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Wie die Meinungsfreiheit zum Problemfall erklärt wird

René Pfister

/ 15 Minuten zu lesen

Cancel Culture ist ein schillernder Begriff, unter dem jeder etwas anderes versteht. Doch immer mehr Menschen haben das Gefühl, nicht mehr offen sagen zu können, was sie denken. Für eine lebendige Demokratie ist das eine große Gefahr.

Ist „Cancel Culture“ die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit, wie CDU-Chef Friedrich Merz glaubt? Oder geht es vielmehr um „moralische Panik“, die nur deshalb entfacht wird, um fortschrittliche Anliegen zu denunzieren, wie viele im progressiven Lager meinen?

„Cancel Culture“ ist in erster Linie ein schillernder Begriff. Ich war in den vergangenen vier Jahren in den USA auf unzähligen Veranstaltungen der republikanischen Partei und ihrer Vorfeldorganisationen: auf Rallys von Donald Trump und seinen Getreuen, auf der CPAC-Konferenz, zu der jedes Jahr die glühendsten Anhänger der MAGA-Bewegung („Make America Great Again“) pilgern. Kaum ein Begriff ist dort häufiger zu hören als „Cancel Culture“ – zu der freilich für Trump-Anhänger schon der Umstand zählt, dass ihr Idol auf dem Wege einer demokratischen Wahl aus dem Amt befördert wurde.

Es gibt Begriffe, die wegen ihres exzessiven Gebrauchs so diffus geworden sind, dass sie kaum noch zur Erklärung der Wirklichkeit taugen. „Cancel Culture“ gehört dazu. Aber heißt das im Umkehrschluss, dass die Klage völlig unberechtigt ist, wonach in den vergangenen Jahren die Debattenräume systematisch verengt wurden? Und ist es faktisch falsch, dass Menschen ihren Job verlieren, nur weil sie den Comment eines bestimmten Milieus verletzen? Ich glaube das nicht.

Von Einzelfällen und Strukturen

Beginnen wir mit ein paar einfachen Zahlen. Schaut man sich Umfragen zum Thema Meinungsfreiheit an, erkennt man in vielen Ländern der westlichen Welt einen einheitlichen Trend: Laut einer YouGov-Umfrage aus dem November 2021 erklären 57 Prozent der Briten, dass sie manchmal darauf verzichten, ihre Auffassung zu politischen oder sozialen Themen zu äußern, weil sie negative Konsequenzen fürchten. Im März 2022 veröffentlichte die „New York Times“ eine Erhebung, nach der 55 Prozent der US-Amerikaner im abgelaufenen Jahr schon einmal geschwiegen haben, weil sie harsche Kritik oder gar Vergeltung fürchteten.

Im Sommer 2021 sorgte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach auch im linken Lager für ein kurzes Innehalten. Demnach glauben nur noch 45 Prozent der Deutschen, frei ihre politische Meinung äußern zu können. 44 Prozent widersprachen. Für einen kurzen Moment schien es so, als wurde eine Debatte in Gang kommen, ob es nicht ein Problem für die Demokratie sein könnte, wenn die Bürger nicht mehr offen artikulieren, was sie denken.

Aber dann wurden solche Gedanken mit dem Argument beiseite gewischt, dass die Erhebung im Grunde gar keine Aussagekraft besitze. Denn die Frage der Allensbach-Forscher lautete: „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“ In einem Kommentar auf „Zeit Online“ hieß es, diese Frage ließe schon deshalb keinen Rückschluss auf die Meinungsfreiheit zu, weil Vorsicht immer angeraten sei, „allein aus Selbstschutz“. Mag sein. Das Problem ist nur, dass die Demokratie jedem die Möglichkeit lässt, Unmut und Protest anonym in der Wahlkabine zu artikulieren, wenn sie oder er das Gefühl hat, es nicht offen tun zu können.

Die Debatte um Cancel Culture wird begleitet von einem paradoxen Phänomen: Selbst diejenigen, die den Begriff für rechtes Kampfvokabular halten, gestehen häufig zu, dass es unschöne Entwicklungen gebe, gerade an Universitäten und in Medienbetrieben in den USA, aber zunehmend auch in Deutschland. Auch im linken Lager mag heute kaum noch jemand verteidigen, dass James Bennet, der Meinungschef der „New York Times“, nur deshalb gefeuert wurde, weil er einen umstrittenen Kommentar eines republikanischen Senators abgedruckt hatte. Und wer kann im Ernst verstehen, warum die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin im Januar 2018 beschloss, ein Gedicht von Eugen Gomringer von ihrer Fassade zu entfernen, dessen Zeilen kaum unschuldiger hätten sein können und das kurz zuvor noch als Klassiker der Konkreten Poesie gegolten hatte?

Vorkommnisse wie diese werden gerne als Einzelfälle abgetan; als Übertreibungen, produziert von dogmatischen Professoren oder übereifrigen Studenten, die im jugendlichen Furor über das Ziel hinausgeschossen seien. Interessanterweise hört man solche Entschuldigungen vor allem von Leuten, die darin geschult sind, Gesellschaft und Staat auf „strukturellen Rassismus“ und „patriarchale Strukturen“ abzuklopfen – die sich also keineswegs mit der Begründung zufriedengeben würden, Diskriminierungen von Minderheiten seien das Ergebnis von individuellen Fehlleistungen. Und tatsächlich ergibt der Begriff des strukturellen Rassismus in manchen Fällen ja auch durchaus Sinn: Wer etwa will ernsthaft bestreiten, dass Gesetze, die darauf abzielen, schwarze Wähler im Süden der USA von der Wahlurne fernzuhalten, nicht das Ergebnis eines tiefsitzenden und systematisch organisierten Rassismus sind?

Aber umgekehrt wäre es ebenso naiv, die wachsende Illiberalität im linken Lager als Verkettung bedauerlicher Einzelfälle zu begreifen. In den USA hat sich ab den Achtzigerjahren eine Denkschule etabliert, die stark von poststrukturalistischen Denkern wie Michel Foucault geprägt ist und die eine tiefe Skepsis gegen den liberalen Rechtsstaat und einen seiner wichtigsten Pfeiler hegt: die Meinungsfreiheit.

Critical Race Theory

Der Impuls war auf den ersten Blick nachvollziehbar: Überall in der westlichen Welt zeigte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts eine große Diskrepanz zwischen der formalen rechtlichen Gleichstellung ehemals unterdrückter Gruppen und ihrer realen Lage. Die USA hatten im Jahr 1920 mit dem 19. Zusatz zur US-Verfassung das Frauenwahlrecht eingeführt; 1963 verabschiedete der US-Kongress den Equal Pay Act, der Frauen gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit gewähren sollte. Aber Frauen blieben dennoch häufig von Macht und Einfluss ausgeschlossen: 1984 war es das erste Mal überhaupt, dass eine Frau als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft ernsthaft in Erwägung gezogen wurde – Geraldine Ferraro, die als Running Mate des demokratischen Kandidaten Walter Mondale antrat.

Ähnlich enttäuschend sah die Bilanz für schwarze Amerikaner aus. Zwar war die Präsidentschaft des Demokraten Lyndon B. Johnson in den Sechzigerjahren auf den ersten Blick ein furioser Triumph der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: Der Civil Rights Act von 1964 verbot die Diskriminierung von Schwarzen in Restaurants, Kinos oder öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Voting Rights Act von 1965 untersagte Analphabetismus-Tests, mit denen Schwarze von der Wahlurne ferngehalten wurden. Und der Fair Housing Act von 1968 sollte die Praxis des sogenannten Redlining beenden, mit der Afroamerikanern der Zugang zu Immobilienkrediten verwehrt wurde.

Aber all diese Gesetze änderten nichts an der Tatsache, dass schwarze Amerikaner ärmer als weiße blieben und deutlich häufiger im Gefängnis landeten. Heute ist mehr als ein Drittel aller Häftlinge in den USA schwarz, während der Anteil der Afroamerikaner an der Gesamtbevölkerung 13 Prozent beträgt. Das mittlere Vermögen eines weißen Haushalts in den USA liegt bei 188.000 Dollar und ist damit fast achtmal höher als das eines schwarzen. Die Frustration über den mangelnden Fortschritt veranlasste eine ganze Generation von Wissenschaftlern in den USA dazu, einen ganz neuen Blick auf ihr Land zu werfen, und brachte neue akademische Ideen und Disziplinen hervor, die einen starken aktivistischen Zug trugen.

Im Januar 1980 erschien in der „Harvard Law Review“ ein Artikel, dessen sperriger Titel bald im eklatanten Widerspruch zu seiner Wirkung stehen sollte. Der Aufsatz trug die Überschrift „Brown v. Board of Education and the Interest Convergence Dilemma“. In ihm stellte der Bürgerrechtsanwalt Derrick Bell die These auf, dass die wohl wegweisendste Entscheidung des Supreme Courts zugunsten schwarzer Amerikaner nicht etwa von dem Wunsch getrieben gewesen sei, diesen Gleichberechtigung zu verschaffen. Vielmehr, so argumentierte Bell, habe das Gericht im Jahr 1954 vor allem deshalb die Rassentrennung an öffentlichen Schulen aufgehoben, weil das in jener Zeit im Interesse der weißen Mehrheitsgesellschaft gelegen habe. Bell hatte schon in früheren Texten die Meinung vertreten, dass nicht Moral und Gewissen weiße Amerikaner dazu antreibe, sich gegen die Diskriminierung ihrer Mitbürger zu wenden, sondern der schiere Eigennutz. Doch in dem 16-seitigen Aufsatz klingen alle Überlegungen an, die sein Werk ausmachen sollten: die Idee, dass Rassismus nicht nur in einzelnen Menschen steckt, sondern einen essenziellen Teil der amerikanischen Gesellschaft und ihrer politischen Institutionen bilde; die These, dass Rasse ein Konstrukt sei, um weiße Dominanz zu sichern; schließlich der Gedanke, dass Schwarze jeden Fortschritt gegen den erbitterten Widerstand eines weißen Machtkartells durchsetzen müssten.

Bell war der erste schwarze Professor an der Harvard Law School, und er machte die elitäre Fakultät zur Keimzelle einer Theorie, die westliche Gesellschaften tiefgreifend verändern sollte. Wenn heute Angestellte von Amazon oder Unilever von ihren Chefs dazu aufgefordert werden, über ihre „weißen Privilegien“ zu reflektieren, wenn an Universitäten safe spaces für nichtweiße Studentinnen und Studenten eingerichtet werden, dann entspringt dies dem Gedankengebäude der Critical Race Theory, zu deren maßgeblichen Architekten Bell gehörte und die inzwischen in viele akademische Disziplinen eingesickert ist.

Besonders kritisch sehen die Vertreter der Critical Race Theory die Redefreiheit, die in den USA im ersten Zusatzartikel der Verfassung garantiert ist. Wer verstehen will, warum an US-Universitäten heute schon kleinste sprachliche Grenzverletzungen für Proteststürme sorgen, der muss das Buch „Words That Wound“ lesen, das im Jahr 1993 erschienen ist und zu einem zentralen Text für die Etablierung einer neuen Ideologie der Empfindlichkeit wurde. In dem Buch wird der Versuch unternommen, die Grenzen der Meinungsfreiheit neu auszuloten, und zwar unter Zuhilfenahme der „Opferperspektive“. Die Jura-Professorin Mari J. Matsuda stellt in ihrem Buchbeitrag einen Kriterienkatalog auf, der festlegt, was künftig unter „Hate Speech“ zu fallen habe und geahndet werden müsse. Der eigentliche Clou ihrer Argumentation ist aber, dass nicht alle Menschen vor Hate Speech geschützt werden sollen, sondern nur „historically oppressed groups“ – im Falle der USA also insbesondere Afroamerikaner.

Matsuda macht in ihrem Aufsatz gar kein Geheimnis daraus, dass sie sich auf juristisch sumpfiges Gelände wagt. Sie selbst spricht die Gefahr an, dass ihr Vorschlag eine Hexenjagd wie in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts auslösen könnte. Damals verloren Hunderte Künstler, Schauspieler und Beamte ihren Job, weil ihnen eine heimliche Sympathie für kommunistische Gedanken nachgesagt wurde. „Wie kann man für die Zensur von rassistischen Hasskommentaren argumentieren, ohne eine neue Ära McCarthy heraufzubeschwören?“, fragt sie.

Matsudas Antwort lautet, dass marxistische Ideen auch heute noch nicht generell abgelehnt würden, die Vorstellung einer unterlegenen Ethnie aber sehr wohl. Damit löst sie aber nicht das Problem, dass Zensur zur Definitionsfrage wird. Um nur ein Beispiel zu nennen: Fällt es schon unter Hate Speech, wenn jemand auf die Tatsache hinweist, dass in den USA schwarze Väter überdurchschnittlich häufig ihre Familien verlassen – was Barack Obama in seiner Rede zum Vatertag 2008 getan hat und ihm bald den Vorwurf eintrug, er bediene rassistische Klischees?

Angst vor der Meinungsfreiheit

Die Idee, dass Meinungsfreiheit nur dazu diene, Machtverhältnisse zu zementieren, genießt in linken akademischen Kreisen immer noch eine große Popularität. Im Jahr 2018 erschien in der „Columbia Law Review“, einem der renommiertesten juristischen Fachblätter der westlichen Welt, ein Aufsatz mit dem Titel: „Kann freie Rede fortschrittlich sein?“ Der Autor heißt Louis Michael Seidman, Professor an der Washingtoner Georgetown University. Seine Antwort lautete schlicht und einfach: Nein.

Seidman räumt zwar ein, dass unter bestimmten Umständen die Meinungsfreiheit dem Fortschritt dienen könne, den Seidman als Korrektur ungleicher Vermögensverhältnisse definiert und als „Abschaffung von Machtstrukturen, die auf Eigenschaften wie Ethnie, Nationalität, Geschlecht, Klasse und sexueller Orientierung basieren“. Aber solange in den USA der Kapitalismus herrsche, bleibe dies eine Illusion. „Weil die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, die gegenwärtige Wohlstandsverteilung widerspiegelt, bevorzugt die Meinungsfreiheit all jene, die an der Spitze der Machthierarchie stehen“, schreibt er. Es sei ärgerlich, dass viele Menschen, die sich dem Fortschritt verpflichtet fühlten, immer noch die „helle Fackel“ der Meinungsfreiheit vor sich hertrügen, klagt Seidman. Allerdings schreckt er vor dem entscheidenden Schritt zurück und rät von dem Versuch ab, das Recht auf Meinungsfreiheit in der US-Verfassung einzuschränken oder gar zu streichen – allerdings nur aus pragmatischen, nicht aus grundsätzlichen Erwägungen. Das Konzept der Meinungsfreiheit sei zu tief in der amerikanischen Rechtstradition verankert, schreibt er in der Zusammenfassung seines Essays: „Anstatt Energie mit dem nutzlosen Versuch zu verschwenden, die Tradition der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit zu beenden, sollten Linke besser daran arbeiten, ihre Ziele direkt zu erreichen.“

Was das heißt, lässt sich seit einigen Jahren besonders gut an amerikanischen Universitäten beobachten. Für sie forderte Mari Matsuda in „Words That Wound“ ein besonders strenges Sprachreglement. In Matsudas Text klingt alles an, was später das Leben an den Universitäten radikal verändern sollte: die Idee, dass marginalisierte Gruppen besonders geschützt werden sollten und dass es die Aufgabe der Hochschulen sei, Studenten vor emotional aufwühlenden Situationen zu bewahren; der Gedanke, dass ein offener Diskurs und ein robuster Austausch von Meinungen Studenten nicht etwa auf das Leben vorbereite, sondern sie im Gegenteil traumatisiere; und die Auffassung, dass es das Recht der Studenten ist, diesen besonderen Schutz auch einzufordern.

Die Wörter hatten damals noch keine Konjunktur – aber was Matsuda mit etablierte, war ein Trend, in dessen Folge sich amerikanische Universitäten mehr und mehr zu safe spaces wandelten, in denen ein offener Diskurs zur Gefahr erklärt wurde – und in denen die Forderung aufkam, Klassiker der Literatur nur noch nach der Ausgabe von trigger warnings zu lesen, um sensible Gemüter zu schonen. Ein Trend, der inzwischen auch in Deutschland angekommen ist, wie das Beispiel des WDR zeigt, der alte Shows des Komikers Otto Waalkes mit einem Warnhinweis versehen hat: „Das folgende Programm wird als Bestandteil der Programmgeschichte in seiner ursprünglichen Form gezeigt. Es enthält Passagen, die heute als diskriminierend betrachtet werden.“

Intersektionalität und Identität

Eine tiefe Skepsis gegenüber den Prinzipien des liberalen Diskurses steckt auch in der Theorie der „Intersektionalität“, die die Juristin Kimberlé Crenshaw Ende der Achtzigerjahre in Grundzügen entwickelt und später in dem Aufsatz „Mapping The Margins: Intersectionality, Identity Politics and Violence against Women of Color“ weiter ausgeführt hat. Wie mächtig die Idee geworden ist, mag man an der Tatsache ablesen, dass die SPD mitten im Bundestagswahlkampf 2021 einen Tweet absetzte, in dem sich Kanzlerkandidat Olaf Scholz dazu bekannte, ein „intersektionaler Feminist“ zu sein – ein Begriff, der bis vor Kurzem nicht zwingend zum Repertoire einer Partei gehörte, die Wert darauf legt, auch von der Kassiererin im Supermarkt verstanden zu werden.

Intersektionalität, so wie Crenshaw sie versteht, bedeutet erst einmal, dass Diskriminierung verschiedene Ebenen haben kann. Eine Frau mag im Beruf schlechter bezahlt werden als ein Mann – aber was, wenn diese Frau dazu noch schwarz ist? Oder lesbisch? Oder behindert? Crenshaws einfacher und zutreffender Gedanke ist, dass sich verschiedene Ausprägungen von Diskriminierung kreuzen und verstärken können.

Ein Verzicht auf Identitätspolitik wäre in Crenshaws Augen die fahrlässige Aufgabe eines politischen Machtmittels; sie sei eine „Quelle von sozialer Ermächtigung“, wie sie schreibt. Das Bahnbrechende und Revolutionäre an Crenshaws Idee ist, dass sie das Fundament für eine ganz neue Form des politischen Aktivismus legt: Während das Anliegen der traditionellen Bürgerrechtsbewegung Gleichberechtigung war, stellt die Theorie der Intersektionalität Diskriminierung auf den Kopf. Sie wird zur Quelle von Sonder- und Spezialansprüchen, mit denen die Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker vorgehen können.

Gerade unter Feministinnen gilt Crenshaw als eine der einflussreichsten Theoretikerinnen der vergangenen Jahrzehnte. Aber ihre Theorie hat auch die Saat gelegt für einen Streit, der heute das ganze progressive Lager zu zerreißen droht. Denn wenn es eine Hierarchie der Diskriminierung gibt, dann treten die Opfer in Konkurrenz zueinander. Hat eine weiße, akademisch gebildete Frau noch das Recht, sich über eine ungerechte Bezahlung zu beklagen, wenn eine muslimische Migrantin mit Kopftuch schon auf dem Weg zur Arbeit rassistisch beschimpft wird? Darf sich eine heterosexuelle Frau über sexistische Sprüche auf der Straße beklagen, wenn Transfrauen ganz grundsätzlich das Recht abgesprochen wird, ein Leben gemäß ihrer Geschlechtsidentität zu führen?

Die Theorie der Intersektionalität hat die Munition geliefert für einen Kampf, der heute die Frauenbewegung zutiefst spaltet. Frauenrechtlerinnen wie Betty Friedan in den USA oder Alice Schwarzer in Deutschland gelten intersektionalen Feministinnen inzwischen nicht mehr als Vorkämpferinnen gegen das Patriarchat, sondern als ignorante Interessenvertreterinnen einer privilegierten Schicht weißer Frauen. In ihrem Buch „The Trouble with White Women“ (2021) rechnet Kyla Schuller, Professorin für Gender Studies an der Rutgers University in New Jersey, gnadenlos mit den führenden weißen Feministinnen des 20. Jahrhunderts ab: „Ständig erweitert weißer Feminismus die Rechte und Möglichkeiten von weißen Frauen, indem er jene Menschen enteignet, die ohnehin schon am meisten unterdrückt sind. Er versucht, Frauen die Führung von Systemen zu übertragen, die den Planeten an den Rand eines ökologischen Kollapses geführt haben. (…) Weißer Feminismus hat dazu beigetragen, schwarzen Männern das Wahlrecht zu verweigern. Weißer Feminismus ist Diebstahl, der sich als Befreiung tarnt.“

Kimberlé Crenshaw hatte schnell erkannt, dass ihre Theorie der Intersektionalität die Gefahr in sich trägt, einen Bürgerkrieg im progressiven Lager auszulösen. Sie hat deshalb schon früh dazu aufgerufen, dass Opfer von Diskriminierung ihre Wunden nicht gegeneinander ausspielen, sondern Koalitionen eingehen sollen. Das Buch von Schuller ist ein gutes Beispiel dafür, dass dies ein frommer Wunsch geblieben ist. Die Theorie der Intersektionalität wurde zum Fundament einer weltlichen Sekte; ursprünglich als Instrument zur Analyse der Gegenwart erdacht, geriet es zum Treiber einer Ideologie, die es erlaubt, jeden auszusortieren, der eine abweichende Meinung vertritt: Der schwarze Kapitalist fällt ebenso durchs Raster wie die weiße Frauenrechtlerin, die das Kopftuch für ein Zeichen der Unterdrückung hält. Die hispanische Katholikin, für die Abtreibung eine Sünde bedeutet, ist ebenso suspekt wie der Professor, der findet, asiatische Studenten sollten nicht zugunsten von schwarzen Studenten diskriminiert werden. Am Ende besteht das eigene Lager aus lauter Häretikern, die nicht auf dem Scheiterhaufen landen, wohl aber am Pranger der sozialen Medien.

Was nun?

Meine These ist: Linke Identitätspolitik schadet vor allem der politischen Mitte und dem aufgeklärten Lager. Sie hilft einem bestimmten politischen Milieu, sich selbst zu vergewissern und sich in der Meinung zu bestärken, mit einer höheren Moral ausgestattet zu sein. Die Dogmen und Glaubenssätze in dieser kleinen Blase aber sind so rigide, dass sie auf eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler abstoßend wirken – und zwar ganz unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe.

Jeder Demokrat in den USA, der sich gendersensibel ausdrücken möchte, nennt hispanische Amerikaner inzwischen nicht mehr „Latinos“, sondern „Latinx“ – von der New Yorker Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez bis zur ehemaligen demokratischen Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren. Allerdings zeigt eine Umfrage des Pew-Instituts, dass nur drei Prozent der hispanischen Amerikaner den Begriff verwenden. Als Ruben Gallego, ein demokratischer Kongressabgeordneter aus Arizona, gefragt wurde, wie seine Partei Latinos für sich überzeugen könne, schrieb er: „First start by not using the term Latinx.“

Wörter und Akronyme wie „Latinx“, „BIPoC“ (Black, Indigenous and People of Color) oder „Geflüchtete“ sollen inklusiv sein, um im Jargon des progressiven Milieus zu bleiben, aber sie sind eben auch ein Distinktionsmerkmal. Wer auf Twitter seine Pronomen („she/her“) angibt, arbeitet eher nicht bei Walmart an der Kasse. Der Glottisschlag ist in der Frühschicht einer Autofabrik eher selten zu hören. Die Sprache der Inklusion ist so gesehen auch ein Mittel, sich über den ungebildeten Pöbel zu erheben – und ein Weg, jene zu verdammen, die leider zu beschäftigt waren, die letzte Windung des progressiven Diskurses mitzubekommen. Barack Obama hat schon 2019 jenen „woken“ Hochmut beklagt, der sich unter jungen Akademikern breitmache. Bei einer Debatte mit linken Aktivisten sagte er: „Wenn ihr bloß mit Steinen werft, werdet ihr wahrscheinlich nicht weit kommen. Denn das ist zu einfach.“

Es gehört zu den Eigenarten des identitätspolitischen Diskurses, dass er nur die Regeln für ein ganz bestimmtes Milieu setzt. In den USA gibt es schon seit Jahren das Phänomen, dass sich die Sprachwelten vollkommen voneinander entkoppelt haben. Während es an manchen Universitäten inzwischen schon ein Tabu ist, das „N-Wort“ auch nur abgekürzt in einem Text zu erwähnen, hat sich Donald Trump ein Universum geschaffen, in dem auch noch das platteste rassistische Klischee als Ausdruck einer gesunden Debattenkultur gefeiert wird. Es ist eine Entwicklung, die in Ansätzen auch in Deutschland Einzug gehalten hat. Wer, nur als Beispiel, mag verstehen, wenn die Berliner SPD-Chefin Franziska Giffey zum Weltfrauentag erklärt, sie setze sich für die Gleichstellung von Frauen ein – „unabhängig ihres Geschlechts“?

Wenn man der Frage nachgeht, warum so viele Menschen das Gefühl haben, nicht mehr offen sagen zu können, was sie denken, liefert gerade die Transgender-Debatte eine gute Erklärung. Es gibt plausible Gründe, die bestehenden Regelungen für Transmenschen in Deutschland zu reformieren. Aber heißt dies im Umkehrschluss, dass die Idee, es gebe zwei biologische Geschlechter, ein unwissenschaftliches und patriarchales Konstrukt ist, von dem sich der Staat zu verabschieden hat? Häufig werden alle berechtigten Einwände gegen das von der Bundesregierung geplante Selbstbestimmungsgesetz pauschal mit dem Argument abgeschmettert, diese seien „transphob“. „trans Frauen sind Frauen. Punkt“, verkündete die SPD-Bundestagsfraktion, als das Selbstbestimmungsgesetz das Kabinett passierte – ein Ton, der offenbar jedem klar machen sollte, dass schon die Debatte über die geplante Regelung ein unbotmäßiger Akt sei.

Die Frage ist, wohin das führen soll. Wenn sich in Deutschland Parteien daran gewöhnen, den politischen Diskurs mit moralischer Empörung zu ersticken, dann werden wir den Weg der politischen Polarisierung beschreiten, auf dem die USA schon sehr weit gekommen sind. Niemand bezweifelt, dass es in Deutschland ein robustes Engagement für Gleichberechtigung braucht. Aber wenn sich die Politik unreflektiert den Dogmen der Transgender-Bewegung oder dem Katechismus der Critical Race Theory unterwirft, werden sich viele Menschen gegängelt fühlen und Parteien zuwenden, deren Geschäftsmodell die Schamlosigkeit ist. Die Folge sind dann nicht offene Debatten, sondern politische Parallelwelten, die nicht mehr miteinander kommunizieren.

ist Korrespondent des „Spiegel“ in Washington, D.C. Dieser Text beruht in Teilen auf seinem Buch „Ein falsches Wort. Wie eine neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“, das 2022 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschien.
E-Mail Link: rene.pfister@spiegel.de