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Richter oder Schlichter?. Das Bundesverfassungsgericht als Integrationsfaktor | APuZ 16/1999 | bpb.de

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APuZ 16/1999 Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber? Richter oder Schlichter?. Das Bundesverfassungsgericht als Integrationsfaktor Verfassungslehre als Kulturwissenschaft am Beispiel von 50 Jahren Grundgesetz Das Bundesverfassungsgericht und sein Verhältnis zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften

Richter oder Schlichter?. Das Bundesverfassungsgericht als Integrationsfaktor

Hans-Peter Schneider

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Verfassungsgerichte scheinen zunehmend darauf hinzuwirken, daß ihre Entscheidungen nicht nur allseits akzeptiert werden, sondern auch inhaltlich auf einer sogenannten „mittleren Linie“ liegen und den Beifall sämtlicher politischen Kräfte und Verfahrensbeteiligten zu finden vermögen. Wird damit der Verfassungsrichter nicht eher zum „Verfassungsschlichter“? Vermittlungsbemühungen gehören nicht nur zum Wesen richterlicher Tätigkeit überhaupt, sondern -wie an zahlreichen Beispielsfällen nachgewiesen wird -auch seit jeher zum besonderen Geschäft des Bundesverfassungsgerichts. Das Begriffspaar „Richten“ und „Schlichten“ bezeichnet keinen Gegensatz, sondern lediglich zwei auf verschiedene Ziele hin orientierte Handlungs-und Entscheidungsmodalitäten der Justiz, die sogar zeitgleich gehandhabt und strategisch miteinander verbunden werden können, um die Legitimität und Akzeptanz der Entscheidung zu erhöhen. Unbestreitbar haben Verfassungsgerichte die Aufgabe, Gegensätze auszugleichen, widerstrebende Interessen zusammenzuführen und kontroverse Meinungen auf dem Boden der Verfassung miteinander zu versöhnen.

Verfassungsrecht ist zwingendes Recht. Im Verfassungsprozeß steht es weder zur Disposition der Beteiligten, noch darf ein Verfassungsgericht davon absehen oder abweichen. Deshalb kennen die Verfassungsgerichtsordnungen auch keinen Vergleich. Den Möglichkeiten, einen Verfassungsstreit vor Schiedsgerichten auszutragen, sind enge Grenzen gesetzt Und doch muß man, der veröffentlichten Meinung zufolge, gelegentlich den Eindruck gewinnen, als seien die Ergebnisse verfassungsrechtlicher Überprüfung zwischen Richtern und Verfahrensbeteiligten oftmals vorbesprochen, ja geradezu „ausgehandelt“ worden. Das Bundesverfassungsgericht habe einen „tragfähigen Kompromiß“ gefunden, heißt es nicht selten so oder ähnlich in der Presse, und: „Alle sind mit dem Urteil zufrieden“, oder gar: „In Karlsruhe: nur Sieger!“ Gewiß mag dieser hohe Grad an Identifikation mit dem mehr oder weniger günstigen Resultat einer Entscheidung neben starker Autoritätsfixierung auch auf das verständliche Bedürfnis der Beteiligten zurückzuführen sein, ihre Rechtsposition wenigstens in den Gründen irgendwo wiederzufinden. Wer möchte schon gern zu den Verlierern gehören? Aber auch die Verfassungsgerichte selbst scheinen zunehmend darauf hinzuwirken, daß ihre Entscheidungen nicht nur allseits akzeptiert werden, sondern auch inhaltlich auf einer sogenannten „mittleren Linie“ liegen und den Beifall sämtlicher politischen Kräfte und Verfahrensbeteiligten zu finden vermögen. Wird damit indes der Verfassungsrichter nicht eher zum „Verfassungsschlichter“? Was heißt und zu welchem Ziel führt eigentlich eine Verfassungsrechtsprechung, deren Hauptaugenmerk sich weniger auf die Verwirklichung der Verfassung als auf die Suche nach einem möglichst breit angelegten Kompromiß richtet? Bestünde dann nicht die Gefahr, daß an die Stelle der Verfassung als einziges Richtmaß der „kleinste gemeinsame Nenner“ tritt? Diese Fragen führen unmittelbar ins Zentrum der Funktion von Verfassungsgerichten überhaupt. Sie als Problem nicht nur des Entscheidungsstils, sondern der Sache „Verfassungsrecht“ selbst zu verstehen (I.) und anhand ausgewählter Beispiele zu verdeutlichen (II.) sowie nach einer theoretisch-methodischen Reflexion dieser Praxis (III.) ihre Chancen und Gefahren aufzuzeigen (IV.) soll die politische Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit als „Schlußstein des Integrationssystems“ erneut unterstreichen und manchem Mißverständnis seiner Aufgaben und Wirkungsweise im demokratischen Gemeinwesen, oft als „Politik im Robengewand“ kritisiert, begegnen helfen.

I. Problemstellung

Im Gegensatz zu jener Vielzahl teils positiver, teils kritischer Pressestimmen wird der Frage, ob und inwieweit Verfassungsgerichte nicht nur streitentscheidend, sondern auch vermittelnd und ausgleichend tätig werden dürfen oder sollen, im wissenschaftlichen Schrifttum bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Wo dies eher beiläufig geschieht, überwiegen Skepsis oder Ablehnung. Anders als dem Bundesrat von 1871, bei dem zumindest im Verfahren nach Art. 76 Abs. 2 RV die Streitschlichtung Vorrang vor der Streitentscheidung hatte, sei den heutigen Verfassungsgerichten in Bund und Ländern die Möglichkeit, „der Entscheidung des Streits im Wege des Rechtsspruchs durch Vermittlung eines Kompromisses“ auszuweichen, „grundsätzlich verschlossen“ Rene Marcic widmet dem Thema „Schlichtung von Verfassungsstreitigkeiten“ zwar einen ganzen Abschnitt, äußert sich darin aber lediglich zur Vergangenheit, ohne auf die aktuelle Situation Bezug zu nehmen Daß unter politologischem Aspekt im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit gelegentlich von „judikativen Schlichtungsinstanzen“ oder von einer „Schlichtungsentscheidung“ gesprochen wird, ist nicht weiter verwunderlich, weil sich die politikwissenschaftliche Forschung vorwiegend mit Machtverhältnissen beschäftigt und im Rahmen ihrer Konfliktfeldforschung von bestimmten normativen Vorgaben vielfach abstrahieren zu können glaubt. Lediglich Willi Geiger, der in den Verfassungsgerichten unverhohlen Mitgestalter des politischen Prozesses erblickt weist ihnen auch eine „in den politischen Raum hineinwirkende Befriedungsfunktion“ als „politische Aufgabe“ zu, weil sich der „Rechtsstreit ... nicht vom politischen Konflikt, der den Rechtsstreit ausgelöst hat, ablösen und isolieren“ lasse. Daraus folgt aus seiner Sicht für die Funktion der Verfassungsrechtsprechung: „Die politische Kontroverse wird nach dem Maße des Rechts durch den unparteiischen Dritten geschlichtet.“ Ist „Vermittlung“ im politischen Konflikt also nicht nur Nebentätigkeit, sondern sogar Hauptberuf des Bundesverfassungsgerichts? Während Klaus Stern noch dringend davor warnt, bei einer ständigen „Gratwanderung“ am Rande der Verfassung politische Lösungen bewußt auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz „testen“ zu lassen und damit das Bundesverfassungsgericht in die Rolle eines „permanenten Schiedsrichters“ zu drängen versuchen andere Autoren, diese Funktion geradezu ins Zentrum verfassungsrichterlicher Tätigkeit zu rücken wenn nicht aus ihr sogar das „Leitbild“ des Verfassungsrichters zu gewinnen. So analysiert Bernd Eisenblätter jene Schiedsrichterrolle aus dem Blickwinkel der Unabhängigkeit und Überparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts als einer Instanz der „Machtverteilung“ im politischen Prozeß und bezeichnet darüber hinaus den „Schiedsrichter in Fragen des systembedingten Grundkonsenses“ als „die Grundlage der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen Gesellschaft“ Ähnlich argumentiert Christine Landfried, wenn sie in Anlehnung an amerikanische Vorstellungen aus der Schiedsrichterrolle des Bundesverfassungsgerichts eine „demokratische Theorie des richterlichen Prüfungsrechts“ ableiten zu können glaubt

Im Demokratieprinzip wurzeln auch die gründlichen Überlegungen Ingwer Ebsens zur „konsens-getragenen Schiedsrichterfunktion“ des Bundesverfassungsgerichts bei dessen Bemühungen um die Sicherung der Chancengleichheit im öffentlichen Meinungskampf und um die Offenhaltung des politischen Machtprozesses. Vor allem auf diesen Gebieten stellt er zutreffend nicht nur einen hohen Grad an Prüfungsintensität und Kontrolldichte fest, sondern auch ein großes Maß an gerichtsinterner Übereinstimmung und Geschlossenheit selbst da, wo im Einzelfall die Entscheidungs-bzw. „Spielregel“ dem Grundgesetz nicht unmittelbar entnommen werden kann, sondern aus allgemeinen Prinzipien erst entwickelt werden muß. Insgesamt kommt Ebsen dabei zu dem Schluß, daß es dem Bundesverfassungsgericht „weitgehend gelungen“ sei, „in einer allgemein anerkannten Schiedsrichterrolle eine intensive Kontrolle im Sinne der normativen Funktion auszuüben“ Fast scheint es, als stelle sich bei der Verfassungsgerichtsbarkeit die Assoziation des „Schlichters“ oder „Schiedsrichters“ immer dann ein, wenn es um ihre politische Funktion oder -worin diese besonders hervortritt -um den Schutz der freiheitlichen Demokratie geht.

Um schon hier Mißverständnissen vorzubeugen: Die Vermittlungstätigkeit von Verfassungsgerichten hat nur sehr wenig zu tun mit der beliebten Unterscheidung von Recht und Politik sowie den daran geknüpften Folgerungen für die Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung Bekanntlich reicht das Spektrum der Meinungen zu diesem viel diskutierten Scheinproblem von schlichter Normanwendung unter ausschließlicher Orientierung am „Rechtswert“ bis hin zu einem Verständnis jeder Art von Rechtsprechung als „politisches Staatshandeln“ Es besteht an dieser Stelle kein Anlaß, jene mehr oder weniger tiefschürfenden Gedankengänge um eine weitere Nuance zu bereichern. Denn ein Richter kann auch mit verfassungsrechtlich determinierten Entscheidungen Politik betreiben wollen oder zumindest politische Wirkungen auslösen, wie umgekehrt Streitschlichtung nicht notwendig politische Gestaltung bedeuten muß, sondern einzig die Wahrung des Verfassungsrechts zum Ziel haben kann. Jede Gleichsetzung des „Richtens“ mit Rechtsverwirklichung und des „Schlichtens“ mit Politikdurchsetzung wäre daher verfehlt.

Ebensowenig haben beide Verhaltensweisen etwas zu tun mit der Doppelstellung des Bundesverfassungsgerichts als Teil der rechtsprechenden Gewalt und als Verfassungsorgan. Auch über diese alte, längst in § 1 Abs. 1 BVerfGG geregelte Thematik ist viel gestritten und noch mehr geschrieben worden Und auch hier stehen weiterhin überzeugte Verfechter der Organqualität denen gegenüber, die „den Titel eines Verfassungsorgans“ eher für „entbehrlich“ halten Zwar könnte man auf den ersten Blick meinen, daß je nachdem, ob das Gewicht stärker auf den Gerichtscharakter oder den Organstatus gelegt wird, sich zugleich der Akzent vom „Richten“ zum „Schlichten“ verschiebt. Ein solches Schema würde jedoch weder dem Wesen der Rechtsprechung, die stets auch Ele­ mente des Interessenausgleichs enthält, gerecht werden noch der Eigenart von Verfassungsorganen, die nicht nur zu vermitteln, sondern auch rechtsgebunden zu entscheiden haben. Aus dem Status der Verfassungsgerichte sind daher keine Anhaltspunkte für den einen oder anderen Weg zu entnehmen.

Dennoch hängt das Problem des Verhältnisses von Streitentscheidung und Streitschlichtung, genauer: des Einbaus ausgleichender Elemente in die verfassungsgerichtliche Entscheidung, funktionell eng mit jener viel berufenen „Offenheit der Verfassung“ zusammen. Weil die Verfassung fragmentarischen Charakter hat und selbst da, wo sie Regelungen trifft, ein hohes Maß an inhaltlicher Weite und Unbestimmtheit aufweist, kann über die materielle Bedeutung einer Norm im Einzelfall vielfach nachhaltig und überzeugend gestritten werden, mit der weiteren Folge, daß wegen der geringen Normdichte hier auch eine sorgfältig begründete richterliche Entscheidung nur selten als rechtlich zwingend empfunden wird und demgemäß ihre Befriedungswirkung erheblich hinter normalen Gerichtsurteilen über einfaches Recht zurückbleibt. Was die Beteiligten in Verfassungsgerichtsentscheidungen mangels klarer „Anweisungen“ des Grundgesetzes für richterliche Rechts-schöpfung, wenn nicht gar für „politisch“ motiviert halten, ist häufig nichts anderes als die Kehrseite der Vieldeutigkeit des Verfassungsrechts selbst, die der widerspruchslosen Akzeptanz solcher „offenen“ Richtersprüche im Wege steht.

Mit einem Wort aus Karlsruhe ist daher für den konkreten Streitfall die Verfassung zwar autoritativ und verbindlich ausgelegt, die verfassungsrechtliche Kontroverse an sich aber vielfach noch keineswegs zu Ende, wie anhaltende Diskussionen gerade in politisch brisanten Fällen zeigen. Daraus ergibt sich für die Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen schon aus der Eigenart des Verfassungsrechts selbst ein erhöhter Begründungs-, Legitimations-und Konsensbedarf. Was die Verfassung im Einzelfall ihrem Wortlaut nach offenzulassen scheint, muß das Gericht im Wege konkretisierender Normausfüllung mit möglichst plausiblen Argumenten „nachliefern“ Diese Überzeugungsarbeit wird in der Regel dadurch erleichtert, daß die Senate entweder, sofern man sich intern einigen kann, nach einer „mittleren Linie“ suchen oder den Dissens offen (d. h. durch Minderheitsvoten bzw. durch Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses) ausweisen. Der Effekt ist in jedem Fall gleich: Die dem Tenor nach unterlegene Partei kann zumindest einen Teilerfolg verbuchen, während der obsiegende Beteiligte nicht uneingeschränkt oder in vollem Umfang Recht bekommt, kurz: der Gewinner ist nicht nur Sieger, der Verlierer nicht vollständig unterlegen.

Als Resultat eines Verfassungsprozesses wirkt diese Konstellation nicht nur in stärkerem Maße befriedend als eine klare Entweder-Oder-Entscheidung. Ob gewollt oder ungewollt, sie enthält auch Elemente des Interessenausgleichs und der Streitschlichtung, welche im offenen Bereich der Verfassung bis zu einem gewissen Grade unabdingbar sind, wenn die Entscheidung von den Betroffenen akzeptiert, als gerechtfertigt betrachtet und rational verarbeitet werden soll. Es handelt sich dabei im Grunde um einen doppelten Entlastungsvorgang: Das Gericht befreit sich auf diese Weise bei der Verfassungskonkretisierung von einer erhöhten Begründungslast für einseitig ausschlagende Lösungen; auf die Beteiligten werden die Bürden und Kosten ihres Kampfes um Verfassungspositionen gleichmäßiger verteilt. Wie diese Ausbalancierung im Einzelfall erfolgt und wo die Grenzen einer solchen „Integrationsstrategie“ liegen, soll nunmehr an Hand einiger praktischer Beispiele näher verdeutlicht werden.

II. Elemente des „Richtens“ und „Schlichtens“ in der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts

Besonders deutlich wurde das Bemühen des Bundesverfassungsgerichts um einen sachgerechten Interessenausgleich zwischen verschiedenen wissenschaftspolitischen Strömungen erstmals im niedersächsischen „Hochschulurteil“ von 1973 Im Ergebnis bekamen die Beschwerdeführer nur zur Hälfte Recht, wie sich aus der Kostenentscheidung unschwer ablesen läßt. Denn auf der einen Seite wurde die Organisationsform der „Gruppenuniversität“ als solche mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG für vereinbar erklärt, weil die Verfassung kein bestimmtes Organisationsmodell des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vorschreibe. Somit wurde die damals längst eingeleitete, gesellschaftlich kaum mehr revidierbare Hochschulreform im Prinzip gebilligt. Andererseits aber blieb die beherrschende Stellung der Professoren in Forschungs-und Berufungsfragen unangetastet. Dieser Gruppe müsse insoweit ein ausschlaggebender Einfluß verbleiben, wozu in den Gremien ein Anteil von mehr als der Hälfte der Stimmen erforderlich sei. Wie das Gericht dieses spezielle Quorum unmittelbar aus dem schlichten Verfassungssatz „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“ abzuleiten vermochte, bleibt indes unerfindlich und wird auch in der Entscheidung selbst nicht näher begründet Mit Recht hält es daher das Minderheitsvotum der Richter Simon und Rupp-v. Brünneck für unvertretbar, der Verfassung „detaillierte organisatorische Anforderungen für die Selbstverwaltung der Universität“ entnehmen zu wollen, und es erblickte in der Kumulierung von Grundrechtsschutz und Mehrheitsposition überdies einen verfassungsrechtlichen Widerspruch Was sachlich kaum rational zu rechtfertigen war, findet seine Erklärung und innere Legitimation letztlich in dem Umstand, daß die Entscheidung insgesamt von dem Bemühen des Gerichts gekennzeichnet ist, ausgleichend zu wirken und auseinanderstrebende politische Kräfte wieder zusammenzuführen. Daß dieser Schlichtungsversuch, der durch die Existenz eines Minderheitsvotums eher noch verstärkt wird, im Ergebnis erfolgreich war, steht heute ebenso außer Frage wie das Ungenügen seiner methodischen Absicherung.

Geradezu einen Musterfall verfassungsrichterlicher Vermittlungstätigkeit bildet die Entscheidung über den „Grundlagenvertrag“ zwischen beiden deutschen Staaten Das Gericht hielt zwar das Vertragswerk insgesamt für verfassungsgemäß, aber nur „in der sich aus den Gründen ergebenden Auslegung“, die es -ein Novum in der Judikatur -im ganzen als „tragend“ bezeichnete und dadurch mit der gleichen Verbindlichkeit ausstattete wie den Urteilstenor selbst. In diesen Gründen aber zog das Gericht der Ost-und Deutschlandpolitik der damaligen Bundesregierung enge Grenzen. Das Wiedervereinigungsgebot verbiete, die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutsch­ lands als politisches Ziel aufzugeben, auf Rechts-titel aus dem Grundgesetz zu verzichten, sich bei der Frage einer Aufnahme anderer Teile Deutschlands in die Abhängigkeit fremder Regierungen zu begeben, die deutsche Staatsangehörigkeit auf Bürger der Bundesrepublik zu beschränken usw. Die Grenze zur DDR (mit Stacheldraht, Minen und Schießbefehl) sei lediglich „eine staatsrechtliche Grenze .. . ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verlaufen“ Zwar ließ sich die Absurdität dieser Betrachtungsweise kaum noch steigern. Auch hatte die Bundesregierung formell obsiegt, weil der Grundlagenvertrag nicht revidiert zu werden brauchte. Dennoch war die Bayerische Staatsregierung mit ihren sachlichen Anliegen weitgehend durchgedrungen und hatte in jenem Normenkontrollverfahren praktisch erreicht, daß die deutschlandpolitischen Vorstellungen und Ziele der damaligen Opposition zu geltendem Verfassungsrecht erklärt wurden. Auch hier hing die Akzeptanz der Entscheidung nicht von einer plausiblen oder zumindest konsistenten Begründung ab, sondern von der Verständigung des Senats auf eine vermittelnde Position, mit der sich beide Seiten abfinden, ja sogar als Sieger fühlen konnten. Ähnliches gilt für das „Maastricht-Urteil“, mit dem die ihm zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden zwar zurückgewiesen wurden, der weitere Einigungsprozeß in Europa aber ganz im Sinne der Beschwerde-führer an zahlreiche, vor allem im Demokratieprinzip wurzelnde Bedingungen geknüpft wird, die bis hin zur Inanspruchnahme einer Kontrollbefugnis des Bundesverfassungsgerichts über die Unionskompetenzen gehen

Das „Abtreibungsurteil“ aus dem Jahre 1975 scheint dagegen auf den ersten Blick ein echter „Richterspruch“ zu sein Die von der damaligen SPD/FDP-Koalition vorgesehene „Fristenregelung“ wurde für verfassungswidrig erklärt, und zwar ebenfalls „im Sinne der Entscheidungsgründe“, wo nachzulesen war, daß der Gesetzgeber zum Schutz des werdenden Lebens verpflichtet sei, durchgängig das Mittel des Strafrechts einzusetzen, soweit nicht besondere Indikationen die Austragung einer Schwangerschaft als unzumutbar erscheinen ließen. Was in diesem Fall die Entscheidung des Gerichts überhaupt erträglich machte und ihr selbst bei den schärfsten Kritikern noch ein Minimum an Respekt und Akzeptanz sicherte, war hier allein die abweichende Meinung der Richterin Rupp-v. Brünneck und des Richters Simon. In deren Minderheitsvotum, dessen Verlesung im Verkündungstermin beizuwohnen sich ein

Mitglied der Senatsmehrheit -sogar schlicht weigerte waren sämtliche Argumente der Befürworter des Reformgesetzes aufgenommen und zu einer in sich schlüssigen, mindestens gleichermaßen überzeugenden Gegenansicht verarbeitet. Die Notwendigkeit eines Schutzes menschlichen Lebens auch vor der Geburt stehe außer Zweifel. Wie dieses Leben jedoch zu schützen sei, bleibe eine politische Frage und gehöre ausschließlich in die Verantwortung des Gesetzgebers. Eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß bestimmter Strafnormen sei indes dem Grundgesetz nicht zu entnehmen, weil es die „gesetzliche Mißbilligung sittlich nicht achtenswerten Verhaltens ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche Schutzwirkung“ nirgends vorschreibe. Anderenfalls gerate „das Bundesverfassungsgericht unversehens in die Lage, als politische Schiedsinstanz für die Auswahl zwischen konkurrierenden Gesetzgebungsprojekten in Anspruch genommen zu werden“

Damit hatten die dissentierenden Richter nicht nur ausgesprochen, was aus ihrer Sicht die Achtung vor dem demokratischen Gesetzgeber gebot, sondern der Mehrheit auch sehr eindringlich die Gefahr des Abgleitens zur „politischen Schiedsinstanz“ vor Augen geführt, wenn in Überdehnung der Grundrechte ein parlamentarisch beschlossenes Reformkonzept durch eine vom Gericht für besser gehaltene Lösung ersetzt werde. Dieser Hinweis trifft bereits einen zentralen Punkt der hier erörterten Thematik: Schiedssprüche oder Schlichtungsbemühungen von Verfassungsgerichten erweisen sich immer dann als problematisch, wenn sie nicht zugleich Rec/zZsentscheidungen sind, d. h. in einem methodisch unangreifbaren Interpretationsverfahren als verfassungsrechtlich zwingend ausgewiesen werden. Freilich hat paradoxerweise gerade jene zutreffende Kritik der Minderheit ihrerseits eine Schlichtungswirkung entfaltet und nicht nur die Bereitschaft zur Akzeptanz, sondern auch die Legitimität des umstrittenen Urteils erhöht, weil damit zugleich Hoffnungen auf die künftige Möglichkeit einer Rechtsprechungsänderung (overruling) geweckt wurden. Wie sich inzwischen im sog. Zweiten Abtreibungsurteil von 1993 gezeigt hat, wurden diese Erwartungen letztlich auch nicht enttäuscht. Nunmehr hat das Gericht die Fristenlösung in Verbindung mit einer Pflichtberatung der Frau für verfassungsgemäß erklärt und sich in seiner Begründung vielfach auf Argumente aus den alten Minderheitsvoten gestützt Den Eindruck, nicht völlig gesiegt, aber auch nicht ganz verloren zu haben, hinterlassen freilich keineswegs nur Entscheidungen zu politisch hochbrisanten Konflikten, sondern auch zu alltäglichen Streitigkeiten, wie sie etwa im Rahmen einer schlichten Verfassungsbeschwerde auf dem Gebiet des Steuerrechts ausgetragen werden. Zwei Ruhestandsbeamte hatten sich gegen die Besteuerung ihrer Versorgungsbezüge mit dem Argument gewandt, es verletze den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), sie anders zu behandeln als die Rentner, deren Alterseinkommen weitgehend steuerfrei bleibt. Das Bundesverfassungsgericht erklärte zwar auf der einen Seite die geltende Regelung des. Paragraphen 19 Abs. 2 EStG für die Streitjahre 1969 und 1970 noch für verfassungsgemäß, erkannte im Prinzip aber den Gleichheitsverstoß an und verpflichtete den Gesetzgeber, alsbald eine Neuregelung in Angriff zu nehmen, wobei es ihm überlassen bleibe, „in welcher Weise und mit welchen gesetzgeberischen Mitteln er die inzwischen eingetretenen Verzerrungen nunmehr beseitigen“ wolle

Die Reaktion auf diese „Appell-Entscheidung“ in der Öffentlichkeit unterschied sich nur geringfügig von dem mehr oder weniger breiten Anklang, den die vorgenannten Beispiele gefunden hatten. Während die politischen Instanzen Bundestag und Bundesregierung damit zufrieden waren, daß die geltenden Regelungen zur Besteuerung von Alterseinkommen nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG für unvereinbar erklärt worden waren, hatten die Beschwerdeführer ihr Interesse an einer Rechtsänderung für die Zukunft über den verfassungsgerichtlichen Nachbesserungsauftrag an die Legislative ebenfalls durchgesetzt Insofern entfalten auch jene „Appell-Urteile“, die eine gesetzliche Vorschrift als „noch“ verfassungsgemäß aufrechterhalten, zugleich aber mit oder ohne Fristsetzung deren künftige Novellierung verlangen, eine kaum zu überschätzende Schlichtungsund Befriedungswirkung, welche allerdings nicht so weit gehen darf, daß -wie bislang hier -der Gesetzgeber unter dem Eindruck der allgemeinen Harmonie nunmehr dauerhaft untätig bleibt.

Auf einer „mittleren Linie“, wenngleich mit unverkennbar defensiver Tendenz, bewegt sich auch das sogenannte „ 4. Rundfunk-Urteil“ zum niedersächsischen Landesrundfunkgesetz von 1986, in dem sowohl die unerläßliche „Grundversorgung“ der Bevölkerung mit einem inhaltlich umfassenden Programmangebot durch öffentlich-rechtliche Anstalten als von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG geboten anerkannt wurde als auch der private Rundfunk nunmehr endgültig „grünes Licht“ erhielt, und zwar im Hinblick auf die Breite des Programmangebots und die Sicherung gleichgewichtiger Vielfalt sogar unter erleichterten Bedingungen Die Vertreter der Anstalten konnten darin eine verfassungsrechtlich abgesicherte Bestands-und Entwicklungsgarantie ihres öffentlich-rechtlichen Rundfunks erblicken, während auf der anderen Seite die Protagonisten des Privatfunks ebenfalls mit dem Ergebnis zufrieden waren, das ihnen den Zugang zum Äther in einer Weise eröffnete, die ihren wirtschaftlichen Interessen nicht essentiell zuwiderlief.

Noch erheblich stärkere Integrationseffekte erzielen allerdings Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, bei denen nur wegen Stimmengleichheit im Senat nach der Regel des § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG ein Verstoß gegen das Grundgesetz nicht festgestellt werden kann, wie dies bei dem jüngsten Urteil zur Strafbarkeit von Sitzblockaden wegen Nötigung der Fall war Hier wurde die Enttäuschung der Antragsteller über die Zurückweisung ihrer Verfassungsbeschwerden wesentlich dadurch abgemildert, daß erstens das Gericht einmütig festgestellt hatte, die Erstreckung des Gewaltbegriffs auf Sitzdemonstrationen vor militärischen Anlagen indiziere nicht schon zugleich deren Rechtswidrigkeit, und daß zweitens immerhin vier Richter des ersten Senats sich ihrer Argumentation angeschlossen hatten, wonach die Anwendung des § 240 StGB auf derartige Sachverhalte gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG herleitbare Analogieverbot verstoße und jedenfalls solche Sitzdemonstrationen von den Strafgerichten nicht in der Regel als „verwerflich“ im Sinne von § 240 Abs. 2 StGB eingestuft werden dürften. In diesem Fall bestand sogar nicht nur die reale Chance eines baldigen Rechtsprechungswechsels sondern es ist den Instanzgerichten auch die Möglichkeit eröffnet, im Einzelfall von einer Bestrafung nach § 240 StGB abzusehen, wenn aus ihrer Sicht die Verwerflichkeit des Zwecks zu verneinen ist. Insofern hält das Urteil den Streit in der Schwebe und ist daher nicht nur formal, sondern auch inhaltlich ein echter „Schlichterspruch“.

III. Konzept und Wege richterlicher Streitschlichtung

Bei einer solchen Fülle wichtiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sämtlich Elemente richterlicher Streitschlichtung enthalten, indem sie jeweils beiden Seiten ein Stück weit entgegenkommen, fragt es sich natürlich, ob derartige Vermittlungsbemühungen nicht überhaupt zum Wesen jeder Richtertätigkeit, erst recht aber zum Geschäft des Verfassungsrichters gehören und wo dann eigentlich noch die Unterschiede zwischen „Richten“ und „Schlichten“ liegen. Josef Wintrich, von 1954 bis 1958 zweiter Präsident des Bundesverfassungsgerichts, wies beispielsweise darauf hin, daß „Richten“ nicht notwendig heiße, „zwischen zwei gegensätzlichen Rechtsbehauptungen entscheiden sondern allgemeiner: einen Sachverhalt an einem bestimmten Maßstab, nämlich einer Rechtsnorm messen“ Legt man diesen weiten Begriff von Rechtsprechung zugrunde, der über die Streitentscheidung im engeren Sinn hinausreicht, dann ist die Tätigkeit des Richters von der eines Schlichters nur noch idealtypisch abzugrenzen. Dennoch kann, wie sich zeigen läßt, eine solche Unterscheidung zumindest von analytischem Interesse sein, weil sie zwei Grundhaltungen kennzeichnet, deren Verhältnis zum Recht als einzigem Beurteilungsmaßstab der Justiz durchaus abweichende, ja mitunter sogar gegensätzliche Züge trägt. „Schlichten“ oder „Vermitteln“ besteht entweder in dem Bemühen, streitende Parteien zu einigen, oder in einer Entscheidung, welche mit demselben Ziel die Interessen beider Kontrahenten angemessen berücksichtigt Ergebnis einer erfolgreichen Vermittlung ist stets der Kompromiß, welcher durch beiderseitiges Nachgeben und/oder durch einen Vorschlag bzw. Einigungsspruch zustande kommen kann, der auf einer beiden Parteien noch zumutbaren, gemeinsamen Linie liegt. Die wichtigste Eigenschaft eines Vermittlers ist seine Unabhängigkeit und Unparteilichkeit. Von ihr hängt maßgeblich ab, ob die am Konflikt Beteiligten das notwendige Vertrauen in die Objektivität und Integrität des Vermittlers aufbringen. Außerdem müssen die Beteiligten an einer Beilegung des Konflikts in der Weise interessiert sein, daß nicht jeder unter allen Umständen ohne Rücksicht auf die Folgen „sein Recht“ durchzusetzen bestrebt ist, sondern sich auch mit einem Teilerfolg abfinden kann. Sind diese Bedingungen gegeben, dann spielt selbst bei Rechtsstreitigkeiten die konkrete Entscheidungsnorm und ihre Auslegung eine eher untergeordnete Rolle. Soweit sie disponibel ist oder für mittlere Lösungen Raum läßt, tritt sie als Orientierungsmaßstab bei der Suche nach einem gemeinsamen Nenner hinter dem vorrangigen Ziel des Interessenausgleichs zurück.

Demgegenüber unterscheidet sich der „Richtende“ vom „Vermittelnden“ in erster Linie dadurch, daß sich seine Tätigkeit eher auf die Anwendung von Normen als auf die Berücksichtigung von Interessen bezieht. Es ist nicht seine Absicht, die Parteien zu versöhnen, sondern nach Gesetz und Ordnung zu klären, wer Recht hat. Beendet wird der Streit nicht durch Herstellung von Konsens, sondern durch autoritative, verbindliche Entscheidung. Während der Vermittler eher in die Zukunft blickt und die Folgen seiner Erwägungen oder Vorschläge in Betracht zieht, ist das Augenmerk des Richters vorwiegend auf abgeschlossene Sachverhalte der Vergangenheit gerichtet, die er unter normativen Aspekten zu beurteilen hat. Anders als der Schlichter, dessen Autorität wesentlich auf seinem persönlichen Ansehen und seinem Erfolg beruht, leitet der Richter seine Legitimation aus der Bindung an die Gesetze ab. Er muß daher nachweisen, daß sein Urteil nichts anderes besage als das, was für den konkreten Fall durch das Gesetz bereits vorgeschrieben sei (la bouche de la loi), und sich sorgsam davor hüten, in seine Entscheidungen subjektive Wertungen einfließen zu lassen. Im Prinzip ist seine Gewalt nur die des Gesetzes und aus eigenem Recht als nicht vorhanden (en quelquc fa ? on nulle) zu betrachten. Im forensischen Alltag namentlich der Verfassungsgerichte lassen sich diese hier idealtypisch gegenübergestellten Verhaltens-und Verfahrensweisen des „Richtens“ und „Schlichtens“ allerdings kaum voneinander trennen. Sowohl im Verlauf des Prozesses als auch im abschließenden Richterspruch überwiegt jeweils die eine oder andere Komponente. Das Begriffspaar „Richten“ und „Schlichten“ bezeichnet also keinen Gegensatz, sondern lediglich zwei auf verschiedene Ziele hin orientierte Handlungs-und Entscheidungsmodalitäten der Justiz, die sogar zeitgleich gehandhabt und strategisch miteinander verbunden werden können, um die Legitimität und Akzeptanz der Entscheidung zu erhöhen. So gesehen entfalten eine gesteigerte Befriedungs-, Integrations-oder Schlichtungswirkung all jene verfassungsgerichtlichen Entscheidungen, die dem Inhalt, der Methode oder dem Verfahren nach den Anliegen und Interessen sämtlicher Beteiligter gerecht zu werden suchen und durch wechselseitige Reduktion des ursprünglichen Begehrens oder Abwehrens von Antragstellern und Antragsgegnern bzw. Antragsbetroffenen einen Ausgleich herbeizuführen bemüht sind. Dabei kann man materielle, funktionelle und prozedurale Vermittlungsmechanismen unterscheiden.

Sachliche (materielle) Vermittlung besteht in der richterlichen Produktion eines Kompromisses. Sie beginnt mit der Analyse des Streitstandes, setzt sich fort in der Auslotung des Bewegungsspielraums und endet in der Regel mit einer Entscheidung, die -gleich weit entfernt von den Ausgangspositionen der Beteiligten -inhaltlich möglichst genau im Zentrum des Konfliktfeldes liegt („mittlere Linie“) Methodisch wird ein solches Ergebnis im Wege „praktischer Konkordanz“ gewonnen, wobei die widerstreitenden Verfassungsprinzipien, Grundrechte oder sonstigen rechtlich geschützten Interessen einander so zuzuordnen sind, daß sie insgesamt zu optimaler (nicht maximaler) Wirksamkeit gelangen können Dieser verhältnismäßige Ausgleich kollidierender Verfassungspositionen tritt auch in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer häufiger an die Stelle der früheren Güter-und Wertabwägung, die nicht selten dazu führte, daß bestimmte Anliegen vollständig unberücksichtigt blieben oder wichtige rechtliche Gesichtspunkte „heruntergewogen“ und damit praktisch ausgeblendet wurden. Insofern ist hier nunmehr eine deutliche Tendenz von der Wertentscheidung hin zur Grundrechtsschlichtung erkennbar.

Aufgabenbezogene (funktionelle) Vermittlung findet zumeist in der Form statt, daß namentlich in Normenkontrollverfahren zwar geltendes Recht als (noch) verfassungsgemäß bestätigt, jedoch anderen Staatsfunktionen, insbesondere der Legislative, aber -z. B. auf dem Gebiet der Außenpolitik -auch der Regierung, bestimmte Auflagen erteilt werden, die den Interessen der unterlegenen Antragsteller weitgehend entgegenkommen. Dies kann auf ganz verschiedene Weise geschehen, und zwar unabhängig davon, ob es sich im konkreten Fall um eine abstrakte, konkrete oder individuelle (durch Verfassungsbeschwerde veranlaßte) Normenkontrolle handelt. Zunächst besteht die Möglichkeit, sachliche Ergänzungen und Modifikationen, ja sogar partielle Korrekturen des Tenors in den Gründen zu plazieren und diese für verbindlich zu erklären. Ferner kann das Gericht ebenfalls in den Gründen die Verpflichtung des Gesetzgebers aussprechen, einen noch verfassungsgemäßen oder für eine Übergangszeit noch hinnehmbaren, an sich aber bedenklichen Zustand für die Zukunft dem Grundgesetz (besser) anzupassen Schließlich wird bei Prognoseentscheidungen, die lediglich einer beschränkten Überprüfung am Maßstab der Vertretbarkeit unterliegen, zum Ausgleich dessen mitunter für den Eventualfall der Fehlprognose vorsorglich eine Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers statuiert Alle drei Varianten tragen mindestens indirekt erheblich dazu bei, daß ungünstige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nur äußerst selten als völliger Mißerfolg empfunden werden. Ähnlich wirken auf die unterlegene Seite nicht zuletzt Formen der verfahrensmäßigen (prozeduralen) Vermittlung, d. h. Entscheidungen, die nach außen hin -etwa über das Abstimmungsverhalten der Richter -sachliche Differenzen bei der Rechtsfindung erkennen lassen und damit den Verfassungsstreit im Entscheidungsprozeß selbst widerspiegeln und transparent werden lassen. Noch relativ verdeckt werden gelegentlich in die Urteilsgründe mäßigende, gegenläufige oder sogar abweichende Passagen auf Betreiben einzelner Richter eingefügt, die sonst dissentieren würden, sofern die Mehrheit solche Überlegungen (gerade noch) zu tolerieren bereit ist. Auf den Außenstehenden wirken solche Urteile dann oft uneinheitlich oder widerspruchsvoll Offener zutage tritt ein interner Konflikt schon bei der Mitteilung des Abstimmungsergebnisses gemäß § 30 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG und erst recht bei der Abgabe von Sondervoten (dissenting oder concurring opinions) nach § 30 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG, deren schlichtende und befriedende Wirkung seit langem bekannt ist Der bei weitem stärkste Vermittlungseffekt wird freilich durch Entscheidungen mit Stimmengleichheit erzielt, bei denen lediglich nach der Legalitätsvermutung des § 15 Abs. 2 Satz 4 BVerfGG ein Verstoß gegen Verfassungsrecht nicht festgestellt werden kann. Insgesamt entfalten alle diese Verhaltens-und Verfahrensweisen streitschlichtende Wirkungen, und zwar ganz unabhängig davon, ob solche Konsequenzen von den Richtern im konkreten Fall bewußt intendiert sind oder nicht.

IV. Chancen und Risiken des Interessenausgleichs durch Verfassungsgerichte

Geht man davon aus, daß Streitschlichtung und Streitentscheidung keine Gegensätze, sondern lediglich verschiedene Modalitäten richterlichen Handelns darstellen, also die Vermittlungstätigkeit als solche auch der Verfassungsrechtsprechung keineswegs wesensfremd ist, dann hat jener richterliche Interessenausgleich unter den Beteiligten zwar große Vorteile, birgt aber auch erhebliche Gefahren. Die Chancen liegen auf der Hand: Ausgewogene Richtersprüche, die den Anliegen aller Beteiligten in jeweils nur begrenztem Umfang Rechnung tragen, vermögen erfahrungsgemäß eine weit größere Befriedungswirkung zu entfalten als einseitige Urteile und dienen damit zugleich der Rechtssicherheit. Sie fördern die Bereitschaft der Parteien, ihnen zuzustimmen, und erhöhen mit dieser gesteigerten Akzeptanz von außen, ungeachtet der methodischen Fundierung des Ergebnisses, deren immanente Legitimität. Nicht zuletzt wird durch solche Vermittlungsbemühungen auch die Autorität des Verfassungsgerichts selbst gestärkt, das als Folge seines „einigenden“ Vorgehens im konkreten Fall bei Freund und Feind gleich hohes Ansehen genießt. Betrachtet man den im Wege gegenseitigen Nachgebens aufgrund eines Kompromisses erzielten Konsens als die Urform demokratischer Entscheidungsfindung so läßt sich nicht leugnen, daß in einer „schlichtenden“, den Interessenausgleich begünstigenden Gerichtspraxis nicht nur die „Offenheit“ der Verfassung in prozessualer Hinsicht zum Ausdruck kommt sondern auch ein Stück richterlich vorgelebter Demokratie.

Ebensowenig dürfen auf der anderen Seite freilich die Probleme und Risiken einer solchen Schlichtungs-und Ausgleichstätigkeit von Verfassungsgerichten übersehen oder unterschätzt werden. Aus der Sicht der Beteiligten könnte leicht der Eindruck entstehen, daß es sich stets und mit jeder Frage lohnt, nach Karlsruhe zu gehen, weil das Gericht auch im ungünstigsten Fall der unterlegenen Partei wenigstens ein paar Schritte entgegenkommt und ihr am Ende jedenfalls mehr zugestanden wird, als sie vorher mit ihrer weitergehenden, aber nicht durchsetzbaren Position besaß. Von daher würde sich jene Vermittlungspraxis auf die Dauer rasch als „Bumerang“ erweisen und unversehens zum Arbeitsbeschaffungsprogramm werden. Außerdem wächst die Gefahr einer noch stärkeren Entpolitisierung des Streitgegenstandes, als sie ohnehin schon mit jedem verfassungsgerichtlichen Verfahren verbunden ist. Denn wenn das Ergebnis einer Verfassungsklage nur noch darin besteht, auszuloten, wieviel der eine mehr Recht hat als der andere, anstatt klar festzustellen, was von Verfassungs wegen erlaubt oder verboten ist, entmutigt man damit vielfach die Beteiligten, ihre Kontroverse zunächst soweit wie möglich im politischen Meinungskampf auszutragen und parlamentarisch zu entscheiden. Hieraus resultiert dann leicht eine Haltung des Gesetzgebers, es mit der Verfassung nicht ganz so genau zu nehmen oder doch wenigstens ihre politische Belastbarkeit immer wieder zu testen, weil ja ohnedies bei jedem nicht völlig belanglosen Konflikt der Gang nach Karlsruhe zu erwarten ist und dort soviel gar nicht „schief-gehen“ kann.

Kaum weniger ernst sind die Rückwirkungen solcher forensischen Ausgleichsstrategien auf die Verfassungsrechtswissenschaft. An die Stelle sorgfältiger Verfassungsanalyse tritt zunehmend das Bemühen, gleichsam „zwischen den Zeilen“ herauszufinden, was das Verfassungsgericht im Einzelfall überhaupt gemeint haben könnte. Man beschäftigt sich immer seltener mit dem Grundgesetz selbst und konzentriert sich statt dessen auf die Interpretation von Absätzen, Halbsätzen oder Satzzeichen in den Gründen „sibyllinischer“ Gerichtsurteile. Letzten Endes bestünde die gesamte Verfassungsjurisprudenz dann nur noch in einer Entscheidungshermeneutik, die sich im Auffinden und wechselseitigen Ausspielen mehrdeutiger Leitsätze oder Begründungsfragmente in Richtersprüchen erschöpft

Vor allem aber ist zu befürchten, daß langfristig auch das Verfassungsgericht selbst von seiner eigenen Schlichtungspraxis nicht völlig unberührt bleibt. Warum sich noch um methodisch exakte Verfassungsauslegung bemühen, wenn man sich innerhalb des Senats rasch auf einer gemeinsamen Basis einigen kann? Ohne gleich bewußte Nachlässigkeit unterstellen zu wollen, liegt es doch bei einer Praxis des Vermittelns und Ausgleichens sehr nahe, von den normativen Rahmenbedingungen zunächst einmal abzusehen und nach dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu suchen. Das geltende Verfassungsrecht als einziger Legitimationsgrund der Judikatur wird ja auch insoweit entbehrlich, als die größere Bereitschaft zur Akzeptanz einer Entscheidung an seine Stelle tritt und tiefer gehende Fragen nach ihrer normativen Rechtfertigung zu erübrigen scheint.

Wäre aber die situations-oder interessenkonforme Anwendung der Verfassung um den Preis einer stringenten \eriassungsrechtlichen Argumentation nicht zu teuer erkauft? Immerhin ist ein Verfassungsprozeß kein Schauspiel, bei dem nach den Maximen des Direktors in Goethes „Faust“ gehan-delt werden könnte Daher soll abschließend noch untersucht werden, worin eigentlich die Gründe, Bedingungen und Grenzen vernünftiger (rationaler) und berechtigter (legitimer) verfassungsrichterlicher Streitschlichtung liegen.

V. Integration und Vermittlung als Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit

Unbestreitbar haben Verfassungsgerichte die Aufgabe, Gegensätze auszugleichen, widerstrebende Interessen zusammenzuführen und kontroverse Meinungen auf dem Boden der Verfassung miteinander zu versöhnen. Hierbei vor allem tritt ihre funktionelle Bedeutung als maßgebliche „Integrationsfaktoren“ des Verfassungslebens in Erscheinung, ohne daß sie damit den Charakter rechtsprechender Gewalt verlieren. Darüber hinaus hat die Neigung der Verfassungsgerichte zur Streitschlichtung aber auch praktische Ursachen: Versteht man die Verfassung als „offene“ Grundordnung des politischen Gemeinwesens, dann wird nicht jeder der acht Richterinnen oder Richter eines Senats in Fragen der Verfassungsinterpretation zwingend zu denselben Ergebnissen gelangen. Er muß andere also entweder von der Richtigkeit seiner Auffassung überzeugen oder, wenn er nicht durchdringt, sich darüber klarwerden, ob und ab wann er dissentiert bzw. wieweit er das Urteil noch mittragen kann, falls zumindest Teile seiner Argumentation in die Begründung eingehen. So findet bei der Beratung notwendigerweise offen oder verdeckt ein völlig legitimes, ja von der Sache her geradezu erwünschtes „Aushandeln“ der Entscheidung statt -ein Vorgang, der allerdings eher an die Abfassung diplomatischer Kommuniques erinnert als an die logisch konsistente Subsumtion von Tatsachen oder Rechtsvorschriften unter bestimmte Verfassungsnormen Gleichwohl darf die Verfassung als verbindlicher Entscheidungsmaßstab dadurch nicht zum bloßen „Verhandlungsmaßstab“ entwertet werden, wenn ihrer Umbildung oder Aushöhlung durch ein „judgement by consent“ vorgebeugt werden soll. So selbstverständlich es ist, daß Verfassungsrichter keine ausgiebigen Methodendiskussionen führen können, sondern möglichst schnell „zur Sache“ kommen müssen zeugt eine fundierte Sachbehandlung doch immer wieder von der „Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs“ Nicht selten ist darüber hinaus auch ein spezifisch verfassungsrechtliches Fachwissen erforderlich, das durch den beliebten Hinweis auf die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ nicht ohne weiteres zu ersetzen ist. Jedenfalls darf die „Sache“ nicht gegen die „Methode“ ausgespielt werden und umgekehrt. Deshalb gehört zu den unverzichtbaren Bedingungen jeder legitimen richterlichen Vermittlungstätigkeit erstens, daß sich die Ergebnisse der Streitschlichtung innerhalb des von der Verfassung vorgezeichneten Rahmens bewegen, zweitens, daß sie methodologisch unangreifbar begründet sind, und drittens, daß sie insgesamt die normative Kraft der Verfassung nicht schwächen oder auch nur den Anschein minderer Verbindlichkeit erwecken.

Damit werden einer um Befriedung und Ausgleich bemühten Gerichtspraxis auch gewisse unübersteigbare Grenzen gezogen. Niemals darf die Verfassung selbst zur Disposition der Beteiligten gestellt werden. Zu Recht hat deshalb die Antragsrücknahme im Verfahren der abstrakten Normen-kontrolle, das ausschließlich einem objektiven Klarstellungsinteresse zum Schutze der Verfassung dient, auch keinen Einfluß auf den Fortgang des Prozesses. Aber auch der bloße Versuch, den materiellen Sinngehalt oder Bedeutungsspielraum von Verfassungsnormen auszuweiten, wenn darüber Einigkeit hergestellt werden kann, muß bereits erheblichen Bedenken begegnen. Der gern zitierte „mündige Richter“ zeichnet sich nicht dadurch aus, daß er „Recht so jetzt, jetzt so“ sprechen kann, gerade wie es den Parteien beliebt oder die Herstellung von Konsens zu erfordern scheint, sondern durch seinen unbedingten, unbestechlichen und unerschütterlichen „Willen zur Verfassung“

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. M. Drath, Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), 9 (1952), S. 17 ff., hier S. 82 f.

  2. So R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Göttingen 19682, S. 119-276, hier S. 203.

  3. Vgl. H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, Frankfurt/M. 1968, S. 9f.

  4. Vgl. R. Marcic, Verfassung und Verfassungsgericht, Wien 1983, S. 173 ff.

  5. O. Massing, Das Bundesverfassungsgericht als Instrument sozialer Kontrolle, in: Verfassung, Verfassungsgerichtsbarkeit, Politik, hrsg. von M. Tohidipur, Frankfurt/M. 1972, S. 30-91, S. 45.

  6. F. Hase/K. -H. Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System, Frankfurt/M. 1980, S. 294.

  7. W. Geiger, Das Verhältnis von Recht und Politik im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts, in: ders., Vom Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, Hannover 1979, S. 5-23, hier S. 6: „Es (sc. das Gericht) hat -und da hilft kein Leugnen -innerhalb unserer Verfassung eine doppelte Funktion, nämlich Recht zu sprechen und dadurch den politischen Prozeß mitzugestalten. Bundestag und Bundesregierung sind nicht mehr allein auf dem Feld der Politik; sie müssen die Leitung des Staates mit dem Bundesverfassungsgericht teilen.“

  8. Ebd., S. 9.

  9. K. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit im sozialen Rechtsstaat, Bielefeld 1980, S. 22.

  10. Vgl. C. Donath, 25 Jahre Bundesverfassungsgericht. Schiedsrichter und manchmal Schulmeister, in: Mannheimer Morgen vom 18. 11. 1976, S. 2; W. Hill, Auch nur Menschenwerk. 25 Jahre Bundesverfassungsgericht. Sind die Karlsruher Schiedsrichter überfordert?, in: Vorwärts vom 18. 11. 1976, S. 6; ders., Bundesverfassungsgericht im Zwielicht, in: Merkur, (1975), S. 695-713.

  11. B. Eisenblätter, Die Überparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts im politischen Prozeß, Mainz 1976, S. 51 ff., 55 ff.

  12. Vgl. John H. Ely, Democracy and Distrust. A Theory of Judicial Review, Cambridge 1982t

  13. Chr. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber. Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, Baden-Baden 1984, S. 157 ff.

  14. I. Ebsen, Das Bundesverfassungsgericht als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, Berlin 1985, S. 340 ff., hier S. 346. Auch P. Häberle (Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, Frankfurt/M. 1980, S. 68 ff.) betrachtet das Gericht „als Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag“.

  15. Aus der umfangreichen Literatur zu dieser Problematik vgl. neben den in Anm. 5, 6, 7 und 14 genannten Schriften C. Schmitt. Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, Berlin 19732, S. 63 ff.; zusammenfassend P. Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 1-45, hier S. 2ff.

  16. J. M. Wintrich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gesamtgefüge der Verfassung, in: Bayerische Verwaltungsblätter, 1956, S. 132 ff.

  17. Chr. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, Berlin 1985, S. 46 ff.

  18. Die Vorschrift lautet: „Das Bundesverfassungsgericht ist ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes.“

  19. Vgl. die sogenannte „Status-Denkschrift“ des Bundesverfassungsgerichts, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts (JöR N. R), 6 (1957), S. 144 ff., sowie den ihr zugrunde-liegenden „Bericht“ von G. Leibholz, ebd., S. 120 ff.; G. Leib-holz, Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen des Bonner Grundgesetzes, in: Politische Vierteljahresschrift (PVS), 3 (1962), S. 13 ff.; R. Thoma, Rechtsgutachten, betreffend die Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR N. F., ebd., S. 161-194.

  20. Vgl. etwa das Gericht selbst in BVerfGE 7, 377 (413); 49, 1 (7 ff.); ferner M. Kriele, 218 StGB nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 1975, S. 74; U. Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: Die Öffentliche Verwaltung (DÖV), 1980, S. 473 f.

  21. So K. Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: VVDStRL, 39 (1981), S. 99 ff., hier S. 133.

  22. H. -P. Schneider, Die Verfassung -Aufgabe und Struktur, in: Archiv des öffentlichen Rechts Archiv des öffentlichen Rechts, 1974, Beiheft 1, S. 64 ff.

  23. Vgl. die nach dem Bundestagsauflösungsurteil (BVerfGE 62, 1 ff.) fortgesetzte Diskussion in der Literatur. Dazu Gussek, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), (1983), S. 722 ff.; H. Meyer, in: DÖV, (1983), S. 243 ff.; H. -P. Schneider, in: NJW, (1983), S. 1529 ff.

  24. Als „Paradebeispiel“ einer gelungenen und allseits akzeptierten Verfassungsergänzung gilt das „AWACS-Urteil“ vom 29. 9. 1990. Darin hatte das BVerfG -mangels ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Regelung -den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes von einer vorherigen „konstitutiven“ Zustimmung des Bundestages abhängig gemacht (vgl. BVerfGE 90, 286 ff.).

  25. Vgl. BVerfGE 35, 79-170.

  26. Statt einer Begründung findet man auf S. 132 f. lediglich die Behauptung: „Wegen ihrer wissenschaftlichen Qualifikation. ihrer Funktion und Verantwortung müssen die Hochschullehrer sich in diesem besonderen Bereich gegenüber anderen Gruppen durchsetzen können.“

  27. Vgl. BVerfGE 35, 148 ff., hier S. 149, 161.

  28. Vgl. BVerfGE 36, 1 ff.

  29. Ebd., S. 26.

  30. Vgl. BVerfGE 89, 155 ff.

  31. Vgl. BVerfGE 39, 1 ff.

  32. Vgl. H. -P. Schneider, Im Namen des Menschen. Über Leben und Wirken einer großen Richterin, in: W. Ruppv. Brünneck, Verfassung und Verantwortung, Baden-Baden 1983, S. 13 ff., hier S. 19.

  33. Ebd., S. 69, 72.

  34. Vgl. BVerfGE 88, 203 ff.

  35. BVerfGE 54, 11 (39).

  36. Vgl. W. Rupp-v. Brünneck, Darf das Bundesverfassungsgericht an den Gesetzgeber appellieren?, in: Festschrift für G. Müller, Tübingen 1970, S. 355-378.

  37. Vgl. auch BVerfGE 87, 1 ff. („Trümmerfrauen-Urteil“): Zwar erblickt das Gericht keinen Verfassungsverstoß darin, daß Zeiten der Kindererziehung nicht generell als Zurechnungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung anerkannt werden, verpflichtet den Gesetzgeber jedoch, die dadurch bedingten Nachteile bei der Altersversorgung „in weiterem Umfang als bisher auszugleichen“.

  38. Vgl. BVerfGE 73, 118 ff. Es genüge „den Anforderungen der Rundfunkfreiheit eine Konzeption der Ordnung des privaten, durch Werbeeinnahmen finanzierten Rundfunks, welche neben allgemeinen Mindestanforderungen die Voraussetzungen der gebotenen Sicherung von Vielfalt und Ausgewogenheit der Programme klar bestimmt, die Sorge für deren Einhaltung sowie alle für den Inhalt der Programme bedeutsamen Entscheidungen einem externen, vom Staat unabhängigen, unter dem Einfluß der maßgeblichen gesellschaftlichen Kräfte und Richtungen stehenden Organ überträgt und wirksame gesetzliche Vorkehrungen gegen eine Konzentration von Meinungsmacht trifft“. Vgl. auch BVerfGE 83, 238 ff.: Die Rundfunkfreiheit „verpflichtet den Staat, die Grundversorgung, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in einer dualen Rundfunkordnung zufällt, zu gewährleisten“.

  39. Vgl. BVerfGE 73, 206 ff.

  40. Die Korrektur ließ nicht lange auf sich warten: Das BVerfG hat nunmehr klar und eindeutig entschieden, daß die erweiternde Auslegung des Gewaltbegriffs in 8 240 Abs. I StGB im Zusammenhang mit Sitzdemonstrationen gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt (vgl. BVerfGE 92, 1 ff.).

  41. So aber E. Friesenhahn, Über Begriff und Arten der Rechtsprechung, in: Festschrift für R. Thoma, 1950, S. 27,

  42. J. M. Wintrich (Anm. 16), S. 132 f. Hinzukommen müßten freilich noch zwei weitere Momente: ein besonderes Verfahren, welches mit einem autoritativen, verbindlichen Spruch endet, sowie die Neutralität und Unabhängigkeit der Entscheidungsinstanz.

  43. Den folgenden Ausführungen liegt die Studie von Torslein Eckhoff, Die Rolle des Vermittelnden, des Richtenden und des Anordnenden bei der Lösung von Konflikten, in: Studien und Materialien zur Reehtssoziologie, hrsg, von E, E. Hirsch/M. Rehbinder, Opladen 1967, S, 243 -270, zugrunde.

  44. Typisch für derartige Balance-Entscheidungen ist der „Canabis-Beschluß“ vom 9. März 1994: Auf der einen Seite lehnt das BVerfG „ein Recht auf Rausch“ ab; andererseits läßt es den Erwerb oder Besitz von Canabis-Produkten in kleinen Mengen zum gelegentlichen Eigenverbrauch zu. Wörtlich heißt es in Leitsatz 2 b): „Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe muß die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten gewahrt werden (Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Die Prüfung an diesem Maßstab kann dazu führen, daß ein an sich geeignetes und erforderliches Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Beeinträchtigungen der Grundrechte des Betroffenen den Zuwachs an Rechtsgüterschutz deutlich überwiegen, so daß der Einsatz des Schutzmittels als unangemessen erscheint.“

  45. Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 199920, S. 142 f.

  46. Vgl. BVerfGE 43, 130, hier S. 139, seither std. Rspr. zu Art. 5 GG.

  47. Den jeweiligen Antragstellern besonders schwer zu vermitteln sind allerdings Entscheidungen, mit denen sie zwar in der Sache obsiegen und das angefochtene Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird, das Gericht aber für einen begrenzten Zeitraum seine Weitergeltung anordnet (vgl. BVerfGE 91, 186 ff.; in diesem Fall einer konkreten Normenkontrolle verlor der Kläger wegen der Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes sogar sein Ausgangsverfahren).

  48. Vgl. BVerfGE 25, 1 (13); 49, 89 (130); 44, 290 (335).

  49. Hauptbeispiele dafür sind das „Abhör-Urteil“ (BVerfGE 30, 1 [21]), welches die nachträgliche Unterrichtung des Betroffenen zumindest dann verlangt, wenn keine Gefährdungsmomente mehr vorliegen, und der „Extremisten-Beschluß“ (BVerfGE 39, 334 [356 f. ]) mit dem so-genannten Jugendsünden-Privileg bei der Einstellung in den Vorbereitungsdienst. Ein offener Widerspruch findet sich auch im Urteil über ein „kommunales Ausländerwahlrecht“, welches das BVerfG sogar wegen Verstoßes gegen das Demokratieprinzip und damit zugleich gegen die sogenannte Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG für verfassungswidrig erklärt hat, während es aber gegen die Einführung eines solchen Wahlrechts für Staatsangehörige der EG-Mitgliedstaaten keine Bedenken hatte.

  50. Vgl. aus der umfangreichen Literatur vor allem W. Geiger, Die abweichende Meinung beim Bundesverfassungsgericht und ihre Bedeutung für die Rechtsprechung, in: Die Freiheit des andern. Festschrift für M. Hirsch, Baden-Baden 1981, S. 455 ff., hier S. 460 ff.

  51. Vgl. K. Hesse (Anm. 45), S. 59.

  52. Vgl. P. Häberle (Anm. 14), S. 34 ff.

  53. In diesem Zusammenhang spielt leider auch das „Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“, so hilfreich es gelegentlich sein mag, eine nicht immer ganz unbedenkliche Rolle.

  54. Vgl. das „Vorspiel auf dem Theater“: „Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen. Ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“

  55. Vgl. dazu meinen Diskussionsbeitrag auf der Staatsrechtslehrertagung in Innsbruck und die sich anschließende Kontroverse mit und zwischen K. Schlaich, E. -W-Bökkenförde und K. Hesse, in: VVDStRL, 39 (1981), S. 191 f., 195 f., 200 f., 207 f.

  56. Vgl. K. Hesse (Anm. 55), S. 208.

  57. J. Esser, Bemerkungen zur Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkszeugs, in: Juristenzeitung (JZ), (1975), S. 558.

  58. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ, (1975), S. 297 ff.

  59. W. Zeidler, Richter und Verfassung, in: DÖV, (1971), S. 6 ff., hier S. 14.

  60. So der Dorfrichter Adam in Kleists „Zerbrochenem Krug“, Vs. 635.

  61. K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), in: Ausgewählte Schriften, Karlsruhe 1984, S. 3-18, hier S. 10.

Weitere Inhalte

Hans-Peter Schneider, Dr. jur., Dr. h. c., geh. 1937; Professor für Staats-und Verwaltungsrecht und Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung e. V. an der Universität Hannover; Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs und des Verfassungsgerichtshofs des Freistaates Sachsen. Zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten des Verfassungsrechts, insbesondere des Parlaments-rechts, des Parteienrechts, der Verfassungsgerichtsbarkeit, der Rechtsphilosophie und des Kirchenrechts.