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Zur Dialektik von Individualisierung und Rückbindung am Beispiel der Paarbeziehung | APuZ 53/1998 | bpb.de

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APuZ 53/1998 Zur Dialektik von Individualisierung und Rückbindung am Beispiel der Paarbeziehung Die Seismographen der Modernisierung Singles in Deutschland Nichteheliche Lebensgemeinschaften Zwischen konventionellen und alternativen Lebensformen Familie, Ökonomie und Fürsorge

Zur Dialektik von Individualisierung und Rückbindung am Beispiel der Paarbeziehung

Karl Otto Hondrich

/ 18 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Diskussion über Entwicklungstendenzen moderner Gesellschaften nimmt der Begriff „Individualisierung“ einen prominenten Platz ein. Er hat sich zur Kennzeichnung einer Entwicklungsrichtung so sehr durchgesetzt, daß gegenläufige Bewegungen kaum wahrgenommen und untersucht werden. Der vorliegende Aufsatz versucht, am Beispiel der Bildung und Trennung von Paaren zu zeigen, daß Individualisierungsprozesse immer nur im Rahmen von vorhandenen Einbindungen erfolgen und auch dann, wenn sie aus Institutionen scheinbar hinausführen, letzten Endes in verschiedenen Rückbindungen und Stärkungen von Institutionen münden. Individualisierung ist so gesehen kein „Leitvorgang“, sondern im Gegenteil ein instrumenteller Prozeß, der zwischen verschiedenen Stufen der Gemeinschaftsbildung und Institutionalisierung vermittelt.

Kein anderer Begriff zur Bezeichnung von gesellschaftlicher Modernisierung und Fortschritt hat sich so durchgesetzt wie der der Individualisierung -verstanden als „Freisetzung von traditionalen Bindungen“. Das kann viel heißen: daß die Menschen sich vereinzeln, daß sie einzigartig, selbstsüchtig oder selbständig werden. In der Diskussion haben die Vertreter der Individualisierungsthese klargestellt daß sie all dies nicht meinen. Soziologen sehen hinter den Individuen gesellschaftlichen Strukturwandel, das heißt, Bindungen lösen sich nicht ganz auf, sondern ein Typus von Bindungen wird durch einen anderen abgelöst. Vorgegebene oder Herkunftsbindungen werden ersetzt durch Bindungen, die die einzelnen selbst wählen und zusammenstellen müssen. Trotz des Wählen-Müssens steckt darin die Vorstellung vermehrter Optionen, wachsender Freiheit. Die Vision der Individualisierungstheoretiker ist die einer Gesellschaft, die ihre Grundstruktur von herkunftsbestimmten auf wählbare Bindungen umstellt.

Das entspricht durch und durch unserem zeitgenössischen Lebensgefühl. Es scheint evident zu sein: Was früher vorentschieden war, kann heute so oder so entschieden werden. Was früher durch Normen festgelegt war, ist heute offen, was früher kollektiv entschieden wurde, wird heute individuell entschieden: Es steht mir frei, ob ich im Stand der Ehe oder unverheiratet zusammenlebe, ob ich Wehrdienst oder Zivildienst leiste, ob ich studiere oder eine Lehre mache. Ich entscheide nicht nur darüber, ich muß darüber entscheiden, anders als meine Eltern oder Großeltern, denen der Zwang zu diesen Entscheidungen durch vorgängige soziale Zwänge abgenommen war. Zwar gibt es auch in der modernen Welt der Individualisierungstheoretiker soziale Zwänge, aber nur noch als Restbestand von Traditionen, als strukturelle Randbedingungen, Restriktionen des Wählens und als Zwang zur Wahl. Auf Unsicherheiten, Risiken und eben auch Zwänge der Individualisierung weisen sie ausdrücklich hin.

Ferner können sie darauf verweisen, daß sie in der Tradition der Klassiker stehen, deren Denklinie fortsetzen: Auch für Emile Durkheim, Ferdinand Tönnies, Max Weber war ja die Auflösung sozialer Verbindlichkeiten bereits ein Grundthema.

Schließlich lassen sie empirisch untermauerte Kritik ins Leere laufen, die auf milieu-und kulturspezifische Grenzen von Individualisierung verweist, wie es Günter Burkart jüngst am Beispiel der Elternschaft in den USA verdienstvoll getan hat. Wie der Igel rufen sie dem Hasen zu: Wir sind schon da, was du sagst, wissen wir doch: Natürlich sind Wahlmöglichkeiten begrenzt Wenn sie dann allerdings -wie es Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in der Auseinandersetzung mit Burkart tun -auch die aufgezwungene Entscheidung -etwa sich scheiden zu lassen -der freien Entscheidung gleichsetzen, dann kann jedes soziale Handeln, auch das erzwungene, als Vergrößerung von Wahlmöglichkeiten gelten. Jede soziale Veränderung wird so zur Individualisierung.

Ein Immunisierungsvorwurf wird allerdings der Beliebtheit der Individualisierungsthese keinen Abbruch tun. Wissenschaftliche Thesen werden nicht verworfen, weil sie empirisch widerlegt oder methodologisch anfechtbar sind. Sie gelten, solange sie einem kollektiven Lebensgefühl entsprechen. Und keine These paßt so gut zu unserem aktuellen Selbstgefühl -zum Zeitgeist -wie die Individualisierungsthese. Wie schwer es ist, dazu auf Distanz zu gehen, wird gerade in dem Bemühen der Kritiker deutlich. Nicht alles, was als Indikator für Individualisierung herhalten muß, zeige Individualisierung an, hält Burkart den Becks mit Recht entgegen. Richtig! Aber was zeigt es dann an? Dafür fehlt uns der Begriff. Solange die Kritiker nur behaupten, daß die alten Zwänge und Bindungen aus Klassen-, Schicht-oder Milieuzugehörigkeit doch noch gelten und eventuell stärker sind als die neuen Freiheiten, argumentieren sie aus der Vergangenheit, aus der Defensive heraus. Diese Kritik führt nicht weiter; sie macht sich keinen Begriff davon, was vorgeht. Deshalb bleibt sie bei dem Versuch. die Individualisierungsthese zu widerlegen, doch ganz in deren Bann. Die angemessene wissenschaftliche Beschäftigung mit der Individualisierungsthese sollte deshalb nicht der Versuch sein, sie zu widerlegen, sondern der Versuch, sie in einen anderen, weiteren Rahmen zu stellen, das Bild der Wirklichkeit zu erweitern -und damit den Aspekten der Realität zu ihrem Recht zu verhelfen, die von der Individualisierungsthese ausgeblendet werden.

Aber welchen Begriff sollen wir uns davon machen? Vergemeinschaftung? Zu eng. Vergesellschaftung? Zu weit. Kollektivierung? Politisch und negativ besetzt. Die Schwierigkeit bei der Suche nach einem Gegen-oder Ergänzungsbegriff zu Individualisierung ist selbst ein Zeichen -ein Zeichen dafür, wie stark der Individualisierungsbegriff unsere Vorstellung von sozialem Wandel besetzt hält.

Ich habe mich für den Begriff der Rückbindung entschieden, der den Vorteil hat, daß er jeder Definition von Individualisierung gewachsen ist. Will man unter Individualisierung Freisetzung von traditionalen Bindungen und Zwängen verstehen, dann heißt Rückbindung Einbindung in Traditionen und Zwänge. Soll Individualisierung Erweiterung von Wahlmöglichkeiten bedeuten, dann bedeutet Rückbindung deren Verengung. Und so weiter.

Meine These lautet nun, gegen die Individualisierungstheoretiker: Die strukturellen Wandlungen in modernen Gesellschaften werden radikal -an der Wurzel -falsch verstanden, wenn sie als Individualisierung beschrieben werden. Sie sind immer, zugleich und gegenläufig, Individualisierung und Rückbindung. Rückbindung bringt Individualisierung hervor -und umgekehrt.

Merkwürdigerweise ging der soziologische Blick bisher vorwiegend nur in eine Richtung, von Rückbindung zu Individualisierung. Georg Simmel hat uns gezeigt, wie aus der Erweiterung und Überschneidung sozialer Kreise das Individuum mit seinen Wahlmöglichkeiten entsteht Erving Goffman hat genau beobachtet, wie die Menschen in einer psychiatrischen Anstalt unter verstärktem Zwang sich ihre individuellen Freiräume schaffen Und ein junger französischer Soziologe, Jean-Claude Kaufmann, hat dasselbe jüngst -in einer meisterlichen Studie -für Paare beschrieben, die einen gemeinsamen Haushalt gründen Die Zwänge im eigenen Heim sind vielleicht subtiler als die im Heim für psychisch Kranke -die Individualisierungsbestrebungen hier wie dort sind aber, für einen soziologischen Beobachter, durchaus vergleichbar.

Individualisierung und Rückbindungen sind überall. Wichtig ist es. die Blickrichtung zu verändern, eine neue Frage zu stellen. Die Frage lautet: Was folgt aus Individualisierung, oder: Was wird aus Bindungen und Zwängen, die im Zuge von Individualisierung auf-oder abgelöst werden? Betrachten wir, was bei der Bildung des Paares, später, was bei einer Trennung geschieht. Ich beschreibe den Prozeß in sechs Schritten: 1. Bildung des, gehobenen Konsenses': Das zusammenziehende Paar macht sich die Befreiung aus traditionalen Rollenvorgaben -Individualisierung -als hohen Wert zu eigen. Es fürchtet nicht Tod und Teufel, sondern nur zwei Dinge: daß es als Paar so werde wie seine Eltern, also traditionsbestimmt, und daß jeder der beiden sein individuelles Ich an das gemeinsame Ich, also das Paar, verliere. Deshalb wird alles, was möglich ist, so lange wie möglich aus dem gemeinsamen Paarbetrieb herausgehalten. Wäschewaschen und Bügeln zum Beispiel. Und wenn dann endlich doch die Waschmaschine gekauft ist -ein schwerer Symbol-Akt der Vergemeinschaftung -, folgen daraus neue Differenzen: Er will bei 60 Grad waschen, sie bei 30, er plädiert für den Trockner, sie für die Wäsche-leine, sie bügelt die Jeans, für ihren Partner ist dies ein kleinbürgerlicher Horror, sie häufelt die Höschen nach Größe und Farbe, er wirft sie achtlos in den Schrank -oder umgekehrt.

Jeder weiß, wie schwer in diesen Dingen der Weg zum Konsens ist. Wenn man sich nicht einigen kann, verzichtet man auf gemeinsame Entscheidungen. Jeder macht es so, wie er -oder sie -will. Individualisierung ist die Lösung eines Konsensproblems -durch einen höheren, oft unausgesprochenen Konsens. Es kann auch, wie Alois Hahn brillant gezeigt hat, eine Konsensfiktion sein Mit ihrer Individuali-sierungsentscheidung haben sich die beiden zugleich für eine Rückbindung entschieden, sogar für eine mehrfache: Sie haben sich erstens geeinigt, daß sie in bezug auf die Wäsche keine Einigkeit haben; zweitens, daß das nicht so schlimm ist; drittens, daß jeder seine eigene Wäsche macht; viertens, daß sie die Unordnung oder den Ordnungsfimmel ihres Partners tolerieren; fünftens, daß sie auf seine Schrankseite nicht übergreifen und sechstens, daß sie trotz Differenzen weiter zusammenleben. Schon über einer einzigen internen Differenz hat das Paar einen vielschichtigen Konsens höherer Ordnung errichtet. Es hat die Optionen für den einzelnen erweitert und zugleich eingeschränkt. Er hat nun nicht mehr die Wahl, sich in puncto Wäscheordnung einen Partner nach seinem Ebenbild zu schaffen. Zugleich haben die beiden den Grundstein für eine spezifische, dem Paar eigene Tradition des Wäscheordnens gelegt. Wird sie haltbar sein? 2. Rückwendung zu traditionellen Mustern: Der zarte Keim einer neuen Paartradition tritt in Konkurrenz zu den Traditionen der Herkunftsfamiiien -und zu dem Bestreben der Individuen, sich im Paar Freiräume zu erhalten. Und merkwürdigerweise greifen der junge Mann und die junge Frau bei ihren Individualisierungsbewegungen auf ihre Herkunftsfamilien zurück. Denn die individuelle Ordentlichkeit oder Schlampigkeit, auf der jeder beharrt, kommt ja nicht von ungefähr. Was wir hier als Individualisierung innerhalb des Paares beobachten. ist der Zusammenprall zweier vorgängiger Ordnungsmuster aus den Herkunftsfamilien. Das Ergebnis ist entweder, wie eben gezeigt, die Zusammenführung zu einer höheren Ordnung, die die Widersprüche enthält. Oder aber es passiert etwas anderes: Eines Tages ist die junge Frau es leid, sich über das Wäscheknäuel ihres Mannes neben ihrem säuberlichen Stapel zu ärgern. Sie legt selbst Hand an, um Ordnung zu schaffen -wie es ihre Mutter bei ihrem Vater getan hat. Unversehens ist man wieder angelangt bei den traditionalen, oft verhaßten Rollen. Es geht hier nicht um die Beharrungskraft des Alten, sondern um einen anderen Punkt: um den aktiven Part, den Individualisierung bei der Herstellung und Wiederherstellung von Traditionen spielt: „Die Reproduktion früherer Rollenmuster ist nicht einfach ein Erbe der Tradition, sondern resultiert zum größten Teil aus der Konstruktionsarbeit der Akteure selbst, die ihrerseits eine Reaktion auf eine bestimmte partnerschaftliche Situation darstellt. Sie begnügen sich nicht einfach damit, diese Rollen zu übernehmen, sondern erfinden sie auf ihre Weise neu.“ 3. Verdrängung traditioneller Handlungsmuster: Natürlich sind das unbewußte, ungewollte Prozesse. Vergemeinschaftung kommt auf leisen Sohlen, hinter dem Rücken der Beteiligten. Trotzdem sind die Vorgänge nichts Innerliches und Unsichtbares. Im Gegenteil, es handelt sich um äußerliche und sichtbare Gesten, die aber ihrer Trivialität wegen in ihrer Bedeutung nicht erkannt werden. Aus wiederholten Gesten bilden sich Gewohnheiten, neue und alte Herkunftsgewohnheiten verschmelzen und unterwandern die guten Vorsätze, mit denen man angetreten ist, etwa das normative Programm einer partnerschaftlichen Ehe mit strikter Gleichverteilung der Hausarbeit. Weil sie zu den manifesten Werten des Paares in Widerspruch stehen, müssen traditionale Handlungsmuster in die Latenz gedrängt werden. Dort leben sie weiter. Verdrängung ist also, für Herkunftsbindungen, ein dritter Weg.

Eine Zwischenbemerkung: Wenn die drei Formen der Rückbindung, die ich bisher erwähnt habe -der gehobene Konsens, die Rückwendung zu traditionalen Mustern und die Verdrängung -, im Prozeß der Individualisierung immer mit produziert werden, dann könnten sie als Beglcitschutz wirken: Das Paar schützten sie davor, an den eigenen Individualisierungen zugrunde zu gehen. Und mein Modell der Dialektik von Rückbindung und Individualisierung würden sie gegen Widerlegung immun machen. Das wäre dann doch eine zu gefällige Dialektik. In der Realität kann eine Seite die Überhand gewinnen. Wenn das junge Paar nicht nur das Wäschewaschen individualisiert, also getrennt erlebt, sondern auch die Freizeit, die Freundschaft, den Urlaub und schließlich die Sexualität, dann ist irgendwann der Punkt erreicht, wo die rückbindenden Gegenkräfte aufgebraucht sind. Der gehobene Konsens kann dann nicht noch weiter gehoben werden, die Kraft zur Rückwendung und zur Verdrängung ist erschöpft. Das Paar zerfällt.

Steigende Trennungs-und Scheidungsraten als kollektives Phänomen gelten als der Indikator par excellence für Individualisierung. An diesem Punkt, bei der Trennung des Paares, möchte ich meine Suche nach dem Verbleib traditionaler Bindungen und Zwänge fortführen. 4. Entstehung neuer Erzwingungsmuster: Ein Teil der traditionellen Bindungen und Zwänge wandert sicher in den gehobenen Trennungs-Konsens. Die Partner sagen: Wir trennen uns; oder: Wir haben uns getrennt. Was ist das für ein Wir? Es ist nicht das Arzt-Patienten-Wir: Wie fühlen wir uns heute? Es ist nicht das verschwommene völkische oder kulturelle Wir, bei dem unklar bleibt, wen es alles einschließt. Es ist ein sehr bestimmtes Wir: eine Frau, ein Mann, niemand sonst. Und doch ist es ein illusionäres Wir. Es nährt die Illusion, daß hier zwei gleichermaßen und zu gleicher Zeit gemeinsam die Trennungs-Entscheidung getroffen, eine Option wahrgenommen haben.

Das kommt vor. Aber es ist selten. Normal ist die Trennung im Streit. Über alles mögliche wird gestritten, über Schlamperei und Ordnung, Geld, Sex, Lügen und Video. Aber um all das geht es nicht.

Was wirklich und letztlich umstritten ist, ist die Trennung selbst. Eine oder einer von beiden will sie, der oder die andere nicht. Wer gewinnt? Immer der-oder diejenige, der oder die gehen will. Bis zur Novellierung des Familienrechts im Jahr 1977 konnte sich der Bewahrer oder die Bewahrerin des Paares noch durchsetzen. Seither ist es umgekehrt. Faktisch, moralisch und rechtlich ist die Gesellschaft auf die Seite derjenigen umgeschwenkt, die die Trennung wählen. Egal wie man wertend dazu steht: Hier ist ein Trend zu erkennen -und ein ganz starker empirischer Befund -der für die Verfechter der Individualisierungstheorie spricht. So scheint es wenigstens. A erweitert seine Optionen, wählt die Trennung. Und was wählt B? B hat keine Wahl. Die Option zwischen Zusammenleben und Auseinandergehen ist ihm genommen -von A. B kann sich nur noch abfinden und irgendwann einwilligen -und somit nachträglich den illusionären Trennungs-Konsens zu einem realen machen. Reden wir nicht von der Schmerzlichkeit des Prozesses, die eine besondere ist: weil einem eine Wahlmöglichkeit von besonderer Wichtigkeit, von einem besonders geliebten Partner in einer besonders auf Gleichheit normierten Institution abgenommen wird. Reden wir als Theoretiker: Die gewonnene Wahlmöglichkeit des einen bedeutet den Verlust der Wahlmöglichkeit des anderen. Oder: Individualisierung als Freisetzung aus traditionalen Mustern (der lebenslangen Ehe) bedeutet die Einrichtung von neuen Erzwingungsmustern, nicht einfach als individuelle Launen, sondern als kollektive Institutionen, gesellschaftlich und rechtlich gestützt. Dies ist der vierte Weg, den traditionale Bindungen nehmen: Im Durchlauferhitzer von Individualisierung verwandeln sie sich in neue Erzwingungsmuster.

Das ist das Gegenteil von dem, was Individualisierungstheoretiker meinen, wenn sie vom Entstehen neuer Zwänge sprechen. Sie meinen: den Zwang zur Wahl, den Zwang wählen zu müssen. Was aber zusätzlich entsteht, ist der Zwang, nicht wählen zu können. 5. Rückverwandlung von Wahlbindungen in nicht gewählte Herkunftsbindungen: Die Individualisierungstheoretiker haben demgegenüber eine andere Vision von dem Weg, den traditionale Bindungen nehmen: Sie verwandelten sich in andere, neue Lebensformen, „in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen .. ,“ Das ist die Idee von der Bastelbiographie. Nach der Trennung mag man studieren, umschulen, in einen Beruf einsteigen, sich bei Greenpeace engagieren, einen neuen Partner oder eine neue Partnerin wählen. Genau genommen handelt es sich dabei um die Verwandlung von Wahlbindungen in andere Wahlbindungen. Daß nicht alle alles wählen können und daß die Wahlmöglichkeiten besonders eingeschränkt sind, wenn man alt, arm, wenig gebildet, Frau mit Kindern ist, ist bekannt. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkt lenken. Je häufiger man seine Wahlbindungen erneuert -von einem Job zum nächsten, von einem Partner zum nächsten -, desto mehr entwerten sie sich gegenseitig: im Vergleich zu den Herkunftsbindungen, die man nicht gewählt hat und nicht wählen kann.

Bei der Trennung des Paares geschieht, was ich eingangs schon als den zweiten Weg der Individualisierung im Paar beschrieben habe: Die sich individualisierenden Bindungen führen zurück zur alten Ordnung der Herkunftsbindungen. An wen wenden sich die modernen Menschen, wenn die Beziehung zerbricht? Der nächste Partner steht selten sogleich zur Wahl bereit. Der Psychotherapeut ist fern und teuer, mit dem Pfarrer hat man meist nichts mehr zu schaffen. Da sind es Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Jugendfreunde, also altvertraute Personen, bei denen man Halt und Unterstützung sucht. Ihnen wenden wir uns, wenn die Paarbeziehung zerbricht. Halt und Unterstützung suchend, zu. Wir wählen diese Bindungen nicht. Wir haben sie auch früher nicht gewählt. Wir haben sie nie wählen können. Und -wir werden sie nie abwählen können. Sie sind immer schon da. Und sie bleiben. Darin liegt ihre unvergleichliche, von keiner erwählten Bindung einzuholende Qualität. Auch wenn wir uns mit den Eltern zerstritten, mit den alten Freunden auseinandergelebt haben: die latenten Bindungen lassen sich in der Regel aktivieren. Wir wissen empirisch, daß das geschieht, und müßten es genauer untersuchen. Der Individualisierungsprozeß, der in der Trennung des Paares, also in der Auflösung einer Wahlbindung gipfelt, führt zur Rückverwandlung dieser Wahl-bindung in nicht gewählte Herkunftsbindungen.

Noch deutlicher wird dies, sofern das sich trennende Paar Kinder hat. Mag sein, daß das moderne Paar gewählt hat, Kinder zu haben. Wenn sie aber da sind, hat es nicht mehr die Wahl, sie so oder so oder überhaupt nicht mehr zu wollen. Erst recht die Kinder haben keine Wahl. Die Kind-Eltern-Beziehung ist die traditionellste, die Herkunftsbeziehung par excellence. Und während die Eltern ihre Wahlbindung aus freien Stücken lösen, kämpfen sie erbittert um die Bindung zum Kind, um dessen Herkunftsbindung. Die Herkunftsbindungen lösen die Wahlbindungen ab -und nicht umgekehrt, wie uns die Individualisierungsthese glauben machen will.

Die Suche danach, was mit den freigesetzten (sich auflösenden oder ablösenden) Paarbindungen geschieht, ist damit noch nicht beendet. Die Freisetzung produziert, wie man heute sagt, Alleinerziehende, das heißt Familien, die ihre Wahlbindungen abgestoßen haben und nur noch aus Herkunftsbindungen bestehen. Das ist, in modernen Gesellschaften, eine Folge von Individualisierung. Weit entfernt davon, die Kluft zwischen den Generationen aufzureißen, geht der Trend dahin, drei und vier Generationen zusammenzubinden, also Herkunftsbindungen nicht nur zu verstärken, sondern auch zu verlängern. Die rüstigen Rentner helfen heute den Enkeln nicht nur materiell und handfest, sondern in jeder Beziehung, möglicherweise mehr als je zuvor.

Gleichwohl sind die alleinerziehenden Frauen heute in besonderem Maße Individualisierungsopfer und unterstützungsbedürftig. An wen wenden sie sich -oder wir uns als ihre Fürsprecher -, wenn sie Unterstützung brauchen bzw. ihre Ansprüche auf Sozial-und Erziehungshilfe, einen Kindergartenplatz und auf Steuererleichterungen realisieren wollen? Nicht an die Europäische Union, die UNO, die Welthungerhilfe, sondern an die Bundesrepublik Deutschland als Sozialstaat. Solange dieser im nationalen Rahmen organisiert ist -und nicht etwa als Weltsozialstaat -, solange bestärkt er mit seinen Leistungen an uns und wir mit unseren Forderungen an ihn diesen nationalen Herkunftsrahmen. Denn in den Solidarverbund des Sozialstaats wird man in aller Regel hineingeboren. Die Individualisierungsprozesse aus dem Paar heraus bestärken also nicht nur Herkunftsbindungen im kleinen, sondern auch im großen, im nationalen Rahmen. Anders gesagt: Ein Teil der Bindungen, die aus dem Paar freigesetzt werden, wandert in größere Rahmen aus, verwandelt sich in nationale Bindungen. Es könnten auch übernationale sein. Unsere Bindungen sind nicht an sich chauvinistisch. Sie wandern dahin, wo sie bedient werden.

Was hier für die Paarbeziehung festgestellt wurde, läßt sich mutatis mutandis für eine ganze Reihe unterschiedlicher gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen sagen. Überall suchen soziale Gebilde, die auf freien Wahlentscheidungen ihrer Mitglieder beruhen, die Rückbindung, ja Rückversicherung in ihren nicht gewählten Herkunftskontexten: Fußballvereine (sogar kommerzielle) lassen sich von den jeweiligen Kommunen subventionieren. Unternehmer lassen sich durch Steuervorteile an ihre Standorte binden. Freie Kirchengemeinden erstreben genauso wie die etablierten Kirchen Steuer-und Schulprivilegien vom Staat, der entweder ihr Herkunftsstaat ist oder es auf diese Weise wird. Die Tarifautonomie ist ohne die vom Herkunftsstaat garantierten Rahmenbedingungen nicht denkbar etc. 6. Höherbewertung von Liebe und Ehe: Die -vorläufig -letzte Station auf meiner Suche nach dem Verbleib sich auflösender Paarbeziehungen ist wieder das Paar selbst, diesmal aber nicht als individuelle, handfeste Zweisamkeit, sondern als Träger einer kollektiven Idee der Zweisamkeit. Meine These lautet: Die sich auflösenden individuellen Liebes-oder Ehebindungen verwandeln sich, in den Köpfen der Beteiligten, in kollektive Bindungen an den Wert von Liebe und Ehe. Der Wert der Liebe ebenso wie der Wert der Ehe werden bestärkt dadurch, daß individuelle Liebes-und Ehebindungen aufgelöst werden.

Dies ist nun eine besonders paradoxe Wendung. Sie widerspricht vollständig dem gesunden Menschenverstand, dem konservativen Kulturpessimismus und der Individualisierungsthese, die ja allesamt in Trennungen und Scheidungen das Menetekel für die Auflösung der traditionellen Institution der Ehe sehen.

Meine Überlegung ist die folgende: In jedem Paar gibt es von Anfang an eine sozial geprägte Vorstellung von einem liebe-und verständnisvollen, harmonischen Zusammenleben. Dies ist eine kollektive, von vielen geteilte Wertvorstellung. In den Niederungen des Alltags wird sie individuell enttäuscht. Zwei Reaktionen sind denkbar: Entweder schleift das Paar sein Idealbild an der Realität ab; es lockert seine Bindung an die kollektiven Werte der Liebe und des Verständnisses. Oder es hält diese kollektiven Wertansprüche als verbindlich hoch und löst die eigene individuelle Bindung als unzulänglich auf. Wir trennen uns von einer Person und von einer individuellen Bindung, nicht von der Liebesbindung als Institution. Um das Argument noch ein Stück weiter zu treiben: Bevor die Liebe als Institution im Alltag des individuellen Paares verschlissen wird, gibt dieses sich selbst auf. Noch etwas dramatischer: Das Paar opfert seine individuelle, etwas mickrige Bindung auf dem Altar einer kollektiven Vorstellung von Harmonie und Verständnis, wie sie sein sollten. Die Auflösung der als unzulänglich empfundenen individuellen Paarbindung führt dazu, daß das Liebespaar als kollektive Institution nur um so reiner hervortritt. Die brüchig gewordenen Bindungen an einen Partner aus Fleisch und Blut verwandeln sich in Bindungen an eine Idee, also in reine Wert-bindungen, die von einem größeren Kollektiv geteilt werden. Die Institution des Liebespaares geht aus allen Individualisierungen als Sieger hervor. Sie hat heute soviel kollektives Gewicht, daß man meinen könnte, daß sie die Institution der kirchlichen oder staatlichen Ehe gar nicht mehr braucht.

Um so verwunderlicher ist es, daß sich auch die Institution der Ehe durch alle Individualisierungen hindurch verstärkt. Auch gleichgeschlechtliche Paare wollen heute heiraten. Auch unverheiratete Paare wollen steuerlich, rechtlich und moralisch so behandelt werden, als ob sie verheiratet wären. Die Ehe als Idee ist auf der ganzen Linie im Vormarsch.

Ich formuliere apodiktisch, um die empirischen Gegenargumente auf den Plan zu rufen: Erklären nicht immer mehr junge Leute, daß sie die Ehe für unnötig halten? Wird die Heirat nicht immer weiter hinausgeschoben, mittlerweile fast bis zum 30. Lebensjahr? Scheuen nicht immer mehr Geschiedene vor einer zweiten oder dritten Ehe zurück? Steigt nicht die Zahl der Singles? Heißt es nicht überall: „Ich will mich selbst verwirklichen. Die Ehe ist nichts für mich“?

All dies kann anzeigen, daß die Ehe als individuelle Willens-und Notgemeinschaft schwächer wird und trotzdem als kollektive Vorstellung vom Liebespaar stärker. Ob das empirisch zwingend ist, wäre zu prüfen. Aber wenn die empirische Forschung neues Terrain betreten soll, müssen erst neue Fragen gestellt werden. In diesem Sinne verstehe ich meine Denkfigur der Dialektik von Rückbindung und Individualisierung als ein Suchprogramm: Wo überall und in welcher Form tauchen die Bindungen und Zwänge wieder auf, die sich in der Individualisierung scheinbar verflüchtigen? Das sich ausdehnende und weitgehend unerkannte Reich der Rückbindungsprozesse sehe ich als das Entdekkungsfeld meiner Soziologie an -Individualisierungen sind nur Durchgangsstationen.

Auch die Verfechter der Individualisierungsthese nehmen vermutlich für sich in Anspruch, das Ineinandergreifen von Individualisierung und Rückbindung zu sehen. Dann verschiebt sich allerdings das Problem zu der Frage, warum aus dem faszinierenden Dualismus nur der Individualisierungsbegriff herausgegriffen und zum Signum der Moderne erklärt wurde.

Meine Vermutung ist die folgende: Nach zwei politisch verordneten Kollektivierungsschüben -im Dritten Reich mit ungeheuerlichen, in der DDR mit schlimmen Folgen -ist hierzulande alles, was mit Kollektiv und Gemeinschaft zu tun hat, in hohem Maße suspekt und diskreditiert. Der Begriff der Individualisierung enthält demgegenüber eine Verheißung: daß das, was als die Wurzel vergangener Übel angesehen wird, nämlich Autoritätshörigkeit und Gruppenhörigkeit, sich auflöst. So gesehen ist die Idee der Individualisierung tatsächlich eine erlösende. Nur solche soziologischen Begriffe, die eine Erlösungskomponente haben, werden wirklich populär. Der „herrschaftsfreie Diskurs“ und die „sich selbst organisierenden Systeme“ gehören dazu. Sie antworten auf das gleiche Problem wie der Begriff der Individualisierung: Wie werden wir die sozialen Zwänge los? Natürlich wäre es töricht, Jürgen Habermas, Niklas Luhmann oder Ulrich Beck erlöserische Absichten zu unterstellen oder die Schuld dafür zu geben, daß der Zeitgeist ihre Begriffe -ohne alle Kautelen, die Autoren machen -gierig aufsaugt. So bleibt die beunruhigende Frage, warum ausgerechnet soziologische Aufklärer die Stichworte liefern, die nach dem Ende der kollektivistischen Utopien die vakante Stelle von Leitideologien einnehmen.

Natürlich ist jeder Versuch, die soziale Welt zu begreifen, in sich selbst schon vereinseitigend und vereinfachend. Es fällt uns leicht, auf die halbierte Wirklichkeitssicht der andern hinzuweisen. Wir kommen aber nicht darum herum. Denn auch der Versuch, der Wahrheit näher zu kommen, ist ein sozialer Prozeß, der auf die Dialektik von Individualisierung und Kollektivisierung angewiesen ist.

Fussnoten

Fußnoten

  1. An dieser Stelle sei nur auf die prominentesten unter ihnen -Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim -verwiesen.

  2. Vgl. Günter Burkart. Individualisierung und Elternschaft. Das Beispiel USA, in: Zeitschrift für Soziologie, (1993) 3, S. 159-177; Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim. Nicht Autonomie, sondern Bastelbiographie. Anmerkung zur Individualisierungsdiskussion am Beispiel des Aufsatzes von Günter Burkart, in: Zeitschrift für Soziologie, (1993) 3, S. 178-187; Günter Burkart, Eine Gesellschaft von nicht-autonomen biographischen Bastlerinnen und Bastlern? -Antwort auf Beck/Beck-Gernsheim, in: Zeitschrift für Soziologie (1993) 3, S. 188-1991.

  3. Vgl. Georg Simmel, Soziologie, München-Leipzig 1922.

  4. Vgl. Erving Goffman, Asylums, New York 1961.

  5. Vgl. Jean Claude Kaufmann, Zur Soziologie schmutziger Wäsche, Konstanz 1994.

  6. Vgl. Alois Hahn, Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1983, Sonderheft 25, S. 211-232.

  7. J. C. Kaufmann (Anm. 5), S. 117.

  8. U. Beck/E. Beck-Gernsheim (Anm. 2), S. 8.

Weitere Inhalte

Karl Otto Hondrich, Dr. rer. pol., geb. 1937; Studium der Volkswirtschaftslehre, politischen Wissenschaft und Soziologie in Frankfurt am Main, Berlin, Paris und Köln; seit 1972 o. Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Veröffentlichungen u. a.: Demokratisierung und Leistungsgesellschaft, Stuttgart 1972; Theorie der Herrschaft, Frankfurt am Main 1973; Soziale Differenzierung, Frankfurt am Main 1982; Bedürfnisse im Wandel, Opladen 1983; Krise der Leistungsgesellschaft?, Opladen 1988; Lehrmeister Krieg, Reinbek 1992; (zus. mit Claudia Koch-Arzberger) Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1992.