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Freiherr vom Stein: Ordnung und Freiheit | APuZ 44/1957 | bpb.de

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APuZ 44/1957 Joseph von Eichendorff. Der Dichter und die Wirklichkeit der Geschichte Politik als moralisches Problem Freiherr vom Stein: Ordnung und Freiheit

Freiherr vom Stein: Ordnung und Freiheit

FRITZ WAGNER

„Die Welt scheidet sich ab in solche, die gezwungen oder freiwillig für Bonapartes Ehrsucht oder dagegen stehen. Auf das Gebiet der Länder scheint es hierbei weniger anzukotntnen als auf das der Grundsätze/ Von diesem Boden aus gelang Stein eine Leistung, die für den Erfolg des Befreiungskampfes von größter Tragweite war. An sich mußte für den Zaren von der Staatsraison und dem russischen Nationalinteresse her das Stehenbleiben an der ostpreußischen Grenze nebst territorialem Gewinn in Polen und Deutschland höchst anziehend sein. Stein aber erfüllte ihn mit der Gesinnung einer gesamteuropäischen und einer prinzipiellen Entscheidung, die bis zum Ende durchzukämpfen war und den Reichsfreiherrn mit seiner Überzeugungskraft der Wirklichkeit näher erweist als alle sogenannte Realpolitik. Es ist von dem Grundsätzlichen, um das es ihm ging, wie von Steins Wesensart überhaupt schlechterdings nicht abzutrennen, daß er auch in den weiteren Plänen, die er dann für die deutsche Zukunft entwarf — einer Einheit, auf den Quadern der Vergangenheit aufzubauen — sie nie isoliert, vom Boden etwa des Volks-oder Staatsegoismus sah, sondern immer im europäischen Rahmen und dem einer sittigenden Gemeinschaft, standfest gegen neue Überflutungen. Man wird sagen können, daß wie bei der Städteordnung so auch hier die Ergebnisse eines Erziehungsprozesses vorweggenommen wurden, im äußeren Bereich einer Erziehung zur Solidarhaft freiheitsliebender Völker, die sehr viel später und sehr schmerzlich noch einmal nachexerziert werden mußte. Mehr noch als in den Ansätzen staatlich-gesellschaftlicher Reform tritt damit das Fordernde statt des Verwirklichten ins Blickfeld. Aber die ethisch-pädagogische Grundgesinnung ist die gleiche, innen und außen: Deutschland eine Provinz im Reiche des Sittlichen und eben darum Glied in einer Gemeinschaft, die das Unrechte abwehrt, weil und insofern es nicht nur eine Nation, sonder das Menschliche überhaupt bedroht.

Vortrag vor der Wittheit zu Bremen, gehalten am 25. Oktober 1957 zum 200. Geburtstag des Freiherrn vom Stein.

Für manche von Ihnen mögen die letzten großen Steinfeiern heute wieder aus der Erinnerung auftauchen; sie galten im Jahr 1931 dem hundertsten Todestag des Freiherrn, und sie wurden durch biographische Werke unterstützt, die in souveräner Beherrschung des wissenschaftlichen Materials das Steinbild prägten. Gerhard Ritters zweibändige Biographie, von klassischem Rang, soll in Kürze in umgearbeiteter, konzentrierter Form auf dem Büchermarkt erscheinen. Wir erinnern uns aber auch dankbar des schmaleren Bandes, den ein anderer heute führender deutscher Historiker, Franz Schnabel, damals veröffentlichte und der deutschen Jugend widmete. Das schönste wissenschaftliche Echo, das die Hundertjahrfeier des Todestages fand, war freilich die siebenbändige, von Erich Botzenhardt besorgte Ausgabe des Briefwechsels, der Denkschriften und Aufzeichnungen — die Voraussetzung dafür, daß sich in-und ausländische Forschung seitdem in zahlreichen Untersuchungen mit Person und Werk des großen Toten beschäftigt hat.

Die Feiern von 25 Jahren sind des Nachdenkens wert. Den Grundton bildete der Aufruf zu nationaler Selbstbesinnung in einer Zeit innerpolitischer Zerrissenheit und steigender wirtschaftlicher und sozialer Nöte. Beschwörende Mahnung, zu Kerngedanken der preußischen Reform für das Gesamtvolk zurückzufinden! Die Person zu retten vor dem hundertfältigen Zugriff der Bürokratie, staatliche Allmacht aufzugliedern in ein vielfältiges Zusammenspiel von Selbstverwaltung, dem einzelnen Staatsbürger Ziele zu stecken im bewußten, von ihm verantworteten Dienst an der Allgemeinheit! Die Zeit war dazu angetan, Rettung durch eine sittliche Erneuerung von Gesellschaft und Staat, Politik und Wirtschaft, Erziehung und Bildung im Spiegel eines großen Charakters zu empfehlen. Es beriefen sich aber auf ihn sehr unterschiedliche Kräfte im damaligen politischen Leben Deutschlands. War er wirklich einer der führenden konservativen Geister unserer Geschichte, selbst zutiefst in der Herkunft verwurzelt und auf sie bauend, oder durfte man vielmehr sein revolutionäres Aufbegehren gegen feudalen Partikularismus in Anspruch nehmen und in ihm einen Bahnbrecher zu bürgerlichem Liberalismus sehen? War er der Konstitutionelle, der Vater des Parlamentarismus, auf dem Wege zur modernen republikanischen Staatsform, der Vorkämpfer individueller Freiheiten, der Föderalist, oder fand man ihn auf der Seite des starken und einheitlichen, militärisch schlagkräftigen Staates? Offenbar war sein Gedankengut so sehr in die Strömungen des 19. Jahrhunderts eingegangen, so sehr in den bizarren Gang des deutschen Schicksals eingeschmolzen worden, daß man ihn nun im Gewühl der Parteimeinungen von rechts und von links zitierte, bald als Revolutionär, bald als Reformator, als Pionier einer organischen Entwicklung feierte.

Ein Vierteljahrhundert später haben sich die Fragestellungen in einer Weise verschärft, die sich damals niemand träumen ließ. Der Wandel einer so kurzen Zeitspanne ist so ungeheuerlich, daß der Zweifel wohl aufkommen mag, ob wir heutzutage nicht einer künstlichen Schatten-beschwörung verfallen. Viele der 1931 noch klangfesten ethischen Parolen sind verbraucht, und begeben wir uns von heute aus in die Lebenszeit des Freiherrn selbst, so stoßen wir Schritt um Schritt auf uns meilenweit entrückte Welten von Vorstellung, Begriff, Gefühl, Glaube. Selbst eine von ihm so hochgehaltene und von den Nachfahren vielgerühmte Zielsetzung wie die Selbstverwaltung scheint heute imstande, sich in das, was er wie kein anderer haßte, in bürokratische Allgewalt, zu verwandeln. Lind wie sehr hat sich beispielsweise der ideale, nicht nur der empirische Gehalt der nationalen Souveränität seit der Weimarer Zeit, geschweige denn seit dem Europa von 1815 verändert! Kaum ein Staat des europäischen Festlandes besitzt noch die althergebrachte Selbständigkeit, in übernationalen Zusammenschlüssen beginnt man freiwillig auf angestammte Souveränitätsrechte zu verzichten. Das Zeitalter der deutschen Erhebung und der Befreiungskriege! Der Ruf zu den Waffen als ultima ratio gegen Unterdrückung, Aufteilung und Versklavung ist inzwischen zu selbstmörderisch geworden, ein Krieg der Physiker und Techniker würde das Ende der Menschheit, die Vernichtung des Planeten bedeuten.

Orientieren wir uns zunächst an dem Geburtsjahr 17 57, dessen zwei-hundertste Wiederkehr wir nunmehr in zahlreichen Feiern begehen! Es ist zugleich das Geburtsjahr von Alexander Hamilton, einem Mitbegründer des nordamerikanischen Bundesstaates, und eines der führenden Männern der französischen Revolution, Lafayette. Die Welt kennt diese beiden Namen sehr viel besser als den des Deutschen, und sie verbindet sie mit Recht mit dem unwiderstehlichen Siegeszug demokratischen Gedankengutes, der die Moderne trotz aller Rückschläge bestimmt. Altertümlich, ja verschroben und nur einen kurzen Augenblick in einer besonderen Situation aufleuchtend erscheint demgegenüber der noch als Reichsritter geborene Freiherr. In den engen Bereichen der preußischen Provinzen am Rhein und in Westfalen wirkend, dann im Münsterland, nah der Katastrophe des preußischen Staates endlich leitender Minister, aber kaum länger als ein Jahr (10. Juli 1807 bis 24. November 1808); in die Leitung der Staatsgeschäfte ist der in Österreich und Rußland weilende Emigrant auch nach den Friedensschlüssen nicht mehr zurückgekehrt. Den Ruhm am preußischen Reform-werk teilt er mit anderen, und von seinen originellen Beiträgen ist das meiste, vor allem die stufenweise Aufgliederung des Staates in mit-regierende Körperschaften, nicht durchgeführt oder, wie die Reform der Ministerialverfassung, verwässert und umgebogen worden. Den Wiener Kongreß, die Versammlung der führenden Staatsmänner der Alten Welt, vermochte er durch seine Wünsche und Träume zur Neugestaltung des Deutschen Reiches nicht zu beeindrucken. Lange Jahrzehnte seines Lebens vor und nach dem entscheidenden Reformjahr sind vielfältigen und ausgezeichneten Leistungen eines großen Kommunalpolitikers und Wirtschaftspraktikers vorbehalten, so daß das Fragmentarische und Kurzlebige seiner staatsmännischen Tätigkeit sich davon um so deutlicher abhebt.

Zweifellos hat Stein jegliche Aufgabe, der er sich gerade widmete, in einem hervorragenden Sinn als politische aufgefaßt, indem er auch sein alltägliches Tun immer auf die Allgemeinheit bezog, der er im kleineren oder größeren Wirkungskreis zu dienen suchte. Man kann ihn somit als einen durch und durch politischen Menschen bezeichnen, sofern man das Wesen des Politischen im sozialen Verantwortungsbewußtsein und in der Abkehr von privaten Wünschen sieht. Aber gehört er in spezifischer Weise zu den großen politischen Tätern? Er war eine außerordentlich Willensstärke Natur und einer der Mutigsten in einer an wagemutigen Gestaltern nicht armen Zeit, er war von leidenschaftlichem Wesen und an größten Zielsetzungen orientiert, doch fehlte ihm unter den Voraussetzungen des echten Staatsmannes eine unentbehrliche, der Machttrieb. Das Bewußtsein unbedingter Berufung zu herrscherlicher Stellung ging ihm ab, er bezeichnete sich zur Übernahme oberster Ämter, wie beispielsweise schon des preußischen Handelsministeriums, das er im Jahr 180i antrat, als ungeeignet. Erst die Katastrophe von 1806, der Zusammenbruch von Jena, hat ihn in den leitenden Rang gehoben. So sehr dann nach de durch Napoleon erzwungenen Entlassung alle, die sich in Deutschland als Patrioten bezeichneten, in ihm den Herold der Nation sahen und verehrten, und so glühend der Haß gegen den französischen Eroberer ihn durchdrang, in die Lenkung der preußischen Zukunft stebte er doch nicht zurück, er begnügte sich nach den Friedensschlüssen, an denen er in russischen Diensten nur beratend mitgewirkt hatte, mit bescheidenen Tätigkeiten. Im nassauischen Heimatländchen suchte er gegen den Fürsten eine landständische Verfassung durchzusetzen, in der westfälischen Wahlheimat arbeitete er insbesondere an der Wiederbelebung der Provinziallandtage. Der Ehrgeiz eines Bismarck, die persönliche Identifizierung mit ’em allgemeinen Schicksal, war ihm fremd; so konnte er sich auch ohn. Verbitterung fern von Belin in die Alters-sitze von 1 ‘assau und des westfälischen Cappenberg zurückziehen. Den fast Fünfzigjährigen riß die Woge der Not Preußens und Deutschlands zur Höhe empor; unschätzbar ist noch der bestimmende Einfluß, den er zur Befreiung Rußlands und Mitteleuropas als Emigrant auf den Zaren ausübte; die letzten 15 Jahre seines Lebens blieb er trotz der Mahnungen und Bitten seiner Berliner Freunde, Gnes Wilhelm von Humboldt und eines Gneisenau, abseits und versuchte die Abneigung des Königs und Jes Staatskanzlers Hardenberg nicht zu überwinden. Dies muß von einem so tatfreudigen, so rasch zupackenden, so wenig grüblerisch veranlagten Mann gesagt werden, ja von einem Mann, der ein gar nicht absehbares Ansehen in der deutschen Öffentlichkeit genoß und an dem Zeitgenossen rühmten, daß er eine moralische Großmacht darstellte.

Ein merkwürdiger Einzelgänger der deutschen Geschichte! Wir müssen uns dies an einzelnen Stationen seines Lebensweges noch klarer machen und manches paradox Anmutende hervorheben.

Reichsritter und preußischer Beamter

Da ist zunächst die Zugehörigkeit zu einem absterbenden Stand, dem nur noch im Südwesten des Reichs beheimateten Reichsrittertum. Auf die Gefahr hin, oft Gesagtes zu wiederholen, möchte ich dod darauf hinweisen, daß Stein, obgleich er der dritte Sohn war, zum Haupt und Erben der Familie bestimmt und also auf die Traditionen seines Standes besonders verpflichtet wurde. Er hat in ungewöhnlicher Weise den geschichtlichen Kern dieser Tradition durch sein eigenes Wesen weitergeführt, nämlich die ritterliche Haltung und den selbstbewußten Stolz, er hat den Adelstitel an seiner eigenen Person zu Ehren gebracht; er tat es, indem er sich gegen das Konventionelle und Zopfige seines Standes entschied. Die durch die Mutter gewonnene aufgeschlossene geistige Atmosphäre des Elternhauses wird dazu beigetragen haben. Eigener Entschluß war es doch, den unbequemen Weg zu gehen, den eines juristischen Fachstudiums, das er im Gegensatz zu seinen Standesgenossen bienenfleißig betrieb, den der Kavaliersreise, die nicht in üblicher Weise dem Amüsement, sondern bergtechnischen Studien diente. Dann der Schritt hinüber in den Staat, der am wenigsten geeignet war, Reichsritter ernst zu nehmen und einen selbständigen Adel zu dulden: ins friderizianische Preußen. Rascher Aufstieg im Berg-und Hüttendepartement in Berlin, eine leitende Stellung im Bergbau und der Eisenindustrie Westfalens — der Ritter macht sich zum abhängigen Beamten, der gemäß dem in Preußen herrschenden Merkantilsystem die Staatsdirektiven in der wirtschaftlichen Produktion und in der Arbeitsordnung durchzuführen hat. Aber er lehnt sich auf gegen die unvermeidlich damit verbundene bürokratische Routine, er bleibt im Grunde Autodidakt oder sagen wir besser Selfmademan, der sich die notwendigen Fachkenntnisse auf eigene Faust erwirbt und so auch als Direktor der westfälischen Bergämter sich herausnimmt, zur Reform des Knappschaftswesens geradezu revolutionär anmutende genossenschaftliche Wege zu beschreiten. Rascher Aufstieg dann auch in dem größeren Wirkungskreis, in der Provinzverwaltung, in die er 1787 berufen wird; der Altadelige verwendet sich für die modernsten wirtschaftlichen Aufgaben, für die Verkehrs-erschließung durch Land-und Wasserstraßen; der beauftragte Vertreter des absolutistischen Staates setzt sich ein für Mitwirkung der alten Provinzstände und für die Möglichkeiten eigenständiger Kommunalpolitik, er befreit in ständigem Ringen mit Berlin die Grafschaften Cleve und Mark von den Binnenzöllen.

Die eigenwillige Note in den Reformbestrebungen, die an sich zum aufgeklärten Absolutismus gehören, tritt immer wieder in Steins Mißtrauen, ja Kampfstellung gegen das Fachbeamtentum hervor, ohne das eine fortschrittliche Staatsverwaltung doch nicht auskam: er hat sich Mitarbeiter außerhalb der Beamtenschaft geholt, er inspizierte auch in der hohen Stellung des Oberpräsidenten unablässig persönlich und stieß infolgedessen auf eingewurzelte Einrichtungen in der Verwaltung von Land und Stadt, die ein Gegengewicht gegen die Zentrale abgeben konnten. Er nahm sich heraus, das Bestehende möglichst nicht anzutasten und setzte sich auch für die münsterländische Verfassung ein, als ihm die Aufgabe zuteil wurde, die Gebiete, die dem preußischen Staat als Entschädigung für die linksrheinischen Abtretungen an Frankreich zufielen, der Monarchie einzugliedern. Ich kann hier nicht im einzelnen auf den Wechsel von straffer Staatsaufsicht und Beteiligung der landeseigenen Organe eingehen, dessen sich Stein bediente; die Besonderheit der Handhabung durch einen Mann, der immer wieder bei der Regierung Anstoß erregte und auch seine Untergebenen sehr selbstherrlich einschätzte, tritt zur Genüge hervor. Er war dem König nicht willkommen, und man fühlt sich an die Schwierigkeiten der Berufung Bismarcks erinnert, bis widerstrebend seine Ernennung zum Wirtschafts-und Handelsminister erfolgte. Der König sollte recht behalten, das Temperament des allzu Eigenwilligen ließ sich schließlich nicht zügeln. Hatte er schon die preußische Außenpolitik des letzten Jahrzehnts seit dem Baseler Sonderfrieden von 1795 mit vernichtender Kritik bedacht, so setzte er schließlich in Formen schärfster persönlicher Beleidigung gegen die Kabinettsräte an, die sich zwischen dem Monarchen und den Ministern eingenistet hatten, also gegen das Regierungssystem selbst. Der Bruch war unvermeidlich. Friedrich Wilhelm III. zog am 3. Januar 1807 von seinem Zufluchtsort Königsberg aus, an der Spitze eines zerstückelten, todgeweihten Staates, das Fazit mit der Beschuldigung des krassen Egoismus: „Aus allem diesem habe ich mit großem Leidwesen ersehen müssen, daß ich mich leider nicht anfänglich in Ihnen geirrt habe, sondern daß Sie vielmehr als ein widerspenstiger, trotziger, harnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener anzusehen sind, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Kaprizen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt . .

Die steigende Not rief den Unentbehrlichen zurück, damit wenigstens das Rumpfpreußen des Tilsiter Friedens gerettet werde. Ich will hier nicht auf die berühmte Nassauer Denkschrift des soeben Entlassenen vom Juni 1807 eingehen, in der er ein umfassendes staatspolitisches Reformprogramm skizzenhaft entwarf, ich will auch nicht seine, in möglichst raschem Tempo abrollende Tätigkeit als leitender Minister selbst charakterisieren. Was er schon vorfand, was er neu hinzutat, was er durchführte, was steckenblieb, dies alles ist in subtilen Einzelforschungen erörtert worden. Sie änderten bei allen Einschränkungen seiner Originalität, die getroffen werden mußten, nichts an der Tatsache, daß er der leitende Kopf des Reformerkreises war und insofern auch für die Heeresreform mitverantwortlich ist, in welcher er keine Anordnungen zu treffen hatte. Man kann an Pitt d. Ä. im Siebenjährigen Krieg den-ken, der auch als nahezu Fünfzigjähriger so sprunghaft zur Macht kam und sie vor der Vollendung der großen Aufgabe wieder abgeben mußte: langjährige Gedankenarbeit, verbunden mit den Erfahrungen eines halben Lebens, war die Voraussetzung dafür, daß nun im Sturm des Handelns dem darniederliegenden Staat ungeahnte Kräfte eingeimpft wurden. So sei nur daran erinnert, daß in den 14 Monaten seiner Tätigkeit das Edikt zur Aufhebung der bäuerlichen Erbuntertänigkeit herauskam, die mannigfaltigsten Vorstöße zur LImorganisation der Staatsverwaltung, des unteren Behördenwesens und der Kommunalverwaltung unternommen wurden und als Glanzleistung die Städteordnung eingeführt wurde. Dies alles ist ja Gemeinbesitz unseres geschichtlichen Bewußtseins geworden; es kommt in unserem Zusammenhang jedoch darauf an, inwiefern auch in den von den Besten der Zeit mitgetragenen und mitformulierten Ideen der Befreiung des Bürgers und Bauern, der Mitregierung und Selbstverwaltung das Befremdliche an Stein aufzuweisen ist. Wir müssen uns eingestehen, daß man es sich allzu bequem macht, ihn einfach als den großen Entbinder einer neuen Gesellschaft, der die Zukunft gehören wird, zu feiern.

Wider einen Stein-Mythos

Wenn man davon ausgeht, daß Stein den herkömmlichen Fürstenstaat besonders in den engen deutschen Verhältnissen bekämpfte, wenn man ihn als Feind des Feudalismus ostelbischer Prägung handeln sieht, ist man um so mehr überrascht über Beschränkungen, die er in seinem eigenen Befreiungsprogramm anbrachte. So hat er wohl an den Voll-bauern gedacht, den er auf den westfälischen Höfen am meisten achten lernte, aber er mißt ihm keine volle politische Gleichberechtigung mit dem bürgerlichen und dem adligen Stande zu. In den Provizialständen, wie er sie plant, scheint die altertümliche kastenmäßige Stufung der Untertanen noch nachzuwirken: dem Adel werden drei Sechstel, dem Bürgertum zwei Sechstel, der Bauernschaft ein Sechstel der Sitze zugeschrieben. So gut er die ländlichen Verhältnisse kennen gelernt hat, eine gesetzliche Erleichterung der Lage der Landarbeiter sieht er nicht vor. Verächtlich spricht er von der Masse der Proletarier. Bildungsstolz beherrscht ihn auch im Blick auf die Industriearbeiter, ja auf das kleinbürgerliche Handwerk. Obwohl er Bergfachmann war und Englands Wirtschaftsstruktur im Zeitalter der anhebenden industriellen Revolution auf einer Reise dorthin eigens studiert hatte, vermochte er zwar den Nutzeffekt der modernen Dampfmaschine, nicht aber die sozialpolitischen Probleme der neuen Industriearbeiterschaft zu begreifen.

Eher dachte er daran, dem Arbeiter bereits erworbene Rechte wieder zu entziehen. Der letzte preußische Handelsminister, der sich mit modernen Fabrikationsmethoden durchaus vertraut gemacht hat, blickt eher auf den Patriarchalismus älterer Wirtschaftssysteme zurück als in die begonnene Zukunft der Massenproduktion voraus und ist insofern dem Merkantilstaat enger verwandt als dem zeitgenössischen Wirtschaftsliberalismus eines Adam Smith, dessen Schriften er studiert hat. Armut scheint ihm bar der moralischen Achtung, sein ausgeprägtes Gefühl für Menschenwürde überspringt diese Kluft nicht. Besitz und Bildung öffnen die Tore zur Teilhabe am politischen Leben, auch in der Gemeinde-selbstverwaltung legt er auf die Hierarchie dieser Werte den Nachdruck.

Den unteren Schichten die Wege zum Besitz zu ebnen, hält er nicht einmal für wünschenswert. Trotz seiner ausgedehnten Geschichtsstudien trübt ihm doch die Abneigung gegen besoldetes Beamtentum ein für allemal den Blick für die geschichtliche Leistung der staatlichen Bürokratie, ohne die das Aufkommen des modernen Rechtsstaates im 17. und 18. Jahrhundert unmöglich gewesen wäre. Ebensowenig aber hat er sich mit dem Antipoden der absolutistischen Staatsidee, mit der Grundlage der demokratischen Entwicklung, mit der Idee der Volkssouveränität befreunden können.

Solche Beispiele mögen manche für heutige Augen befremdlichen Züge des Steinschen Volksbegriffes, seiner Staats-und Gesellschaftsanschauung verdeutlichen. Es fällt nicht so leicht, an den berühmten Reformer anzuknüpfen und den „Freiheitshelden“ zu preisen, wie es das ganze 19. Jahrhundert über der bürgerliche nationale Liberalismus getan hatte. Schließlich sah sich Gerhard Ritter in seiner monumentalen Biographie genötigt, gegen einen Mythos zu Felde zu ziehen, der sich schon 1813 um den im russischen Hauptquartier weilenden Märtyrer der nationalen Idee gerankt hatte, und gegenüber allen Popularisierungsversuchen nachzuweisen, wie sehr Steins Überzeugungen und Vorstellungen im 18. Jahrhundert verwurzelt blieben. Dies wird besonders in den Altersjahren deutlich, wo sich der Hang zu einer bevorzugten Stellung des Adels, dem er freilich kein Drohnendasein gestatten wollte, in einem altfränkisch ausgemalten Ständestaat verstärkt. Den neuen Geist der Wartburgjugend und des konstitutionellen Großbürgertums, die sich später gerne auf ihn beriefen, betrachtete er ohne fruchtbare innere Auseinandersetzung, mehr und mehr erfüllt von der Sorge um aufkommende Anarchie, die allerdings durch das rechtswidrige Gebaren der Fürsten nur unterstützt werde. In der Kleinarbeit der örtlichen Verhältnisse rastlos tätig, im Großen aber resignierend ragt er wie ein Stück Urgestein in die sozialen Umwandlungen einer neuen Zeit.

Ein merkwürdig abseitiger Lebensweg wird auf diese Weise sichtbar.

Nochmals sei es betont: wenn der Freiherr auch mit Recht unzählige Male als einer der großen Charaktere der neueren deutschen Geschichte . gefeiert worden ist, so braucht dies doch nicht zu bedeuten, daß er eine ihrer symptomatischen und somit in die Breite wirkenden Gestalten war.

Nationales Pathos hat schon zu seinen Lebzeiten einen Stein-Mythos hervorgebracht, der dann durch machtvolle Publizisten wie Arndt und Treitschke, durch Biographen wie Pertz und Lehmann gepflegt wurde, bis ihn schließlich im 20. Jahrhundert jede politische Partei zu ihrem Stammbesitz zu rechnen liebte. Die Doppelkatastrophe der Weltkriege jedoch zerriß, wenn man es sich nur eingestehen will, das Legendäre und zeigte den riesigen historischen Abstand auf, der uns Heutige von Stein trennt. Elementares wie der moderne Volksbegriff, nämlich die Lebens-gemeinschaft grundsätzlich gleichberechtigter Staatsbürger, wurde von ihm ausdrücklich abgelehnt, als Irrglaube der französischen Rationalisten und Revolutionäre gebrandmarkt. Politik und Moral konnten ihm, dem tief gläubigen Protestanten, im Zeitalter des deutschen Idealismus zusammenfließen, wie dies in solcher Naivität keinem Späteren mehr möglich ist. Nach allem, was ich bisher aufzuzeigen suchte, müssen wir die Frage erneut darauf zuspitzen, ob es noch angebracht ist, sich einer mehr oder weniger pietätvollen Schattenbeschwörung zu widmen.

Die Antwort sei gleich vorweggenommen. Sie läßt sich nach dem Zusammenbruch von 194 5 in sehr bestimmter Weise geben. Seit der Sinn der deutschen Geschichte widerlegt scheint, ist das Auge für ihre Zusammenhänge schärfer geworden. In der grellen Beleuchtung, die über uns hereingebrochen ist, in der Revision des Geschichtsbildes, zu der wir alle aufgerufen sind, verdeutlichen sich die Aspekte. Der Freiherr vom Stein zeigt sich vor der wissenschaftlichen Kritik nicht als ein Prototyp deutschen Einzelgängertums, wie es den Anschein haben könnte, sondern als ein besonders hervorstechendes Kettenglied einer anderen Möglichkeit der deutschen Geschichte. Seine Leistungen gehören einer Bahn zu. die vielfach befahren worden ist, aber durch die machtpolitischen Wege, die eingeschlagen wurden, auch im geschichtlichen Bewußtsein der Nation in den Schatten geriet. Davon muß nun noch genauer die Rede sein.

Gehen wir davon aus, daß der Erste und vollends der Zweite Weltkrieg weithin als Konsequenzen jahrhundertelanger Verirrung des deutschen Volkes aufgefaßt wurden. Gewichtige Stimmen des Auslandes, darunter namhafte Wissenschaftler, haben unsere verhängnisvolle Neigung zum Obrigkeitsstaat und blinden Gehorsam, unsere Schwäche für Machtparolen und militärische Methoden zu brandmarken gesucht; der Journalismus hat die vergröberte Formel aufgebracht: Von Luther über Friedrich den Großen und über Bismarck zu Hitler. Ich brauche mich mit einer so liebevoll zusammengestellten Ahnenreihe hier nicht auseinanderzusetzen, möchte jedoch an die zur Genüge bekannten vielfach abgewandelten Thesen von der inneren Unselbständigkeit der Deutschen erinnern, die angeboren und daher hoffnungslos sei und jeweils den Verführungskünsten, ja dem bloßen Gebot einzelner Macht-menschen erliege. Wie bedeutsam kann angesichts solcher Abstempelungen die Erscheinung eines Protestlers werden, der zum Staatsmann, ja zum heimlichen König in der Not wurde und eine allseits verehrte moralische Potenz darstellte!

Steins Bejahung der Vergangenheit

Nicht anders als mancher englische oder französische Historiker von heute meinte Stein zeitlebens, daß der dutzendfache deutsche Obrigkeitsstaat den Untertanen entmündigt, seinen Charakter kleinmütig und kriechend gemacht habe. Im Gegensatz zu heutigen Kritikern hielt er den deutschen Staatsbürger jedoch des seelischen Aufschwungs fähig, nicht nur im Begeisterungssturm, im verzweifelten Mut eines Befreiungskampfes gegen den fremden Eroberer, sondern in der Gestaltung des politischen Alltags, in stetigen Einrichtungen auf lange Sicht Er fühlte sich zu solcher Zuversicht berechtigt, weil er die deutsche Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart voll von Zeugen tätiger Selbstverantwortung fand: er liebte westfälischen Bauernstolz, er spürte im ländlichen aristokratischen Grundbesitz noch den Geist, wie er es mit Montesquieu nannte, altgermanischer, in den Wäldern großgewordener Freiheit, er sah den Abglanz alter Städteherrlichkeit vor allem am Beispiel einer alten Hansestadt wie Danzig, er entdeckte Formen genossenschaft-lieber Überlieferung im Wirtschaftsleben und auf den Ständetagen preußischer Provinzen. In seiner Liebe zu provinzieller und lokaler Sonder-art, die er mit Justus Möser teilte, steckte der Stolz auf altgewachsene Herkunft, von der er sich auch persönlich getragen fühlte. Seine eigenen politischen Bemühungen vermochte er daher in einem natürlichen Zusammenhang mit längst erprobten allgemeinen Bräuchen und mit Anschauungen aus Väterzeit zu sehen, oft im Sinn einer Wiedererweckung und Fortführung von dem, was herangereift war und auf Verwirklichung in größerem Rahmen wartete. Ja, er wußte sich dabei in Übereinstimmung mit historischen europäischen Aufgaben; so ist er nicht losgekommen von dem Kaiser-und Reichsgedanken, den er noch in die Wiener diplomatischen Verträge hineinzutragen hoffte. Sahen doch die größten europäischen Staatsdenker des 18. Jahrhunderts, ein Montesquieu, ein Rousseau, die beiden Moser aus Württemberg, im Reich ein Zeugnis des universal-europäischen, dem antiabsolutistisch-föderalistischen Geistes; besaß es doch für sie eine hohe ideale Bedeutung als Krönung freiheitlich-korporativen Zusammenwirkens! Steins erbitterter Kampf gegen die Schreiberseelen wandte sich gegen eine sozusagen papierene Auffassung von der deutschen Geschichte, die sich nur an absolutistischen Fürstenhöfen und deren Beamtenapparat orientierte. Dagegen rief er die altdemokratischen Gebilde im deutschen Sprachbereich in Erinnerung, das schweizerische und das holländische Beispiel; er dachte hoch von der Arbeit der Landstände, auch wenn sie in Westfalen eine viel geringere Rolle spielten als etwa im damaligen Württemberg, und suchte vieles von dem im Großen verlorengegangenen, aber in tausenderlei lokalen Zügen immer noch vorhandenen „Alten Recht" wiederherzustellen. Er beschäftigte sich mit den Leistungen des wirtschaftsgewaltigen, des humanistisch gebildeten, des religiös verantwortungsvollen Bürgertums vergangener Jahrhunderte, mit einem politischen Leben, wie es sich schon in den alten Stadtverfassungen eigene Form gegeben hatte. Kein Zufall, daß gerade er, der kein Wissenschaftler war, das Riesen-unternehmen der Monumenta Germaniae historica, die wissenschaftliche Edition der Zeugnisse des deutschen Mittelalters, ins Leben rief!

Von der Bejahung einer Vergangenheit, die ältere Wurzeln hatte als der zeitgenössische Spätabsolutismus, den er zu reformieren unternahm, wußte er sein eigenes Wirken getragen. Was er in seinen Geschichts-Studien und Geschichtswerken, denen er Jahre seines Lebens widmete, beim damaligen Stand der Forschung noch nicht voll zu überblicken vermochte, war tatsächlich vorhanden: ein durch die Jahrhunderte sich ziehender Geist des Widerstandsrechtes in Theorie und Praxis auch auf deutschem Boden und eine Fülle echter korporativer Leistungen, die heute noch bei weitem nicht wissenschaftlich bewältigt ist. Wir können ihm von heutiger Erkenntnis her nur das Bewußtsein bestätigen, kein neuerungssüchtiger Umstürzler, sondern aufbauender Bewahrer zu sein, also im geschichtlichen Auftrag zu handeln. Manches, was uns lIzu rückwärts gewandt, als altväterisch befangen an ihm befremdet, erweist sich unter diesem Blickwinkel als Symptom einer Bodenständigkeit, ohne die ihm die Zukunft auf Sand gebaut schien.

So sehr er einer neuen Verfassung von Gemeinden, Provinzen und Gesamtstaat zustrebte, so konnte er doch sich scharf distanzierend erklären: „Unsere neuen Publizisten suchen die Vollkommenheit der Staatsverfassung in der gehörigen Organisation der Verfassung selbst, nicht in der Vervollkommnung der Menschen, der Träger dieser Verfassung.“ Sein unaufhörlicher Mahnruf zu neuer sozialer Gesinnung, zu ethischer Vertiefung des Alltagshandelns war nicht minder aus der Fundgrube deutscher Geschichte geschöpft. Es handelte sich nach seiner Überzeugung auch hier nur um eine Wiedererweckung längst vorhandener Kräfte, wie ja auch das deutsche 18. Jahrhundert besonders reich an pädagogischem Denken und Handeln und an religiös-sozialen Bemühungen war: überall Ansätze für ein politisches Mündigwerden der Nation, wie er es ersehnte. Politik als Angelegenheit von Selbsterziehung und öffentlicher Erziehung: er sah sie nicht nur als das schmutzige Geschäft und unter dem moralischen Verdikt, von dem sie im landläufigen Bewußtsein bei uns nicht loszukommen scheint. Politik vielmehr, die noch nicht zu Beruf und Routine geworden ist, Politik als Salz des Tages, in naher Verwandtschaft mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe, altbewährt im nationalen Leben. So hatten jahrhundertelang Ratgeber des deutschen Territorialfürstentums, Prinzenerzieher, Staatsrechtslehrer an deutschen Universitäten, Beichtväter und Konsistorialräte, Ratsherren und Amtsleute, Richter und Schöffen das Wesen der Politik verstanden: als soziale Gesinnung, als Handhabung von Gerechtigkeit, als Ethos der Verwaltungspraxis, hineinreichend auch in Schulordnung und Kirchenzucht, in Arbeits-und Gewerbeordnung, in Ehe und Hof und Haus. Was sich in diesen Bereichen ereignet, bleibt freilich weithin anonym und ist daher für das geschichtliche Bewußtsein schwerer faßbar; gerade eine so sehr praktisch veranlagte Natur wie der unermüdlich inspizierende Freiherr vom Stein war dazu geschaffen, durch Beobachtungen zu der fruchtbarsten historischen Einsicht zu gelangen. Er konnte nicht wie so viele dieser Ratgeber des Fürstentums Baumeister und Handlanger der fürstlichen Allmacht und des souveränen Machtstaates werden und so letzten Endes einer Nivellierung der Untertanenschaft Vorschub leisten. SeineStaatsauffassung bleibt auch weit entfernt vom Bismarckschen Primat der Außenpolitik, und das Diplomatengeschäft, das ihm als leitendem Minister nicht erspart war, wird ihm niemals vertraut.

Stein als Repräsentant einer anderen Möglichkeit der deutschen Geschichte! Es war nicht nur persönliche Marotte, daß er sich gegen die modernsten Staatslehren seiner Zeit, gegen die Befreiungstaten der Französischen Revolution schon in ihrem Anfangsstadium erklärte, als auch Deutschland von der Begeisterungswelle für die neue Gesellschaft und die Zukunft der Völker überschwemmt wurde. Es war nicht nur verkappter Feudalismus, der ihn auf die Seite der zumeist adeligen englischen Parlamentarier gegen die kleinbürgerlichen Advokaten von 1789 trieb. Mit der abstrakten Konstruktion gleicher Menschenrechte konnte er nichts anfangen, der souverän erklärte Einzelmensch paßte nicht in das Gefüge gestufter Verantwortlichkeit, das sein Denken erfüllte. In der französischen Freiheit fürchtete er die Schrankenlosigkeit des Dogmas, die Entblößung von politischer Weisheit. Er verstand unter Freiheit innere Vollmacht, wie sie nur der gereifte Staatsbürger besitzt, der sich selbst in der Beherrschung aller egoistischen Neigungen zu betätigen versteht. So malte er sich auch ein Wahlrecht aus, das nicht einer schematischen Gleichberechtigung, sondern der wirklichen Persönlichkeit zum Zuge verhelfen sollte. Von den französischen Verfassungsexperimenten mochte man technische Einzelheiten übernehmen; die preußische Reform war jedoch für ihn der Erweis einer geschichtlich herangereiften Anders-artigkeit. Obendrein war in der deutschen Befreiung die größere Aufgabe enthalten, den Kontinent vor der ideologischen und materiellen Zwangseinheit zu retten, der er unterworfen zu werden drohte. Stein glaubte, in diesem Sinn für alle freien Menschen in Europa zu sprechen und zu wirken.

Sein Kampf gegen die napoleonische Diktatur war daher von grundsätzlicher Art. Er sah in dem Titanen nicht nur die Einzelerscheinung, an deren Beseitigung er mitwirkte, sondern den Ausbruch des bösen Prinzips schlechthin. Er hatte ein Gefühl für die metaphysische Tiefe so unerhörter Vorgänge, wie es uns Heutigen wieder nahegelegt ist. Der Korse war das von allen Bindungen gelöste, zum Gott erhobene Individuum, das folgerichtig alle Schranken und Grenzen, alle Lebensordnungen vernichtete — bis zur Selbstzerstörung. Manchmal zeigt die Kampfposition, die Stein gegen eine derartige Autonomie bezog, geradezu skurrile Züge: so wünschte er jede Wahlhandlung im Rahmen der städtischen Verwaltung durch einen Gottesdienst eingeleitet, der die Gewissen schärfte. Daß er sich gegenüber den Massenbewegungen einer neuen Zeit so starr verschloß, rückt ihn in unserem Zusammenhang an die Seite des größten politischen Denkers des 19. Jahrhunderts, des Warners vor den Kollektivdiktaturen, Tocqueville. Er erkannte wie der französische Kritiker die innere Beziehung zwischen Masse und Cäsarismus und fürchtete den seelischen Leerlauf, der sich wie im Ancien Regime so auch in den neuen konstitutionellen Versuchen anbahnte: „Man erwartet alles vom Staat ohne Vertrauen zu seinen Maßnahmen, ohne Enthusiasmus für seine Verfassung.“ Mit lutherischem Pathos rief er die Gegenkräfte auf gegen die Herrschaft des Einzigen und gegen die Herrschaft der Zahl. Für echte Gemeinschaft sucht er Verständnis, Mitarbeit, Verantwortung, Selbstbewußtsein zu wecken, von oben erzieherisch einwirkend, von unten pflegerisch aufbauend, damit Partnerschaft sich bilde, auch im konfessionellen Nebeneinander, damit Vielgestaltigkeit erwachse, die unentbehrliche Voraussetzung für die richtige Bewegungsfreiheit des Einzelnen. Das Problem der Elite wird ihm zur Kardinalfrage für das Überleben einer besseren Welt; für sie spricht er von der „wahren gesetzlichen Freiheit“.

Man versteht nun, was er mit einem so sehr der Mißdeutung ausgesetzten Wort meint. „Wahre gesetzliche Freiheit“ bezeichnet das Spannungsverhältnis zwischen Ordnung und Freiheit, das im Titel dieses Aufsatzes angedeutet ist. Sie ist gleich weit von Anarchie wie von Diktatur, von Revolution wie von Reaktion entfernt. Dies kann nur dadurch gelingen, daß die „wahre gesetzliche Freiheit" von Stein person-haft aufgefaßt und persönlich vorgelebt wird. Sie ist daher unsystematisch, sie bleibt der praktischen Erprobung, den Korrekturen durch Erfahrung, der Weisheit eines langen tätigen Lebens offen. Sie darf auf keine Staatsform festgelegt werden. Stein konnte die amerikanische Revolution im Gegensatz zur französischen als legitim bezeichnen, weil sie dem freien Spiel der politischen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte die gesetzliche Grundlage gewähre. So sei es wohl möglich, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika gegenüber einer sich selbst zersetzenden Alten Welt zu einem Kulturmittelpunkt würden. Er wußte, daß „wahre gesetzliche Freiheit", so beweglich sie zu bleiben hatte, doch nicht dauerhaft war ohne einen unverrückbaren tragenden Grund.

Damit berühren wir abschließend eine der geheimen Wahlverwandtschaften, die den freien Reichsritter an den preußischen Militär-und Beamtenstaat band. In seinem Politischen Testament von 1722 hat der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. in ungefügen Worten der Summe eines Regentenlebens dahingehend Ausdruck gegeben, daß das Haus Brandenburg und die preußische Armee und das öffentliche Wesen insgesamt nicht florieren könnten ohne Gottesfurcht. Audi Stein hielt es für uralte Menschheitserfahrung, daß das für die jeweilige geschichtliehe Situation zutreffende Verhältnis von Freiheit und Ordnung nicht anders gewonnen werden könne. Als homo religiosus begriff er das innerste Wesen der Politik, nur dank der Rückbeziehung zu den Quellen des Daseins vermochte er den Mut zum Anderssein aufzubringen, den totalen Zusammenbruch von Jena zu überwinden, Nächte der Flucht und jahrelanges Emigrantengeschick auf sich zu nehmen, ungebrochen die Vergangenheit deutschen Lebens in eine ungewisse Zukunft hinüberzutragen. Wir sprechen hier nicht von seiner im Alter zunehmenden Kirchlichkeit, die übrigens seine praktische konfessionelle Toleranz nicht beeinträchtigte. Der urtümlich christliche Kern seines Wesens gehört dazu, daß er zu einer Schicksalsfigur unserer Geschichte wurde: er kann nicht veralten, da er sich selbst aus ewigen Gründen speiste. Die Frage ist nur, ob wir uns als mündig geworden erweisen, hier weiterzubauen.

Anmerkung:

Gerhard Möbus, Dr. phil., Prof. Dt. Hochschule für Politik, Berlin-Charlottenburg, 1945 Lehrauftrag Universität Jena, 1946 a. o. P. Universität Halle, 1946 Dir. Psychol. Inst., seit 1952 Deutsche Hochschule für Politik.

Hans Rothlels, Professor der neueren europäischen Ge-chichte der Universitäten Chicago und Tübingen. Geb. in Kassel 12. April 1891. Korr. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Lehrgebiet: Deutsche Geschichte, Nationalitätenprobleme, Zeitgeschichte.

Fritz Wagner, Dr. phil., oö. UProf. für mittlere und neuere Geschichte, Marburg/Lahn. Lehrgebiet: Politik der europäischen Mächte in der Neuzeit, allg. Geschichte Europas und der USA.

Fussnoten

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