hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden?

Erstens muß man die Lage sehen, wie sie ist: uns von den vielen Illusionen der Vergangenheit befreien, die noch schwer auf uns lasten,, denn viele unserer Irrtümer stammen aus alten Illusionen.

Die Diplomatie kann die Situation nicht meistern, Diplomatie ohne Macht vermag wenig: und diese Macht, in einem gewissen Sinn, haben wir nicht mehr.

Wenn wir von Diplomatie sprechen, denken wir alle, an die diplomatische Leistung, die die englische Politik im Nahen Osten zwischen den zwei Weltkriegen vollbracht hat. Die englische Diplomatie ist, ohne Zweifel, glänzend gewesen. Aber sie war auf zwei Machtstellungen gestützt: die englische Armee in Ägypten und die indische Armee, die damals der englischen Politik zur Verfügung stand. Heute, da diese zwei Machtstellungen nicht mehr da sind, kann die britische Diplomatie nicht mehr viel leisten.

Die Inkognita, die Gefahr des Wettbewerbs, liegt in der inneren Lage aller dieser Länder. Ist es möglich oder nicht, die innere Lage in einer nichtkommunistischen sozialen Ordnung, welcher Art sie auch sein mag, mehr oder weniger zu stabilisieren?

Unsere Niederlage — denn es handelt sich um eine Niederlage — war keine diplomatische Niederlage, und auch keine militärische: unsere Freunde in diesen Ländern — wenn man noch von Freunden sprechen darf — haben in der Innenpolitik versagt. Man kann auch sagen, wir haben auf die falschen Pferde gewettet, oder auch, daß unsere Erziehungsarbeit sich als ungeeignet gezeigt hat: das macht keinen großen Unterschied.

Zu Anfang stützten sich die Kolonialregierungen im Innern der Kolonialländer auf zwei Elemente: die kleinen einfachen Leute, für die die Eroberer Ordnung und Frieden anstelle der früheren Anarchie gebracht hatten; und die alte regierende Klasse, die sich nicht mehr recht gegen die inneren revolutionären Kräfte behaupten konnte. Fast überall wurde sozusagen ein de-facto-Kompromiß zwischen den Kolonial-mächten und wenigstens einem Teil der alten regierenden Klassen geschlossen: sie haben ihre politische Selbständigkeit geopfert, aber ihre ökonomischen Privilegien nicht nur bewahrt, sondern auch erweitert: Das hat lange so gedauert, und so lange es so war, war es auch verhältnismäßig leicht, eine Empörung zu unterdrücken.

Aber eine Gesellschaft ist nie und nirgendwo unbeweglich: neue Klassen und Gruppen haben sich gebildet. Die Erziehung, die ökonomischen Umwandlungen haben neue Elemente in die innere soziale Ordnung eingeführt: die Anwesenheit der Ausländer wurde nach und nach unbequemer. Eine Gewaltlösung war schwierig, ein Kompromiß schien dagegen möglich. Die Kolonialmächte haben geglaubt, es 'sei möglich, diesen Ländern eine politische Selbständigkeit zu geben, aber im großen und ganzen ihre ökonomische Position wie die politische beizubehalten. Die alten einheimischen konservativen Elemente haben geglaubt, auf der einen Seite ihre innere Stellung damit befestigen zu können, daß sie sozusagen die Initiative in den nationalen Selbständigkeitsbewegungen ergriffen; und zur selben . Zeit durch eine indirekte Verbindung zu den alten Kolonialmächten sich deren Schutz in inneren Angelegenheiten bewahren zu können. Beide haben sich geirrt: und beide haben verloren, der ganze Westen mit ahnen. Dieser Stabilisierungsversuch ist überall an zwei Felsen gescheitert: dem Nationalismus und dem sozialen Bewußtsein der Massen.

Wir haben diese Leute den Nationalismus gelehrt, und so wie -sich eine importierte Krankheit mit besonderer Wucht auf neuem Boden entwickelt, hat sich der Nationalismus in allen diesen Ländern als besonders radikal erwiesen.

Die Armut dieser Länder ist unbeschreiblich: wer die Misere Indiens oder Chinas nicht gesehen hat, weiß nicht, was wirkliche Armut sein kann. Das hat wahrscheinlich Jahrhunderte oder Jahrtausende gedauert. Ich glaube nicht an das Märchen von eimem viel besseren Zustand in der Zeit vor der Kolonialherrschaft. Wahr ist, daß durch idie Kolonialherrschaft eine gewisse Industrialisierung dieser Lander ingetreten ist, und jede Industrialisierung bringt zu Anfang große soziale iLeiden mät sich. Das wichtige ist, daß früher der indische oder chinesische Bauer oder Arbeiter nur den Lebensstandard seines Nachbarn kannte. Er wußte nicht, daß es möglich war so zu leben, wie die amerikanischen oder deutschen Bauern oder Arbeiter. Aber als er das erfahren hat, hat er sich die Frage gestellt: Warum können wir nicht auch leben wie die anderen?

Zur Zeit der kolonialen Regierungen war das alles veihältnismäßig einfach. Bescheidene Selbständigkeitswünsche der höheren Gesellschaftsschichten, Radikal-Nationalisnous der Inbellektuellen, soziale Unruhen und Bestrebungen der Massen, konnten isidh . alle gegen die koloniale Macht vereinigen: die koloniale Macht war an allem schuld. Aben nachdem die fremden Herren weggegangen waren, hat es sich gezeigt, daß das alles nicht so leicht war. Die Kolonialmacht war doch immerhin eis Gefüge, ein anderes Gefüge war nicht vorhanden. Daher ist es mcodh schlnmaner geworden. Es entwickelte sich im Innern ein immer akuter wendender Klassenkampf, und an dieser sozialen Krise im Innern sind'unsere guten, angenehmen post-kolonialen Regierungen zugrunde gegangen. Manchmal durch Wahlen, häufiger durch Revolutionen. Und wo sie sich noch halten können, ist ihre Lage nicht sicher.

Es, gibt üherall eine ticke soziale Unruhe, in Lateinamerika, in Afrika in Asien. Diese tiefe soziale Unruhe ist die Krise der unentwickelten Welt.

Einer der ersten Schriktsteller, der die Lage gründlich studiert hat, Tibor Mende, hat einmal eine in ihrer Einfachheit beeindruckende Klassifikation der Menschheit skizziert:

Die in voller, wirtschaftlicher Entwicklung befindlichen Länder — Westeuropa, die Vereinigten Staaten und zwei oder drei Überseeländer: in dieser Zone schwankt das individuelle Einkommen zwischen 500 und 1800 Dollar.

Halb entwickelte Länder: das heißt, diejenigen, denen es allgemein mit verschiedenen Revolutionsformen gelungen ist, fühlbare Fortschritte auf dem Wege zur Entwicklung zu machen — UdSSR, Japan und zwei oder drei Länder Latein-Amerikas — individuelles Einkommen zwischen 100 und 500 Dollar.

Unentwickelte Länder — der übrige Teil der Welt — individuelles Einkommen höchstens 100 Dollar.

Die erste Kategorie umfaßt ein Fünftel der Menschheit, die zweite ebenfalls, drei Fünftel indessen bleiben in der dritten.

Die Länder der ersten Kategorie sind alle, ohne Ausnahme, der weißen Rasse angehörige Länder: es gibt auch Länder weißer Rasse, die der zweiten Kategorie angehören: aber es gibt kein farbiges Land, das der ersten angehört. Indem diese Ziffern etwas vereinfacht werden, muß daraus gefolgert werden, daß 10°/o der Bevölkerung der Erde 80°/o des Totaleinkommens unseres Planeten zu ihrer Verfügung hat; und daß diese 10% ganz und gar zu der Kategorie gehören, die wir die weiße Rasse nennen.

Es gibt auch andere Schätzungen der Lage. Man sagt, daß die reichen und entwickelten Länder (Rußland inklusive) mehr oder weniger ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachen, aber sie haben zwei Drittel des Welteinkommens zu ihrer Verfügung: eigentlich kein großer Unterschied. So ist das, was wir vor uns sehen, ein sozialer Kampf, eine soziale Erhebung der armen Klassen der ganzen Welt gegen die privilegierte Bevölkerung des Westens. Da diese Armen in der Mehrzahl Leute sind, deren Haut eine andere Farbe hat als die unsrige, gibt das dieser sozialen Revolution auch ein rassisches Element. Das kompliziert wohl die Dinge, aber ändert die Lage nicht.

Müssen die Entwicklungsländer kommunistisch werden?

Ist es unvermeidlich, daß alle diese Entwicklungsländer früher oder später kommunistisch werden?

Unvermeidlich ist das nicht Die Gefahr besteht jedoch, und diese Gefahr ist viel größer geworden, nachdem wir Westler diese Gefahr nicht erkennen wollen in ihrer ganzen Problematik und in ihren Konsequenzen. Auch ohne den Weltkommunismus wäre wahrscheinlich unsere Lage in. diesen Ländern nicht so günstig: der Wettkampf mit dem Kommunismus aber macht die Lage höchst gefährlich.

Meiner Meinung nach liegt die große Gefahr des Kommunismus in den Möglichkeiten, die die kommunistische Organisation zu bieten scheint, um ein unentwickeltes Land rasch zu industrialisieren.

Die politische Knast,, die jetzt in allen diesen Ländern an die Macht gekommen ist, oder dicht vor der Tür steht, ist der radikale Nationalismus. Wenn man diese Radikal-Nationalisten als Klasse definieren will, könnte man sagen, sie sind intellektuelle Proletarier, Leute aus den niedrigen Schichten der Gesellschaft, die sich durch die mittlere und höhere Schule durchgearbeitet haben. Die Offiziere, überall in diesen Ländern eine revolutionäre und nicht konservative Klasse, stammen auch aus diesem intellektuellen Proletariat, besonders einflußreich weil sie irr einer sich auföserrden Gesellschaft die einzige organisierte Kraft sind: jemand hat diese Offiziere mit Recht als Jakobiner der östlichen Revolution definiert. Sie sind die größten Feinde der Kolonialerben und damit auch unserer Zivilisation und Weltanschauung, die für sie mit dem Kolonialregime eng verbunden sind. Ihre ersten Feinde, im Innern, waren die alten feudalen Elemente: die waren unsere Freunde, wir haben sie unterstützt. Ohne unsere Unterstützung wären sie wahrscheinlich vie} früher gefallen. Interessant, zu denken, wie alles anders sein könnte, hätten wir in diesem Ländern, besonders nach dem zweiten Weltkrieg, eine mehr progressive Politik versucht: aber das ist auch bloße philosophische Spekulation. Die Kolonialmächte haben diese Klasse — dasintelkektuelle Proletariat — selbst geschaffen, indem sie ihr die Möglichkeitgegeben haben«, ihre Erziehung, zu vollenden, aber sie haben nicht daran gedacht, ihr in ihrer Gesellschaft den Platz anzuweisen, auf den sie ein Recht zu haben glaubte. Sie wollen die Macht: nicht nur die Macht im Innern des Landes — die könnten sie leicht haben —, auch Macht Im internationalen Sinn des Wortes. Sie wollen, daß ihr Land, obwohl klein und unentwickelt, selbst eine Rolle in der Weltpolitik spielt und nicht nur ein Spielzeug der Großmächte ist.

Sie sind überzeugt, daß die Macht mit der Entwicklung der Schwerindustrie eng verbunden ist. Sie wissen, daß ihre Länder Rohstoffe und Entwicklungsmöglichkeiten besitzen, deshalb wollen sie in ihrem Land eine große Industrie haben, und sie wollen sie schnell haben.

Davon haben die Nationalisten seit langem geträumt. Aber wie konnte man das früher machen? Mehr oder weniger so, wie sich der Industrialisierungsprozeß in unseren Ländern vollzogen hatte. Erstens sparen, Pfennig auf Pfennig anhäufen. Mit diesem Kapital eine kleine Industrie, dann mit dem Gewinn eine mittlere Industrie und dann, zum Schluß, die Großindustrie. Wenn möglich auch eine kleinere oder größere Hilfe an ausländischem Kapital. Ich wiederhole: wie wir es alle gemacht haben.

Die kommunistische Regierungsform scheint ganz andere Möglichkeiten zu bieten. Besonders in bezug auf das Tempo. Zur Zeit des ersten Weltkrieges war Rußland im großen und ganzen ein noch unentwickeltes Land. Ältere Leute erinnern sich alle an die Zeit, als die russische Industrie nicht imstande war, der russischen Armee Gewehre in genügender Anzahl zu geben. Dann, plötzlich, während des zweiten Weltkrieges und nach dem zweiten Weltkrieg, erscheint Rußland als zweite Industriemacht der Welt. Und das in einem Zeitraum von wenig mehr als 40 Jahren. Tatsache ist, daß die eiserne Organisation des kommunistischen Staates, die strikte Planung, ein Mittel zu sein scheint, um auch ein unentwickeltes Land rasch und schnell zu industrialisieren. Daß das mit ungeheuren Leiden verbunden ist, ist Nebensache. Völker, die jahrhundertelang an äußerste Misere gewöhnt sind, werden gegen menschliche Leiden unempfindlich.

Im großen und ganzen sind dieseRadikal-Nationalisten nicht Kommunisten. Sie fühlen sich eher als eine regierende Klasse im Werden, und eine regierende Klasse im Werden ist eher kapitalistisch als kommunistisch gesinnt. Sollte es sich allerdings zeigen, daß Macht nur durch den Kommunismus zu erreichen ist, dann sind sie auch bereit, den Kommunismus anzunehmen. Sie haben diese Macht versprochen als sie an die Regierung kamen: wenn sie diese Macht nicht erreichen, wie können sie sich halten? Das ist meiner Meinung nach das wichtigste, was wir gut und klar verstehen müssen. Überall diskutiert man in unserer Welt, welche Politik in den Entwicklungsländern zu führen sei. Aber man träumt zu viel von einer Möglichkeit, zum alten Zustand zurückkehren zu können. Man kann nicht zurückgehen. Es gibt Entwicklungen, die unwiderruflich sind. Eg ist nutzlos darüber zu diskutieren, ob der arabische Nationalismus für uns angenehm ist oder nicht. Wir haben keine Wahl: Wir können diesen Nationalismus nicht überall in der Welt unterdrücken.

Mit Gewalt kann man natürlich jede Revolution unterdrücken: das haben wir vor kurzer Zeit in Ungarn gesehen. Aber dann muß man auch bereit sein, unbarmherzig zu sein. Man könnte sich als Kolonialmacht zweifellos in einem Land halten, wenn man den Entschluß faßt, Schädel-Pyramiden zu errichten, wie es seinerzeit Tamerlan gemacht hat. Ein Franzose sagte zu mir einmal über die Algerienfrage: Entweder schlagen wir fünfhunderttausend Köpfe ab, oder wir ziehen ab: eine dritte Alternative gibt es nicht. Ein paar hundert Köpfe genügen nicht: er hatte recht.

Haben wir den Mut, das zu tun? Kann unsere öffentliche Meinung im Innern das dulden? Die Antwort wäre nicht überall dieselbe.

Haben wir Kräfte genug, um die Revolution überall zu unterdrücken? Die Franzosen haben eine halbe Million Soldaten in Algerien: und das genügt kaum: können sie aber so viel Soldaten in ein anderes Land schicken? Können das die Briten tun: die Belgier, die Deutschen, die Italiener?

Ein Kolonialkrieg im heutigen Maßstab kostet viel Geld und wird auch lange dauern. Ich glaube nicht, daß auch im Falle eines Wieder-eroberungskrieges, wie es die Suez-Operation sein konnte, die Russen wirklich beabsichtigten, direkt zu intervenieren: aber sie können indirekt intervenieren. Die „Freiwilligen" sind eine sehr elastische Erfindung, die man überall angenommen hat; das macht die Lage nicht einfacher.

Haben wir das nötige Geld? Sind wir bereit, die nötigen finanziellen Anstrengungen zu machen? Können wir dieses Geld nicht besser benutzen? Ich habe bis jetzt nicht von Deutschen oder Engländern gesprochen, sondern nur von uns: Europäern und Westlern, und das absichtlich. Was in den unentwickelten Ländern vorgeht, trifft uns alle, ohne Unterschied.

Es ist nicht Frankreich, oder England, das eine Kolonie verliert, wir alle verlieren sie. Wenn alle diese Länder hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden, ist es eine Katastrophe für uns alle ohne Ausnahme. Das sage ich besonders den Deutschen und den Italienern: einige von uns glauben, daß wir dort beliebt sind. Das stimmt nicht, denn wir sind alle Leute der weißen Rasse, alle gleich beliebt oder gehaßt: nur die Russen sind noch eine Ausnahme.

Machtpolitik ist unrealistisch

Ich persönlich halte eine Machtpolitik für höchst unrealistisch. Aber sollte man zu dem Entschluß kommen, daß für unsere Rettung die Gewalt nötig ist, dann sollten auch wir Deutschen und Italiener unsere Kräfte und unsere Mittel einsetzen: die Aufgabe ist zu groß und zu wichtig, um vom Zaune aus zuschauen zu können.

Das alles muß man gut verstehen: ehe man von Macht spricht, muß man sehen, ob diese Macht und alles, was mit Machtausübung verbunden ist, vorhanden ist oder nicht. Eine Politik, um Erfolg zu haben, muß klar sehen welche Ziele sie erreichen kann: keine Träume, keine Illusionen, keine Abschweifungen. Was kann nun das Ziel unserer Politik sein? Nur vermeiden, daß diese Länder kommunistisch werden.

Wir haben ein glänzendes Beispiel vor Augen: die Türkei. Mustapha Kemal, der im Jahre 1920 als Leiter eines intellektuellen Proletariats von Offizieren an die Spitze der türkischen Regierung gelangte, hat alles gegen uns getan, was der heutige Nationalismus in anderen Ländern macht, und auch er wurde mächtig von Sowjetrußland unterstützt. Dann haben die Errungenschaften und die Enttäuschungen des Nationalismus, die Fehler Rußlands und die Zeit viel geregelt, und heute sind die Türken die einzigen wirklichen Freunde, mit denen wir im Osten rechnen können. Was in der Türkei vorgekommen ist, kann auch in anderen Ländern mit der Zeit passieren, wenn es uns gelingt, diese Länder diesseits des Eisernen Vorhangs zu halten. Das muß unser Ziel sein.

Wir wollen noch zu viel. Wir wollen, daß diese Regierungen unsere Freunde seien: daß sie in den Vereinten Nationen für uns ihre Stimme abgeben, daß sie mit uns Bündnisverträge schließen und uns militärische Stützpunkte gewähren, daß sie zu allem, was wir tun und sagen, bravo schreien. Das können wir jetzt, und auf lange Zeit, nicht haben.

Wir erwarten wahrscheinlich, daß diese Regierungen von besseren Regierungen — besseren in unserem Sinne — abgelöst werden können. Manches, was wir tun, oder nicht tun, kann nur so verstanden werden, daß wir damit hoffen und rechnen, den heutigen Regierungen Schwierigkeiten zu machen und den Weg für eine andere Regierung vorzubereiten. Illusion: diese uns unangenehmen Regierungen können wahrscheinlich nur durch schlimmere Regierungen ersetzt werden.

Wir können nur auf eine Konsolidierung der jetzigen noch nicht kommunistischen Regierungen hoffen, wie schlecht sie auch für uns sein mögen, und nichts weiter: und das ist auch nicht leicht. Was kann man dafür tun?

Vor allem die sozial-ökonomischen Probleme. Die Anziehungskraft des Kommunismus ist, wie gesagt, die durch seine eiserne Organisation gegebene Möglichkeit, die Massen zu Arbeitsleistungen und Konsumeinschränkungen zu zwingen, die unter einem mehr oder weniger freien Regime unmöglich sind. Diese eiserne Organisation gibt Investitionsmöglichkeiten in einem Tempo und Maß, das ohne die kommunistische Disziplin nicht durchzuführen ist. Wenn wir wollen, daß diese Länder nicht zum Kommunismus übergehen, dann müssen wir einen auch verhältnismäßig hohen Preis dafür zahlen: mit unserer finanziellen Hilfe das Investitionstempo der Demokratie dem kommunistischen Tempo näher rücken.

Das kann nicht die Privatinitiative machen. Daran besteht kein Zweifel. Das Privatkapital ist kein Wohltätigkeitsinstitut. Das Privatkapital wird dort investiert, wo genügend Aussicht auf Gewinn besteht. Darum kann es nur unter günstigen politischen Verhältnissen ökonomische Initiativen unterstützen. Das alles an sich schränkt mächtig seine Möglichkeiten in diesen Ländern ein. Diesen Ländern zu sagen, sie müßten bei sich zu Haus die LImstände schaffen, um das Privatkapital anzuziehen, heißt etwas von ihnen zu verlangen, was sie nicht geben können.

Was man für alle diese Länder, oder wenigstens für einige von ihnen braucht, ist das, was der Marshall-Plan für Europa gewesen ist, im gleichen Stil und im gleichen Maß. Hätten die Amerikaner im Jahre 1947 ihre ökonomische Hilfe für den Wiederaufbau Europas auf die Möglichkeiten des Privatkapitals beschränkt, so wären wir noch in Gott weiß welchem Zustand. Die politische und auch ökonomische Bedeutung des Marshall-Plans war, daß es sich um ein . kolossales Geschenk handelte, im gewissen Sinn unökonomisch. Die Ähnlichkeit zwischen der Lage Europas damals, im Jahre 1947, und den Entwicklungs-Ländern jetzt ist größer als man denkt. Eine kommunistische Regierung hätte es verhältnismäßig leicht gehabt, die nötigen Investitionskapitalien aus unseren Ländern für den Wiederaufbau herbeizustellen, wie es in Rußland und in den Ländern Osteuropas gemacht wurde. Die demokratischen Regierungen konnten nicht das nötige Opfer von der Bevölkerung verlangen: und die Kommunisten in unseren Ländern sorgten dafür, daß die Regierungen nicht imstande waren, die nötige Austerity einzuführen: sie wollten die Stabilisation nicht. Die Amerikaner haben das bezahlt, was eine demokratische Regierung nicht bereitstellen konnte. Das hat die amerikanischen Steuerzahler ziemlich viel gekostet, aber damit haben sie Europa vom Kommunismus gerettet, für uns, aber auch für sich selbst.

Dasselbe gilt für die Entwicklungsländer. Etwas ähnliches müssen wir in diesen Ländern unternehmen. Anders geht es nicht. Wenn wir nicht genug und nicht schnell genug geben, ist es mehr oder weniger dasselbe als ob wir nichts gäben.

Da die ökonomische Beteiligung des Westens politische Zwecke verfolgt, muß sie auch politisch behandelt werden. Es ist Sache der Regierungen; das Privatkapital kann dabei mitwirken, kann wahrscheinlich viel tun, aber nur wenn und wo diese politische Intervention die nötige Stabilität für seine Durchsetzung geschaffen hat.

Unterstützung ohne politische oder ökonomische Bedingungen

Diese politische Hilfe darf an keine militärpolitischen Bedingungen geknüpft sein. Wenn wir sagen — wie Wir schon allzuoft gesagt haben — sie könnten von uns Hilfe bekommen, wenn sie mit uns eine militärische Allianz eingehen und wenn sie uns auf ihrem Territorium militärische Stützpunkte errichten lassen, so hilft das nicht. Alle diese Länder sind Anhänger der positiven Neutralität. Worin sich eine positive Neutralität von einer einfachen Neutralität unterscheidet, das habe ich bis jetzt noch nicht verstanden. Tatsache ist jedoch, daß diese Länder unsere Politik nicht verstehen und nicht bejahen, kein Vertrauen in unsere Politik haben und sich politisch nicht an uns binden wollen. Sie haben die Illusion, daß es möglich ist, sich mit dem Osten ökonomisch zu verbinden, ohne politisch vom Osten abhängig zu werden. Wir können hoffen, daß die Russen ihnen zeigen werden, daß diese Konzeption der Neutralität eine Illusion ist. Was in letzter Zeit im Irak, in Ägypten und Tibet vorgekommen ist, kann wahrscheinlich eine erste Warnung für alle diese Länder bedeuten. Aber wenn wir aus den politischen Fehlern unserer Gegner einen Nutzen ziehen wollen, müssen wir die Nerven haben, diese politisch-ökonomische Hilfe bedingungslos anzubieten. Wir sind die ehemaligen Ausbeuter — ob wir wirklich Ausbeuter gewesen sind, will ich hier nicht diskutieren, in der Geschichte und in der Politik sind Mythen wichtiger als die Wahrheit — politisch wichtig ist, daß diese Leute überzeugt sind, daß wir Ausbeuter gewesen sind. Um diese negativen Konsequenzen der Überlieferung zu überwinden, müssen wir bezahlen. Und auch auf keine Dankbarkeit von ihrer Seite rechnen. Sind wir den Amerikanern für den Marshall-Plan dankbar? Graf Sforza sagte einmal im Jahre 1948 zu dem amerikanischen Präsidenten: Es wird für Sie, Amerikaner, beinahe unmöglich sein, daß wir Europäer Ihnen verzeihen, uns vom Hungertod gerettet zu haben. Und er hatte recht: warum sollten diese Völker besser sein als wir selber?

Wir dürfen auch weder politische noch ökonomische Bedingungen an unsere Hilfe knüpfen. — Wir sind davon überzeugt, daß die parlamentarische Demokratie, wie sie mehr oder weniger bei uns besteht, die vollkommenste Regierungsform der Menschheit ist. Aber das ist nicht die Ansicht aller. Unsere Gesellschaft ist, so wie sie heute wenigstens theoretisch auf der freien Initiative basiert ist, mit ihren erweiterten Klassengliederungen, mit all ihren sozialen Schattierungen, nur zum Teil das Produkt des demokratischen Regimes. Im großen Maßstab war es im Gegenteil diese soziale Gliederung, die das demokratische Regime ermöglichte. Das gilt meiner Meinung nach im gewissen Sinne auch für die liberale Marktwirtschaft, die ein Grundsatz unserer gesamten politischen und ökonomischen Anschauung zu sein scheint. Europa hat jahrhundertelang in einem unliberalen ökonomischen Regime gelebt und auch geblüht: Monopole, Staatsinterventionen, Einschränkungen, Dirigismus, Etatismus, um neue Bezeichnungen zu gebrauchen, waren noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts fast überall in Europa stark verbreitet. Die liberale Revolution, die, wie gesagt nicht nur eine politische sondern auch eine wirtschaftliche Revolution gewesen ist, hat diesen ganzen Etatismus, wenn nicht völlig zerstört, so doch wesentlich begrenzt. Aber diese liberale Revolution war von einer Unternehmerklasse gefordert, die da war und die durch den Etatismus keine ausreichende Entwicklungsmöglichkeiten hatte. Es ist die Klasse, die das „laisser faire“ politisch gefordert hat und es auch zu benützen wußte.'

In allen Entwicklungsländern nun gibt es keine solche Unternehmer-klasse, wie sie in den wichtigsten europäischen Ländern zur Zeit der liberalen Revolution existierte. Synthetisch kann man diese Unternehmer-klasse nicht herstellen. Diese Länder stehen vor einer Wahl: entweder Geduld haben und warten bis sich diese Unternehmerklasse von selbst entwickelt, oder diese Unternehmerklasse durch die staatliche Initiative ersetzen. Wie gesagt, politisch kann man jetzt nicht länger warten. Das ist zugleich charakteristisch für unsere Epoche: Was die Leute wünschen, wollen sie schon heute, keiner will mehr nur für das Glück seiner Enkel arbeiten. Darum gibt es keine Alternative. Diesen Ländern zu predigen, sie müßten sich für die Marktwirtschaft und die freie Initiative entscheiden, gegen die Intervention des Staates in der Ökonomie, daß es viel besser für sie wäre, eine Schuhfabrik anstatt eine große Stahlindustrie zu errichten, das kann sehr vernünftig klingen, aber das wird von ihnen nicht angenommen.

Für uns ist die Marktwirtschaft mit der Periode unserer Entwicklung eng verbunden. Für diese Leute ist hingegen die freie Marktwirtschaft mit der kolonialen Ausbeutung eng verbunden. Es mag auch nicht wahr sein, darüber will ich nicht streiten, aber, wie gesagt, politisch sind Mythen und Einbildungen wichtiger als die Wahrheit. Alle diese Länder wollen und können sich nur in halb-etatistischen Formen entwickeln. Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen das annehmen. Wenn wir versuchen, sie anderweitig zu beeinflussen, spielen wir sie nur in die Hände der kommunistischen Propaganda. Es ist so leicht zu sagen, daß wir diese Theorie nur in unserem eigenen Interesse propagandieren. Wie gesagt, das wichtigste für uns ist, daß diese Länder ihre Träume entwickeln, wie sie wünschen, daß sie ihre Enttäuschungen in den Tatsachen und nicht in uns erblicken. Politik ist keine sentimentale Angelegenheit. Haben wir und unsere Regierungen in unserer Geschichte immer das Geld vernünftig benutzt? Warum wollen wir allen diesen Ländern die Freiheit versagen, auch Dummheiten zu machen? Wir müssen sie nehmen wie sie sind, wenn wir gewisse politische Erfolge erreichen wollen.

Die meisten dieser Länder sind Monokulturen. Das heißt, die Devisen, die sie für ihr Leben, für ihre Entwicklung brauchen, bekommen sie nur durch den Verkauf einiger Rohstoffe ihrer Produktion. Für die planierte Entwicklung einer Ökonomie ist es sehr wichtig zu wissen über wieviele Devisen man in Zukunft verfügen kann. Gewöhnlich kauft man eine große Stahlfabrik nicht mit Bargeld: Man bekommt Kredit auf mehrere Jahre. Wenn man ehrlich die Absicht hat, diesen Kredit zurückzuzahlen — und im allgemeinen, glaube ich, wollen alle diese Länder die ihnen gegebenen Kredite zurückzahlen — muß man wissen, mit wievielen Devisen man im Jahre „X“ rechnen kann. Hierin liegt ein großer Vorteil der kommunistischen Länder. Sie können sich — nehmen wir an — auf zehn Jahre verpflichten, eine gewisse Menge Rohstoff von diesen Ländern zu kaufen zu einem vorher bestimmten Preis. Das heißt, sie können diese Länder vor möglichen Preisschwankungen bewahren. Sie tun es nicht nur, sie bereiten sich darauf vor, auf lange Frist. Um hier nur einige Beispiele zu bringen: Rußland hatte ziemlich entwickelte Tee-Plantagen. Vor einigen Jahren beschloß es nurt, alle Tee-Plantagen, mit Ausnahme der Tee-Plantagen von Batum, zu zerstören zugunsten des chinesischen Tees. Schon seit Anfang der dreißiger Jahre hatten die Russen in Zeptralasien und der Ukraine große Plantagen von Tau-Saghiz entwickelt, einer zentralasiatischen Pflanze, aus deren Wurzel man Kautschuk gewinnen kann: ein bißchen teuer, aber immerhin Kautschuk. In den letzten Jahren haben die Küssen alle diese Plantagen vernichtet, um den Import von Kautschuk aus China, Indonesien und Malaia zu erleichtern. Das können wir nicht tun, und man kommt zu dem Paradox, daß wir Deutschen, Franzosen und Italiener zum Beispiel ägyptische Baumwolle in Ungarn und in der Tschechoslowakei kaufen, weil diese Länder uns die ägyptische Baum-wolle billiger abgeben als Ägypten. Ihre innere ökonomische Organisation ermöglicht es ihnen, solche Tricks zu -vollführen. Tatsache bleibt jedoch, daß wir selber ihnen damit die Mittel geben, eine anti-europäische Politik in diesen Ländern zu entwickeln. Man sagt mir, wir können das nicht tun, weil das gegen unsere Prinzipien und gegen unsere Organisation verstößt. Es ist wahrscheinlich wahr, wenn man die Dinge rein ökonomisch betrachtet, aber dann muß eine politische Lösung dieser ökonomischen Probleme gefunden werden. Für uns sind die Schwankungen der Rohstoffpreise etwas Linvermeidliches. Im Gegenteil, wir sind eher zufrieden, wenn die Preise dieser Rohstoffe kolonialer Erzeugung fallen: wir sind nicht ebenso erfreut, wenn die Rohstoffpreise unserer eigenen Produktion fallen. Aber für alle diese unentwickelten Länder ist die Lage ganz anders. Eine kleine Schwankung der Kaütschukpreise zum Beispiel kann für Millionen von Menschen Leben oder Tod bedeuten. Wenn die freie Ökonomie und die Marktwirtschaft Leben oder Tod bedeuten, dann können wir nicht erwarten, daß sie von den Menschen, die sterben könnten, so enthusiastisch angenommen wird.

Aus dieser scheinbar ökonomischen Auffassung entsteht ein politischer Widerspruch sehr ernster Natur. Wenn wir das nicht verstehen und wenn wir politisch oder wirtschaftlich — das ist ganz egal — nicht ein Mittel finden, um das zu überwinden, dann können wir nicht hoffen, daß unsere Politik in diesen Ländern einen wirklichen Erfolg haben kann.

Und hier erlauben Sie mir noch ein Problem zu erwähnen: die Beziehungen zwischen dem Gemeinsamen Markt und den unentwickelten Ländern: juristisch ist die Sache sehr verwickelt, und auch faktisch: viele wichtige Persönlichkeiten sind bestrebt, eine Lösung zu finden.

Es sei nur erwähnt, daß in den letzten drei Jahren diese Länder — in Afrika und Asien und Latein-Amerika eine große Verminderung ihrer Reserven feststellen mußten und ein Zusammenschrumpfen ihrer Ankaufsmöglichkeiten wegen des Preissturzes der Rohstoffe. Während derselben Periode hat sich die Zahlungsbilanz der europäischen Länder erheblich verbessert. Unsere Politik kann auch juristisch vollkommen gerechtfertigt sein, aber solche verschiedenen Tendenzen sind für unsere Politik in diesen Ländern nicht vorteilhaft: wir müssen daran denken, wenn wir unangenehme politische Überraschungen — nicht im Gemeinsamen Markt an sich — vermeiden wollen.

Das alles kostet viel Geld;, der soziale Frieden kostet überall viel. Seinerzeit hat die französische Aristokratie den sozialen Frieden nicht kaufen wollen: sie haben Köpfe und Güter verloren. Die englische Aristokratie hat sich ihren sozialen Frieden erkauft und hat Köpfe und Güter behalten.

Das schwere Erbe des Kolonialismus

Ökonomische Hilfe ist enorm wichtig; doch ist sie nicht ausreichend.

Das koloniale Regime hat ein schweres Erbe von Mißverständnissen, von Haß — sprechen wir das Wort aus — hinterlassen. Die berüchtigte Inschrift „verboten für Hunde und Chinesen“ ist keine Erfindung, sie hat existiert, und auch dort, wo sie nicht offen zu lesen war, existierte sie in der Praxis. Überall haben sich diese farbigen Völker bei sich zu Haus als minderwertige Subjekte gefühlt: das ist nicht angenehm. Wenn so etwas eineinhalb Jahrhunderte gedauert hat, hinterläßt das Spuren, die nicht so leicht zu verwischen sind. Dieser Haß gegen uns, gegen die weiße Rasse als Ganzes, ein gemischtes Gefühl von Minderwertigkeitskomplexen und Überheblichkeit, ist wahrscheinlich das .

Schwerste, das wir überwinden müssen. Am schwierigsten auch deswegen, weil sich das nicht klar fassen und definieren läßt: es ist da, aber was man zu seiner Überwindung machen kann, ist noch sehr ungreifbar.

Audi darin sind uns die Russen überlegen: Sie haben bei sich zu Haus, auch zur Zeit des zaristischen Regimes, kein Rassegefühl gehabt, und die unentwickelten Völker sehen daher die Russen nicht als Westler an.

Man hat in Europa viel von einer Annäherung oder Verständigung auf religiösem Gebiet gesprochen. Idi bin demgegenüber ziemlich skeptisch. Bei allen Völkern, die eine große, alte Zivilisation und eine hoch-entwickelte Religion besaßen, hat die Missionstätigkeit im Grunde genommen eher negativ als positiv gewirkt; besonders darum weil alle diese Länder einen Vergleich gemacht haben zwischen den ethischen Prinzipien, die unsere Religion verkündete, und der Art wie wir lebten und handelten: sie haben die christliche Religion nicht nach ihrer Doktrin sondern nach unserem persönlichen Benehmen beurteilt. Und das Urteil war im allgemeinen nicht positiv.

Und dann sind auch die religiösen Begriffe bei diesen Völkern in völliger Umwandlung. Nicht nur bei uns, auch in Asien gibt es eine religiöse Krise. Die Religion wurde in allen diesen Ländern als eine konservative Kraft angesehen und ist im gewissen Sinne als solche mit den konservativen Klassen in den Hintergrund gerückt. Wahrscheinlich wird es eine religiöse Wiedergeburt besonders beim Islam geben, aber sie wird etwas ganz anderes sein als der Islam, den wir kennen.

Diese Länder sind stolz auf ihre Geschichte, auf ihre vergangene Zivilisation. Unsere Geschichte ist ihnen fremd, so wie uns die ihrige fremd ist. Wir haben bis vor kurzem in einer geschichtlichen Anschauung gelebt, die von Griechenland über Rom durch das Mittelalter und die Renaissance zu unserer heutigen Zivilisation führt: Alles, was sich nicht in dieser geschichtlichen Axis befindet, scheint uns nebensächlich. Wenn wir die Psychologie der unentwickelten Länder wirklich verstehen wollen, müssen wir ihre ganze Geschichte nochmal lernen, im Sinne einer wirklichen Weltgeschichte; so wie wir auch die indische oder chinesische Ästhetik lernen und verstehen müssen, die ganz anders ist als unsere Ästhetik. Wir müssen mit Liebe, Freundschaft und ohne Überlegenheit diesen Völkern gegenübertreten. Die Leute, die in diesen Ländern am freundlichsten ausgenommen werden, sind unsere Orientalisten, die die Geschichte dieser Völker, ihre Philosophie, ihre Kunst studieren. Gleichheit heißt lernen und lehren. Wir haben in diesen Ländern zuviel lehren wollen; wir müssen jetzt auch etwas lernen.

Idi habe bis jetzt über die unentwickelten Länder im allgemeinen gesprochen: die Probleme der unentwickelten Länder sind jedoch nicht überall dieselben. Lateinamerika, mit seinen Problemen und mit seinen eigenen Charakteristiken, will ich heute beiseite lassen. Aber auch Afrika ist etwas ganz anderes als Asien, und ich glaube fest, daß wir dort, noch jetzt, größere Chancen haben als in Asien. Die afrikanischen Völker (ich meine die schwarze Rasse; Nordafrika, mit seinen arabischen und berberischen Völkern und der Islam, ist politisch ein asiatisches, kein afrikanisches Problem) hatten keine eigene Zivilisation: sie sind in einem Moment erwacht, als unser koloniales Bewußtsein schon in Umwandlung war. Sie sind jünger, frischer und uns . gegenüber nicht so absolut feindlich eingestellt wie die Asiaten.

Ich glaube zum Beispiel, daß der französische Versuch einer „Communaute Africaine" etwas ist, das man nicht nur ernst nehmen, sondern auch mit großer Sympathie betrachten soll.

Was haben eigentlich die Franzosen vor? Eine konzentrierte Erziehungsarbeit, um ihre afrikanischen Völker zur Selbstverwaltung rasch vorzubereiten. Und hier kommt ein Problem, das verdient, eingehender besprochen zu werden: das Problem der Bürokratie.

In allen unseren Ländern ist die Bürokratie ein Feind: man macht sie für die schlimmsten Übel unserer Gesellschaft verantwortlich. Aber die politischen Ereignisse in allen diesen Ländern haben gezeigt, daß ein Staat ohne Bürokratie nicht fortleben kann, und daß es nicht leicht ist, auch eine einigermaßen schlechte Bürokratie zu schaffen. Ein jeder kann Minister werden, wenn er eine verhältnismäßig geschulte Bürokratie unter sich hat: ohne Bürokratie kann auch der gescheiteste Minister sehr wenig tun. Der größte Fehler der früheren Kolonialmächte bestand darin, daß sie sich nicht genügend um die bürokratische Erziehung ihrer Untertanen bemüht haben.

Unter allen ehemaligen Kolonialländern ist Indien das Land, das sich besser als alle anderen erhalten zu können scheint. Indien besitzt ohne Zweifel Politiker von großem Format: Nehru an erster Stelle. Aber es geht in Indien darum verhältnismäßig besser, weil die Engländer eine gute Bürokratie hinterlassen haben. Indien hatte zur Zeit der Briten eine Bevölkerung von ungefähr 400 Millionen. Um diese 400 Millionen Inder zu verwalten, hatten die Engländer — die Armee nicht eingerechnet. — nicht mehr als 6000 Verwaltungsangestellte. Das heißt, Engländer nur an den wichtigsten Hauptposten und eine begrenzte Anzahl von jungen Leuten, um den Nachwuchs zu sichern. So daß, als der englischr Ministerialdirektor fortging, sein indischer Stellvertreter bereits da war, um seinen Platz zu übernehmen. Wenn in einem Regiment der Oberstleutnant da ist, um den Platz des Obersten zu besetzen, liegen die Dinge nicht schwer; aber wenn man nur einen Leutnant zur Verfügung hat, um das Regiment zu kommandieren, dann ist das nicht so leicht.

Um hier einen Vergleich mit anderen Gebieten zu machen, will ich nur sagen, daß Frankreich in Indochina, mit einer Bevölkerung von 40 Millionen, fast 30 000 französische Verwaltungsangestellte hatte. In Tunesien, mit einer Bevölkerung von weniger als 6 Millionen, gab es 17 000 französische Angestellte. Das macht den ganzen Unterschied. Wir tun viel, besonders hier in Deutschland, um zu einer technischen Entwicklung dieser Länder beizutragen. Vergessen wir nicht die Bürokratie.

Die Schwarzen lassen sich in diesem Sinn viel leichter erziehen, als man glaubt. Wie Sie wissen, haben wir Italiener uns verpflichtet, bis zum Jahre 1960 unsere alte Kolonie Somaliland für die Selbständigkeit vorzubereiten. Da wir diese Verpflichtung völlig ernst genommen haben, haben wir uns auch ernsthaft mit dieser Erziehungsarbeit beschäftigt. Lind die Resultate sind vortrefflich. In acht Jahren haben wir aus der somalischen Bevölkerung Verwaltungskader gebildet, die sich als besonders fähig erwiesen haben; daher, was die Verwaltung betrifft, sind wir überzeugt, daß im nächsten Jahr die Somalis ihr Land ganz gut in die Hand nehmen können.

Aber die französische Idee dieser „Communaute“ bedeutet auch, daß das Mutterland in diesen Ländern enorm investieren muß — der Staat wie die Privatleute — um die einheimische Bevölkerung auf ein Niveau zu bringen, das sich von dem westlichen Niveau nicht allzu sehr distanziert. Durch diese forcierte Investition und Erziehung sollten die verschiedenen afrikanischen Einheiten schnell zu vollberechtigten Mitgliedern der französischen „Communaute“ werden, und als solche in einer evolutionsfähigen Gemeinschaft mit dem Mutterland weiterleben.

Was Algerien betrifft, ist die Lage dort viel schwieriger, weil die Anwesenheit von eineinhalb Millionen Europäern die Lage mächtig kompliziert. Es-ist nicht meine Absicht, hier darüber zu diskutieren, was die Franzosen hätten machen sollen und was sie noch machen können. Aber auch hier ist ein kolossaler Investitionsplan der Stützpunkt der französischen Politik und Hoffnungen, der die algerische Bevölkerung in verhältnismäßig kurzer Zeit auf das Niveau des Mutterlandes erheben sollte. Was Schwarz-Afrika betrifft, glaube ich, daß der französische Plan gelingen kann: Etwas ähnliches könnte man sich auch für Englisch-Schwarz-Afrika und Belgisch-Schwarz-Afrika denken, wenn man schnell, vernünftig und resolut vorgeht. Es ist eine Frage, die sich auch für uns — Deutsche und Italiener — stellen kann: Alle diese Erziehungs-und Entwicklungspläne können, wie gesagt, nur gelingen, wenn man schnell vorgeht. Ich bin nicht sicher, ob Frankreich allein zum Beispiel die nötigen Mittel für die Entwicklung seiner “ Communaute“ in kurzer Zeit aufbringen kann: Deutschland und Italien könnten in ihrem eigenen Interesse mithelfen. Übrigens ist das im Vertrag des Gemeinsamen Marktes schon klipp und klar vorgesehen. • Ich fürchte nur, daß man damals und auch jetzt die Bedeutung dieses Teils des Vertrages bei uns nicht völlig verstanden hat. Ich möchte hier nebenbei erwähnen, daß man an alle diese Probleme der unentwickelten Welt viel besser in einem integrierten Europa herangehen könnte als auf einzelstaatlicher Basis.

Eine gesunde Wirtschaftsentwicklung im demokratischen Rahmen

Es wäre natürlich wünschenswert, überall zu vermeiden, daß unentwickelte Länder hinter dem Eisernen Vorhang verschwinden; aber vielleicht wäre es besser, unsere Mittel darauf zu konzentrieren, wo es am leichtesten ist, wo man mit einem Erfolg rechnen kann. Auch in der militärischen Strategie gilt es als Fehler, seine Kräfte zu verstreuen. Es wäre wahrscheinlich besser; einige Länder als Vorbild und Experiment auszuwählen, so wie zum Beispiel Rotchina als kommunistisches Vorbild und Experiment gelten kann. Man muß doch beweisen, daß eine nationalökonomische Entwicklung auch im Rahmen der Demokratie und des Westens möglich ist. Für diesen Zweck kann Lateinamerika größeren Erfolg versprechen als Afrika, Afrika als Asien.

Lind auch Asien ist nicht überall gleich. Indien zum Beispiel könnte man wahrscheinlich leichter retten als irgend ein anderes Land.

Das Mißtrauen gegen uns in allen diesen Ländern ist enorm. Dieses • jahrhundertelange Mißtrauen müssen wir, wie gesagt, überwinden: haben wir alles getan, um es zu überwinden? Im Gegenteil. Die Suez-Expedition an sich war in dieser Hinsicht eine Katastrophe.

Entweder sollte man rücksichtslos vorgehen, um — sprechen wir es aus — Ägypten wiederzuerobern, oder überhaupt nicht vorgehen. Ich will hier nicht darüber diskutieren wessen Schuld es gewesen ist. Für die allgemeine westliche Politik konnte es nicht schlimmer sein. Es hat gezeigt, daß wir mit Wiedereroberungsträumen spielen, aber daß wir nicht unsere Kräfte bis zum äußersten einsetzen können, und daß die Drohungen der Russen uns zum Halten zwingen können.

Aber es gibt eine Menge Kleinigkeiten, die noch schlimmer sind. Was für Dummheiten haben wir nicht alle gemacht mit den Waffenlieferungen. Wir haben nur vergessen, daß wir nicht mehr die einzigen sind, die Waffen verkaufen oder verschenken können. Aber wir haben noch schlimmere Dinge gemacht. Ein Land — ich will hier nicht sagen welches Land — hatte um eine ziemlich große Menge Penicillin angefragt: Wir haben es verweigert. Dieses Land wandte sich an die Russen und hat es von. ihnen bekommen. No Comment.

Linser Prestige haben wir verloren: kann man etwas tun, um es zurückzugewinnen? Herr Chruschtschow hat uns wiederholt gesagt, daß er für den Endsieg des Kommunismus nicht den Krieg braucht: friedlicher Wettbewerb würde-genügen. Die Prestigefrage in diesen Ländern ist auch ein Teil dieses Wettbewerbs.

Das Prestige Deutschlands, ist in allen diesen Ländern zweifellos groß, besonders weil diese Länder den Wiederaufbau Deutschlands als Wirtschaftswunder ansehen. Dieses Wirtschaftswunder hat den Leuten gezeigt, daß es noch Lebensfähigkeit und Lebenswillen in unserem Westen gibt. Aber wir müssen unser Tempo beibehalten. Man schreibt zuviel über den Unterschied im Tempo der Entwicklung in den kommunistischen Ländern und den kapitalistischen Ländern. Das ist gefährlich: alle diese Länder betrachten diesen Wettbewerb mit nicht besonders freundlichen Blicken in unserer Richtung. Der Sputnik hat seine Wirkung nicht nur in Amerika gehabt.

Lind unsere Ethik. Der Kommunismus stellt sich in allen diesen Ländern als die beste Gesellschaftsform vor, die die Verteilung der Erdengüter am gerechtesten unter den verschiedenen Schichten sichert. Wir propagieren diesen Leuten unsere Gesellschaftsordnung nicht in ausreichendem Maße. Wir dürfen nicht vergessen, daß jeden Tag, zu jeder Stunde, unsere Gesellschaft diesen Völkern von den Kommunisten in verzerrtester Form geschildert wird. Die schlimmsten Vorstellungen der marxistischen Zeiten sind nur die üblichsten der kommunistischen Propaganda. Wir sind wie eine alte Firma: wir glauben, daß unsere Produktion so gut ist, daß sie keine Reklame braucht. Und dann sehen wir plötzlich, daß die Kunden die Produkte einer jüngeren Firma vorziehen, die ihre Reklame besser organisiert hat. Wir müssen besser klar machen, wie die Dinge bei uns liegen: und auch die Unzulänglichkeiten unserer Gesellschaft nach Möglichkeit verbessern.

In diesem Sinne sind die negativsten Elemente für uns manchmal die Studenten, die aus diesen Ländern zu uns kommen. Sie kommen zu uns, in eine ganz fremde Welt, sie haben sehr wenig Geld; unsere Ideen, unsere Gesellschaftsformen sind ihnen völlig fremd. Sie werden offiziell gut ausgenommen, aber sie nehmen an unserem Leben nicht wirklich teil, sie bleiben abgesondert, allein. Wenn sie mit jemandem unserer Gesellschaft verkehren, so sind es nur die unzufriedensten Elemente, und sie kommen nach Hause, mit einer ganz verstellten Vorstellung unserer Gesellschaftsordnung, die mit derjenigen übereinstimmt, die die Kommunisten von uns machen. Wir müssen uns für diese Leute mehr menschlich interessieren, sonst züchten wir nur abertausende von Feinden.

Die Werte unserer Kultur muß man auch immer wieder prüfen. Meiner Meinung nach betonen wir zu viel das materielle Element unserer Kultur. Das ist nicht gut und nicht genug. Sie wissen ja schon, daß wir ihnen technisch und materiell überlegen sind, und sie sind sicher, sie können uns einholen. Ein deutscher Journalist, der vor kurzem in Rußland war, hat die Aufmerksamkeit seiner Leser auf den Unterschied gelenkt zwischen den Büchern, die man in einem westlichen Bahnhofskiosk findet, und denen in einem russischen. Bei uns: Filmstars, Sport, pornographische Literatur, Kriminalromane. Bei den Russen: Klassiker und Technik. Was der deutsche Journalist bemerkt hat, bemerken hundertmal mehr die unentwickelten Völker; sie haben es schon seit langem bemerkt. Darin liegt eine große Gefahr für unsere Zivilisation und für den Wettbewerb. Man könnte viel darüber spre-'

chen: ein jedes dieser Probleme sollte man gründlich studieren.

Ich wollte hier besonders den ökonomisch-politischen Aspekt der Probleme der unentwickelten Länder in helles Licht rücken. Es ist wesentlich: wenn wir diese Probleme nicht lösen können, dann ist alles andere umsonst. Aber auch hier lebt der Mensch nicht vom Brot allein: andere Aspekte dieser wichtig»en Frage habe ich nur erwähnt.

Dieses Problem der unentwickelten Länder ist ein kolossales Problem: es handelt sich um Leben oder Tod für uns. Die entscheidende Schlacht des kalten Krieges wird in diesen Ländern ausgefochten, und es wird keine Schlacht im klassischen Sinne sein. Waffen sind wichtig: eine gute defensive Linie in Europa ist wichtig; aber das ist nicht genug. Die Bedeutung nicht rein militärischer Waffen haben wir noch nicht genug verstanden; das kann uns sehr teuer zu stehen kommen. Die ganze Tragik dieses Problems ist uns noch nicht aufgegangen. Man muß das alles studieren, ernsthaft und tief, ohne Vorurteile, ohne Illusionen. Ein Problem kann man nur lösen, wenn man es wirklich gut kennt.

Es ist ein Problem, wobei Deutsche und Italiener eine bedeutende Rolle spielen können. Wir haben unsere Kolonien seit langem verloren. Darum haben wir bei dieser Frage keine direkten nationalen Interessen mehr, die es erschweren können, die Wahrheit zu erkennen.

Wir haben als nationale Staaten nichts mehr zu verlieren. Darum haben wir eine größere Denkfreiheit.

Ich habe Denkfreiheit gesagt, und nicht Bewegungsfreiheit, weil wir durch die gegenwärtige allgemeine politische Lage stark gehemmt sind. Wir sind Mitglieder der Atlantischen Allianz, wir sind Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft, zwei wichtigen Elementen unserer Außenpolitik, den Pfeilern unserer Außenpolitik.

Die Probleme der Entwicklungsländer stellen eine ernste Spaltungsmöglichkeit der Atlantischen Allianz und der Europäischen Gemeinschaft dar. Wenn wir von der Notwendigkeit einer kühnen Politik den Entwicklungsländern gegenüber sprechen, kann das gegen die Interessen der Engländer, Franzosen, Belgier oder Holländer gehen. Möglicherweise falsche Interessen: ich bin persönlich überzeugt, daß alle Bestrebungen, die Kolonialordnung so zu bewahren, wie sie bis gestern existierte, Wahnsinn ist und nur zu Katastrophen führen kann. Aber viele Belgier, viele Franzosen denken darüber anders. Auch Irrtümer sind politische Tatsachen, mit denen man rechnen muß. Besonders für uns Deutsche und Italiener: haben wir doch einen Krieg geführt, um die Kolonialgebiete der anderen in unsere Hände zu bringen. Man kann leicht sagen, daß eine Politik der Unterstützung des Nationalismus in den unentwickelten Ländern lediglich die alte Politik Hitlers und Mussolinis in anderer Form sei. Lind das hat man gesagt. Darum müssen wir sehr vorsichtig vorgehen, wir müssen überzeugen, nichts erzwingen, nicht von sich selbst aus heucheln. Es genügt nicht, recht zu haben, wenn die anderen, mit denen wir leben und kämpfen müssen, anderer Meinung sind. Wir können nicht eigenmächtig handeln, ohne einen Verdacht zu erwecken, der für die atlantische und die europäische Politik sehr verderblich sein kann. Wir müssen überlegen, gründlich überlegen, so daß das, was wir sagen, auf der Realität gut gegründet sei. Eine große und heikle Aufgabe. Aber es ist auch unsere Pflicht, das im allgemeinen Interesse zu tun.

Lind ich bin überzeugt, daß eine intimere Zusammenarbeit Deutschlands und Italiens auf diesem Gebiet für uns beide, und für uns alle, sehr nützlich sein könnte. Ich spreche hier nicht von einer Mitarbeit rein ökonomischen Charakters. Was ich hier meine, ist ein Zusammenwirken zwischen Deutschland und Italien auf einer höheren Ebene. Wir sind, wie gesagt, im gewissen Sinn, vorurteilslos in dieser Frage. Studieren wir sie gemeinsam, gründlicher und besser, überlegen wir gemeinsam, was man machen kann, wie wir am besten unsere Freunde überzeugen können. Vier Augen sehen besser als zwei.

Fussnoten

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