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Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart | APuZ 43/1955 | bpb.de

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APuZ 43/1955 „Völker können sich nie genug schenken” Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart Unterschiede, Mißverständnisse und Möglichkeiten zwischen Deutschland und Frankreich Tradition, Vernunft, Freiheit Die Augsburger Jahrtausendfeier

Deutschland und Frankreich in der Weltpolitik der Gegenwart

Arnold Bergsträsser

Gefühlswelt in die Geschichtsbücher ausgewandert und hinterließ den Franzosen die wunderbare Legende der Jeanne d‘Arc. Aber im politischen -Raum ist das alles keine Realität mehr. Ist Richelieu noch eine Realität?

Als ich vor ein paar Jahren in Mainz zu diesen Dingen zu reden hatte, erinnerte ich daran, daß im Jahre 1870 David Friedrich Strauß an Renan einen Brief schrieb, daß die Deutschen ja gar keinen Krieg gegen das französische Volk führten, sondern gegen Richelieu, der nun schon 31/2 Jahrhunderte tot war. Was heißt das? Daß hier eine bestimmte Formulierung eine legendenhafte Prägung annimmt, die von den Menschen selbst gar nicht mehr revidiert, überdacht wird. Konkret heißt es so: Wird es gelingen, in der Berichtigung der Geschichtsbücher, in der Auflockerung dieser Legenden nun die Unverbindlichkeiten der Aussagen zu den Verbindlichkeiten des Wissens zu führen? Wir haben ja ein paar solcher Zusammenkünfte gehabt, ich habe sie mit verfolgt, wo die französischen und die deutschen Historiker sich zusammensetzen, um zu sagen: das ist in eurer, das ist in unserer Schau falsch oder zumindestens schief. Ob es zum Erfolg führt? Ich habe vor einiger Zeit ein französisches Geschichtsbuch gelesen, das mich etwas traurig machte, aber ich bin überzeugt, daß in Deutschland ähnliche Bücher auch noch erscheinen. Es ist nicht meines Amtes und hier nicht meine Aufgabe, zu den aktuellen Dingen zu sprechen. Idi möchte nur mit Zuversicht rechnen dürfen, daß nicht an Wunden gerieben wird, die heilen müssen, damit der Gesamtkörper gesundet.

Gesamtkörper, was ist denn das? Der mit Schwären bedeckte Leib Europas. Europa — nur gewollte Selbsttäuschung führt über solche Einsicht hinweg — hat sich in Bruderkriegen materiell selber aufs Äußerste geschwächt. Die Schuldfrage ist einmal eindeutig, ist das andere Mal umstritten. In ihr zu wühlen heißt den möglichen natürlichen Heilungsprozeß aufzuhalten. Aber Europa stellt eine geistige Macht dar, hat seine moralisch-kulturelle Verantwortung nicht eingebüßt, muß sich ganz einfach dessen bewußt sein, daß deren Wirkkraft nur in einem, durch nüchterne Einsicht in die äußere Machtlage gesicherten Stand lebendig bleibt, fruchtbar wird in der Luft der geistigen Freiheit. Das zu begreifen und ihm zu dienen,'ist unsere gemeinsame Aufgabe. Wann wird es möglich sein, daß die Nationen die Form finden, sich zu danken? Ich darf zwei Beispiele nehmen: Wir alle wissen, was große deutsche Musik im französischen Volk an Widerhall fand und immer wieder findet. Und wir selber wissen, wie die wunderbare Luft der Isle de France auch die Farbwelt der deutschen Malerei durchhellt hat. Was Courbet, Manet, Gauguin, Matisse geweckt und im Reifen gesichert haben, ach, es wäre schön, diesen geistigen Dingen ihren Rang zurückzugeben, zuzuerkennen. Es mag manchem sentimental klingen. Wenn die Fachleute der Hohen Behörde in Luxemburg, wenn die Verkehrspolitiker, die Wirtschafts-und Handelsexperten, wenn die Offiziere im Rahmen der NATO zusammenkommen, werden sie gewiß wenig von derlei reden. Aber wenn ich vor mir sehe, daß Männer wie Francois-Poncet und Hausenstein an diese Fragen mit herankommen — sie werden sie sehen. Lim was geht es denn? Die Imponderabilien, die zwischen den Völkern — hin und her — gespürt, gedeutet werden, ponderabel, das heißt wägbar zu machen. Und das ist auch Politik, und zwar eine gute Politik. Man will sich in ihr nie Übervorteilen, sondern sie bedient sich sogar der generösen Geste, daß man dem anderen etwas schenkt. Ich glaube, Völker können sich nie genug schenken.

Die Gesamtabsicht der vom Deutschen Rat der Europäischen Bewegung veranstalteten deutsch-französischen Tagung stellt die Beziehungen zwischen den beiden Ländern unter den Gesichtspunkt ihrer gemeinsamen Zukunft. Darin ist die Aufforderung enthalten, die heutige Lage Frankreichs und Deutschlands von der politischen Weltsituation her zu denken, sie also in einem Rahmen zu sehen, der über die bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich hinausweist. Von diesem Aspekt her könnte deutlich werden, ob die Weltsituation von heute auf neue Gemeinsamkeiten hindeutet. Die Bedeutung der Gefahren würde deutlicher, die dem gegenseitigen Einvernehmen drohen, und zugleich die Möglichkeiten, sie durch ein gemeinsames Handeln in gegenseitigem Einverständnis und dauerhaftem Frieden zu überwinden.

Folglich soll, ausgehend von der Lage Europas in der Welt der Gegenwart die Frage aufgeworfen werden, inwiefern das unselige deutsch-französische Verhältnis der Vergangenheit und das ihr zugrunde liegende Denken den Tatsachen der Gegenwart noch entspricht. Dabei müssen einige einfache aber grundsätzliche Strukturwandlungen erörtert werden, welche die weltpolitische Situation in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts erfahren hat. Es wird sich dabei zeigen, daß von Deutschland aus gesehen die deutsch-französisdien Konflikte der Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft an Gewicht entscheidend verloren haben. Für die Zukunft einer deutschen Außenpolitik kann eine Rangfolge, der Grundsätze dargelegt werden, über die bei den maßgebenden Parteien weitgehende Übereinstimmung herrscht. Sie können vielleicht durch unsere französischen Freunde mit einer entsprechenden Reihe von Prioritäten im weltpolitischen Denken Frankreichs verglichen werden. Eine Diskussion über diese Grundfragen könnte dazu beitragen, daß sich anstelle der aus der Vergangenheit stammenden Konflikte und Besorgnisse eine gemeinsame, auf die Zukunft gerichtete Haltung weiterentwickelt. 1. Die Situation Deutschlands in der Gegenwart ist bestimmt durch die Katastrophe der nationalsozialistischen Politik, die mit dem Ende des zweiten Weltkrieges eingetreten ist. Deutschland muß und will sich damit zufrieden geben, seine Zukunft nicht mehr auf die eigene politische Machtentfaltung, sondern auf die Verbundenheit mit Anderen aufzubauen. Dabei versteht es sich selbst als Glied eines Europas, das auch als Ganzes innerhalb des Weltzusammenhanges an Bedeutung verloren hat. Die Großmachtansprüche von einst sind in Ansehung der tatsächlichen Machtverhältnisse der Gegenwart wie aus innenpolitischen und kulturellen Gründen von der öffentlichen Meinung Deutschlands wie von seinen führenden politischen Organen endgültig aufgegeben. Die Politik des Nationalsozialismus erscheint den Deutschen von heute als Wiederaufnahme eines diplomatischen Denkens, das schon durch den ersten Weltkrieg widerlegt war. Sie hatte dazu geführt, einem leichtfertig übernommenen Risiko zu überlassen, was in Deutschland selbst politisch, wirtschaftlich und kulturell seit 1848 geleistet worden war, und gleichzeitig hatte sie die Stellung Europas als Ganzes aufs Schwerste geschädigt. In der öffentlichen Meinung Deutschlands herrscht Einmütigkeit darüber, daß die zukünftige deutsche Politik sich in einen gesamteuropäischen Rahmen einzufügen hat. Aus diesem Grunde wurde jeder Akt europäischer Integration grundsätzlich gutgeheißen, obwohl im einzelnen sich verschiedene Meinungen über die Durchführung dieser Integration gebildet haben.

2. Man ist sich in Deutschland darüber klar, daß das Konzert der europäischen Mächte, das seit der Entstehung des modernen souveränen Staats bis zum Beginn unseres Jahrhunderts die Weltpolitik beherrscht hatte, im Gefolge des Eintretens der Vereinigten Staaten in das internationale politische Geschehen und der Ausbildung des Sowjetsystems als einer auch gesellschaftspolitisch zentralen Machtgruppierung durch eine andere Dynamik ersetzt worden ist. Die Beteiligung der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik wird als endgültig betrachtet. Der amerikanische Isolationismus erscheint uns als ein zur Wirkungslosigkeit verurteilter Überrest aus seiner Vergangenheit, die den Vereinigten Staaten erlaubte, ein Jahrhundert lang im Schutz der beiden Ozeane ein von den Weltereignissen unberührtes Dasein zu führen. Die Föderalisierung des britischen Weltreichs hat auch die Stellung Großbritanniens zugleich nach der Welt hin erweitert, aber auch von den Dominions in größere Abhängigkeit gebracht. Die Welt ist tatsächlich eine Welt geworden, zwar eine Welt die von Spannungen erfüllt ist, in der aber jedes politische Geschehen Rückwirkungen auf das Ganze ausübt.

3. Zudem hat die Entwicklung der modernen Waffen die Menschheit instand gesetzt, ihr eigenes Dasein zu gefährden. Die Verantwortung für die friedliche Lösung internationaler Konflikte ist dadurch zu einer dringenden Angelegenheit des Selbstinteresses jedes modernen Volkes geworden. Deutschland ist, da es geographisch im europäischen Spannungszentrum der Weltpolitik zwischen Ost und West gelegen ist, aufs Äußerste daran interessiert, daß verläßliche Methoden zur Sicherung des Friedens gefunden werden. Die Sicherung des Friedens hat darum die erste Priorität unter den Grundsätzen des deutschen politischen Denkens.

4. In der, heutigen Lage der Welt ist der Gegensatz zwischen den gesellschaftlichen Grundsätzen des sowjetischen Ostens und denen des freiheitlichen Westens-ein die zwischenstaatliche Politik entscheidend beeinflussendes und mit ihr unlöslich verflochtenes Moment geworden. Durch die Angliederung der baltischen Staaten, Polens, der Tschechoslowakei, Rumäniens, Ungarns und Bulgariens an das Sowjetsystem und durch den kommunistischen Charakter der Staats-, Wirtschaftsund Sozialverfassung Jugoslawiens hat sich der freiheitlich gestaltete Teil Europas verkleinert. Deutschland ist durch die Anwendung sowjetischer Methoden im Bereich der russischen Besatzungszone und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, die auch gesellschaftspolitisch dem Sowjetsystem angeschlossen ist, zu einem geteilten Lande geworden. In ihm wird die Spannung zwischen Ost und West durch das Bestehen zweier auf gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Auffassungen beruhender Staatswesen wirksam.

Die Wirtschaft der Bundesrepublik ist ebenso, wie es für die Wirtschaft Gesamtdeutschlands der Fall wäre, angewiesen auf den Austausch von Gütern und Dienstleistungen mit der westlichen Welt. Ihr innenpolitischer Bestand ist gebunden an den sozialen Erfolg der liberalen Marktwirtschaft. Ihre wirtschaftliche Struktur und ihr gesellschaftlicher Bestand machte sie deshalb abhängig von der verläßlichen Entwicklung und Fortdauer der internationalen Zusammenarbeit mit den Ländern des Westens in Europa und auf den außereuropäischen Märkten.

Vordringliche Fragen

5. Für das deutsch-französische Verhältnis sind die folgenden Fragen vordringlich.

I. Das beiden Ländern gemeinsame Interesse an der Erhaltung des Weltfriedens verlangt die weitere Zusammenarbeit an der Errichtung eines allgemeinen Sicherheitssystems.

II. Die Deutschen der Bundesrepublik tragen gegenüber den Deutschen der Sowjetzone die Verantwortung für die Daseinsführung des eigenen Volkes, die von zahllosen verwandtschaftlichen Beziehungen verstärkt wird. Die Wiedervereinigung der getrennten Teile auf Grund einer freien Entscheidung der Bevölkerung der Sowjetzone ist selbstverständliches Ziel der deutschen Politik. Für Frankreich könnte eine Wiedervereinigung insofern bedrohlich erscheinen, als dadurch das Zahlenverhältnis zwischen der Bevölkerung Frankreichs und der der Bundesrepublik zugunsten Deutschlands verschoben würde, und als Deutschland einem steigenden sowjetischen Einfluß ausgesetzt sein und in die Versuchung gebracht werden könnte, die Spannung zwischen West und Ost zu Ungunsten Frankreichs auszunützen.

Dazu ist festzustellen, daß die sowjetische Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik keinerlei Sympathie genießt und in der Ost-zone als Zwangssystem abgelehnt wird, und daß eine Politik, die zur eigenen Machtsteigerung zwischen den beiden Machtzentren von Ost und West oszilieren würde, in Ansehung der weltpolitischen Tatsachen von heute in Deutschland keinerlei Anklang findet. Vielmehr herrscht grundsätzliche Übereinstimmung darüber, daß eine Wiedervereinigung der getrennten Teile Deutschlands nur im Zusammenhang mit einem allgemeinen Sicherheitssystem möglich ist, das Sicherheit vor dem Bolschewismus mit einschlicßt.

Dieses Sicherheitssystem bliebe unvollendet, wenn die Teilung Deutschlands in zwei staatspolitisch und gesellschaftspolitisch einander entgegengerichtete Staaten fortdauern würde. Dadurch würde ein Zentrum politischer Unruhen erhalten, das für die Zukunft Gesamteuropas ein gefährliches Moment der Labilität bilden müßte.

III. Es wird daher zu einer vordringlichen Frage, welche Garantien Frankreich genügen können, um sicher zu sein, daß die Zukunft der deutschen Politik'verläßlich den Grundsatz des Einverständnis-handelns zwischen Deutschland und Frankreich aufrechterhalten wird. Es liegt dringend im deutschen Interesse, die französische Besorgnis vor jeder möglichen Wiederholung der Situationen von 1870, 1914 und 1940 zu zerstreuen. Die Übereinstimmung der deutschen öffentlichen Meinung, in dieser Absicht ein völlig neues Kapitel der deutsch-französischen Beziehungen zu beginnen, hat sich in der Wirkung geäußert, welche der Gedanke der europäischen Integration ausgelöst hat. An ihr hat sich gezeigt, daß sich das nationalstaatliche Denken, welches in Deutschland viel jüngeren Datums ist als in Frankreich, und insbesondere der Nationalismus, mit der Katastrophe der nationalsozialistischen Politik tatsächlich aufgelöst hat. Während sich in den ersten fünf Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Parole der Verständigung zwischen beiden Ländern in dem einen Lande gerade dann durchzusetzen schien, wenn sie im anderen zu unterliegen begann, ist heute die Ablehnung jeder Konfliktsituation zwischen den beiden Ländern in Deutschland so unbedingt, daß auf Geduld und Beharrlichkeit der deutschen öffentlichen Meinung gerechnet werden kann. Durch stetige Weiterarbeit an der Integration Europas auf den Gebieten der Verteidigung, des internationalen Rechts, der Wirtschaft und der Kultur wird sich diese Gesinnung festigen und institutionell verdichten.

IV. Im Prozeß des wirtschaftlichen Wiederaufbaus wurde in der Bundesrepublik ein hoher Grad wirtschaftlicher Dynamik erreicht. Wegen der Schwächung der Wirtschaft durch den Verlust der Ostgebiete und die Teilung war er aus sozialen Gründen unerläßlich. Diese wirtschaftliche Dynamik wird aber gelegentlich zum Gegenstand der französischen Besorgnis. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Besorgnis durch gemeinsames Vorgehen in Europa und auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Entfaltung unterentwickelter Regionen gemindert werden kann.

V. Der Abhängigkeit der Bundesrepublik von der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit allen Ländern des westlichen Europa und mit den Vereinigten Staaten steht eine größere Eigenständigkeit der französischen Wirtschaft gegenüber. Die höhere Krisenempfindlichkeit der Wirtschaft der Bundesrepublik, die auch für ein wiedervereinigtes Deutschland Geltung hätte, ist bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Dynamik der Bundesrepublik mit in Rechnung zu ziehen.

VI. Da der Bestand der rechtsstaatlich-demokratischen Freiheit von dem sozialen Erfolg des Wirtschaftssystems abhängig ist, bestehen in gesellschafts-politischer Hinsicht gemeinsame Interessen zwischen den beiden Ländern.

VII. Sowohl in Frankreich wie in Deutschland, aber insbesondere in Deutschland selbst, wird die Gefährdung der Daseinsgestaltung des modernen Menschen durch die Einwirkung der modernen technologischen Lebensweise deutlich gesehen. Ihr gegenüber haben sich in beiden Ländern Kräfte bemerkbar gemacht, welche die kulturelle

Fussnoten

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