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Die Augsburger Jahrtausendfeier | APuZ 43/1955 | bpb.de

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APuZ 43/1955 „Völker können sich nie genug schenken” Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich Tradition, Vernunft, Freiheit Die Augsburger Jahrtausendfeier

Die Augsburger Jahrtausendfeier

Theodor Schieffer

Rundfunkvortrag, gehalten in der Reihe „DIE AULA. STUNDE DER UNIVERSITÄTEN" im Südwestfunk am 7. August 1955.

Wieder einmal wird unsere Aufmerksamkeit auf ein Geschehnis der Vergangenheit gelenkt: in Augsburg beging man in den Augusttagen, das Gedenken an den Abwehrsieg Ottos des-Großen über die Ungarn vor tausend Jahren. Der chronologische Zufall hat uns in letzter Zeit wiederholt historische Gedenktage beschert, und es hat durchaus den Anschein, daß es ihnen nicht an breiter Resonanz fehle. Das ist gut so, denn wir müssen auf-gerüttelt werden aus der Geschichtsmüdigkeit, die sich im Gefolge des politischen Zusammenbruchs ausgebreitet hat und die als geistige Krisenerscheinung sehr ernst zu nehmen ist. Gewiß ist sie verständlich als stimmungsbedingte Reaktion auf die teils lächerliche, teils empörende Verzerrung der geschichtlichen Wahrheit, deren sich die aufdringliche Propaganda der deutschen Machthaber vor und der Sieger nach 1945 schuldig gemacht hatte. Diese Krise aber muß überwunden werden. Einem Volk, das kein Verhältnis mehr zu seiner Geschichte hat, droht ein unheilbarer Bruch in seinem kulturellen und politischen Selbstverständnis und Selbstbewußtsein. Nicht als ob wir darum einem Rückfall in jene nationale Selbstgefälligkeit Vorschub leisten wollten, die in den landläufigen Geschichtsvorstellungen der Deutschen einst sehr fragwürdige Blüten getrieben hat und die anderseits — mit jeweils wechselnden Vorzeichen — die öffenliche Meinung unserer Nachbarvölker noch völlig zu beherrschen scheint. Weder mit bequemer Überheblichkeit noch mit summarischer Schmähung unserer Vergangenheit ist etwas gewonnen. Offenen Blickes müssen wir erfassen, was es in der deutschen Geschichte an unheilvoller Verkettung und schuldhafter Verstrickung gegeben hat, und nichts davon dürfen wir ins Unterbewußtsein abdrängen, aber so wenig wie andere Völker brauchen wir uns das Recht nehmen zu lassen, auch in ruhigem Stolz die Erinnerung an große Tage und Gestalten wachzuhalten. Die Augsburger Jahrtausendfeier gilt wahrlich einem solchen historischen Datum von legitimem Rang: dem Laurentiustage, dem 10. August des Jahres 955, da der König Otto an der Spitze des deutschen Heerbannes, unter dem christlichen Heerzeichen des Erzengels Michael, die hartbedrängte, von dem Bischof Ulrich verteidigte Stadt entsetzte und damit zugleich nicht Deutschland allein, sondern ebenso Italien und Frankreich von einer schrecklichen Geißel befreite.

Trotzdem, in die Genugtuung des Historikers über die wiedererwa-chende Aufgeschlossenheit seiner Mitmenschen für die Geschichte mischt sich gerade in diesem Falle auch ein leichtes Llnbehagen: gar zu nahe liegt doch die Versuchung, das Geschehen von 95 5 zu aktualisieren, kurzschlüssige Vergleiche zu ziehen zwischen der östlichen Bedrohung von damals und heute. Beileibe nicht soll den gefährlichen Illusionisten unserer Tage das Wort geredet werden, die entweder diese heutige Bedrohung nicht wahrhaben wollen oder es für sittlich unerlaubt erklären, sich dagegen zu wappnen. Nein, es geht um eine grundsätzliche Frage anderer Art. Der Historiker muß davor warnen, mehr als das: er muß dagegen protestieren, daß Geschehnisse einer fernen Vergangenheit ohne viel Überlegung zu irgendeiner Augenblickssituation der Gegenwart in Beziehung gesetzt werden, nur weil das Dezimalsystem in der Chronologie gerade eine runde Zahi ergibt; geschichtliche Erkenntnis wird damit gleich im ersten Ansatz erstickt. Was heuer vor tausend Jahren geschah, ist in sich, als Leistung und durch seine Auswirkungen, bedeutsam genug, um zu rückschauender Besinnung einzuladen. Dabei geht es nicht um eine triviale Nutzanwendung für die Gegenwart, aber auch am gegenwärtigen Europa werden dabei bestimmte Züge sichtbar, die nicht ohne den Ungarnsieg Ottos des Großen geschichtlich zu verstehen sind.

Die Ungarnnot Aber zunächst müssen wir uns Klarheit darüber verschaffen, was eigentlich geschehen ist.

Die Ungarn sind ein ursprünglich innerasiatisches Nomadenvolk, das in dem großen Völkergeschiebe des 9. Jahrhunderts schrittweise, entlang der Nordküste des Schwarzen Meeres, nach Westen gedrängt wurde, bis sie schließlich die Slaven nach Norden und Süden auseinandersprengten und im Jahre 895 über die Karpathen in die weite Tiefebene eindrangen, die von der Donau und der Theiß durchflossen wird. Hier nahmerrsie ihre endgültigen Wohnsitze, ohne darum aber auch alsbald den Übergang zu seßhaften Lebens-und Wirtschaftsformen zu finden. Im Gegenteil, ihre Gewohnheit, den Lebensunterhalt zum guten Teil durch Raub zu gewinnen, erfuhr neuen Auftrieb, denn sie waren jetzt am Rande der abendländischen Kulturwelt angelangt, wo überreiche Beute lockte, und sie stießen zugleich auf eine Welt, die zu keiner geschlossenen Abwehr imstande war. Die slawischen Stämme im Süden und Westen der Ungarn . hatten es noch zu keiner staatlichen Organisation gebracht, das mährische Reich — nördlich von ihnen — war ein kurzlebiges Gebilde, das sich bereits im Niedergang befand. Vor allem aber war auch das von Karl dem Großen geschaffene weite Großreich der Franken in voller Auflösung begriffen. Allenthalben — in Westfranken (dem späteren Frankreich), in Ostfranken (dem späteren Deutschland), in Burgund und in Italien — hatten sich Teilreiche herausgebildet, aber alles war noch in gärendem Werden, ein festgefügtes Staatswesen gab es noch nirgends, auch nicht in den beiden Ländern, die jetzt zu Nachbarn der Ungarn wurden. Der ostfränkischdeutsche König Arnolf, an sich ein tüchtiger, energischer Herrscher, war von unheilbarem Siechtum befallen, und sein Sohn, der letzte deutsche Karolinger, ist als Ludwig das Kind in die Geschichte eingegangen. Berengar I. hinwiederum, der König in Italien, und der deutsche König Konrad L, der 911 das Erbe der Karolinger übernahm, hatten Mühe genug, sich in ihren Ländern Ansehen zu verschaffen.

Ein Menschenalter lang gab es also keine Königsgewalt, die über eine hinreichende Macht verfügt hätte, um den ungarischen Reiterheeren ent-

gegenzuireten, die sich erstmals im Sommer 899 wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf Italien stürzten und ein Jahr lang die reiche Poebene ausraubten. Im Jahre 900 wagten sie den ersten Vorstoß in die bayerische Ostmark, und seither folgte Schlag auf Schlag. Oft Jahr für Jahr, dann wieder mit kurzen Atempausen, brachen die neuen Feinde vor allem über Deutschland herein. Die Aussagen der Chronisten sind furchtbar in ihrer summarischen Monotonie. Immer wieder erzählen sie, wie Scharen von wind-und wetterfesten Reitern sich über die Lande ergossen, durch Gewalttat, Raub und Brandschatzung überall lähmendes Entsetzen verbreitend; sie erschlugen die Männer, die Frauen und Kinder verschleppten sie mit ihrer Beute in die Sklaverei. Bei diesen Berichten sind gewiß, wie immer in solchen Fällen, die Farben stark aufgetragen, und da, wo die Schilderung einmal besonders lebensnah und anschaulich wird, fehlt es auch nicht ganz an Zügen roher Gutmütigkeit, aber die Mitteilungen sind zu bestimmt, als daß an der Wahrheit des Bildes im ganzen der geringste Zweifel möglich wäre. Was es dabei im einzelnen an Leid und Not und grausamen Schicksalen gegeben hat, das gehört zu dem vielen, worüber die Geschichte den Mantel des Schweigens gebreitet hat. Schutz hatte man gegen die furchtbaren Eindringlinge nur da, wo es noch befestigte Plätze gab, aber in offensiver Abwehr vermochte man lange gegen ihre überaus behend und verschlagene Taktik nichts Entscheidendes auszurichten. Dieser dahinjagenden Heerhaufen überhaupt habhaft zu werden, war bei den Verkehrs-und Nachrichtenverhältnissen des Zeitalters, erst recht aber bei dem Fehlen einer weitreichenden und schlagfertigen politisch-militärischen Macht aufs äußerste erschwert. Im allgemeinen wichen sie dem offenen Kampf aus; wenn es gelang, sie zu stellen, wurden ehrenvolle Teilerfolge erzielt, namentlich von den Bayern, aber eine Wendung der Gesamtlage wurde dadurch nicht heraufgeführt, vielmehr lernten die Ungarn bald, ihre unheimliche Fertigkeit im Pfeilschuß gegen die an den Schwertkampf gewöhnten Deutschen auch für die offene Feldschlacht auszuwerten, und damit erreichte die Katastrophe erst ihr ganzes Ausmaß.

Erste gemeinsame Waffentat In den Jahren 905/6 vernichteten die LIngarn das Mährische Reich und konnten jetzt auch Norddeutschland, das Stammesgebiet der Sachsen, heimsuchen. Dann warf sich ihnen der bayerische Markgraf Liutpcld mit einem großen Aufgebot entgegen, aber sein Heereszug endete in der furchtbaren Niederlage bei Preßburg am 4. Juli 907; der Markgraf selber, der Erzbischof von Salzburg und zwei andere Bischöfe waren unter den Toten. Die von Karl dem Großen errichtete bayerische Ostmark brach zusammen, die Reichsgrenze war bis auf die Linie der Enns zurückgeworfen. Immer höher stieg die Flut: 908 durchschweiften die Raub-scharen Thüringen und Sachsen, 909 Bayern und Schwaben. Der mittlerweile dem Kindesalter entwachsene König Ludwig raffte sich zu einer Aktion auf, aber auch das große Heer, das er im Sommer 910 zusammen-

brachte, wurde von den LIngarn zersprengt. Jetzt waren alle Dämme gebrochen, die folgenden anderthalb Jahrzehnte bezeichnen den Höhepunkt der Ungarnnot. Immer weiter gehen ihre Streifzüge durch die Gebiete aller deutschen Stämme, auch in Landstriche hinein, die sich bisher sicher glauben konnten Basel wird niedergebrannt, bis Metz und Bremen reichen ihre Stöße. Dann wird wieder Italien ihr bevorzugtes Opfer, und nicht nur die Poebene: 922 tauchen sie sogar in Apulien auf. Sie werden zu einer Plage von europäischen Dimensionen: kreuz und quer über Flüsse und Gebirge, über unglaubliche Entfernungen hinweg, werden sie 924 in Sachsen, Burgund, Südfrankreich und Italien gemeldet, wo Pavia in Flammen aufgeht; zwei Jahre darauf geht der Zug durch Bayern und Schwaben --das berühmte Kloster St. Gallen wird geplündert — bis ins Ardennengebiet aber mit Ausläufern nach Sachsen und bis vor Rom.

Dieses Jahr 926 brachte jedoch einen Einschnitt. Die Krone war mittlerweile an den sächsischen Liudolfinger Heinrich I. übergegangen, der den Zusammenhalt des Reiches und die Autorität des Königtums aus mühsamen Anfängen wieder aufrichtete. Schwerste Königsaufgabe aber blieb die Abwehr des äußeren Feindes. Den Ungarn die Stirn zu bieten, wagte auch Heinrich nicht, indes konnte er bei dem Einfall von 926 durch die Gefangennahme eines ungarischen Häuptlings Verhandlungen erzwingen und gegen hohe Tributzahlungen einen längeren Waffenstillstand erkaufen. In den Jahren der Ruhe rüstete er zu neuem Kampf. Die Frucht dieser Mühen wurde ein Ereignis, das als Vorspiel der Lechfeldschlacht verdienten Ruhm genießt: bei einem nicht sicher bestimmbaren Ort namens Riade, wohl in der Nähe der Unstrut, zerbrach am 15. März 933 der Angriff der Ungarn vor der gepanzerten Reiterei; es war die erste gemeinsame Waffentat aller deutschen Stämme! Das war insofern eine Wende, als die LIngarn von jetzt an auf wirksameren Widerstand stießen, aber ein Ver-nichtungssieg war es nicht. Schon 935 bekamen Italien und Burgund wieder die schreckliche Plage zu spüren, und 937, nach dem Tode Heinrichs I., ergoß sich eine wahre Sturmflut in einer riesigen Kreisbewegung durch Europa: durch Süddeutschland zum Rheine, über Lothringen und die Champagne bis nach Mittelfrankreich und zurück über Burgund, die

Alpen und alle Provinzen Nord-und Mittelitaliens; daran schloß sich im nächsten Jahre ncch ein Streifzug bis nach Westfalen.

Dann freilich schien die Gefahr allmählich nachzulassen. Mehrere Jahre verliefen ruhig, Deutschland war dank der Energie des Königs Otto und seines Bruders, des Herzogs Heinrich von Bayern, besser geschützt; es gelang, die Angreifer schon an der bayerischen Grenze abzuweisen. Italien dagegen mußte wiederholt neue Heimsuchungen ertragen, und 951 drangen die Ungarn durch Italien über die Loire nach Aquitanien vor, ins westlichste der Länder, die sie je erreichten. Bald sahen sich aber auch die Deutschen grausam in der Hoffnung getäuscht, die Welle werde von selber verebben; eine plötzliche dramatische Zuspitzung lehrte sie, daß ein Ent-scheidungskampf bis zum äußersten durchgestanden werden mußte. Das scheinbar schon sc festgefügte Herrschaftssystem Ottos I. wurde noch einmal durch scharfe Gegensätze unter den Herzögen und innerhalb der Königsfamilie schwer erschüttert: Ottos Sohn, der Herzog L'iudolf von Schwaben, und sein Schwiegersohn, der Herzog Konrad von Lothringen, erhoben sich gegen den König und seinen Bruder Heinrich von Bayern. Angesichts dieser Wirren sahen die Ungarn den Augenblick gekommen, wieder zu einem Raubzuge größten Stiles anzutreten: Bayern wurde überrannt, bei Worms erzwangen sie den Übergang über den Rhein, sie plünderten Kirchen und Klöster im Gebiet des heutigen Belgien, brannten die Außenbezirke der Stadt Cambrai nieder und kehrten, wie schon 937, über die Champagne. Burgund und Oberitalien zurück. Nicht nur, daß sie keinen energischen Widerstand fanden, die Herzöge Liudolf und Konrad paktierten sogar mit ihnen, um die Raubscharen von ihren eigenen Ländern fernzuhalten und ihren Feinden auf den Hals zu schicken. So hofften die Ungarn, von neuem leichtes Spiel zu haben, als sie 95 5 in noch größerer Zahl wiederkamen. Aber ihre Rechnung ging nicht auf, politisch sowohl wie militärisch. Es war ein neues Zeitalter, eine neue Generation, ein neues Staatsbewußtsein: der Ungarneinfall von 954 hatte das Königtum nicht geschwächt, sondern moralisch gefestigt; der Aufstand brach zusammen, im Augenblick der dräuenden Gefahr scharte sich Deutschland um seinen König. Während die Flut sich vor den Mauern Augsburgs staute, ließ Otto ein allgemeines Aufgebot ergehen. Mit einem Heer von Franken, Schwaben, Bayern und Böhmen rückte er heran zum vernichtenden Schlage, zu jener großen Entscheidung, deren wir heuer — nach tausend Jahren — gedenken.'u Die europäische Völkerkarte war konsolidiert Auf eine Diskussion über Schauplatz und Verlauf der Schlacht verzichten wir, nicht nur aus Zeitmangel; sich an der Schilderung militärischer Bravourleistungen zu berauschen, ist nicht mehr der Geschmack unseres aus guten Gründen nüchtern gewordenen Zeitalters. Viel wichtiger ist es, um das halbe Jahrhundert qualvoller Vorgeschichte des großen Sieges zu wissen. Wir müssen sie uns in der ganzen deprimierenden Monotonie, wie sie aus unserem flüchtigen Überblick hervorgeht, vor Augen halten, um nachzuempfinden, welch befreiendes Aufatmen durch die Welt ging. Nach diesem Schlage kamen die LIngarn nicht wieder, die grausame Plage war zu Ende. Trotzdem, die bloße Verjagung von Räuberbanden, also eine überdimensionale Polizeiaktion, wäre für sich allein noch kein Ereignis von weltgeschichtlichem Rang; sie wird es erst durch die weiten historischer, Perspektiven, die sich von 95 5 aus rückwärts und vorwärts auftun.

Die LIngarneinfälle dürfen nämlich nicht isoliert gesehen werden. Sie haben ihr Gegenstück in den Vorstößen der Normannen nach Frankreich und der Sarazenen nach Italien. Dieser Bedrängnis freilich hatte schon eine frühere Generation ein Ziel gesetzt: 911 durch die Ansiedlung der Normannen in jenem nordfranzösischen Lande, das noch heute Normandie heißt, und 915 durch den Sieg über die Sarazenen am Garigliano in Mittelitalien, aber erst jetzt — 95 5 -war das Abendland seiner Angreifer ledig geworden. Dies alles sind zugleich die letzten Ausläufer des großen Phänomens, das wir als „Völkerwanderung“ bezeichnen, des jahrhundertelangen Zustroms neugr Völker nach Westen und Süden, der die alte Kulturwelt erschüttert, aber auch regeneriert hat. Durch die Aufnahme des letzten neuen Elementes war jetzt die europäische Völkerkarte konsolidiert: zwischen die Süd-und Westslawen hatte sich das ganz fremdartige Volk der LIngarn geschoben, das Weder wie die Hunnen und Awaren spurlos unterging noch wie die Bulgaren sich slawisierte. Den größten, den entscheidenden Anteil an der inneren und äußeren Festigung des Abendlandes aber hatte Deutschland. Der Werdegang des Deutschen Reiches und Volkes, der hundert Jahre zuvor mit der karolingischen Reichsteilung begonnen, war jetzt erst wirklich abgeschlossen. Das Versagen vor dem äußeren Feinde hatte das Königtum geschwächt, hatte das Reich dem Auseinanderfall nahegebracht, — an der Abwehr der Ungarnnot ist das neue Königtum sächsischen Stammes emporgewachsen, hat sich die anfangs mehr oder minder zufällige staatliche Gemeinsamkeit gekräftigt und vertieft. Die Jahre 933 und 95 5 sind Marksteine auf dem Wege zu einem eigenen politischen Bewußtsein der Deutschen. Otto, der vornehmlich dem Siege von Augsburg bei Mit-und Nachwelt den Beinamen des Großen verdankt, hatte sich mehr erkämpft als eine Sicherung seiner innerdeutschen Autorität, ihm eignete jetzt ein Vorrang im ganzen Abendlande, er hatte sich bewährt als Schirmherr der Christenheit, der Kirche, der Kulturwelt gegen den Ansturm wilden Heidentums. Der Tag von Augsburg hat die letzte Voraussetzung geschaffen für das römisch-deutsche Kaisertum des Mittelalters, das sieben Jahre später — 962 — mit der Krönung Ottos durch den Papst in die Geschichte eintrat. Überhaupt begann in der deutschen und europäischen Geschichte ein neuer Abschnitt, eine zwar sehr langsame, aber stetige Entfaltung, ein Aufstieg in Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft, staatlich-politischer Festigung, geistiger Regsamkeit, religiöser Sammlung.

Insbesondere an der Ostgrenze des Reiches gab die Wende von 95 5 den Deutschen das Gesetz des Handelns zurück. Der Gedanke der Ostmission gewann neuen Auftrieb. Am Morgen des entscheidenden Tages gelobte Otto, zu Ehren des hl. Laurentius in Merseburg ein Bistum zu errichten; mit der Gründung des Erzbistums Magdeburg fand das Werk 968 seine Krönung. Erst recht wurde die Grenzsicherung wieder ausgebaut, auch und vor allem gegen die Ungarn selber. Die zusammengebrochene bayerische Ostmark erstand von neuem. Sie schob sich von der Ennslinie an beiderseits der Donau vor. Als gesonderter Teil des Herzogtums Bayern wird sie kurz vor dem Jahre 1000 erstmals mit dem Namen Ostarrichi bezeichnet, — die Ungarnschlacht von 95 5 steht also am Anfang der bewegten, an Höhen und Tiefen reichen Geschichte Österreichs!

Sie steht aber nicht zuletzt auch am eigentlichen Anfang der ungarischen Geschichte. Das Ende der Raubzüge bedeutete auch das Ende der nomadischen Lebensweise, den Übergang zur Seßhaftigkeit, zur bäuerlichen Gesittung. Bereits die nächste Generation nahm das Christentum an, und mit der Staatsgründung durch Stephan den Heiligen, den ersten König, die sich um das Jahr 1000 vollendete, wuchsen auch die Ungarn in die christliche Kulturgemeinschaft hinein. Seither haben sie, zeitweilig als Grenzmacht gegen die Türken, die politischen und geistigen Schicksale des Abendlandes geteilt. Niemand wird ja so einfältig sein, mit der Augsburger Jahrtausendfeier feindselige Gefühle zu verbinden gegen das ungarische Nachbarvolk, gegen das heute so unglückliche Land der Stephans-krone, die Heimat der hl. Elisabeth . . .

Eine bittere Wahrheit Nehmen wir das alles zusammen, dann erweist sich die Augsburger Schlacht wahrhaftig als ein grundlegendes historisches Ereignis, von dem aus vieles an unserer Geschichte erst verständlich wird, als ein Punkt, an dem sich die verschiedensten-geschichtlichen Entwicklungslinien zu einem Knoten verschlingen, und es erübrigt sich wirklich, dem Gedenken der Besinnung durch anachronistische Parallelen, durch unechte Aktualisierung „nachzuhelfen“. Mögen tausend Jahre vor Gott wie ein Tag sein, in der irdischen Geschichte sind sie eine gewaltige Zeitspanne, in der sich unendlich vieles ereignet und gewandelt hat; es geht einfach nicht an, aus einem Geschehnis vor tausend Jahren handfeste Lehren für die Gegenwart ziehen zu wollen.

Das Verlangen nach einer solchen Betrachtungsweise ist freilich menschlich und psychologisch verständlich, aber wenn wir nun wirklich die Besinnung an jenes Geschehnis mit ein paar nützlichen Überlegungen verknüpfen wollen, dann kann es sich nur um Einsichten allgemeinster Art handeln. Der stärkste Eindruck ist dabei, daß Deutschland schon in dem Augenblick, da sein Staatswesen sich eben konsolidiert, als Schutzwall der abendländisch-christlichen Kulturwelt dient. Eine solche Rolle ist fraglos den Deutschen damals und auch in verschiedenen späteren Phasen ihrer Geschichte — aber durchaus nicht immer! — zugefallen, und fraglos liegt über solchen Abschnitten ein besonderes Pathos. Aber wir müssen schärfer zusehen und differenzieren. So dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß es einen Deutschland vorgelagerten Gürtel von westslawischen Völkern gibt, die auch zur lateinischen Christenheit, d. h. zum Abendlande, zählen, unter die sich gerade die Ungarn eingereiht haben. Vor allem aber ist vor, der Vorstellung zu warnen, als ob es über alle Jahrhunderte hinweg eine permanente, gleichbleibende Gefahr, ein böses Prinzip gegeben hätte, das man summarisch als „den Osten“ kennzeichnen könnte. Das wäre ein vordergründiger Rückschluß von der sehr komplexen Gegenwartssituation aus und völlig verfehlt, wenn daraus eine Analogie zwischen dem 10. und dem 20. Jahrhundert konstruiert werden sollte, denn außer der Himmelsrichtung haben damalige und heutige Bedrohungen nichts gemein. Hinter den Ungarneinfällen steckt nichts als das elementare Drängen der noch auf primitiver Stufe stehenden Völker in die reichen Kulturgebiete, ein LInternehmen, das in Abwehr oder Assimilierung zu enden pflegt. Tödliche Gefahr wird erst heraufbeschworen durch einen Gegner, der als Träger einer fremden Ideologie in bewußter, prinzipieller Feindschaft gegen eine Kulturwelt anrennt. Dieser große Widersacher der Christenheit war über Jahrhunderte hin der Islam, von den Arabern in Spanien bis zu den Türken im Südosten, und wenn man schon eine historische Analogie zur Gegenwart sucht, dann sind es nicht die Ungarn, sondern die Türken. Aber auch dieser Vergleich ist sofort wiedereinzuschränken: was uns heute bedroht, ist nichts absolut Fremdes und Andersartiges, sondern sozusagen pervertiertes Abendland, d. h. eine Kraft, deren ideologischer Kern ein abendländisches Geistesprodukt ist, die sich freilich zur geballten Macht geformt hat in einem Lande, das trotz vielfältiger Berührung, ja Gemeinsamkeit mit unserer Welt nicht als abendländisch gelten kann. Lind was sich schließlich vor einem abgewogenen historischen Urteil als Lehre aus den Ereignissen von 955 vertreten läßt — um das Wort in Gottes Namen doch zu gebrauchen —, das reduziert sich auf etwas Grundsätzliches, Überzeitliches und insofern auch Gegenwärtiges: nicht die Gegner sind vergleichbar, aber die Bedrohtheit überhaupt — latent oder offen — ist wie ein Gesetz, unter dem mehr oder minder stets die Hochkulturen gestanden haben, und immer hat der Satz gegolten, daß zur Sicherung rechtlicher und staatlicher Ordnung nach innen und außen ein Mindestmaß an Macht unentbehrlich ist, daß Macht im wörtlichen — auch militärischen — Sinne zur Basis jedes Staatswesens gehört. Das ist eine bittere Wahrheit, vor der wir nicht in gefühlsmäßiger oder doktrinärer Abwehr die Augen verschließen dürfen, das ist bei nüchternem historisch-politischem Denken allerdings auch eine Binsenwahrheit, für die es nicht erst eines Gedenkens an die Ungarnschlacht vor tausend Jahren bedarf, — so wie umgekehrt bei unserer Besinnung auf Otto den Großen dies alles nur beiläufige Erwägungen sein sollten, ohne zentrale Bedeutungfür unser Geschichts-und Kulturbewußtsein. Die Entscheidung von 95 5 hat wahrlich Gewicht genug durch das, was sie für die Menschen des 10. Jahrhunderts unmittelbar bedeutete und durch die große Wende, die sie in der deutschen und europäischen Geschichte her-aufgeführt hat. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

I Walter A. Berendsohn: „Thomas Mann und das Dritte Reich"

Paul H. Douglas: „Gutes und Schlechtes in den Vereinigten Staaten"

Johannes Gaitanides: England und der Wohlfahrtsstaat Roland Klaus: „Nicht gestern, Freund, morgen!

Helmut Krausnick: „Wehrmacht und Nationalsozialismus 1934— 39"

Jürgen Rühle: „Die Kulturpolitik in der SBZ"

Hans Wenke: „Die Erziehung im Kreuzfeuer der öffentlichen Meinung" „Urkunden zur Judenpolitik des Dritten Reiches"

Fussnoten

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